Tabelle 12: Verbreitete Schätzungen des Ausmaßes stalinistischer Gewalt
Festnahmen gesamt 1937–38 |
Lagerhäftlinge 1938 |
Lager und Gefängnishäftlinge 1938 |
Lagerhäftlinge 1952 |
Tote in Lagern 1937–38 |
Exekutionen 1937–38 |
Exekutionen 1921–53 |
|
Anton Antonov-Ovseenko |
18,8 Mio.1 |
16 Mio. |
7 Mio. |
||||
Roj A. Medvedev |
5–7 Mio. |
0,5–0,6 Mio. |
|||||
Ol‘ga Šatunovskaja |
19,8 Mio.1 |
7 Mio. |
|||||
Dmitrij Volkogonov |
3,5–4,5 Mio. |
||||||
Robert Conquest |
7–8 Mio. |
ca. 7 Mio. |
ca. 8 Mio. |
12 Mio. |
2 Mio. |
1 Mio. |
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Dokumentiert |
ca. 2,5 Mio. |
1,9 Mio.2 |
2,0 Mio.2 |
2,5 Mio.2 |
160.0843 |
681.692 |
799.4554 |
1 1935–1940 2 inklusive Arbeitskolonien 3 in Lagern des Gulag, Arbeitskolonien und Gefängnissen 4 von Polizeistellen initiierte oder untersuchte Fälle, die eventuell die Mehrheit der für «politische Verbrechen» Verurteilten beinhalten
Quelle: Getty, Rittersporn, Zemskov, Victims, 1022
Unter Einbeziehung jüngster Forschungsergebnisse, die bis auf Weiteres autoritative Geltung beanspruchen dürfen, sind daher folgende Kerndaten festzuhalten: Statt 7–8 Mio. Insassen aller Arbeitslager Ende 1938 lassen sich ‹nur› 1,34 Mio. bzw. Anfang 1941 1,56 Mio. nachweisen, die sich mit Gefängnisinsassen und den Verbannten des «Kulakenexils» auf ca. 4 Mio. «in allen Abteilungen des Gulag» bei Kriegsbeginn addieren.[19] Statt 7 Mio. Verhaftungen während des «Großen Terrors» der Jahre 1937/38 nennt eine interne, 1954 für Chruščev angefertigte Statistik des Innenressorts ‹nur› 1,57 Mio., die nach Maßgabe vermutlich nicht erfasster anderweitiger «Neuzugänge» in den Gulag auf ca. 2,25–2,3 Mio. zu erhöhen ist.[20] Statt einer oder mehrerer Millionen in dieser Zeit Hingerichteter sind laut Archivdaten ‹nur› ca. 680.000 bzw. 726.000 belegbar. Allerdings wird man gerade bei den Exekutionen noch viele unregistrierte und in anderen Kategorien versteckte Opfer hinzurechnen müssen, so dass eine neuere Prüfung der Daten vorschlägt, sie auf eine «Bandbreite von 950.000–1,2 Mio, i. e. ungefähr eine Million» zu erhöhen.[21] Dabei ging der allergrößte Teil der Opfer auf den schlimmsten aller Befehle, die Order 00447 vom 30. Juli 1937, zurück. Aufwändige Recherchen über seine Ausführung in der Provinz haben ergeben, dass er bis zum November 1938 zu 356.105, nach anderen Angaben sogar zu 387.000 Todesurteilen führte.[22]
Schließlich haben auch die Zahlen für diejenige Opferkategorie, die besonders häufig als Gradmesser der Brutalität stalinistischen Terrors herangezogen wurde – die in Lagern, Kolonien oder in der Verbannung überwiegend infolge von Hunger, Krankheit oder Erschöpfung Verstorbenen – eine andere Größenordnung angenommen. Eine interne Statistik der Gulag nennt für 1934–1941 nur 382.855 bei 8,74 Mio. Insassen in dieser Zeit; dies entspricht einer Mortalität von 4,3 %, die, nach Jahren aufgeschlüsselt, nur 1938 mit 6,9 % und 1941 mit 6,0 % deutlich übertroffen wurde. Eine andere Rechnung geht von der Zahl der belegten Exekutionen 1937–38 aus und addiert die wenigen bekannten Daten über Todesfälle in den Lagern und im Kulakenexil vor 1940 zu einer Summe von 1,5 Mio. in den 1930er Jahren; dem fügt sie noch einen Schätzwert für ungezählte Opfer während der chaotischen Kollektivierung hinzu, so dass sich eine Gesamtzahl von 2 Mio. excess deaths ergibt. Sicher bleibt auch diese «enorme Zahl» hypothetisch; aber nach gegenwärtiger Kenntnis wird das wahre Ausmaß nicht stark davon abweichen.[23]
Auch wenn solche neuen Zahlen deutlich unter früheren Schätzungen bleiben, ändern sie nichts an der Schrecklichkeit des Geschehens und der Gewaltsamkeit eines Regimes, das sie nicht nur ermöglichte, sondern ohne sie nicht auskam. Wenig illustriert den konstitutiven Charakter des Terrors für den Stalinismus so überzeugend wie die Relation zwischen der Zahl der Hafturteile und der der Gesamtbevölkerung: Erstere belief sich zwischen 1930 und 1941 (wiederholte Verfahren eingeschlossen) auf etwa 20 Mio., die Gesamtzahl aller Familien in der Sowjetunion laut Zensus von 1939 auf 37,5 Mio. zuzüglich 4 Mio. allein lebender Erwachsener. Mithin war beinahe jede zweite Familie in der ein oder anderen Weise, wenn auch überwiegend ‹nur› in Gestalt geringerer Strafen und kurzzeitiger Inhaftierung, von staatlicher Repression betroffen.[24]
Erstmals geben die postsowjetischen Daten auch genauere Auskünfte über Veränderungen der Lagerbevölkerung und deren Struktur. Es bestätigt sich, dass die meisten Opfer – trotz eines deutlichen ‹Ausschlags› der Kurve (s. Diagramm1) auf dem Höhepunkt des Terrors 1938 – nicht während der Vorkriegsjahre in den «Archipel Gulag» verschleppt wurden, sondern in der letzten Phase Stalinscher Herrschaft seit 1948. Ferner ergibt sich, dass die Mehrheit der Insassen durchgehend, wenn auch mit unterschiedlichem Anteil, wegen ‹nichtpolitischer› Verfehlungen verurteilt wurde; dabei ist zu bedenken, dass «Konterrevolutionäre» auch dort gewittert wurden, wo völlig andere Motive im Spiele waren und gar keine Verhaftungsgründe bestanden. Dem entsprach, dass die Haftstrafen ganz überwiegend unter fünf Jahren lagen und nur 1936 mehrheitlich Strafen von 5–10 Jahren verhängt wurden; allerdings dürften willkürliche Verlängerungen an der Tagesordnung gewesen sein. Am wenigsten überrascht der Befund, dass Frauen in den Lagern selten waren und junge Männer zwischen 25 und 40 Jahren die Majorität bildeten. In ethnisch-nationaler Hinsicht war schon in den Vorkriegsjahren bei einigen nichtrussischen Nationalitäten ein deutlicher Anstieg zu verzeichnen. Bekannt ist, dass sich einige Massenaktionen ausschließlich gegen sie richteten. Im «Großen Terror» waren davon besonders Polen und Koreaner betroffen, nach 1941 Deutsche, während des Kriegs Krimtataren, Čečenen, Ingušen, Uzbeken, auch Bulgaren, Griechen, Armenier und mehrere andere Völker sowie nach Kriegsende vor allem die Balten. Zusammenfassende, über Strukturveränderungen im Längsschnitt Auskunft gebende Daten scheint es aber nicht zu geben.[25]