Tabelle 9: Anteil der kollektivierten Haushalte 1928–1932
Haushalte in Kolchosen in % aller Bauernhöfe der UdSSR und RSFSR |
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UdSSR |
RSFSR |
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1. 6. 1928 1. 6. 1929 1. 10. 1. 1. 1930 1. 2. 1. 3. 1. 4. 1. 7. 1. 10. 1. 1. 1931 1. 3. 1. 7. 1. 7. 1932 |
1,7 3,9 7,5 18,1 31,7 57,2 38,6 22,5 21,8 25,9 35,3 55,1 61,5 |
1,6 3,7 7,3 20,1 34,7 58,6 38,4 20,5 20,4 24,4 |
Quelle: Davies, Socialist Offensive, 442 f.; Merl, Bauern, 215
Womöglich noch wichtiger für kommende Entscheidungen war indes die exemplarische Verwirklichung der «vollständigen» Kollektivierung an der unteren Wolga und im nördlichen Kaukasusgebiet (mit überproportionalen Quoten). Hier wurden auch die Methoden in nuce vorgeführt, die dazu nötig waren. Staatliche oder quasistaatliche Behörden beraumten Versammlungen des Dorfsowjets oder der obščina an und ließen sie beschließen, dass alle in Zukunft gemeinsam wirtschaften sollten. Die Säuberungen der ländlichen Parteikomitees und Neuwahlen zu den Räten, von denen die ‹Kulaken› ausgeschlossen waren, halfen dabei ebenso nach wie die bevorzugte Versorgung der Kolchosen mit Saatgut und Maschinen, die steuerliche Diskriminierung der Einzelwirtschaften und eine Vielzahl politischer, atmosphärischer und sonstiger Repressionen. In jedem Falle wurde – und dies war neu – die oft beträchtliche Minderheit, die bei solchen manipulierten Abstimmungen unterlag, gezwungen, sich zu fügen. Manche ‹Wohlhabenden› zogen es daher vor, ihr Hab und Gut zu verkaufen und in die Stadt überzusiedeln oder als bednjak geschützt zu sein («Selbst-Dekulakisierung»). Ob man diese Form der Gewalt noch als «indirekt» bezeichnen kann, mag offenbleiben. Andererseits kam es fraglos noch weit schlimmer. Auch in dieser Hinsicht ‹überholte›, wie ein Aktivist triumphierend meldete, ‹die Realität den Plan›.[22]
Bei alledem war Sachverständigen bewusst, dass bloße Zahlen nicht viel besagten und ein geschöntes Bild vermittelten. Wie die Wirklichkeit aussah, ging aus einem Bericht hervor, den der Unionsrat der Kolchosen (Kolchozcentr) der Parteiführung im September vorlegte. Demnach bestanden die alten Mängel fort. Es fehlte an Inventar und Gerätschaften; Beitretende verkauften ihr Vieh vorher; die neuen Wirtschaften blieben ein Armenhaus. Vielfach war der Zusammenschluss rein formal. Dafür sprach schon der Umstand, dass 62,3 % (Stichtag 1. 10.) als TOZy den geringsten Vergemeinschaftungsgrad aufwiesen und sich im Wesentlichen auf Hilfeleistungen bei der Aussaat und Ernte beschränkten. Eine reale Kollektivierung fand in der Regel nicht statt, geschweige denn eine Rationalisierung des Anbaus. Daraus war im Wesentlichen ein Schluss zu ziehen: Die Kolchosen brauchten Zeit zur Konsolidierung, das Tempo musste gedrosselt werden. Doch das Politbüro verweigerte eben dies. Es kam zur entgegengesetzten Folgerung, dass die Unzulänglichkeiten durch noch größere Konsequenz und Geschwindigkeit behoben werden müssten. Damit stand die «vollständige», totale Kollektivierung nicht nur in ausgewählten Regionen auf dem Programm, sondern überall.
Der entscheidende Drahtzieher hinter den Kulissen hat es sich nicht nehmen lassen, auch diesen Kurswechsel selbst zu annoncieren. In einer Rede zum zwölften Jubiläum des Oktober feierte Stalin – so die sprechende Überschrift – «das Jahr der großen Wende». Dabei erdreistete er sich, neben der Grundlegung einer sozialistischen Industrie auch einen fundamentalen, von der Bauernschaft «selbst» herbeigeführten «Umschwung» in der Landwirtschaft zu rühmen. Dass nun auch «der Mittelbauer in die Kollektivwirtschaften gegangen» sei, wie er als Kennzeichen der neuen Phase hervorhob, beschrieb freilich keinen Tatbestand, sondern nur die Absicht der kommenden Monate. Nach solchen Leitsätzen im Wortsinne war klar, was das Novemberplenum des ZK (10.–17. 11. 1929) beschließen würde. Gleichsam als Vorspiel trieb man die längst besiegte ‹Rechte› weiter in die Ecke und erreichte ihre förmliche Kapitulation: Bucharin, Rykov und Tomskij gestanden öffentlich ihre Irrtümer ein. Desto unverhohlener konnte Molotov in seiner vielbeachteten Rede die weitere Beschleunigung der Kollektivierung fordern und den «endgültigen Sieg» der Gemeinwirtschaften ankündigen. Dem entsprachen zwei weitere, konkrete Beschlüsse. Zur tatsächlichen Durchführung sollten 25.000 freiwillige Helfer aus der Arbeiterschaft rekrutiert werden. Und um sie zentral organisieren und lenken zu können, überwölbte fortan ein Landwirtschaftsressort auf Unionsebene die Republikressorts. So gestützt, konnte die «neue historische Etappe» in der Landwirtschaft, von der die Resolution sprach, kaum anderes bringen als einen Sturmangriff auf die letzten Bastionen der traditionalen Wirtschafts- und Sozialordnung im russischen Dorf.[23]
Bei solchen Anstrengungen durfte ein Erfolg schon aus Gründen der Glaubwürdigkeit nicht ausbleiben. Der Zwang zeitigte Wirkung: Bereits Anfang Februar 1930 belief sich der Anteil ‹kollektivierter› Bauernhaushalte in der UdSSR auf 18,1 % und in der RSFSR auf 20,1 %. Am 1. März erreichte er seinen vorläufigen Höhepunkt mit 57,2 % bzw. 58,6 %; im russischen Teil des Zentralen Schwarzerdgebiets betrug er zu dieser Zeit 83,3 %, an der mittleren und unteren Wolga 60–70 % und in der Ukraine 60.8 % (vgl. Tab. 9). Damit waren die kühnsten Prognosen übertroffen worden. Selbst ein Anfang Dezember eingesetzter Ausschuss, der Vorschläge zur konkreten Umsetzung der epochalen Novemberbeschlüsse ausarbeiten sollte, hielt noch alle restlichen Jahre der ersten Planperiode für nötig, um die Kollektivierung zu vollenden. Deshalb gaben die schnellen Vollzugsmeldungen auch zu Skepsis Anlass. Es lag auf der Hand, dass sie nur eine Momentaufnahme bildeten. Sachkundige wussten, dass reale Schritte im Winter gar nicht unternommen werden konnten. Die Gemeindeversammlung mochte, unter welchen Androhungen auch immer, den Übergang zur Kollektivwirtschaft beschließen. Konkret geschah bis zur Wiederaufnahme der Feldarbeit nichts. Selbst in großer Zahl registrierten solche Fälle nur einen Schein, keine Wirklichkeit.[24]
Beklemmend real, ruinös und für überaus viele tödlich war dagegen der Vorgang, der die Kollektivierung in mancher Hinsicht erst zu jenem Krieg des Regimes gegen das Dorf machte, zu der sie fraglos ausartete: die Kulakenverfolgung. Ob sie nach dem Entschluss zur restlosen Liquidierung der Individualwirtschaft, ideologie- und systemimmanent gesehen, unvermeidlich war, lässt sich nur spekulativ beantworten. Gute Gründe sprechen sicher dafür, dass die neue Agrarverfassung keinen Platz für die «Klassenfeinde» von gestern vorsah, der ihnen irgendeinen Einfluss belassen hätte. Auf der anderen Seite bestand ebenso gewiss Spielraum hinsichtlich der Art ihrer Behandlung und künftigen Rolle. Rein ökonomische Überlegungen hätten ohnehin zu Mäßigung Anlass geben müssen. Aber das, was im Namen wirtschaftlicher Rationalität durchgeführt wurde, war eben nicht rational, sondern ideologisch. Einige Mitglieder der Dezemberkommission strebten womöglich einen Kompromiss an. Jedenfalls schlugen sie vor, die ‹Kulaken› und alle, die ihnen anverwandelt wurden, nach ihrer Enteignung als Arbeiter in die Kolchosen aufzunehmen. Den selbsternannten Hütern des ‹unverfälschten› revolutionären Erbes genügte diese Erniedrigung indes nicht. Sie wollten den angeblichen Urhebern der Versorgungskrise nicht die geringste Chance lassen, in den neuen Strukturen Meinungsführerschaft und Macht zurückzugewinnen. Erneut gab Stalin persönlich die fatale Parole aus, die den Betroffenen und dem ganzen Land zum Verhängnis wurde: die Parole von der «Liquidierung des Kulakentums als Klasse». Was darunter zu verstehen war, verdeutlichte ebenfalls der Parteichef in einer Rede vor Agrarexperten. Die Politik der «Beschränkung» des Kapitalismus auf dem Lande habe einer Offensive Platz gemacht. Da die Kol- und Sowchosen nun in der Lage seien, die Städte zu versorgen, könne man einen «solchen Schlag» gegen das «Kulakentum» führen, «dass es sich nicht mehr aufrichten» werde. Stalin zögerte auch nicht, eine konkrete Folgerung zu ziehen, die Bedenken in der Parteispitze vom Tisch wischte: Kulaken hätten in den neuen Betrieben nichts zu suchen; es sei «lächerlich», darüber überhaupt zu diskutieren.[25]
Spätestens seit der endgültigen Niederlage der «Rechten» im November war die Stellung des Generalsekretärs (wieder) so gefestigt, dass sein Wort entschied. Die Vorschläge der Dezemberkommission wurden in seinem Sinne überarbeitet. Der geheime Beschluss, den das Politbüro am 5. Januar 1930 zusammen mit einer Stellungnahme zum Kollektivierungstempo fasste, beseitigte alle Unklarheiten. So wie der veröffentlichte Teil erstmals aussprach, dass die Kollektivierung der wichtigsten Getreideregionen, abweichend vom Fünfjahresplan, «im Wesentlichen» bereits im Herbst 1930 abgeschlossen sein könne, hielt die interne Anweisung ähnlich rigorose Maßregeln für den Umgang mit den «Kulaken» fest. Demnach war ihr Besitz zu konfiszieren und den Kolchosen zu übertragen; Gefügige sollten das «schlechteste Land» erhalten, Widerstrebende aus ihrer Heimat vertrieben werden. Einer neuen Kommission unter dem Vorsitz des eilfertigen Molotov, der auch der Stellvertretende Leiter der OGPU G. G. Jagoda angehörte, blieb es überlassen, diese Direktive in eine ausführbare Form zu bringen. Die endgültige Formulierung mit dem schlimmmen Titel «Über Maßnahmen zur Eliminierung von Kulakenhaushalten in Gebieten mit vollständiger Kollektivierung» wurde am 30. Januar vom Politbüro akzeptiert und noch am selben Tag allen örtlichen Parteikomitees bekanntgegeben. Danach waren die «Kulaken» in drei Kategorien zu unterteilen und gestuft zu bestrafen: (1) Die ‹konterrevolutionären Aktivisten› sollten ihres Eigentums beraubt, ohne Verfahren verhaftet und in «Konzentrationslager» deportiert werden; wer ‹aufständischer› oder ‹terroristischer Akte› für schuldig befunden wurde, konnte auf der Stelle hingerichtet werden. Die schicksalhafte Entscheidung darüber, wer zu den 63.000 Familien gehörte, die dieser Gruppe zugewiesen wurden, lag in den wenig zimperlichen Händen der OGPU. (2) Die «reichsten Kulaken» und «Halbgrundbesitzer» sollten ebenfalls enteignet werden. Sie durften aber die allernötigsten Produktionsmittel und einige Vorräte behalten. Ihre Familien konnten sie in den hohen Norden, den Ural, nach Kazachstan und Sibirien begleiten, wohin sie zwangsumgesiedelt wurden. Die Gesamtzahl solcher Familien wurde auf 150.000 fixiert, die von den Kreissowjets auf der Grundlage von Beschlüssen der Kolchosen und Komitees der Dorfarmut bestimmt wurden. (3) Alle Übrigen sollten nur teilweise enteignet und ‹nur› im Dorf oder nächsten Umkreis auf die schlechtesten Böden umgesetzt werden; welche Zahl für sie vorgegeben wurde, ist unklar – mindestens 396.000 Haushalte, eventuell sogar 852.000.[26]
Es wirft ein Schlaglicht auf die Machtfülle der Parteizentrale und die eilfertige Untergebenheit der Ortskomitees, dass die Anweisung trotz der Brutalität, die sie verlangte, umgehend befolgt wurde. Schon seit dem Novemberplenum hatte die Gewaltanwendung gegen Kulaken zugenommen. Der Staat machte vom neuen Recht zur Konfiszierung des Eigentums bei Nichterfüllung der Ablieferungsquoten reichlich Gebrauch. Über 100.000 Wirtschaften wurden auf diese Weise bestraft, nicht wenige davon völlig aufgelöst. Dennoch begründete der Beschluss des Politbüros eine neue Qualität staatlicher Willkür: Nun begann die systematische «Liquidierung» all derer, die aufgrund ihrer materiellen Lage oder ihrer – eventuell auch nur zugeschriebenen – Haltung als Feinde der bestehenden Ordnung galten. Die Kriterien waren dabei ebenso vielfältig wie beliebig. Sie reichten von einer bestimmten Höhe des Werts der Produktionsmittel über den Umfang der Beschäftigung von Lohnarbeit, der Ausleihe von Geräten bis zu Anteil und Art eventueller nichtlandwirtschaftlicher Nebentätigkeiten. Ganz überwiegend wurde dabei auf Einzelfallprüfungen verzichtet. In der Regel setzte ein Dreierausschuss, bestehend aus dem örtlichen Parteivorsitzenden, dem Vorsitzenden des Exekutivkomitees des Sowjets und dem Leiter der lokalen OGPU, einfach fest, wer als Kulak zu bezeichnen war. Dabei orientierte er sich an geschätzten Größenordnungen, die auch noch nach Gutdünken ausgelegt wurden. Insgesamt ging die Parteispitze von ca. 974.000 ‹Kulaken›-Haushalten mit 6,3 Mio. Personen aus, die einem Anteil von 3,9 % an allen Höfen und von 5,1 % an allen Dorfbewohnern entsprachen. Molotov, immerhin der Vorsitzender der Januarkommission, unterstellte womöglich sogar die Existenz von 1,3–1,5 Mio. Haushalten. Demgegenüber zeigt die Berechnung nach allen verfügbaren Ausgangszahlen – Angaben über den bereits Ende 1926 dekretierten Wahlrechtsentzug, exemplarische frühere Erhebungen, Daten zur agrarischen Lohnarbeit und anderen mehr –, dass es in der Sowjetunion Mitte 1929 nicht mehr als eine halbe Million einschlägiger Wirtschaften, entsprechend etwa 3 Mio. Personen oder 2 % aller Haushalte, gab. Wenn die Partei eine höhere Zahl als Richtschnur zugrunde legte, forderte sie die Akteure vor Ort faktisch auf, mehr ‹Kulaken› zu finden, als vorhanden waren.[27]
Die skrupellose Willkür, die schon darin sichtbar wurde, beherrschte die gesamte Kampagne. Mit äußerster Brutalität brach die städtische Partei dem russischen Dorf in wenigen Wochen, vor allem in der zweiten Januar- und der ersten Februarhälfte 1930, das Rückgrat. Was die Beteiligung der Geheimpolizei signalisierte, bewahrheitete sich aufs Schlimmste. Die «Entkulakisierung» trat die letzten Reste sowjetisch-sozialistischer Rechtsstaatlichkeit mit Füßen. Nicht einmal der Schein von Legalität wurde gewahrt. Nackte Gewalt und menschenverachtende Rücksichtslosigkeit avancierten in einer Offenheit zu vorrangigen Mitteln der Politik, die es seit dem ‹heroischen› Kampf gegen die ‹Konterrevolution› von 1918–20 nicht mehr gegeben hatte. Auch deshalb ist es gerechtfertigt, die geplante, feldzugartige Unterwerfung des ‹Klassenfeinds› auf dem Dorf als inneren Krieg zu bezeichnen.
Dafür spricht umso mehr, als die Durchführung der obrigkeitlichen Verfügung tatsächlich alle drei Gruppen, wenn auch in unterschiedlichem Maße, traf. Allem Anschein nach begann die OGPU unverzüglich mit den Verhaftungen, zu denen sie in der Anweisung des Politbüros aufgefordert wurde. Die Familienvorstände der ersten Gruppe verschwanden in den Gefängnissen der politischen Polizei und den nun rapide wachsenden Lagern des bald berüchtigten «Archipel GULAG». In den Schwarzerdegebieten, wo das Land knapp und die sozialen Gegensätze am größten waren, dürfte ihr Los dabei besonders hart gewesen sein. Hier bestand wohl am ehesten eine tatsächliche Feindschaft der armen Bauern gegenüber den reichen, die es Letzteren erschwerte, sich den Repressalien zu entziehen. Unterschiedlich gestaltete sich auch das Schicksal der übrigen Kulaken. In den unfruchtbaren Regionen ohne intensive Landwirtschaft kam die Deportation der Familien der zweiten Kategorie nur langsam voran. Die meisten wohnten im Frühjahr noch in ihren Dörfern, hatten aber ihre Häuser oft mit armen Bauern und Landlosen tauschen müssen. Dagegen griffen die Parteiorganisatoren und ihre Helfer aus den Reihen der «25.000er» in den Getreideüberschussgebieten mit äußerster Härte durch. Was deutsche Kolonisten von der Wolga berichteten, dürfte auch für vergleichbare Regionen gegolten haben. Ihre Schilderungen warfen den tiefen Schatten jener mörderischen Schrecken von Nacht- und Nebelaktionen voraus, zu denen die Geheimpolizei in den verschiedensten Regimen der dreißiger Jahre griff und die insbesondere im Zweiten Weltkrieg im Zusammenhang mit wahnwitzigen demographischen ‹Flurbereinigungen› und der «Endlösung» der Judenfrage traurige Bekanntheit erreichten. Die Betroffenen wurden ohne Vorwarnung aus den Betten gezerrt und bei bitterer Kälte in unbeheizte Güterwaggons ohne jedwede sanitäre Einrichtungen gepfercht. Sie durften nur mitnehmen, was sie in der Eile zusammenraffen konnten, wurden völlig unzureichend verpflegt und mussten in den schmutzigen und stinkenden Behältnissen bis zu zwölf Tage ausharren, ehe sie im nördlichen Ural, bei Archangel’sk oder am Enisej wieder frische Luft atmen konnten. Nicht genug damit, waren die Endstationen solcher Transporte auf den plötzlichen Ansturm in keiner Weise vorbereitet. Von einer Neuansiedlung konnte nicht die Rede sein. Weder brachten die Zwangsverschickten Geld oder Geräte mit, noch wurde ihnen Hilfe zuteil. Stattdessen schloss man sie in Lager ein, in denen sich mit Beginn der wärmeren Saison Krankheiten und Seuchen ausbreiteten. Bis Mitte April sollen in den Lagern, über die überhaupt Informationen vorliegen, bereits 10 % der Umgesiedelten umgekommen sein. Unter den Kindern stieg die Sterblichkeit derart bedrohlich an, dass man sie fortan umgehend zurückschickte. Solch schlimmste Torturen blieben den ‹Kulaken› der dritten Kategorie erspart. Dennoch wäre es verfehlt, aus der Tatsache, dass sie am Ort bleiben konnten, auf ein mildes Los zu schließen. Auch diese Familien wurden samt gebrechlicher Greise, Wöchnerinnen und Kleinkindern mitten im Winter erbarmungslos aus ihren Häusern getrieben. Auch sie durften nur das Nötigste mitnehmen und mussten sich, mehr oder weniger mittellos, dort eine neue Bleibe suchen, wohin sie der Dorfsowjet oder die Dreierkommission schickten. Nicht zuletzt dieses Vorgehen verwies auf einen kaum unbeabsichtigten Nebenzweck der «Entkulakisierung»: so viel Land, Gebäude, Vieh und Inventar zu enteignen wie möglich, um die klägliche Ausstattung der Kolchosen zu verbessern. Was Staat und Industrie nicht geben konnten, musste den ‹Wohlhabenden› genommen werden.[28]
Eine derartige Barbarei blieb nicht ohne Folgen. Zum einen wuchs der Widerstand. Zur üblichen passiven Resistenz in Gestalt des Verkaufs von Hab und Gut und von Massenschlachtungen, die zur Regel wurden, trat immer häufiger aktiver Widerstand. Eingehende postsowjetische Archivrecherchen haben inzwischen ergeben, dass er sehr viel breiter und heftiger war, als bis dahin bekannt. Insgesamt registrierte die OGPU 1929/30, in den beiden Kernjahren der «vollständigen» Kollektivierung, 22.887 «terroristische Akte», denen über 1100 lokale Beamte und Aktivisten zum Opfer fielen. Allein 1930 nahmen über zwei Millionen Bauern an 13.754 Massenunruhen teil. Regional kam es zu regelrechten Aufständen. Eine auffallende Rolle spielten dabei Bauersfrauen, gegen die der Staat aus verschiedenen Gründen weniger rigoros vorging. Sie weigerten sich in Aktionen, die zum besonderen Kennzeichen des Protestes wurden (bab’ie bunty), bemerkenswert geschlossen und bewaffnet (wie primitiv auch immer), Vieh, Haus und Hof, für die sie traditionell zuständig waren, abzugeben. Selbst der Handelskommissar Mikojan sprach von einer «äußerst gefährlichen» Lage.[29]
Zum anderen musste die Parteiführung erkennen, dass ihren Absichten mit einer solchen Kollektivierung nicht gedient war. Die Kampagne entglitt ihrer Kontrolle; Auflagen wurden nicht befolgt. Dass ‹Kulaken›, deren Söhne in der Armee dienten oder in Fabriken arbeiteten, verschont bleiben sollten, vergaßen die emsigen Erfüllungsgehilfen vor Ort ebenso wie die quantitativen Vorgaben. In vielen Dörfern erklärte man bis zu 10 % der Familien zu kulakischem Freiwild. Infolgedessen musste jeder Bauer, der ein paar Habseligkeiten besaß, fürchten, er könne der nächste sein. Wie im Bürgerkrieg ein Dutzend Jahre zuvor, beging das städtisch geprägte Regime den Kardinalfehler, die Solidarität des Dorfes zu unterschätzen und diese in vieler Hinsicht noch dadurch zu stärken, dass seine besessene Jagd auf Klassenfeinde auch viele Mittelbauern traf.[30]
So lag, obwohl die Bauern gegen die Übermacht des Staates letztlich keine Chance hatten,[31] ein Einlenken nahe. Kritik an der Unsinnigkeit inhaltsleerer Vollzugsmeldungen wurde in der zweiten Februarhälfte auch in höchsten Führungskreisen laut. Stalin formulierte sie in einem berühmt gewordenen Artikel, der am 2. März 1930 in der Pravda unter dem Titel «Vor Erfolgen von Schwindel befallen» erschien. Mit der nun üblichen Folgsamkeit schloss sich das ZK zwei Wochen später seinen Argumenten an. Die Parteispitze bemühte sich in diesen Dokumenten, den örtlichen Akteuren die Schuld an den Missständen zuzuweisen. Der Hauptvorwurf war dabei kaum anders als zynisch zu nennen: Sie hätten das Leninsche Prinzip der «Freiwilligkeit» missachtet. In ‹törichtem› Übereifer habe man selbst Kleintiere vergesellschaftet und manche Kampagne mit dem Einholen der Kirchenglocken begonnen. Nicht selten sei die Kollektivierungsrate in wenigen Tagen von «10 % auf 90 %» gestiegen – rein papierne Resultate, die dem Ziel mehr geschadet als genutzt hätten. Für die Zukunft lautete der Tagesbefehl daher: die Hast aufzugeben, auf Gewalt zu verzichten und das Erreichte zu konsolidieren.[32]
Stalins Schelte verursachte auf dem Dorfe eine «Sensation». Die Bauern vernahmen die Rückkehr zum Prinzip der Freiwilligkeit mit Erleichterung und zögerten nicht zu handeln – allerdings anders, als die Partei erwartet hatte. Die Atempause verwandelte sich in eine Massenflucht aus den soeben «gegründeten» Kollektivwirtschaften. Die Daten sprechen eine klare Sprache: Von 57,2 % in der UdSSR bzw. 58,6 % in der RSFSR sank der Anteil der vergemeinschafteten Haushalte Monat für Monat, bis er Anfang Oktober mit 21,8 % bzw. 20,4 % seinen Tiefpunkt erreichte (vgl. Tab. 9). Damit fiel er in etwa wieder auf den Stand vom Beginn der gewaltsamen Kampagne zurück. Zur Korrektur vergangener Überspitzungen gehörte indes nicht nur die Möglichkeit, erpresste eigene Entscheidungen zu widerrufen. Hinzu kam die Zulassung von Klagen gegen erlittenes Unrecht. In der Tat ergaben Überprüfungen, dass nicht nur Mittelbauern, sondern sogar bednjaki «entkulakisiert» worden war. Im Zuge dieser Revision erhielten ca. 20 % der enteigneten Familien ihren Besitz zurück.[33]
Ungeachtet anderer Motive fiel die Schonzeit, die bis zum Spätsommer dauerte, in auffälliger Weise mit der Vegetationsperiode zusammen. Die Vermutung liegt nahe, dass sie auch die Absicht verfolgte, die Ernte nicht weiter zu gefährden. Dies schloss die Anerkennung des Umstands ein, dass die Frühjahrssaat noch von kollektivierten und Einzelbauern gleichermaßen auszubringen war. Auch Letztere wurden in die abermalige Kampagne einbezogen. Die Bemühungen um Planung und Steuerung stießen allerdings auf größere Hindernisse als zuvor. Das Dorf befand sich mitten im Umbruch. Selten dürfte das Chaos größer gewesen sein als in diesem Frühjahr 1930. Wo Umverteilungen tatsächlich durchgeführt worden waren, hatten die Kolchosen das beste Land genommen. Einzelbauern wurden mit den Streifen abgespeist, die übrig blieben. Zum Teil war der Boden so schlecht und so knapp, dass die Regierung einschritt. Realistisch erkannte sie, dass die Ernte ohne Mitwirkung der Einzelbauern nicht ausreichen würde. Ohnehin waren die Probleme groß genug. Der Bestand an Zugvieh hatte sich empfindlich verringert. Es fehlte an Traktoren und Saatgut. Vielerorts fand die Aussaat, als Folge der Turbulenzen, recht spät statt. Dennoch fiel die Ernte überraschend gut aus. Das günstige Ergebnis verdankte sich ganz überwiegend dem Wintergetreide und dem Fleiß der Einzelbauern, die es noch angebaut hatten. Der Sommerweizen dagegen, der sich unter der Regie der Kolchosen entwickelte, brachte bereits einen unterdurchschnittlichen Ertrag. Nach außen hin kümmerten sich die Herrschenden um solche Feinheiten nicht. Sie feierten die Ernte als Bestätigung der sozialistischen Umgestaltung der Landwirtschaft. Stalin ließ es sich nicht nehmen, seine Gegner bereits auf dem 16. Parteitag vom Juni 1930, dem er zu Jahresbeginn noch mit gemischten Gefühlen entgegengesehen hatte, vorzuführen. Mit Genugtuung versicherte er den «opportunistischen Klatschbasen», dass die «Getreidekrise» durch die «Wendung der Bauernmassen» zum Kolchos «in der Hauptsache als überwunden» zu betrachten sei. Daraus schloss er, dass der eingeschlagene Weg im Prinzip fortzusetzen sei. Der Bauernschaft sagte man das nicht so deutlich, um sie nicht vor dem Spätsommer zu verschrecken. Aber es lag auf der Hand, was kommen würde.[34]
Die Propaganda für die Fortsetzung der Kollektivierung begann im August 1930. Man entdeckte – da die ‹schlimmsten Feinde› bereits vernichtet waren – die «neuen Kulaken» und die «Halb» – bzw. «Unter»-Kulaken (podkulaki). Noch deutlicher als zuvor trat zutage, dass der Gegner nicht real, sondern eine Chiffre war, die für alles stand, was als Bedrohung des Parteikurses ausgegeben werden konnte. «Täglich und stündlich», so mahnte Andrej A. Ždanov – später Stalinscher Oberaufseher über das Geistesleben –, kröchen die Nachfolger der Unterdrücker von gestern «massenweise» aus ihren Verstecken, um denselben schändlichen Ausbeutungstrieb zu entfalten. Anfangs vertraute die Obrigkeit auf Werbung, um die Bauern zu bewegen, sich gegen solche Umtriebe in Kolchosen zusammenzuschließen. Im Dezember kam sie aber erneut zu dem Schluss, dass nur Zwang helfe: Die «zweite Welle» (S. Merl) der ‹Liquidierung der Kulaken als Klasse› begann. Bis zum Frühjahr 1931 ‹fand› man ungefähr noch einmal so viele dörfliche «Kapitalisten» wie bis zum Herbst 1930. Eine Unterbrechung blieb diesmal aus. Erst im Herbst 1931 hielt die Regierung das Kollektivierungsziel für erreicht und beendete die Kampagne.[35]
Obwohl schon aufgrund ihrer Planlosigkeit genauere Angaben darüber fehlen, wie viele Opfer diese Vergewaltigung des Dorfes kostete, liegen plausible Extrapolationen aus verschiedenen Teilinformationen vor. Allein die gemeldeten Enteignungen addierten sich im ersten Halbjahr 1930 auf etwa 350.000 Höfe. Eine beträchtliche Dunkelziffer hinzugerechnet, ergibt sich eine Summe von «mindestens 400.000, höchstens aber 500.000 Betrieben», entsprechend etwa 3 % aller Haushalte bei erheblichen regionalen Schwankungen mit dem höchsten Wert an der unteren Wolga (4,5 %). Nach Abzug der zurückgegebenen Wirtschaften, insgesamt mindestens 100.000, lässt sich die Gesamtzahl der in dieser ersten Periode endgültig enteigneten Betriebe auf 320.000 bis 400.000 schätzen. Eine durchschnittliche Familiengröße von sechs Personen zugrunde gelegt, lebten in diesen Wirtschaften mindestens zwei Millionen Menschen. Da die ortsnahe Umsiedlung auf größere Hindernisse stieß als erwartet, verursachte auch die zweite Entkulakisierungswelle 1931 erhebliche Opfer. Die Gesamtzahl der bis Ende 1931 von Haus und Hof vertriebenen Familien wird auf 600.000–80.0000 geschätzt, von denen mindestens 350.000, laut jüngster Studie zwischen 356.544 (entsprechend ca. 1,7 Mio. Personen) und 381.026 (entsprechend ca. 1,8 Mio. Personen) in ferne Neusiedlungsgebiete deportiert wurden. In der Addition ergibt sich ungefähr dieselbe Größenordnung, die Dokumente der OGPU und NKVD für das «Kulakenexil» ausweisen. Diesen Daten zufolge wurden in den beiden Kernjahren der Zwangskollektivierung 1930–31 ca. 1,8. Mio. Menschen als sog. «Sondersiedler» in ferne Gebiete deportiert, zu denen allerdings eine große Zahl – bis zu 0,3 Mio. – von Menschen hinzuzurechnen ist, die unterwegs an Krankheiten und Auszehrung starben. Ca. 2–2,5 Mio. oder 400.000–450.000 Familien wurden innerhalb ihrer Heimatregion zwangsumgesiedelt; weitere 1–1,25 Mio. entsprechend 200.000–250.000 Familien ‹dekulakisierten› sich selber. Alles in allem traf der Krieg gegen das Dorf mithin 5–6 Mio. Menschen oder 1 Mio. von ca. 25 Mio. Betrieben (gleich Haushalten), die man für diese Zeit annehmen kann.[36]
Auf einem anderen Blatt steht, wie viele Opfer im Sinne tatsächlich Verstorbener die Kulakenverfolgung kostete. Hier bewegt sich die seriöse Forschung auf besonders schwierigem Terrain. Am ehesten dürfen vorsichtige Schätzungen Plausibilität beanspruchen, die auf den genannten Zahlen über Zwangsumsiedlungen und Deportationen beruhen. Die geringsten Chancen, mit dem Leben davonzukommen, hatten sicher die etwa 100.000 der ersten Kategorie Zugeordneten. Nächstgefährdet waren diejenigen, die in unwirtliche Regionen des Nordens und Sibiriens verschleppt wurden. Wenn man deren Zahl mit 1,8 Mio. annimmt und eine erhöhte Sterblichkeit von 10–15 % aufgrund von Seuchen, Hunger, Entkräftung, klimatischen Unbilden und anderem mehr zugrunde legt, käme man auf 180.000–270.000 Todesopfer. Einige der besten Kenner haben diese Spanne auf der Grundlage früher Archivdaten für die Hungerjahre 1932–33 auf 241.355 präzisiert; von «mehreren Hunderttausend» Opfern spricht eine andere (ältere) Untersuchung. Allerdings bleiben solche Rechnungen überaus spekulativ. Die ersten postsowjetischen, auf Archivquellen gestützten Monographien über das «Kulakenexil» verzichten ganz auf summarische Daten und begnügen sich mit zahlreichen Einzelangaben. Fest steht nur, dass die Mortalität die Geburtenrate in den ersten Jahren (bis etwa 1936) deutlich – 1932 sogar um das Fünffache – überstieg und dass sie im hauptsächlichen Verbannungsgebiet, dem russisch-sibirischen Norden (Severnyj kraj), besonders hoch war. In jedem Fall haben sich verbreitete ältere – von Sachkennern ohnehin bezweifelte – Hochrechnungen auf 6,5 Mio. «Tote als Resultat [allein] der Entkulakisierung» dokumentarisch nicht bestätigen lassen. Solche Suggestion millionenfachen Mordes verdankte sich eher dem Bemühen, die Blutrünstigkeit der beiden schlimmsten Diktaturen (und Diktatoren) des vergangenen Jahrhunderts in besonders krassen Farben darzustellen und sie aneinander anzunähern, als nüchterner Bestandsaufnahme.[37]
Bei alledem ist auch die seriöse Forschung gut beraten, die Leidens- und Opferbilanz der Zwangskollektivierung nicht mit dem Jahresende 1931 abzuschließen. Die neue Aufmerksamkeit für dieses Problem in jüngerer Zeit hat – bei vielen offenen Fragen – alle Zweifel daran ausgeräumt, dass die schlimme Hungersnot der Jahre 1933/34 in unmittelbarem Zusammenhang mit dem willkürlichen Umsturz der Eigentums- und Produktionsverhältnisse auf dem Dorfe zu sehen ist. Nicht Trockenheit, wie offiziös behauptet wurde, brachte Millionen von Menschen den Tod, sondern eine ebenso starrsinnige wie brutale Beschaffungskampagne im Winter 1932/33, die der ohnehin schwer geschädigten Landwirtschaft auch das letzte Korn nahm. Der Katastrophe folgte die Tragödie.
Dieses Nachspiel begann bereits mit der Ernte vom Herbst 1931. Dank geringer Schäden an der Wintersaat wurde zwar ein völliger Fehlschlag vermieden; dennoch brachte man die geringste Menge seit 1924 ein. Die Anbaufläche war weiter geschrumpft; vor allem aber hielt die Auszehrung des Viehbestandes einschließlich der Zugtiere an. Besonders alarmierend musste der Umstand wirken, dass die Hektarerträge der Sowchosen und Kolchosen bei Getreide deutlich unter denen der Einzelbauern lagen. Bereits hier kündigte sich die unterlegene Produktivität der gemeinsamen Bewirtschaftung an, die bald zum chronischen Defekt des ökonomischen Sozialismus nicht nur im agrarischen Sektor wurde. Da Partei und Regierung eben auf diese Transformation setzten und einen Bürgerkrieg riskiert hatten, um sie durchzuführen, war eine Versorgungskrise größeren Umfangs vorprogrammiert.
Es hängt von mehreren Faktoren ab, in welchem Maße die verheerende Hungersnot der beiden folgenden Jahre als Produkt der selbsterzeugten Zwangslage oder als Resultat fortgesetzter, primär ideologisch begründeter wirtschafts- und steuerpolitischer Inkompetenz zu gelten hat. In keinem Falle kann man Stalin und das Politbüro aus der Verantwortung entlassen. Unabhängig auch davon, wann sie das ganze Ausmaß des Desasters begriffen, ist unbestritten, dass sie zögerlich und unangemessen reagierten. Spätestens seit dem Frühjahr 1932 waren Indizien für kommendes Unheil erkennbar, und manches deutet darauf hin, dass sie auch registriert wurden. Als Folge der drastischen Abnahme tierischer Zugkraft verringerte sich in der Ukraine die Anbaufläche von Getreide im Vergleich zu 1931 um 14 %; noch stärker (um gut 20 %) sank das Erntevolumen. Ein ähnlicher Rückgang war im nördlichen Kaukasus, einem ebenfalls wichtigen Getreideanbaugebiet, zu beobachten. Dennoch griff die Führung nicht ein. Anfang Mai 1932 senkte sie zwar die Beschaffungsquote, gemessen an den Plandaten, erheblich, kaum aber in Relation zu dem tatsächlichen, weit geringeren Aufkommen. Eine wirkliche Entlastung blieb aus. Als der Fehlbedarf immer augenfälliger wurde, suchte man stattdessen gemäß der eingeschliffenen Logik der Nach-NĖP-Jahre bei offenem Zwang Zuflucht. Ein bald berüchtigtes Dekret vom 7. August verhängte schwere Strafen für die Verletzung ‹sozialistischen Eigentums›; fortan drohte auch bei bloßer Abzweigung von Getreide, als ‹Diebstahl» gebrandmarkt, Lagerhaft nicht unter zehn Jahren und im schlimmsten Fall sogar die Erschießung. In besonderem Maße drangsalierte man die verbliebenen Einzelbauern. Aber auch die Kolchosen wurden in harscher Form genötigt, ihren Ablieferungspflichten strikt und ohne Abschlag nachzukommen. Da die Ernte des Jahres 1932 entgegen offizieller Schönfärberei noch schlechter ausfiel als die schon niedrige des Vorjahres, konnte die Hungerkatastrophe des folgenden Jahres kaum ausbleiben.[38]
Über die Frage der Ursachen für dieses Massensterben ist seit seiner ‹Wiederentdeckung› im Gefolge des fünfzigsten Gedenkjahrs intensiv diskutiert worden. Sie verband sich mit dem Vorwurf, Stalin und seine großrussische Entourage hätten den Hunger gezielt verschärft, um die aufsässige, nach Eigenständigkeit strebende ukrainische Nation auszurotten. Zum Beleg eines solchen planvollen Genozids wurden auf brüchiger Quellengrundlage Berechnungen vorgenommen und Szenarien entworfen, die beim nichtbetroffenen wissenschaftlichen Publikum überwiegend auf Skepsis stießen. Erst die Öffnung der Archive hat nach 1991 neue Einsichten ermöglicht. Zugleich haben die – schon vor dem offenen Krieg der letzten Jahre – zunehmenden Spannungen zwischen Russland und der Ukraine in Verbindung mit einer Renaissance nationalen Denkens auf beiden Seiten nicht eben zu größerer Nüchternheit der Betrachtung beigetragen. Im Ergebnis dauert die Debatte an, auch wenn kaum zu sehen ist, dass sie wirklich Neues zutage fördern würde.
Wie viele Opfer man nun genauer dem Hunger zuschreibt, ist überaus schwer zu ermitteln. Die amtlichen Daten für 1932 und 1933 sparen die kazachische Steppe aus, weil es dort keine Registration gab. In den Zentren des Todes, den Dörfern der Ukraine, verendeten die Menschen in so großer Zahl, dass niemand mehr Buch führen konnte, wie selbst die OGPU berichtete. Auch ministerielle Berichte an übergeordnete Instanzen wiesen auf solch «beträchtliche» Erfassungslücken hin. Ihre ungefähre Dimension lässt die nachträgliche Korrektur einer archivierten Liste erahnen, in der die ursprünglichen Zahlen für die RSFSR um 27 % und für die Ukraine um 13 % nach oben korrigiert wurden. Einen ‹absoluten› Anhaltspunkt bietet die oft zitierte Lücke zwischen der Bevölkerungszahl, die der Zensus von 1937 nach Maßgabe der Zählung von Ende 1926 bei Fortschreibung des ‹normalen› Nettozuwachses (d.h. der Differenz zwischen Geburtenrate und Mortalität) hätte ergeben müssen, und dem tatsächlichen Resultat. Statt 168 Mio. Einwohner erbrachte die Befragung nur 162 Mio. (weshalb die Zahlen nicht veröffentlicht wurden). Die ‹Aufteilung› dieser ‹verschwundenen Seelen› ist schwierig und umstritten, weil es gute Gründe für die Annahme gibt, dass ein Teil der Lücke auf eine zu niedrige Ansetzung der Mortalität zurückgeht. Unter Berücksichtigung dieser Korrektur schätzt die jüngste und bis auf Weiteres verbindliche Darstellung die Gesamtzahl der Opfer der Hungerkatastrophe auf 5,7 Mio., von denen 1,3–1,7 Mio. auf Kazachstan entfallen.[39]
Kein Kompromiss ist dagegen bezüglich der weitergehenden und eigentlichen nationalukrainischen These vom gezielten Genozid in Sicht. Unbestritten ist die bewusste Verschärfung der Krise durch die Moskauer Führung; außer Zweifel steht auch, dass diese dabei ein Massensterben in Kauf nahm und ihr dessen Dimension nicht verborgen geblieben sein kann. Ebenso wenig ist aber zu leugnen, dass überaus viele, in Relation zur Bevölkerung sogar die meisten Opfer in Kazachstan zu beklagen waren, dass der Hunger in vergleichbar schrecklicher Weise auch im Schwarzerdegebiet an der unteren Wolga (ebenfalls einem wichtigen Zentrum der Getreideproduktion) wütete, dass er aber die ukrainischen Städte, anders als die Dörfer, weitgehend verschonte. Letztlich steht daher die Definition des verwendeten Genozidbegriffs zur Diskussion. Bei enger Auslegung müssten solche Befunde dazu führen, ihn abzulehnen. Stalin war gewiss kein Freund der Ukraine, und der Massenterror wütete nicht zuletzt hier. Aber hätte er die ukrainische Bevölkerung gezielt ausrotten wollen, wäre die Verschonung der Städte oder die ‹Mitleidenschaft› der großrussischen Wolgaregion nicht sinnvoll zu erklären. Vielmehr herrschte aufgrund einer ideologiegetriebenen und realitätsblinden, ebenso inflexiblen wie unfähigen diktatorisch-zentralistischen Politik in allen Getreideüberschussgebieten verheerende Not, weil man nach starren Plänen zu viel abzog und eine Katastrophe skrupellos in Kauf nahm. Soweit die Behörden Teile des Landes vor dem Schlimmsten retten wollten, galt ihre Sorge nicht primär russischen Regionen, um im Nebeneffekt den ukrainischen Eigenwillen zu brechen, sondern den Städten, der Arbeiterschaft und der Fortführung des industriellen Spurts. Nicht nationale, sondern bolschewistischmarxistische Prioritäten setzten sich durch. Die ‹Schutzbefohlenen› der Ideologie – und des Fünfjahresplans – kamen in dieser Hinsicht in der Tat relativ glimpflich davon.[40]
Ob der sozioökonomische Umbruch ohne analoge politische und kulturelle Umwälzungen überhaupt denkbar war, lässt sich nur spekulativ beantworten. Außer Zweifel aber dürfte stehen, dass eine Abstützung durch politisch-sozialen Zwang in dem Maße unausweichlich wurde, wie sein Tempo zunahm. Neben die weltgeschichtlich neue Organisation der Gesamtwirtschaft trat als weitere Säule der sozialistischen Ordnung eine Herrschaftsform, die den Bewegungsraum in Gesellschaft und Kultur weiter einengte. Auch wenn der Staat weder in diesen Jahren noch später eine totale Kontrolle erreichte, liquidierte er den bescheidenen Rest an nichtkonspirativer Denk- und Handlungsfreiheit, der noch verblieben war. Kaum zufällig begann mit der Verkündung des ersten Fünfjahresplans eine Serie von Schauprozessen, die bruchlos, wenn auch nicht ohne qualitativen Wandel in die Justizmorde an einstigen und aktuellen, tatsächlichen oder vermeintlichen Rivalen und ‹Abtrünnigen› im «Großen Terror» (R. Conquest) der folgenden Jahre überging. Ebenso wenig entsprang es einem bloß chronologischen Zusammenhang, dass mit dem Ende der NĖP auch die letzte Opposition innerhalb der bolschewistischen Führung gegen die Mehrheitsfraktion niedergeschlagen wurde. Der vielfache Substitutionsprozess, zu dem die nachrevolutionäre politische Verfassung längst degeneriert war, näherte sich seinem Höhepunkt: Die Clique um Stalin trat an die Stelle der Partei, die ihrerseits das ‹Proletariat› zu vertreten beanspruchte, in dessen Namen sie die Bauernschaft endgültig unterwarf. Schließlich gehörten auch grundlegende soziale und mentale Veränderungen in diesen Zusammenhang. Sie ergaben sich nicht nur aus der wirtschaftlichen Dynamik, sondern ebenso aus dem gezielten Bemühen, eine neue, politisch loyale technisch-administrative Elite auf der Grundlage neu entstandener Schichten in der Arbeiterschaft zu rekrutieren. Zugleich zeigte die monopolistisch abgesicherte ideologische Durchdringung des kulturell-geistigen Lebens Wirkung: Eine junge Generation rückte auf, die bewusst nur noch die Sowjetgesellschaft erlebt hatte und sich – mit welcher rollenspezifischer Differenzierung auch immer – engagiert zu ihren Grundwerten und -normen bekannte.
Die Bemerkung trifft sicher ins Schwarze, die «rechte» Opposition habe das merkwürdige Schauspiel einer Gruppe geboten, die besiegt wurde, bevor sie überhaupt entstand. Diese Besonderheit verband sich, auch kausal, mit weiteren Kennzeichen. Anders als die linken Gegner der Mehrheitspolitik knüpften die «rechten» an keine Tradition in der Partei an. Während sich basisdemokratische und ideologisch puristische Tendenzen seit der Machtübernahme immer wieder bemerkbar gemacht hatten, entstand der neue Dissens erst durch die Zwangsmaßnahmen vom Winter 1927/28. Erst die Abkehr von der NĖP schuf die Front, zu deren Verteidigung sich Bucharin, Rykov, Tomskij und andere zusammenfanden. Darüber hinaus aber einte sie wenig. Die «rechte» Opposition war noch loser zusammengefügt als ihre programmatisch konträre Vorgängerin. Damit hing zusammen, dass sie auch leichter zu spalten war und weniger Widerstand leistete. Die «rechte» Opposition machte eigentlich keine der offiziellen Ideologie innewohnende Option geltend, sondern versuchte, die Angemessenheit der praktizierten, pragmatischen Politik für das sozialistische Endziel theoretisch neu zu begründen.
Dennoch war der Ausgang des Konflikts nicht vorentschieden. Als Stalin auf kriegskommunistische Methoden zurückgriff, um der abermaligen Getreidekrise Herr zu werden, war sein Kurswechsel durchaus riskant. Zwar hatte der 15. Parteitag die planwirtschaftlich beschleunigte Industrialisierung endgültig auf die Tagesordnung gesetzt; die Wahrscheinlichkeit sprach deshalb dafür, dass sich auch die landwirtschaftliche Struktur über kurz oder lang ändern musste. Aber Art und Weise dieses Wandels blieben offen. Größere Berechenbarkeit und Kompatibilität mit der Industrie ließen sich auf verschiedenen Wegen erreichen. Dass auch die ideologisch konsequenteste Lösung, die Kollektivierung, auf uneingeschränkter Freiwilligkeit beruhen musste, hatte bis dahin schon deshalb niemand in Frage gestellt, weil der unantastbare Lenin selber in einem nachgelassenen Aufsatz die Notwendigkeit betont hatte, als Gegengewicht gegen die NĖP verstärkt für die Genossenschaft zu werben und die Bauern von ihren Vorteilen zu überzeugen. Deshalb fanden die aufgeschreckten Anhänger der alten Ordnung durchaus Mitstreiter, als sie gegen die außerordentlichen Maßnahmen Front machten. Indizien weisen darauf hin, dass sich selbst so treue Gefährten Stalins wie Kalinin, Vorošilov, A. A. Andreev oder Ordžonikidze anfangs bedeckt hielten, ohne allerdings für die Gegenposition Partei zu ergreifen. So war auch das ZK, das im April 1928 zusammenkam, nicht bereit, von einem Monat zum anderen die Politik zu widerrufen, die der Staatsgründer selbst für richtig erkannt hatte. Noch deutlicher plädierte das Juli-Plenum für die Fortsetzung der NĖP. Bucharin fand in der Resolution sogar ganze Passagen seines Entwurfs wieder, so dass er sich nicht ohne Grund als Gewinner sah.[41]
Auf der anderen Seite machte die Zusammenkunft klar, dass sich die Fronten verfestigt hatten. Stalin dachte nicht daran aufzugeben, sondern forderte nun offen eine grundsätzlich andere Agrarpolitik. Mit guten Gründen erkannte er in der Versorgungskrise ein strukturelles Problem, das nach seiner nunmehrigen Meinung nur radikal behoben werden konnte: Die technisch primitiven Einzelwirtschaften mussten in rationelle Großbetriebe überführt werden.[42] Erst diese vielbeachtete Rede machte Bucharin und anderen vollends klar, dass ihr bisheriger Mitstreiter eine prinzipielle Wende vollzogen hatte. Nun erst bildete sich aus prominenten, aber wenigen Verteidigern der alten Politik die «rechte», öffentlich aber noch nicht so genannte «Opposition». Bucharin nahm nun auch die erwähnten Kontakte zu Kamenev auf, um die Möglichkeit einer Zusammenarbeit mit den Resten der Linken zu erkunden. Weil Stalin sich aber auf die Position der einstigen Linken zubewegte – ohne dass die gängige Meinung zuträfe, er habe deren Programm übernommen –, blieb die Fühlungnahme ohne Resultat. Trotzki übte aus dem fernen Alma Ata zwar heftige Kritik an Stalins neuem Kurs und warnte vor ungehemmter staatlicher Gewalt. Aber seine Anhänger hielten sich zurück; nicht wenige begrüßten den Industrialisierungsbeschluss sogar und stellten sich mit Rat und Tat in den Dienst einer Politik, die sie für überfällig und genuin sozialistisch hielten.
Schon wegen dieser grundsätzlichen Sympathie konnte Stalin seine neue Position gestärkt sehen. Propagandistisch hielt er sich jedoch noch zurück. Zwar beschwor er nun allgemein eine «rechte Gefahr»; aber Ross und Reiter blieben im Dunkeln. Anscheinend wagte er es noch nicht, mit offenen Karten zu spielen. Schließlich war er es, der sich anschickte, Leninsche Grundsätze über Bord zu werfen; und immerhin verfügten seine wichtigsten Gegner über einflussreiche Ämter: Bucharin als langjähriger Chefredakteur der Pravda, Rykov als Vorsitzender des SNK und Tomskij als langjähriger Vorsitzender des Gewerkschaftsbundes. Umso eher griff Stalin auf die bewährten Methoden seiner Auseinandersetzung mit Rivalen zurück. Eine Vorentscheidung zu seinen Gunsten fiel im Frühherbst, als es ihm gelang, den Moskauer Parteisekretär N. A.Uglanov – vier Jahre zuvor von ihm selbst eingesetzt, um Kamenevs wichtigste Bastion zu schleifen –, der sich auf dem Juli-Plenum als entschiedener Verteidiger der NĖP profiliert hatte, unter Ausnutzung lokaler Konflikte abzusetzen. Dabei war es bezeichnend, dass die mächtigen Gesinnungsgenossen des Degradierten im Politbüro untätig blieben. Erst post festum erkannten sie, was geschehen war, und legten ihre Ämter mit Aplomb nieder. Tatsächlich zwangen sie Stalin, dem das Finale zu früh kam, zum Einlenken. Allerdings ließen sie sich mit minderen Konzessionen abspeisen. Uglanov wurde nicht wiedereingesetzt. Letztlich errang Stalin einen leichten Sieg.[43]
Dieser Ausgang lud nachgerade dazu ein, die Kampagne durch einen Angriff auf die Gewerkschaftsführung fortzusetzen. Auch hierbei brauchte Stalin nicht lange nach Hilfstruppen zu suchen. Der Komsomol, Repräsentant der aufstrebenden, ideologisch bewussten Arbeiter- und Funktionärsgeneration, bot sich an, der ‹versöhnlerischen› und ‹etablierten› Gewerkschaft die Sporen zu geben. Nach publizistischen Vorgeplänkeln fand der offene Schlagabtausch auf dem achten Gewerkschaftskongress im Dezember 1928 statt. Zum Sprecher des Komsomol und eines neuen klassenkämpferischen Kurses machte sich dabei Ždanov, der seine ebenso prominente wie berüchtigte Karriere mit diesem Auftritt begann. Auch wenn Tomskij sein Amt rettete, wurden ihm mit Ždanov, Ordžonikidze, Kujbyšev, Kaganovič und anderen so viele Stalinisten an die Seite gestellt, dass die Gewerkschaft als organisatorischer Stützpunkt der Opposition gleichfalls ausfiel.
Bei alledem bewahrte der Konflikt immer noch den Charakter eines Schattenboxens. Beide Seiten legten die Masken nicht ab, obwohl jeder führende Bolschewik wusste, wer gejagt wurde und was umgekehrt «Lenins politisches Testament» empfohlen hatte, das Bucharin in der Überschrift eines aufsehenerregenden Leitartikels zum fünfjährigen Todestag des Staatsgründers zitierte. Der offene Endkampf begann erst, als im Februar 1929 die Gespräche Bucharins mit Kamenev bekannt wurden, vor allem aber Stalin mit Unterstützung nicht nur der Mehrheit im Politbüro, sondern auch der mittleren und unteren Parteiverbände auf eine Entscheidung über die Agrarfrage und das Industrialisierungstempo drängte. Bemerkenswert war dabei erneut das taktische Geschick Stalins, der abwartete, bis ihm ein überzeugungskräftiges formales ‹Argument› in die Hände fiel. Denn obgleich auch inhaltlich gestritten wurde, erwies sich der Vorwurf der Fraktionsbildung abermals als wirksamste Waffe. So gesehen, war die Erfindung einer neuen ‹parteifeindlichen› Gruppierung, mochte sie noch so durchsichtig sein, nötig. ‹Verrat› wurde geahndet, nicht eigentlich Dissens. Aber Stalin gelang es unter Ausnutzung eines weiter wachsenden Bedürfnisses nach Geschlossenheit, das man sowohl auf den andauernden Bedrohungskomplex als auch auf eine zunehmende Ideologisierung vor allem der nachwachsenden Parteigeneration zurückführen kann, den Dissens als Verrat darzustellen. Die Hauptbeschuldigten hatten dem Kesseltreiben nichts entgegenzusetzen, zumal Bucharin und Tomskij nach dem April-Verdikt ihre exponierten Ämter verloren. Als sie im November 1929 parallel zum Beschluss über die Zwangskollektivierung auch aus dem Politbüro ausgeschlossen wurden, suchten sie sogar im Widerruf Rettung. Allerdings nützte ihnen das Reuebekenntnis wenig. Anders als ihre linken Vorgänger wurden sie zwar wieder in die Parteiführung aufgenommen (ein Indiz des scheinbar eher ‹taktischen› als prinzipiellen Charakters der Meinungsunterschiede), aber zu wirklichem Einfluss gelangten sie nicht mehr. Auch Bucharin war, obwohl ihm Stalin nach seinem Sieg wieder eine wichtige Funktion übertrug (die Chefredaktion der Izvestija 1934), nur noch ein Schatten seiner selbst. Am ehesten konnte sich Rykov behaupten; er verlor zwar das Amt des Regierungschefs, wurde aber mit dem Volkskommissariat für Post- und Telegraphenwesen abgefunden, das er bis zu seiner Verhaftung 1936 leitete.[44]
Die Unterwerfung der «rechten» Gegner Stalins markierte den endgültigen Abschluss der seit dem Bürgerkrieg geführten Debatte über den ‹richtigen› Weg zu dem, was man Sozialismus nannte. Zugleich fand mit ihr der Kampf um Lenins Nachfolge sein definitives Ende. Aber es wäre voreilig, sie bereits als wirksame Verhinderung von Opposition überhaupt zu werten. Vielmehr zeigen mehrere «Verschwörungen» an, dass die gewaltsam durchgesetzte Umwälzung der industriellen und agrarischen Struktur noch mindestens drei Jahre umstritten blieb. Sicher verfügten sie nicht über die Kraft, Stalins Herrschaft ernsthaft zu bedrohen. Dennoch machen sie deutlich, dass der Diktator noch nicht so fest im Sattel saß, wie es im Rückblick scheinen mochte. Erste kritische Bemerkungen äußerten Ende 1930 der Vorsitzende des SNK der RSFSR S. I. Syrcov und der Sekretär der transkaukasischen KP V. V.Lominadze. Beide gehörten der jüngeren Funktionärsgarde an, beide hatten mit Stalin gegen die «Rechte» gefochten. Nach einem Jahr gewaltsamer Strukturveränderungen waren sie aber zutiefst enttäuscht und entsetzt. Syrcov verhöhnte die Muster-Traktorenfabrik bei Stalingrad als «Potemkinsches Dorf», nannte den angeblichen Durchbruch bei der Industrialisierung «Augenwischerei» und attackierte die maßlose Zentralisierung samt einer zügellosen Bürokratie. Lominadze variierte eine Bucharinsche Formulierung, als er dem Regime einen ‹herrenmäßig-feudalen› Umgang mit den Bauern und Arbeitern vorwarf. Allem Anschein nach vermochten die Kritiker nur wenige Sympathisanten zu gewinnen. Aber sie sprachen aus, was viele dachten. Höhere Wellen schlug eine Affäre, in deren Mittelpunkt im Herbst 1932 der ehemalige Moskauer Parteibezirkssekretär M. I. Rjutin stand. Mit einigen Gleichgesinnten verfasste er eine umfangreiche Plattform, die Stalin unter anderem den «bösen Geist der russischen Revolution» nannte, dessen Rachsucht und Machtgier das Regime an den Rand des Abgrunds gebracht habe. Der Angegriffene war aufs Höchste alarmiert und antwortete mit gleicher Schärfe. Er klagte Rjutin vor dem Politbüro an und forderte seinen Kopf. Diesmal jedoch versagten ihm seine Mitstreiter die Gefolgschaft und beschränkten sich auf den Ausschluss des Widersachers aus der Partei und seine Verbannung aus der Hauptstadt. Es versteht sich, dass Rjutin den kommenden Terror ebenso wenig überlebte wie alle anderen, die es gewagt hatten oder noch wagten, gegen den Diktator aufzubegehren.[45]
Weil die Unzufriedenheit unterhalb der obersten Führung offenbar größer war, als der einseitige Blick auf Stalins engste Umgebung bislang aufgedeckt hat, gibt die Frage manche Rätsel auf, warum sich auch die «rechte» Opposition so leicht ausbooten ließ. Ihr gehörten einflussreiche und erfahrene Parteiführer an. Sie konnte sich auf kopfstarke Gefolgschaften und machtvolle Apparate stützen. Und vor allem: Sie plädierte für eine Politik, die unbestritten die Urheberschaft Lenins für sich in Anspruch nehmen durfte. Dennoch beschränkte sich ihre Gegenwehr letztlich auf theoretische Darlegungen ihrer abweichenden Position. Noch weniger als ihre linken Vorgänger wagten es die «rechten Abweichler», sich an die Parteiöffentlichkeit zu wenden. Indem sie selbst darum bemüht waren, den Konflikt im engsten Kreis der Macht auszutragen, und trotz des flüchtigen Kontakts zu Kamenev auch das vermeintlich unumstößliche Gebot beachteten, der Geschlossenheit der Partei als Garant ihrer Schlagkraft nicht zu schaden, akzeptierten sie Spielregeln, von denen der Generalsekretär am ehesten profitierte. In diesem Sinne waren auch sie Gefangene ihrer ideologischen Orthodoxie und der Leninschen Parteitradition.[46]
Stalin und seine Mitstreiter beließen es nicht bei der Ausschaltung der letzten Opposition. Der neue Weg zum Sozialismus bedurfte einer breiteren politischen Absicherung in und außerhalb der Partei. Vor allem zwei Maßnahmen sorgten für eine solche Disziplinierung: die Fortsetzung der «Säuberungen» und die Veranstaltung von Schauprozessen. ‹Durchleuchtungen› der Mitglieder hatten die bolschewistischen Führer schon mehrfach beschlossen. Dies geschah gewöhnlich nach Phasen unkontrollierten Wachstums in der Absicht, das bolschewistische Selbstverständnis als proletarische Avantgarde und politische Elite wieder zur Geltung zu bringen. Gerade die erste Planperiode brachte Gefährdungen dieses Ideals mit sich. Die Zahl der registrierten Parteiangehörigen stieg besonders steil an, von 775.000 (und 373.000 Kandidaten) 1927 (= 100 %) auf 2,2 Mio. (und 1,3 Mio. Kandidaten) zum Jahresbeginn 1933 (= 309,9 %). Zugleich wuchsen als Folge der Besinnung auf Ideologie und Klassenkampf die ‹programmatischen› Anforderungen. Sie begründeten eine Diskrepanz, die abermals Anlass gab, Charakter und Moral der Genossen genauer zu betrachten. Wie in den zwanziger Jahren achtete man dabei, gleichsam als Bestimmungsgrund des politischen und moralischen Verhaltens, vor allem auf die soziale Herkunft.[47]
Gleich zwei Säuberungen sollten helfen, solchen Wildwuchs zu beschneiden. Die erste fand nicht nur zeitlich parallel zum großen Umbruch statt. Unter Beteiligung «parteiloser» Arbeiter und armer Bauern, wie das ZK im April 1929 erläuterte, sollte sie dazu beitragen, die sozialistische Offensive von ‹kapitalistischen› und ‹kleinbürgerlichen› Sabotageakten freizuhalten. In der Tat zog man allem Anschein nach auch die nichtparteiliche Basis zu den Nachforschungen heran, deren Ertrag von Denunziationen kaum zu unterscheiden war. Im Ergebnis wurden ca. 11 % der Mitglieder und Kandidaten (etwa 170.000 Personen) ausgeschlossen, die große Mehrheit davon wegen Verstößen gegen die Parteidisziplin (oppositionelle Umtriebe, mangelnde ideologische Festigkeit, Trägheit), ‹unsozialistischen› Verhaltens (Alkoholismus, Grobheit, sexuelles Fehlverhalten) und nachlässiger Ausführung von Direktiven. Vor allem zur erst- und der letztgenannten Kategorie dürften manche Verhaltensweisen gerechnet worden sein, die aus anderer Perspektive als bloßer Dissens mit der Parteiführung zu bezeichnen wären. Alles spricht deshalb dafür, dass die Überprüfung im Wesentlichen eines bewirkte: die Partei gefügig zu machen und der Zentrale dafür noch eine pseudoplebiszitäre Legitimation auszustellen. Wenngleich die «Säuberungen» nach dem Bürgerkrieg sicher ebenfalls schon Sympathisanten der ‹Arbeiteropposition› getroffen hatten, avancierte dieser Effekt nun zum Hauptzweck. Erstmals wurde die Säuberung vorrangig zum Instrument des Machtkampfes und der Beherrschung der Partei durch eine ihrer Fraktionen.
Die zweite Säuberung wurde Anfang Januar 1933 beschlossen und im Laufe der folgenden anderthalb Jahre durchgeführt. Anstoß dazu gab die Einsicht, dass man seit 1929 einen ähnlichen Fehler wie im Bürgerkrieg begangen und nahezu jeden Eintrittswilligen aufgenommen hatte. Danach änderten sich die Prioritäten, Konsolidierung löste die Mobilisierung ab. Stalin brauchte seine Kohorten zwar noch, aber nur noch a ls gefügige und akklamierende Gefolgschaft. Die zweifelnde Unruhe, die sicher über die wenigen bekannten Proteste hinausging, sollte auf erprobte Weise beseitigt werden: durch Maßregelung «klassenfremder und klassenfeindlicher Elemente», die Entlarvung von «Doppelzünglern» und «entarteten» Personen oder die Bloßstellung von «Karrieristen» und «bürokratisierten Elementen». Tatsächlich brachte die zweite Säuberung dieser Jahre etwa 17 % der Mitglieder und Kandidaten um ihre Hoffnungen; weitere 6,3 % wurden zurückgestuft. Unter den Ausschlussgründen überwog die Inaktivität. An zweiter Stelle rangierte das ‹falsche Bewusstsein›, das um diese Zeit wohl überwiegend als bloßer Zweifel an der Weisheit der befohlenen Politik zu verstehen war. Stalins Equipe duldete auch keine leise Unzufriedenheit mehr, die neue Ära hatte endgültig begonnen.
Trotz solchen Nachdrucks veränderten die Säuberungen die Gesamttendenz des sozialen Strukturwandels der Mitgliederschaft kaum. Weiterhin nahm der Anteil der Arbeiter und Bauern zu; weiterhin ging die Repräsentanz von Angestellten zurück (vgl. Tabelle 10 sowie A 7/2 im Anhang).