Tabelle 11: Entwicklung der Studentenzahlen an den Hochschulen der
UdSSR 1927/28–1932/33
Unterrichts- jahr |
alle Hochschulen |
Technische Hochschulen |
|||||
Zahl |
Studentenzahlen |
davon |
Studentenzahlen |
davon |
|||
absolut |
in % |
Arbeiter (%) |
absolut |
in % |
Arbeiter (%) |
||
1927/28 1928/29 1929/30 1930/31 1931/32 1932/33 |
129 – – 537 645 721 |
159.800 166.800 191.100 272.100 394.000 469.800 |
100,0 104,4 119,6 170,3 246,6 293,9 |
25,4 30,3 35,2 46,4 51,4 50,3 |
45.200 52.300 62.800 130.300 197.300 233.400 |
100,0 115,7 138,9 288,3 436,5 516,4 |
38,3 43,1 46,4 61,7 63,7 64,6 |
Quelle: Schröder, Industrialisierung, 61 (vgl. auch Tab. 5/2 im Anhang)
Demnach wuchs die Zahl der Studenten an allen Hochschulen im ersten Planjahrfünft von knapp 160.000.1927/28 auf etwa 470.000.1932/33, mithin um etwa 200 %. Noch stärker stieg die Hörerzahl an den Technischen Hochschulen; sie erhöhte sich im gleichen Zeitraum von 45.200 auf 233.400 entsprechend einer Differenz von 416,4 %. Man erreichte dies zum einen durch eine Verkürzung der Ausbildung, vor allem aber durch den Ausbau der Institutionen selbst. Auch wenn die veränderten Plandaten nach 1929 noch mehr verlangten, bleibt die Leistung eindrucksvoll. In wenigen Jahren wurde das Fundament für jene technisch-administrative Elite gelegt, die – mit welchen Defiziten auch immer – in der Lage war, die Vielzahl neuer Führungsaufgaben in der vollständig verstaatlichten Industrie wahrzunehmen. Zugleich erreichte die Partei auch in sozial-ideologischer Hinsicht ihr Ziel: Die Bildungsexpansion eröffnete den Unterschichten Möglichkeiten der Aufwärtsmobilität, die ebenfalls (nicht nur) in der russisch-sowjetischen Geschichte ihresgleichen suchten. Der Anteil von Arbeiterkindern auf allen Hochschulen stieg zwischen 1927/28 und 1932/33 von ca. 25 % auf über 50 %, während der von Studenten aus Bauern- und Angestelltenfamilien leicht zurückging. An den Technischen Hochschulen betrugen die entsprechenden Prozentsätze für Hörer mit ‹proletarischem› Hintergrund sogar 38,3 % (1927/28) bzw. 64,6 % (1932/33); auch auf diesen Schulen war im gleichen Zeitraum ein deutlicher Rückgang bei Studenten bäuerlicher Herkunft und ein leichter Verlust bei solchen aus Angestelltenfamilien zu verzeichnen. Schließlich vergrößerte sich als nicht unerwünschter Folgeeffekt auch die Zahl der Parteimitglieder und Komsomolzen unter den Studenten. An allen Hochschulen betrugen die einschlägigen Quoten 1928 15,3 % bzw. 19,2 %, 1933 22,5 % bzw. 30,5 %, an den Technischen Hochschulen 1928 21,3 % bzw. 16,2 % und 1933 29 % bzw. 30 %; noch höher lagen sie in den gesellschafts- und wirtschaftswissenschaftlichen Hochschulen sowie in den Arbeiterfakultäten.[54]
Was diese Maßnahmen auf der oberen Ebene des Bildungswesens in Bewegung setzten, wurde von einer breiten Kampagne auf der unteren gestützt. Eine vorrangige Sorge galt dabei immer noch dem Kampf gegen das Analphabetentum. Die Einsicht führte zu Taten, dass sich ein Staat, der seine «kulturell-technische Rückständigkeit» in einem Kraftakt sondergleichen zu überwinden und zu den kapitalistischen Gesellschaften des Westens aufzuschließen suchte, keinen völligen Mangel an Schrift- und Lesefähigkeit bei nennenswerten Bevölkerungsgruppen mehr leisten konnte. Sie wurde zur Triebkraft eines regelrechten «Kulturfeldzugs». «Kulturarmisten» aus den Reihen ideologiefester Arbeiter zogen in Ausübung einer angemaßten Patronage (ševstvo) aufs Land, um den Bauern – nicht zum ersten Mal – das Licht des Wissens zu bringen. Bei den Dorf- und Kreissowjets richtete man weitere Niederlassungen der «Gesellschaft ‹Weg mit dem Analphabetismus›» und Kommissionen zur Koordination ihrer Kampagnen ein. Im Juli 1930 fasste das ZK den Grundsatzbeschluss zur Einführung der allgemeinen Schulpflicht für alle 8–11jährigen Kinder. Ein Jahr später schrieb man auch den Erwerb von Elementarbildung für Erwachsene per Gesetz verbindlich fest. Im Bereich der technisch-handwerklichen Ausbildung erhielten die Fabriken und Unternehmen mehr Kompetenzen. Eigene Schulen eröffneten zumindest den größeren Betrieben die Möglichkeit, anzulernende Zuwanderer oder reguläre Lehrlinge selbst auf ihre neuen Aufgaben vorzubereiten. Zugleich wurden die Technischen Hochschulen in die Zuständigkeit des VSNCh überführt und damit tendenziell an die Bedürfnisse der großen Industrie angepasst. Auch diese Veränderungen vollzogen sich im Eiltempo.[55]
Bei alledem hatte diese äußerlich so glänzende Bilanz auch ihre dunklen Seiten. Auf beiden Ebenen wurde die tiefgreifende Transformation nicht nur mit Zwang und Gewalt dekretiert, sondern auch praktiziert. Das Ausmaß physischen Nachdrucks stand hinter dem Ausmaß des formal Erreichten nicht zurück. Vor allem aber besteht Einigkeit über eine negative Folge des raschen und rücksichtslosen Wandels: den Verfall der Qualität. Viele Professoren lehnten den Massenansturm auf die Hochschulen ebenso ab wie die verkürzten Studiengänge. Sie beklagten, dass bestenfalls Fertigkeiten, aber keine Fähigkeiten vermittelt und Diplome vergeben würden, die ihren Namen nicht mehr verdienten. An den Schulen nutzten die stalintreuen Schergen jede Möglichkeit, missliebige Lehrer zu ‹entkulakisieren›. Reihenweise wurden sie als Verwandte oder ‹Gesinnungsgenossen› des Klassenfeindes entlassen und verbannt. Wer nachrückte, lehrte vielleicht, was die Partei ihm vorgab, aber oft ohne ausreichende Kenntnis und pädagogische Fähigkeiten. So litt die «Kulturrevolution» unter einem ähnlichen Dilemma wie die sozioökonomische. Sie erbrachte eindrucksvolle ‹Kontrollziffern›, ließ aber ein sachliches Niveau zu, das die äußeren Resultate Lügen strafte.
Schon deshalb hat die Meinung vieles für sich, dass gerade die soziale Mobilisierung nicht von Dauer sein konnte. Ihre abträglichen Folgen traten schneller zutage als die Nachteile der gewählten Industrialisierungsstrategie. Der abermalige Umbruch letztlich des gesamten Bildungssystems verlangte eine Konsolidierung, wenn er nicht umschlagen und kontraproduktive Resultate zeitigen sollte. So wird es kein Zufall sein, dass sein Ende ungefähr mit dem vorläufigen Abschluss der Zwangskollektivierung zusammenfiel. Als das Dorf unterworfen und der Übergang zur Planwirtschaft vollzogen war, konnte auch die «Kulturrevolution» angehalten werden. Den Auftakt bildete ein ZK-Beschluss vom Oktober 1930, die gezielte Beförderung von Arbeitern in höhere Verwaltungspositionen für zwei Jahre einzustellen. Faktisch verwandelte sich das Moratorium in die Abschaffung dieser Form des privilegierten sozialen Aufstiegs. Stalin hat auch diese Wende persönlich in einer programmatischen Rede Ende Juni 1931 begründet. Vor Wirtschaftsfachleuten sprach er von «neuen Verhältnissen», die nach der definitiven «Niederschmetterung» der «Schädlinge» eingetreten seien, sowie von der Notwendigkeit größerer «persönlicher Verantwortung» und neuer Wertschätzung der Leistung. Im Klartext hieß diese Botschaft: Wer als parteiloser Spezialist überlebt hatte, konnte aufatmen; der Klassenkampf war vorerst beendet. Zugleich markierte die neuerliche Kurskorrektur keinen Richtungswechsel vom Ausmaß der Liquidierung der NĖP und erst recht keine Kehrtwende. Vielmehr betonte Stalin im selben Atemzug, dass eine neue, proletarische und loyale technische Intelligenz entstanden sei, auf die man sich in Zukunft stützen könne. Nur der Bildersturm sollte der Vergangenheit angehören, nicht die regulierte, auf Leistung und Treue gestützte Rekrutierung des Nachwuchses für alle Führungsbereiche primär aus der Jugend der Unterschichten.
Bei der synchronen Umkehr im Schulwesen verfuhr man in mancher Hinsicht radikaler. Der Elan der sozialistischen Offensive hatte auf diesem Gebiet einen derartigen Wildwuchs an Experimenten hervorgebracht, dass die Funktionsfähigkeit des Gesamtsystems stark beeinträchtigt war. Das ZK sah daher Anlass, den Umbau nicht einfach zu sistieren, sondern die Entwicklung in mancher Hinsicht sogar zurückzuspulen. Man korrigierte die ausgeprägte Orientierung des Unterrichts an der Arbeitspraxis. Zu Lasten der polytechnischen Erziehung wurde die Vermittlung von Grundkenntnissen reaktiviert. Stoffliches Wissen verdrängte die «Projektmethode». Auch diese Veränderung fand in einer Personalentscheidung symbolischen Ausdruck: Die Entlassung des Reformpädagogen V. N. Šul’gin aus einer einflussreichen Stellung im Kommissariat markierte zugleich die Abwendung von seinen und verwandten Konzepten. Im neuen Stadium brauchte die ‹zweite Revolution› keine neuen Schulen mehr, sondern eher die alten. In dieser Hinsicht begann der Stalinismus schon im Herbst 1932.[56]
Der Aufbruch zum Sozialismus erforderte nicht nur neue technische und administrative Führungskader. Er veränderte auch den Charakter der Arbeiterschaft in fast jeder Hinsicht: ihre Zahl, Qualifikationsstruktur, altersmäßige und soziale Zusammensetzung, materielle Lage, innerbetriebliche Position und auch ihre Mentalität. Die Neigung hat sich in den letzten Jahren verstärkt, in diesem Wandel einen politisch wie sozial gleich bedeutsamen Tatbestand zu sehen: Allem Anschein nach trugen die ‹neuen Arbeiter› kaum weniger zur Stalinschen Machtergreifung bei als die neue Intelligenz. Schon deshalb verdienen gerade die Auswirkungen des wirtschaftlichen Umbruchs auf die ideologisch mit besonderer Würde versehene «Klasse» erhöhte Aufmerksamkeit.
Am sichtbarsten trat ein Aspekt des Wandels zutage, der in vieler Hinsicht auch der grundlegende war – das quantitative Wachstum. Dass die ungeheuren Investitionen in den Bau neuer Fabriken und Standorte deutlich mehr Arbeitskräfte erforderten, lag auf der Hand. Die Planer hatten dies bedacht und im ersten Jahrfünft eine Steigerung von knapp 40 % vorgesehen. Die Rekordjagd machte indes auch diesen Richtwert rasch zur Makulatur. In Wirklichkeit vergrößerte sich die Zahl der Industriearbeiter schon in den ersten vier Jahren um fast 100 %, absolut von 3,12 Mio. 1928 auf 6,01 Mio. 1932. Dabei verteilte sich dieses Wachstum noch ungleich: In der Produktionsgüterindustrie schnellte der Index allein bis 1931 (1928 = 100) auf 234 empor, während die Konsumgüterindustrie bezeichnenderweise zurückfiel. Die neuen Werktätigen stammten zunächst in erstaunlich hohem Maße aus der eigenen Schicht; anders als vor dem Ersten Weltkrieg war diese nun breit genug, um eine nennenswerte Selbstrekrutierung zu ermöglichen. Ab 1930 änderte sich das Bild allerdings. Die Neuzugänge kamen nun zunehmend und überwiegend aus dem Reservoir, das seit dem Beginn der industriellen Entwicklung unter Peter dem Großen die ‹menschlichen Ressourcen› beigesteuert hatte – aus der Bauernschaft. Im letzten Jahr der ersten Planperiode galt dies in der Hütten- und Maschinenbauindustrie für über 60 % und selbst in der sehr viel älteren Baumwollverarbeitung für gut 54 %. Aus der starken Expansion ergab sich, dass der Anteil der berufs- und stadterfahrenen Arbeiter zurückging. Je mehr Neulinge aus den Dörfern in die Städte strömten, desto schneller verkürzte sich die durchschnittliche Dauer der in der Fabrik verbrachten Lebensarbeitszeit. In der Leningrader Metallindustrie stieg der Prozentsatz derer, die weniger als fünf Jahre in einer vergleichbaren Beschäftigung verbracht hatten, bis 1932/33 auf fast 50 %, in der Hüttenindustrie lag er darüber. Die Abnahme des Berufsalters wurde von einer Verringerung des Lebensalters begleitet. Wie seit alters her waren es die Jungen und Mobilen, die in die Städte, die Fabriken und zu den Baustellen strömten. Hinzu kam als neues Merkmal des Industrialisierungsprozesses der wachsende Anteil von Frauen, die nun auch in Friedenszeiten in die traditionell männlich beherrschten, weil mit schwerer körperlicher Arbeit verbundenen Berufe und Branchen strömten.
Mit dieser Sogwirkung verbunden war der vielleicht bedeutendste Aspekt des Wandels: Wer die armselige Existenz hinter dem Hakenpflug aufgab (wenn er überhaupt eine Beschäftigung hatte), besaß in aller Regel keine handwerklich-berufliche Qualifikation. Es waren ungelernte Kräfte, die von der enormen Beschleunigung der industriellen Entwicklung angezogen wurden. Der Zustrom aus dem Dorfe riss daher abermals – wie vor dem Ersten Weltkrieg – einen tiefen Graben zwischen den qualifizierten, an das Fabrikleben gewöhnten und den unqualifizierten, mental im Dorf verhafteten Arbeitern auf. Vieles spricht dafür, dass die Neulinge allerlei Unordnung in die Produktion und Unternehmen brachten. Sie ließen es an Sorgfalt im Umgang mit den Maschinen fehlen und machten keinen Unterschied zwischen ‹roten› und sonstigen Direktoren. Die bolschewistischen Manager sprachen bald von «politischem Analphabetismus» und einem Mangel an proletarischem Bewusstsein. Sicher gab dieses Urteil vor allem den eigenen Wunsch nach Kontrolle und Botmäßigkeit wieder. Aber es spiegelte wohl auch einen tatsächlichen, von den ‹alten› Arbeitern in gleicher Weise gedeuteten Charakterzug der Immigranten. Wie immer man den Wandel bewerten mag: Zweifellos durchlebte die Arbeiterschaft während des ersten Fünfjahresplans eine tiefgreifende Veränderung, die Züge einer «Identitätskrise» aufwies.[57]
Da dieser Vorgang auf den sprunghaft steigenden Bedarf der Industrie antwortete, verschob er das soziale Kräfteverhältnis durchaus zugunsten der Arbeiterschaft. Arbeitslosigkeit, aus der Sicht des Regimes gewiss der hässlichste Schandfleck der NĖP, verschwand weitgehend. Zwar darf man den Federstrich, der sie 1929 für ausgerottet erklärte (indem man die Registration einstellte), nicht für die Wirklichkeit nehmen; aber sie hörte auf, ein soziales Problem zu sein. Teilweise kehrte sich das Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage sogar um: Nicht Arbeiter klopften an den Toren von Fabriken und Baustellen an, sondern diese bemühten sich um sie. Um die irrealen ‹Kontrollziffern› wenigstens annähernd zu erreichen, konkurrierten sie sogar untereinander. Gerade in den ersten, chaotischen Jahren der Planwirtschaft, als ihr Apparat noch im Aufbau begriffen war, waren Abwerbungen vor allem der wenigen Fachkräfte an der Tagesordnung. Aber auch die Fluktuation der normalen Arbeiter nahm ein neuartiges und dysfunktionales Ausmaß an. All dies hätte die wirtschaftliche, gesellschaftliche und auch die politische Position der Arbeiter zumindest für eine gewisse Zeit stärken können und bei entsprechenden Rahmenbedingungen auch stärken müssen.[58]
Die Realität sah jedoch anders aus. Zwar verschafften sich die Marktgesetze vorübergehend Geltung. So löste der Beginn der forcierten Industrialisierung einen Anstieg der Nominallöhne aus, der die analoge Erhöhung in den besten NĖP-Jahren allem Anschein nach übertraf. Der Index kletterte (1927 = 100) bis 1930 auf 128,9 und bis 1932 auf 177,9. Ein genauerer Blick zeigt jedoch, dass der Nennwert trog. Tatsächlich geschah das Gegenteil. Während die Preise in den ersten beiden Jahren der Planperiode hinter den Löhnen zurückblieben, konnten diese bald nicht mehr Schritt halten. Der Preisindex erreichte schon 1930 die Kennziffer von 132, um bis Ende 1932 auf 251,8 emporzuschnellen. Erhebungen über den Nahrungsmittelkonsum bestätigen die unabweisbare Folgerung: Der Reallohn der Industriearbeiter fiel spürbar, in Moskau zwischen 1928 und 1932 um 48 %. Die Hauptstadt ließ, wie ein sowjetischer Diplomat 1930 bei seiner Rückkehr nach vier Jahren notierte, «erschreckende Veränderungen» erkennen. «Jedes Gesicht» und «jede Hausfassade» legten beredtes Zeugnis von «Elend, Erschöpfung und Apathie» ab. Es gab kaum noch Geschäfte und Schaufensterauslagen. «An allem» herrschte Mangel, besonders an «Seife, Stiefeln, Gemüse, Fleisch, Butter und allen fetthaltigen Nahrungsmitteln». Die Beseitigung des privaten Handels und Gewerbes sowie die überstürzte Kollektivierung trugen das Ihre dazu bei. Die staatlichen Geschäfte blieben leer, die Schwarzmarktpreise aber waren gerade für die einfachen Arbeiter am wenigsten zu bezahlen. Zu allem Überfluss verschlechterten sich die Wohnverhältnisse ebenfalls drastisch. Der unerwartet starke Zustrom neuer Arbeitskräfte machte auch in dieser Hinsicht alle Planungen zunichte. Ohnehin war die Situation schlimm genug. Dennoch wurden die 5,44 m2, die den Moskauern im Januar 1929 durchschnittlich zur Verfügung standen, zwei Jahre später mit 3,94 m2 noch unterboten. So blieb das fassbare Resultat der ersten Phase des ‹großen Sprungs nach vorn› für die Arbeiter paradox: Ideologisch standen sie hoch im Kurs, aber materiell mussten sie eine rapide Verschlechterung hinnehmen – in beiden Hinsichten näherten sie sich wieder an die Bürgerkriegszeit an.[59]
Angesichts dieser Gesamtentwicklung war mit Unzufriedenheit zu rechnen. Materieller Niedergang und Strukturwandel gleichermaßen bereiteten den Boden für Konflikte, die zumindest das Potential in sich trugen, den Erfolg des Fünfjahresplans zu gefährden. In der Tat zeigte die Arbeiterschaft manche Verhaltensweisen, die als Widerstreben gedeutet werden konnten. Zu nennen ist zum einen die anhaltende starke Fluktuation. In manchen Betrieben schieden bis zu zwei Drittel der Beschäftigten, überwiegend auf eigenen Wunsch, bereits nach Ablauf eines Jahres wieder aus. Unter diesen «Zugvögeln», wie Partei- und Wirtschaftsführer kritisch formulierten, befanden sich viele qualifizierte Arbeiter, so dass die Unternehmen auch ihre ‹Kader› öfter ergänzen mussten, als ihnen lieb war. Daneben war ein weiterer Verfall der Arbeitsmoral zu beobachten. Besonders zwischen 1930 und 1932 nahm die Zahl der eigenmächtig herbeigeführten Fehltage erheblich zu. Größerer Schaden noch entstand durch unsachgemäße Behandlung von Material und Maschinen. Ob aus Fahrlässigkeit oder Absicht – der Verschleiß war enorm und die Grenze zur Sabotage fließend. Nicht selten kam es schließlich zu Streiks, Schlägereien und Gewaltausbrüchen. Fast alle der genannten Missstände lassen sich auch anders erklären: Der häufige Arbeitsplatzwechsel stand in enger Beziehung zu der allgemein hohen Fluktuation der Stadtbevölkerung und der Landflucht; der Mangel an Disziplin hatte viel mit der Gewöhnung der bäuerlichen Neulinge an das fremde Fabrikleben und mit den miserablen Lebensverhältnissen zu tun; der sorglose Umgang mit dem ‹fixen Kapital› beruhte auf schlichter Unkenntnis, und in den Protestaktionen trat auch die Feindseligkeit zwischen alten und neuen Arbeitern zutage. Dennoch lassen die Erscheinungen in ihrer Gesamtheit zumindest eine ausgeprägte Gereiztheit erkennen.[60]
Kollektive Aktionen oder ein Flächenbrand aber blieben aus. Man wird einen erheblichen Teil der Ursachen für diesen bemerkenswerten Tatbestand in den politischen und administrativen Rahmenbedingungen des Umbruchs zu suchen haben: Der Übergang zur planwirtschaftlichen Industrialisierung beseitigte auch das Minimum der Artikulations- und Koalitionsfreiheit, das die begrenzte Zulassung des Marktes den Arbeitern gewährt hatte. Der vollständige Ersatz des freien Spiels von Angebot und Nachfrage durch zentrale Anweisungen gab der ohnehin ausgeprägten Tendenz zur Monopolisierung der Macht einen weiteren mächtigen Schub. Die «Apparate» erweiterten sich durch eine neue Bürokratie, die viele ältere Behörden bald an den Rand drängten. Damit wuchs auch ihr Macht- und Kontrollbereich. Partei und Staat nahmen nun nicht länger vermittelt über die Gewerkschaften oder per Gesetz und Anordnung Einfluss auf die Arbeiterschaft, sondern direkt über die Planungsinstanzen, den Volkswirtschaftsrat und die von ihm ernannten Direktoren und Manager. Auch deshalb begünstigte der industrielle Aufbruch oligarchische Strukturen und deren Zuspitzung zur persönlichen Diktatur, wenngleich er sie nicht notwendigerweise hervorbrachte.
Der Vorschlag hat kaum Widerspruch gefunden, das charakteristische Merkmal der ersten und eigentlichen Umbruchphase der Jahre 1928/30 in der Erneuerung des Klassenkampfes und der Bürgerkriegsmentalität zu sehen. Dem Übergang zur forcierten Industrialisierung und Kollektivierung entsprach die ideologische Mobilisierung der Arbeiter für das aktualisierte Ziel des Sozialismus. Die Führungsclique, die von der NĖP wegstrebte, handelte nicht allein. Sie brauchte Anhänger in hinreichender Zahl, um den neuen Kurs durchzusetzen. Alles spricht dafür, dass sie diese Gefolgschaft – noch vor den neuen technisch-administrativen Kadern – in Teilen der Arbeiterschaft fand. Hier traf sie auf viele günstige Voraussetzungen: eine Aversion gegen die neue-alte Herrschaft der Manager, Enttäuschung über die materiellen Errungenschaften und einen wachsenden Glauben an die Versprechungen einer besseren Zukunft. Konsens zeichnet sich auch darüber ab, wen sie am ehesten ansprach: Es scheinen die jungen, männlichen Arbeiter mit städtischem Hintergrund gewesen zu sein, die in besonderem Maße zu Militanz und kommunistischer Gesinnung neigten. Sie hatten als Halbwüchsige die Revolution und den Bürgerkrieg erlebt und sich inzwischen Erfahrung und Qualifikation angeeignet. Sie grenzten sich sowohl gegen die ‹alten› Arbeiter aus der ‹Kampfzeit› als auch gegen die Neulinge aus dem Dorf ab und betrachteten die Denkweise beider mit Skepsis. Sie bildeten die Kohorten des Komsomol, der militanten Atheisten und anderer Aktivisten. Sie trachteten, wie spätere Dissidenten in Erinnerung an ihre eigene Jugend formulierten, nicht in erster Linie nach «materiellen Vorteilen», sondern versuchten, ihre Ideale zu verwirklichen. Auf ihren Glauben und ihren Einsatz für den zum Nahziel erklärten Sozialismus rechnete Stalin. Sie waren neben den vydvižency die Stütze der ‹zweiten Revolution› und die Helfershelfer im Kampf gegen die vermeintlichen Klassenfeinde auf dem Dorf. Dabei muss offen bleiben, in welchem Verhältnis sich – wenn das überhaupt verallgemeinerbar ist – Überzeugung und Vorteilssuche miteinander verbanden.[61]
Denn diese ‹Romantiker› waren am ehesten bereit, in Kauf zu nehmen, was die neue-alte Führung neben Versprechungen für die Bevölkerung ebenfalls bereithielt: Schweiß, Entbehrungen und ein wachsendes Maß an Repression. Gewiss kalkulierten die Advokaten des Kurswechsels von Anfang an die Wahrscheinlichkeit ein, zur Durchsetzung ihrer Ziele neben bloßen Appellen auch andere Mittel einsetzen zu müssen, von materiellen Anreizen bis zum administrativen Zwang. Da der Enthusiasmus nur eine Minderheit ergriff, wenn auch vielleicht eine ‹strategisch› wichtige, überwog bald obrigkeitlicher Nachdruck. Schon im Frühjahr und Sommer 1929, parallel zur aberwitzigen Anhebung der Plandaten, leiteten Partei und Staat eine breitangelegte Kampagne zur Erhöhung der Produktivität ein. Presse, gesellschaftliche Organisationen und Betriebe riefen unisono dazu auf, alle Kraftreserven auszuschöpfen, um sie in den Dienst der großen Aufgabe zu stellen. Auch wenn gelenkte Aktionen dieser Art im Sowjetstaat schon Tradition hatten, nahmen sie eine neue Dimension an: Der «sozialistische Wettbewerb» avancierte zu einem unablösbaren Teil der brachialen Industrialisierung und – bis zu seinem Ende – des Systems selber.
Seine Formen und generell die Wege zur Produktionssteigerung waren vielfältig. Am unauffälligsten vollzog sich die weitere Umstellung auf den Stücklohn, da er am deutlichsten in der Kontinuität der Ideale auch der NĖP, von Taylorismus und NOT, stand. Bereits im August 1929 wurden immerhin 60,3 % aller Industriearbeiter auf dieser Grundlage entlohnt. Sichtbarer war die Stoßarbeiterbewegung, der auch die größte Symbolkraft für die «kommunistische Methode des sozialistischen Aufbaus» zuwuchs. Mit Unterstützung von Partei und Staat entstanden im ganzen Lande besondere Brigaden, die ein Vorbild für Leistung, aber auch für Innovation geben sollten. Die übrigen Arbeiter waren aufgefordert, ihnen nachzueifern, Betriebe gehalten, die Produktion eventuell nach ihren Vorschlägen zu reorganisieren. Die udarniki kämpften an der vordersten Front der Produktionsschlachten, die fortan in Permanenz geschlagen wurden. Sie gaben mit ihren «Rekorden» die Normen vor, die als erreichbar galten. Sie verkörperten den festen Willen und die Entschlossenheit, nun in wenigen Jahren durch eine beispiellose Anstrengung den Traum der Revolution zu verwirklichen. Naturgemäß fanden sich in ihren Reihen besonders viele Überzeugte. Hier sammelten sich Komsomolzen, Parteigenossen, Gottesleugner und sonstige regimetreue Aktivisten. Auch die Gewerkschaften konnten nicht abseits stehen. Sie wurden, nach dem Sieg über die «Rechten», gründlich reorganisiert und in den Dienst der neuen Politik gestellt. Dadurch gerieten auch Schichten der Arbeiterschaft in den Sog der Bewegung, die anfangs entschieden Distanz hielten. Nachweislich nahm der Anteil der Qualifizierten so weit zu, dass sie 1930 bereits die Mehrheit stellten.[62]
Daneben ergriffen Partei und Staat eine Reihe flankierender Maßnahmen, die nicht zu stimulieren suchten, sondern anordneten. Nach der Wirtschaft als Ganzer unterwarfen sie auch das Arbeitsleben und die innerbetriebliche Organisation stärkerer Kontrolle. Schon der 15. Parteitag hatte im Dezember 1927 den Übergang zum siebenstündigen Arbeitstag (montags bis samstags) angekündigt. Was als Höhepunkt sozialistischer Fürsorge für das Proletariat gefeiert wurde (und über das langjährige, internationale Ziel des Achtstundentags hinausging), verdankte sich freilich nicht nur dem Versuch, die linke Opposition taktisch-propagandistisch endgültig schachmatt zu setzen. Vielmehr war von Anfang an eine Konsequenz mitbedacht worden, die den Gewinn für die Arbeiter in sein Gegenteil verkehrte: Der Siebenstundentag erlaubte es, von zwei (achtstündigen) Schichten auf drei überzugehen. Statt Erleichterung brachte er in der Textilindustrie, wo man ihn 1928 einzuführen begann, zusätzliche Anspannung im Dienste der Erhöhung der Produktivität. Diesem Ziel diente auch die Einführung der ununterbrochenen Arbeitswoche (nepreryvka) im Frühsommer 1929. Feste Erholungstage für alle wurden abgeschafft. Die Beschäftigten mussten vier oder fünf Tage am Stück arbeiten und konnten dann eine längere Pause nehmen, während eine andere Schicht Dienst tat. Der Effekt dieser Neuerung ging über die bessere Nutzung von Maschinen und Anlagen weit hinaus. Die Abschaffung des Sonntags griff tief in den tradierten Lebensrhythmus ein. Nicht nur linke Enthusiasten betrachteten sie als kulturrevolutionären Akt und symbolische Liquidierung der christlich geprägten Verteilung von Arbeit und Muße. Dank anhaltenden Nachdrucks des VSNCh waren schon Mitte 1930 knapp 73 % aller Arbeiter nach dem neuen Zeitplan tätig. Kurzfristig blieb der Erfolg nicht aus. Die erhöhte Kapazitätsauslastung sorgte im Wirtschaftsjahr 1929/30 tatsächlich für einen Produktionszuwachs von 8–9 %. Auf der anderen Seite nahm auch der Verschleiß zu. Im Schichtwechsel bedienten nun mehrere Arbeiter, nicht zu deren Vorteil, ein und dieselbe Maschine. So brachte die nepreryvka – wie der große Spurt als Ganzer – eine Scheinblüte hervor, die nicht von Dauer sein konnte.[63]
Größerer Signalwert für die neuen Verhältnisse kam wohl nur einer anderen Maßnahme aus dem Kontext der Wirtschaftsorganisation zu: der (Wieder)Einführung der «Einmannleitung». Ein entscheidender Schritt auf diesem Wege wurde bereits Anfang März 1929 getan. Die Regierung beschloss, den Betriebsführungen in Abweichung vom bisherigen Verfahren das Recht zu geben, Disziplinverletzungen auch ohne Konsultation der (auch von den Arbeitern beschickten) Schlichtungskommissionen bis hin zur Entlassung zu ahnden. Zugleich blieben diese Einrichtungen aber ebenso bestehen wie die Gewerkschaftszellen. Das ZK nahm deshalb die unklare Sachlage ein halbes Jahr später zum Anlass, um die Aufgaben und Pflichten voneinander abzugrenzen. Dabei machte es die veränderten Prioritäten endgültig deutlich. Bei der Produktionsorganisation, so formulierte die vielbeachtete Resolution, sei davon auszugehen, «dass die Verwaltung (der Direktor) unmittelbar für die Erfüllung des industriell-finanziellen Planes und aller Produktionsaufgaben verantwortlich ist.» Die einschlägigen «Beratungen», in den letzten Jahren der NĖP zur Befriedung der Arbeiterschaft eingeführt, wurden damit ebenso unmissverständlich von allen wichtigen Entscheidungen ferngehalten wie andere Repräsentativorgane der Arbeiter. Freilich entsprach die Wirklichkeit dieser Verfügung zunächst wenig. Die Arbeiter erhoben nicht nur massiven Protest; sie verfügten auch über genügend Macht, um ihre eigenen Interessen zur Geltung zu bringen. Solange jede Hand gebraucht wurde, konnten sie die Kompetenzen der Unternehmensführung auf manchen Wegen einengen und die alten Verhältnisse beibehalten. Erst im Zuge der Konsolidierung der neuen Wirtschaftsstruktur, als sie überdies immer größere materielle Not litten, setzte der erstarkte Staat seine Vorstellungen mit Nachdruck durch.[64]
Überhaupt war um diese Zeit eine Zäsur zu beobachten. Nach der Zerstörung der alten Wirtschafts- und Sozialordnung stellte sich das bekannte Problem, wie eine neue zu etablieren sei. Ihr Aussehen war theoretisch und strukturell bekannt. Offen aber blieben ihre konkrete Gestalt und die Art ihrer politischen Realisierung. Im Kern war erneut die Frage zu beantworten, wie eine Revolution, zu der sich Planwirtschaft und Zwangskollektivierung gewiss addierten, angehalten und in eine geregelte, friedliche und konstruktive Aufbautätigkeit überführt werden könne. Dazu waren die Kräfte zu domestizieren, die zur Destruktion des Überkommenen entfesselt worden waren. Der Klassenkampf hatte seine Aufgabe erfüllt. An seine Stelle traten faktisch wieder Koexistenz und Kooperation, auch wenn diese keine programmatische Qualität mehr erreichten. Abermals wies Stalin die neue Richtung. Vor «Wirtschaftlern» rief er Ende Juni 1931 das Ende der Bilderstürmerei auch in der Industrie aus. Er beklagte den Schaden, der aus dem häufigen Arbeitsplatzwechsel erwachse, und zog gegen einen angeblich falsch verstandenen Egalitarismus zu Felde. Er prangerte den Wildwuchs der Entlohnung an, den die Konkurrenz um knappe Arbeitskräfte hervorgerufen hatte, und mahnte die Rückkehr zur kalkulierbaren Einheitlichkeit als Voraussetzung für eine neue Form der «wirtschaftlichen Rechnungsführung» an. «Die Fluktuation der Arbeitskraft beseitigen, die Gleichmacherei ausmerzen, den Arbeitslohn richtig organisieren, die Lebensverhältnisse der Arbeiter verbessern» – darin sah Stalin die «neue Art» zu «arbeiten» und die «neue Art» zu «leiten». Die Praxis gewann wieder an Bedeutung gegenüber der Ideologie; Leistung kam im Vergleich zur Gesinnung wieder zu größerem Recht. Die Abstände zwischen den Lohngruppen nahmen wieder zu, und die «Spezialisten» (die zwar ‹neue› waren, aber alte Privilegien durchaus zu schätzen wussten) ließ man in Ruhe. Zugleich erreichte der Strukturwandel der Arbeiterschaft insofern einen gewissen Abschluss, als der Anteil der seit 1928 Rekrutierten dominant wurde – eine «neue Arbeiterschaft» war entstanden.
Diesen Zöglingen der Stalinschen Planwirtschaft und der korrespondierenden politischen Ordnung mutete man auch eine stärkere Kontrolle zu. Per Dekret vom 27. November 1932 wurden die Betriebe und Behörden ermächtigt, Beschäftigte auch im Falle «eines einzigen», nicht plausibel begründeten Fehltages fristlos zu entlassen und sie aller Rechte zu berauben, die mit der Anstellung verbunden waren, von den Lebensmittelkarten bis zur Wohnung. Ende Dezember folgte die Vereinheitlichung des Passsystems. Fortan war jeder über sechzehn Jahre alte Einwohner verpflichtet, einen Pass bei sich zu führen, der auch über das Arbeitsverhältnis Auskunft gab. Ohne Registrierung war kein Ortswechsel von längerer Dauer mehr möglich. Der Staat verschaffte sich auf diese Weise nicht nur Interventionsmöglichkeiten gegen die Abwanderung zwangskollektivierter Bauern in die Städte, sondern überwachte auch den Arbeitsplatzwechsel. Regulation pervertierte zur Repression. Dass sich parallel die staatliche Geheimpolizei noch weiter von ihrem eigentlichen Auftrag der Bekämpfung «oppositioneller» Aktivitäten, was immer man darunter verstand, entfernte und auf extralegale, völlig willkürliche Weise half, die Bevölkerung zum Gehorsam gegenüber den parteilichen Vorgaben zu zwingen, passte ins Bild. Mit dem Markt ging auch die soziale und politische Freiheit unter.[65]
Die Erfolgsbilanz der ‹großen Wende› hängt naturgemäß von den Gesichtspunkten und Wertungen ab, die man zugrunde legt. Für die Industrie bleibt die Bilanz kontrovers, auch wenn sich die Tendenz zu einem negativen Urteil in jüngerer Zeit deutlich verstärkt hat. Der erste Fünfjahresplan war, an seinen eigenen Zielen gemessen, ein Fehlschlag. Andererseits half er Ressourcen zu erschließen, die für die weitere Industrialisierung unentbehrlich waren, und legte den Grundstein für neue Industrien, die ebenfalls in die Zukunft wiesen. Allerdings bleibt der gewählte Weg auch mit Blick auf den Rest des Jahrzehnts bis zum deutschen Überfall umstritten. Die einen gehen davon aus, dass die NĖP auch bei noch so genialer Handhabung kein vergleichbares Entwicklungstempo erlaubt hätte. Die anderen meinen, per Computersimulation gezeigt zu haben, dass eine alternative Politik zum gewählten Weg der Brachialindustrialisierung auch rein wirtschaftlich, an quantitativen Indikatoren gemessen, zu größerem Erfolg geführt (und die Widerstandskraft der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg noch gestärkt) hätte. Eine dritte Position steht gleichsam dazwischen: Sie geht davon aus, dass die NĖP ihr Potential zum Zeitpunkt ihrer Aufhebung noch nicht erschöpft hatte, sie aber nicht in der Lage gewesen wäre, höhere Wachstumsraten als die zarische Wirtschaft vor dem Ersten Weltkrieg zu erzielen – mithin niedrigere als die tatsächlich erreichten, wobei über Letztere ebenfalls Uneinigkeit herrscht. Auch eine solche Auffassung gesteht der ökonomischen Rosskur wenigstens einen ‹statistischen› Erfolg zu. Unabhängig von dieser Auseinandersetzung gilt der Respekt der einschlägig geschulten Historiker den Fachleuten im Gosplan, die völliges Neuland betraten und das komplizierte Geflecht einer ganzen Volkswirtschaft zum ersten Mal in allen Einzelheiten berechen- und prognostizierbar zu machen versuchten.[66]
Freilich sind diese Urteile insofern hypothetisch, als sie – bewusst und nur zu analytischen Zwecken – nicht nur die außerökonomischen, sondern sogar viele nicht messbare wirtschaftliche Faktoren außer Acht lassen. Eine Gesamtwertung aber muss diese natürlich in gleicher Weise berücksichtigen. Umsichtige Darstellungen haben dies stets bedacht und insbesondere auf folgende Aspekte hingewiesen:
(1) Der starke Expansionsschub löste einen Zustrom von Arbeitskräften aus, für den alle ‹infrastrukturellen› Voraussetzungen fehlten. Ob Städte, Dörfer oder Baustellen in der Wildnis, überall mangelte es an angemessenen Unterkünften, medizinischer Versorgung und zunehmend auch an Lebensmitteln, von Schulen und sozialen oder kulturellen Einrichtungen nicht zu reden. Wie in den zwanziger Jahren oder zur Zeit der ersten Industrialisierung im Zarenreich mussten die Arbeiter mit menschenunwürdigen Behausungen, oft nur einer Bettstelle in Schlafkasernen oder gar Erdhöhlen wie in Magnitogorsk, vorlieb nehmen. Fraglos verschlechterten sich die Lebensumstände nicht nur der Neurekrutierten erheblich.
(2) Die enormen monetären Investitionen trieben die Preise in einem Maße in die Höhe, das die Lohnsteigerungen überschritt. Das Realeinkommen der Arbeiter und der meisten anderen städtischen Bevölkerungsgruppen sank merklich. In bezeichnender Verkehrung der offiziellen Behauptungen bezahlten sie für die rapide Industrialisierung, statt von ihr zu profitieren.
(3) Der parallele Beschluss, mit Beginn der planwirtschaftlichen Industrialisierung den Markt völlig abzuschaffen und den Verkauf von Waren durch deren Verteilung zu ersetzen, zog eine weitere Verschlechterung der Versorgung nach sich. Er beseitigte den unentbehrlichen Kleinhandel, ohne ein funktionsfähiges Verteilungssystem an seine Stelle zu setzen. Hinzu kam eine deutliche Bevorzugung der Investitionsgüterindustrie. Die Planer sahen in einer starken Rohstoff- und Schwerindustrie das eigentliche Fundament einer sozialistischen Wirtschaft. Demgegenüber mussten die Konsumgüter zurückstehen. Für mehr Menschen standen relativ weniger Waren zur Verfügung, die obendrein in unvorhergesehenem Maße dort den Besitzer wechselten, wo sie nicht auftauchen sollten: auf dem Schwarzmarkt.
(4) Die von der Industrialisierung ausgelöste, außerordentliche soziale Mobilität erzeugte Spannungen und Turbulenzen, die weder mit der Planwirtschaft noch mit der zunehmend diktatorischen Herrschaft harmonierten. Es lag in der Logik sowohl der ökonomischen als auch der politischen Struktur, dass obrigkeitliche Kontrolle und gesetzliche Disziplinierung die vom Umbruch geschaffenen Freiräume bald wieder aufsogen. Die Fluktuation wich neuer Bindung, Mitsprache der gestärkten Verfügungsgewalt der Betriebsleitung. Nicht zuletzt in dieser Hinsicht hatten die Arbeiter die Rechnung zu begleichen, die der gewaltsame Sprung aus der Rückständigkeit verursachte.
(5) So imposant die äußeren Kennziffern der planwirtschaftlichen Industrialisierung auch waren, traten doch von Anfang an gravierende Mängel des neuen Systems zutage: Sachkennern entging nicht, dass die Orientierung an Kontrolldaten und Zuweisungen Anlass gab, in einseitiger Weise auf Produktionszahlen zu achten. Durch vorrangige Berücksichtigung im kommenden Plan wurde Quantität prämiert, nicht Qualität. Man prüfte die Erfüllung der Vorgaben im Wesentlichen am Nennwert, nicht am Gebrauchswert. Ob man schonend mit den Rohstoffen umging und sie effektiv nutzte, blieb zweitrangig. Ein System wurde begründet, das zwar kurzfristig hohe nominale Wachstumsraten erlaubte, aber die Verschleuderung der Ressourcen und die Herstellung minderwertiger Produkte förderte. Durch die Ausschaltung der Marktkonkurrenz gab es außerdem weder Anreize zur Innovation noch zum Ersatz der Maschinen und Gebäude. Stagnation war vorprogrammiert.
Noch weniger aber ist das Urteil über die Industrialisierung vom Schicksal der Landwirtschaft zu lösen. Die hohen physisch-mentalen und sozial-ökonomischen Kosten, die der Kraftakt zweifellos verursachte, sind in erster Linie hier zu veranschlagen. Die Befürworter des neuen Kurses stellten ein Junktim zwischen beiden Transformationsprozessen her und hofften, durch sie die in ihrer Sicht drängendsten Probleme lösen zu können: (1) die Versorgungsengpässe zu beheben und deren Wiederholung ein für alle Male auszuschließen; (2) die agrarische Produktion einer ähnlichen Kontrolle zu unterwerfen wie die industrielle; und (3) durch gezielten Werttransfer die Landwirtschaft zur Finanzierung der vorrangig zu fördernden Industrialisierung heranzuziehen. Spätestens seit den neueren Untersuchungen zur Kollektivierung darf als erwiesen gelten, dass sie keines dieser Ziele erreichten.
(1) Die gute Getreideernte von 1930 verdankte sich im Wesentlichen dem Umstand, dass die Wetterschäden der beiden vorangegangenen Jahre ausblieben und die Saat noch überwiegend von Einzelbauern ausgebracht worden war. Als die überstürzte Auflösung der Privatbetriebe Wirkung zeigte, trat zutage, dass man mit den «Kulaken» auch die leistungsfähigsten Produzenten liquidiert hatte. Ein Übriges bewirkte das Verbot des Privathandels. Wenn sich die Versorgung der nichtagrarischen Bevölkerung nach der schlimmen Hungersnot auf dem Lande seit 1934 allmählich stabilisierte, so war dies nicht zuletzt der begrenzten Legalisierung des Privateigentums in Gestalt des vielzitierten privaten Hoflandes samt der Erlaubnis zum Verkauf der Erträge zu verdanken. Bei Licht besehen, war der Kolchosmarkt wenig anderes als eine notdürftig legalisierte Form des Schwarzmarktes. Und selbst unter Inanspruchnahme dieses eigentlich nicht vorgesehenen Faktors, dessen Produktivität allein die ökonomische Ratio der Kollektivierung Lügen strafte, reichte die agrarische Produktion soeben zur Ernährung auf niedrigem Niveau aus.
(2) Gewiss wurde die Landwirtschaft nach der Unterwerfung der Bauern und dem Oktroi einer tributähnlichen Ablieferungspflicht kalkulierbarer. Auch sie konnte in anderer Weise in das Rechenwerk eingehen, mit dessen Hilfe sich der erste sozialistische Staat auch zur ersten ökonomischen Weltmacht aufschwingen wollte. Aber entscheidende Unwägbarkeiten bestanden fort: Kein Planer hatte Einfluss auf das Wetter, Schädlinge oder sonstige kontingente Faktoren, die den landwirtschaftlichen Ertrag stärker trafen als den industriellen. Niemand konnte das Arbeitsverhalten steuern oder Versäumnisse korrigieren oder auch nur dafür sorgen, dass Traktoren und Maschinen in ausreichender Zahl geliefert wurden und funktionstüchtig waren. Vor allem aber konnte niemand die Geburtsfehler beseitigen, die der neuen Ordnung auf dem Lande unheilbar innewohnten: lähmende Antriebslosigkeit und schleichende Auszehrung der Produktivität.
(3) Die weiteste Verbreitung, auch über die Sowjetunion und die Beteiligten hinaus, hat wohl das Argument gefunden, die Unterwerfung der Bauern sei nötig gewesen, um den agrarischen Sektor im gebotenen Umfang zur Finanzierung der Industrialisierung heranziehen zu können. Diese Auffassung vertritt inzwischen niemand mehr. Statistische Berechnungen haben schon vor einigen Jahrzehnten gezeigt, dass der Werttransfer aus der Landwirtschaft entschieden geringer ausfiel als erwartet. Ökonomisch steht das Fiasko der Zwangskollektivierung außer Frage. Auch kurzfristig erwies sie sich nicht nur als Fehlschuss, sondern sogar als kontraproduktiv: Die Industrie und die Arbeiter mussten letztlich die Zeche für die enormen Zerstörungen zahlen, die der angebliche Triumph des Sozialismus auf dem Dorfe anrichtete.[67]
Wenig lässt sich daher ernsthaft gegen die Folgerung vorbringen, die «vollständige» Kollektivierung habe in der gewaltsamen und überstürzten Form, wie sie durchgeführt wurde, eine nicht minder «vollständige» Katastrophe verursacht. Die Opfer (im Sinne aller Betroffenen) zählten nach Millionen. Das Leid, das ihnen mit Ruin und Vertreibung, Repressalien und Schikanen, Krankheit und Tod angetan wurde, lässt sich ebenso wenig ermessen wie die kulturellen Kosten dieses unvergleichlichen Traditionsbruchs. In Zahlen kann man höchstens den ökonomischen Schaden fassen. So sank, als wohl verheerendste Folge, der Bestand an tierischer Zugkraft und Nutzvieh bis 1933 jeweils auf die Hälfte des Niveaus von 1929. Ohne ausreichenden Ersatz durch versprochene, aber nicht gelieferte Traktoren führten der Ausfall von Pferdestärken zu einer drastischen Einschränkung der Anbaufläche und die panische Massenschlachtung von Kühen und Haustieren zu einem ebenso rapiden Rückgang der entsprechenden Nahrungsmittelproduktion. Beide Einbrüche konnten in den dreißiger Jahren nicht mehr ausgeglichen werden. Noch dauerhafter aber waren vermutlich soziale und mentale Schäden. Mit den ‹Kulaken› und Mittelbauern verschwanden die agrotechnischen Kenntnisse und unternehmerischen Fähigkeiten aus dem Dorf. Die Erfolgreichen wurden vertrieben. Zurück blieben die anderen, die auch keinen Versuch machten, jenen nachzueifern: Die neue Ordnung bestrafte ökonomische Findigkeit und Wohlstand. Noch lange beherrschten Zurückhaltung und Angst die Gemüter, nicht Initiative und Mut.[68]
Umso dringender stellt sich die entscheidende Frage, was die Partei- und Staatsführung letztlich dazu bewog, das Risiko einer derartigen Katastrophe einzugehen, und welche Gruppen und Schichten die Umwälzung eigentlich trugen. Dies ist die Frage nach den Ursachen und Beweggründen der ‹zweiten›, Stalinschen ‹Revolution›.
Zunächst ist festzuhalten, dass die ältere, seit langem bezweifelte These einer gewissen, umständebedingten Zwangsläufigkeit der Entscheidung im Lichte der jüngeren ökonomischen Untersuchungen ihre Plausibilität endgültig eingebüßt hat. Zu ihren Gunsten lassen sich weder soziale noch ökonomische Gründe überzeugend anführen. Das Dorf war 1928/29 ruhig; die Bauern nahmen sogar die beginnende steuerliche Diskriminierung ohne nennenswerten Protest hin. Man brauchte sie nicht zu unterwerfen. Desgleichen spricht nichts dafür, dass sie im Begriff waren, sich völlig vom Markt zurückzuziehen. Die «Getreidekrise» offenbarte eine bemerkenswerte wirtschaftspolitische Ignoranz der Führung, keinen «Boykott» der agrarischen Produzenten. Sie hätte durch Preiskorrekturen und fiskalische Maßnahmen zumindest gelindert, wenn nicht behoben werden können. Damit harmoniert die bedenkenswerte These, dass selbst auf der Grundlage der bolschewistischen Prämisse von der Überlegenheit kollektiver und mechanisierter Großproduktion Alternativen nicht nur denk-, sondern auch realisierbar waren. Nichts zwang dazu, tradierte Formen gegenseitiger Hilfe für die neuen Zwecke ebenso ungenutzt zu lassen wie das tief verwurzelte Prinzip des Gemeineigentums. Nichts gebot wirklich, repressive Mittel, von steuerlicher Benachteiligung bis zu physischem Zwang, anzuwenden, um die Kolchosen zu füllen. Nichts sprach für eine solche Beschleunigung der Gründung von Gemeinwirtschaften, dass sie ohne außerökonomischen Druck nicht mehr zu gewährleisten war. Und erst recht erscheint unverständlich, warum ‹Kulaken› nicht so lange selbständig bleiben sollten, wie sie mochten, und stattdessen zu Freiwild erklärt und verjagt wurden. Diese Argumentation läuft letztlich darauf hinaus, agrarsozialistische Modelle der Kooperativwirtschaft – vor allem in der Čajanovschen Variante – als realistische Entwicklungsoptionen und -alternativen zu begründen. Die wesentlichen Kennzeichen dieses Weges wären die tatsächliche Freiwilligkeit des Beitritts und die Beschränkung auf ökonomisch-fiskalische Lenkung gewesen. Natürlich bleibt die Frage offen, ob die Steuerung nicht unvermeidlich in Zwang hätte übergehen müssen, um Erfolg zu garantieren. Hinreichend belegt wird aber durch solche Überlegungen, dass der gewählte Weg in seiner Ausschließlichkeit und der Hast, mit der man ihn beschritt, einer politischen Entscheidung entsprang. Nicht der Zwang der Umstände, sondern der Wille, wie frei auch immer, gab den Ausschlag.[69]
Mehrere solcher außerökonomischer Faktoren lassen sich benennen. Nicht alle können als gleichrangig gelten; andererseits spricht nichts für eine monokausale Erklärung. Zum einen hat man (1) auf externe, weltpolitische Anstöße verwiesen, die sich in wachsender Kriegsfurcht bündelten. Tatsächlich löste der Abbruch der diplomatischen Beziehungen durch Großbritannien Ende Mai 1927 in der sowjetischen Öffentlichkeit eine merkliche Unruhe aus. Fast auf den Tag genau zwei Jahre später provozierte China einen Konflikt um die Ostchinesische Eisenbahn, der im November 1929 zur militärischen Intervention der Sowjetunion eskalierte, bevor ein Friedensvertrag zum Jahreswechsel den alten Zustand der gemeinsamen Verwaltung wiederherstellte. Und spätestens seit Anfang 1931 häuften sich Zank und Zwischenfälle mit Japan derart, dass militärische Verwicklungen nicht ausgeschlossen schienen. Angesichts dessen wird man eine Verunsicherung auch der Führung nicht ausschließen wollen. Trotz des Berliner Vertrages (1926) gab es nach der Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich in Locarno, nach dem Debakel der Kommunisten in Schanghai vom April 1927 und dem Zerwürfnis mit England durchaus Gründe für den Eindruck wachsender internationaler Isolierung des immer noch einzigen sozialistischen Staates der Erde. Daraus versuchte Stalin innenpolitisch Kapital zu schlagen: Man brauche, so soll er die Sachlage im Mai 1928 zusammengefasst haben, keine Industrialisierung im Schneckentempo, um den kapitalistischen Mächten Paroli bieten zu können, sondern eine rasche und «wirkliche».[70]
Allerdings gibt schon die Unbestimmtheit der Anspielung Anlass zu vorsichtiger Interpretation. Zwei Diskussionsstränge sind zu unterscheiden, die nur scheinbar zusammenfielen: zum einen die ideologische Debatte über das Verhältnis zwischen Sozialismus und Kapitalismus im globalen Maßstab, zum anderen die aktuelle internationale Lage der Sowjetunion. Hinzu kamen militärstrategische Überlegungen, die gleichsam zwischen der konkreten Gegenwart und ‹hochgerechneten› Eventualitäten der näheren und ferneren Zukunft vermittelten. Die allgemeine Analyse war vor allem eine Angelegenheit der Kominternführung und der Parteiintellektuellen, die sich mit der Weltökonomie und der Systemkonkurrenz befassten. Hier ging man auch weiterhin davon aus, dass der Gegensatz unaufhebbar und ein ‹Endkampf› unvermeidlich sei. Der Pionierstaat des Sozialismus hatte sich dafür zu rüsten, geistig-politisch ebenso wie materiell-ökonomisch. Dies wurde umso eher betont, als die Stalinsche Fraktion aus taktischen Gründen zeitlich parallel zum inneren Kurswechsel, ideologisch aber konträr, die These von der Zuspitzung der globalen Wirtschaftskrise und der Verschärfung der Konflikte zwischen den kapitalistischen Staaten durchsetzte. Der Kapitalismus galt als reif für den Zusammenbruch; die kommunistischen Parteien waren gehalten, dieses gesetzmäßige Schicksal zu beschleunigen, unter anderem durch den Kampf gegen die ‹versöhnlerischen› (sozialdemokratischen) Kräfte, die das ‹Moribunde› künstlich am Leben hielten.
Anders verlief die wirtschaftspolitische Auseinandersetzung. Zwar wurde die ‹rechte Opposition› auch auf dem Feld der Kominternstrategie ‹geschlagen›. Aber die Hauptargumente entstammten der inneren Situation. Zu den bemerkenswerten Ergebnissen einer eingehenden Spezialuntersuchung gehört, dass sich die jeweilige Meinungsbildung separat vollzog. Dies galt auch für die militärstrategischen Überlegungen. Sicher zählten die Generäle zu den Befürwortern einer schnelleren Industrialisierung. Aber sie dachten weiterhin eher in mittel- und langfristigen Kategorien. Auch nach dem Bruch mit Großbritannien wurden, soweit bekannt, keine Vorbereitungen für den Ernstfall getroffen. Nichts deutet daraufhin, dass sich die zivile oder militärische Führung tatsächlich bedroht fühlte. Wenn die Stalinsche Fraktion die Kriegsfurcht dennoch nährte, dann tat sie das in manipulativer Absicht. Wenig belegt diese Instrumentalisierung – eine einigermaßen rationale Entscheidung unterstellt – so deutlich wie der Entschluss zur Zwangskollektivierung selbst: Im Falle einer wirklichen Gefahr wäre ein solches Risiko tödlich gewesen.[71]
Umso größere Aufmerksamkeit verdienen innere Antriebe. Dabei kam (2) der Ideologie eine herausragende Rolle zu. Es waren bolschewistische Akteure, die den Kurswechsel in der Absicht propagierten, dem Ziel ihres Regimes ein gutes Stück näherzukommen. Sie nahmen die Versorgungskrise und die Probleme der vorangegangenen Aufbauphase in den ihnen vertrauten Begriffen und Zusammenhängen wahr. Neben den objektiven Elementen der Entscheidungssituation dürfen die subjektiven nicht übersehen werden: Möglich und wünschenswert war, zugespitzt gesagt, was in ihrer Vorstellung so gelten konnte. Hinzu kam, dass eine Generation endgültig in die zentralen Funktionen von Partei und Staat einrückte, die nichts anderes erlebt hatte als die Sowjetmacht und -ideologie. Sie hatte ihre politische Sozialisation nicht zuletzt im und durch den Bürgerkrieg erfahren. Sie dachte und empfand weitgehend in den Kategorien dieser privat wie öffentlich gleichermaßen schicksalhaften Jahre: im Freund-Feind-Gegensatz, in der Überzeugung von der absoluten Richtigkeit ihrer Sache und in einer Kosten-Nutzen-Abwägung, die einen hohen Preis zu zahlen bereit war, um den ‹Endsieg› zu erreichen. Keine Analyse der letzten Jahrzehnte hat vergessen, auf diese enge sozio-mentale Verwandtschaft zwischen den Bürgerkriegsjahren und dem großen Umbruch an der folgenden Dekadenwende aufmerksam zu machen. Industrialisierung und Kollektivierung avancierten zu lebenswichtigen Zielen; Klassenkampfparolen suggerierten einen Bedrohungszustand, um die Bevölkerung zur Mobilisierung aller Reserven zu bewegen, so wie man in Notwehr das Letzte gibt; Partei und Staat setzten verstärkt agitatorische und repressive Mittel ein, um diesen Vorgang in seiner Ambivalenz zwischen Dynamik und Anarchie einigermaßen unter Kontrolle zu halten – mit der abermaligen Konsequenz der Vervielfachung außerordentlicher Vollmachten und der weiteren Festigung autoritär-diktatorischer Tendenzen.[72]
Zur Renaissance ideologisch militanter Politik gehörte es, dass in der selbstinszenierten «Reprise» vielleicht noch bewusster als im originären Prozess einige Grundannahmen zu ausschlaggebenden Entscheidungskriterien erhoben wurden, die tief in marxistisch-leninistischen Anschauungen wurzelten. Vor allem Folgenden kam besondere Bedeutung zu:
(a) Auch während der NĖP ging die Überzeugung nie verloren, dass wirklicher Sozialismus nur auf der Grundlage einer leistungsfähigen Schwerindustrie errichtet werden könne. Darin spiegelte sich die alte Marxsche Voraussage, dass die künftige Wirtschafts- und Sozialordnung die vergangenen «Formationen» im Sinne der Synthese überwinden und die Weltgeschichte vollenden werde. Der Sozialismus wurde als produktive Fortsetzung des Kapitalismus gedacht; er musste dessen bedeutendste Leistung, die Anwendung maschineller Kraft und technologischer Innovationen im zentralisierten Massenfertigungsprozess, nachholen, wenn sie noch nicht erreicht war, bevor er seine eigenen Vorzüge entfalten konnte.
(b) Dies schloss eine Bevorzugung der Großproduktion ein. Zur Überlegenheit des Kapitalismus über alle vorangehenden gewerblichen Wirtschaftssysteme gehörte nicht zuletzt die wachsende Konzentration sowohl des Kapitals als auch des Arbeitsprozesses selbst. Die bolschewistische Theorie erkannte dies an und nahm die Erwartung in ihre Vision vom Sozialismus auf, dass die neue Ordnung die alte auch in dieser Hinsicht übertreffen werde. Die Begeisterung für die Dampfkraft und das lautlose ‹Räderwerk› der Maschinen ging mit der Bewunderung von Größe einher. Auch in dieser Hinsicht wurde Henry Ford zum sowjetischen Heros.
(c) Wie die allermeisten Sozialisten gingen die Bolschewiki von der prinzipiellen Überlegenheit des Gemeineigentums in Gestalt des Staatseigentums gegenüber jeglichem Individualbesitz aus. Die Wiederzulassung des privaten Kleingewerbes und Grundbesitzes durch die NĖP war eine Konzession an die Unreife Russlands. Man duldete sie vorübergehend (bei allerdings unbestimmter Frist), um die Voraussetzungen für den Sozialismus zu verbessern. Aber niemand dachte je daran, Privateigentum an Produktionsmitteln welcher Art auch immer als integralen Teil dieses letzten Stadiums der Entwicklung der Menschheit zu akzeptieren.
(d) Dies bedeutete auch, dass zentrale Planung die vielgefürchtete «Anarchie» des Marktes ersetzen sollte. Wer bedenkt, wie viele Übel Marxismus und Bolschewismus dem spontanen Warentausch ankreideten – Auswirkungen, die weit über die ökonomische Sphäre hinausreichten –, wird der These zustimmen, dass die Planwirtschaft Kern und Wesen der angestrebten neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung war. In der Idee der Planung verdichtete sich die große Utopie, die dem Sozialismus gerade in der bolschewistischen Version als letzte Triebfeder innewohnte: die Idee der rationalen Gestaltung des Produktionsprozesses unter der Prämisse, dass die Arbeit auch andere Aspekte des menschlichen Lebens präge und die bewusste Regulierung der Ökonomie auf die soziale, politische und kulturell-geistige Ordnung insgesamt ausstrahle. Es war diese besondere ideologische Qualität, gleichsam der Glaube an die Machbarkeit des sozialen Glücks, die der Idee der Planung ungebrochene Attraktivität verlieh und maßgeblich zum Verständnis der Tatsache beiträgt, dass die Grundlagen des ersten Fünfjahresplans schon auf dem Höhepunkt der NĖP gelegt wurden.
(e) Je länger die Unberechenbarkeit der Getreideproduktion andauerte – und letztlich haben die ökonomischen Dilettanten in der bolschewistischen Führung die Lage zu keiner Zeit wirklich im Griff gehabt –, desto stärker wurde die Neigung, die idealen Prinzipien der wirtschaftlichen Produktion und Organisation auf den Agrarbereich auszudehnen. Auch der bäuerliche Betrieb, nicht nur die dörfliche Gesellschaft, wurde nach den Kriterien der städtischen Industrie beurteilt. Die Vergrößerung der Betriebsfläche sollte den Einsatz von Maschinen ermöglichen und sowohl die Produktion als auch die Produktivität erhöhen, die beide durch Vergemeinschaftung, idealiter durch Verstaatlichung, zentraler Planung zu unterwerfen waren. In dieser Sicht war die Kollektivierung ‹nur› eine Frage der Zeit und des Weges, prinzipiell aber war sie längst beschlossen.
Eine solche Politik konnte nicht allein von der Parteiführung durchgesetzt werden. Auch wenn eine Minderheit der Mehrheit ihren Willen aufzwang, umfasste sie ganze Gruppen und Schichten, die ihr folgten. Die ideologische Ursachenforschung bedarf daher (3) der Ergänzung durch eine sozialgeschichtliche. Sozialer Wandel und Stalinismus hingen allem Anschein nach enger zusammen, als unter dem Eindruck einer primär politischen und geistesgeschichtlichen Interpretation lange angenommen wurde. Bei der Suche nach gesellschaftlichen Veränderungen, die sich zugunsten der Stalinschen Politik und seines weiteren Aufstiegs auswirkten, ist vor allem die Aufwärtsmobilität im Zuge der beschleunigten Industrialisierung in den Blick geraten. Sie nahm die Gestalt einer komplementären Bewegung im Wesentlichen auf zwei Ebenen an. Zum einen verursachte die rapide Industrialisierung den millionenfachen Zustrom von Bauern in nichtlandwirtschaftliche Beschäftigungen verschiedenster Art. Das «Proletariat» alter Art, das sich in den zwanziger Jahren zu einem erheblichen Teil wiederhergestellt zu haben scheint (und vielleicht auch den Bürgerkrieg unbeschadeter überstand als bislang angenommen), löste sich endgültig auf. Die Arbeiterschaft wurde vielgestaltiger und konzentrierte sich nicht mehr allein in wenigen Regionen und Städten. Dieser Vorgang kam der neuen Führung offenbar gelegen. Sie förderte ihn, um die Fähigkeit der Arbeiterschaft zur Verfolgung eigener Interessen, mit Unterstützung des Komsomol, zu verringern. Stalin brauchte Einsatz und Opfer, keine Ansprüche.
Parallel zum Zustrom vom Dorfe fand ein Abfluss qualifizierter Arbeiter in die technischen und administrativen Führungskader statt. Auch dieser Prozess erhielt durch die planwirtschaftliche Industrialisierung eine Dynamik, die hinter der – erzwungenen und freiwilligen – ‹Landflucht› nicht zurückstand. Mehrere Entwicklungen kamen dabei zusammen. Zum einen trugen die Öffnung der Hochschulen für die Unterschichten und die gezielte Förderung vor allem von Arbeiterkindern allmählich Früchte. Zum anderen wuchs der Bedarf an Ingenieuren und Verwaltungspersonal sprunghaft an. Für die vydvižency gab es mehr Verwendung als je zuvor. Dies war umso eher der Fall, als der forcierte Anlauf zum Sozialismus im Zeichen von Klassenkampfparolen unternommen und von Stalin auch als Möglichkeit erkannt wurde, die «bürgerlichen Spezialisten» aus ihren nach wie vor einflussreichen Positionen zu verjagen. Dank dem industriellen Schub, der Umstellung aller Wirtschaftsaktivitäten auf zentrale Planung und dem gezielten Bemühen, eine politisch zuverlässige Elite unter der Oberleitung der Partei zu schaffen, entstand das, was man stolz als Sowjetintelligenz bezeichnete. Auch in der wirtschaftlichen und administrativen Hierarchie fand damit der Elitentausch seinen Abschluss, der mit dem Oktoberumsturz begonnen hatte. Er beförderte eine ganze Schicht von homines novi in privilegierte Positionen, die allen Grund hatten, die Versprechen der Revolution an und für sich selbst verwirklicht zu sehen. Sie wurden zu Stützen des neuen Regimes.[73]
Genau besehen schließt die sozialgeschichtliche Deutung (4) das subjektiv-mentale Moment der Überzeugung bereits ein. Dennoch tun jüngste Darstellungen gut daran, diese Dimension stärker zu betonen und gleichsam aus ihrer ‹Nebenrolle› zu befreien. Niemand wird daran zweifeln wollen, dass viele Sowjetbürger den ‹Aufbau des Sozialismus› nicht nur aus vollem Herzen unterstützten, sondern auch ihre Identität aus der Zustimmung zum neuen Regime und seinen Visionen bezogen. Insofern sollte neben die gleichsam ‹zweckrationale› Deutung des Stalinismus als Produkt auch von Aufstiegsstreben und materieller Vorteilssuche das ‹wertrationale› aufrichtiger Begeisterung treten. Nichts anderes behauptete im Übrigen jene Variante der Totalitarismustheorie, die den qualitativ anderen Zugriff der modernen Diktaturen auf ihre Anhänger und Unterworfenen aus der vollständigen Kontrolle auch über alle wichtigen Sozialisationsinstanzen erklärte. Seither ist aber, nicht zuletzt im Vergleich mit dem Nationalsozialismus, deutlich geworden, dass dennoch viele Freiräume blieben und die Identifikation nicht nur schwanken konnte, sondern auch Platz für andere Loyalitäten ließ. Es wird nicht primär darauf ankommen, die affektive Bindung selbst als relevantes Erklärungsmoment des Stalinismus auszuweisen, sondern vielmehr darauf, Brechungen und parallele Vielfalt der ‹Zugehörigkeiten› in der durchaus neuen Perspektive eines ‹Stalinismus von innen› zu zeigen.[74]
Unbeschadet der Bedeutung ideologischer, sozialer und mentaler Ursachen für den Antrieb zur ‹großen Wende› und ihre Möglichkeit dürfen (5) persönliche und machtpolitische Faktoren nicht übersehen werden. Auch wenn man über kontrafaktische Eventualitäten nicht streiten kann: Es ist höchst unwahrscheinlich, dass Industrialisierung und Kollektivierung in der überstürzten und brutalen Form, die beide annahmen, ohne Stalin und seine Clique durchgeführt worden wären. Die Ausschaltung der letzten Opposition in der bolschewistischen Partei ist aus der Geschichte der ‹großen Wende› ebenso wenig wegzudenken wie Stalins endgültiger Aufstieg zur Macht. Dabei ist die Frage müßig, was Henne und was Ei war – ob Stalins Herrschaftstrieb das Ende der NĖP bewirkte oder die Krise der alten Wirtschaftspolitik ihm eine willkommene Gelegenheit bot, sein neues Ziel auf gut vorbereitetem Boden zu erreichen. Beide Vorgänge waren unauflöslich miteinander verwoben. Die Einführung zentraler Planung, die Beseitigung des privaten Handels und Gewerbes sowie vor allem der gewaltsame Umsturz der Eigentumsverhältnisse auf dem Lande bedurften der Absicherung durch eine staatliche Zwangsgewalt, die sicher auch als kollektiv-oligarchische denkbar war, aber der Herausbildung einer persönlichen Diktatur fraglos starke Impulse gab. Umgekehrt fand der Wille zur Alleinherrschaft dort besonders günstige Bedingungen, wo die bisherige Politik in Bedrängnis geriet, wo ihr Legitimationsdefizit nach Maßgabe der Versprechungen immer sichtbarer wurde und als Folge einer bereits vollzogenen politischen Kurskorrektur die alten sozioökonomischen Strukturen in Fluss geraten waren. Umfeld und Individuum ergänzten einander auch in diesem Falle. So trug die praktizierte Politik manche Spuren der konkreten Persönlichkeit Stalins. Immer wieder hat man auf seine schon von Lenin gerügte «Grobheit» und die Neigung hingewiesen, die Umgebung pauschal in Freund und Feind zu teilen. Solche Charakterzüge waren in einer Entwicklungsphase von Vorteil, in der wichtige Entscheidungen und tiefgreifende soziale Veränderungen bevorstanden. So wie der Volkstribun Trotzki die revolutionäre Gärung der Massen brauchte, um sein rhetorisches Talent entfalten zu können, so verschaffte sich der ‹Bürokrat› Stalin auf seine Weise, durch persönliche Netzwerke, taktisches Geschick und Intrigen, in einer Situation Autorität und dominante Macht, in der die erste sowjetisch sozialisierte Generation und ein weiter wachsender Parteiapparat entschiedener Führung und der Illusion einfacher Lösungen bereitwillig folgten. Er verkörperte den neuen Kurs, das neue Ziel und die längst omnipotente Partei, die den Aufbruch in die Zukunft lenken sollte. Aber er tat dies nicht passiv, sondern prägte das Geschehen. Es war zutiefst symbolisch, dass Stalin sich an seinem 50. Geburtstag im Dezember 1929, am Ende eines schicksalsschweren Jahres, in dem er die junge Sowjetunion mutwillig in die schwerste Krise seit dem Bürgerkrieg stürzte, erstmals mit all den Huldigungen und Propagandafanfaren feiern ließ, die bald zum festen Bestandteil des Persönlichkeitskultes gehörten: Als der Staat seine Handschrift zu tragen begann, wurde der «Führer» (vožd) geboren.[75]