Diagramm 1: Gulag- und Koloniebevölkerung 1934–1953

Bei alledem hat man jüngst mit guten Gründen darauf hingewiesen, dass sich das Maß an Repression im Stalinismus allein mit Angaben über Haftstrafen und die Insassen von Gefängnissen und Lagern nicht zureichend beschreiben lässt. Darüber hinaus gab es verschiedene weitere Arten staatlicher Aufsicht und eingeschränkter Freiheit für die betroffenen Individuen, von Zwangsarbeit ohne Lagereinweisung und ‹bloßer› Verbannung bis zur Ansiedlung mit Residenzpflicht nach verbüßter Haft oder als ‹Freigänger› in der Umgebung. Der Übergang zwischen «Gulag» und «Non-Gulag» war fließend. Insofern spricht in der Tat vieles dafür, auch die fast 30 Mio. Urteile zu Strafen unterhalb der Schwelle ‹vollständiger› Haft, die zwischen 1930 und 1952 von ordentlichen und außerordentlichen Gerichten verhängt wurden, in die Gesamtbilanz miteinzubeziehen. Als Summe ergäbe sich dann die enorme Zahl von ca. 50 Mio. Verurteilten. Allerdings würden erst weniger hoch aggregierte Daten und ein Vergleich mit anderen Staaten und Systemen zeigen, welche Wahrscheinlichkeit, betroffen zu werden, dies für den Einzelnen über den langen Zeitraum von 22 Jahren bei einer Gesamtbevölkerung von 167,3 Mio. 1937 und 194,1 Mio. in den neuen Grenzen von 1940 bedeutete.[26]

Mitten in dieser Schreckenszeit fand ein weiterer Schauprozess statt, der das lautlose und doch so geräuschvolle Treiben des NKVD für alle, die Augen hatten, exemplarisch an die Öffentlichkeit trug. Es war zugleich die aufwendigste, politisch bedeutsamste und letzte Veranstaltung dieser Art: Nach den ersten Verbündeten des Generalsekretärs und deren (vermeintlichen) Anhängern folgten mit Bucharin, Rykov und 19 anderen die letzten. Dass Stalin mit diesem Spektakel aufs Ganze ging, ließ sich unschwer an der Prominenz der Angeklagten ablesen. Nie zuvor und nie danach standen so viele hochrangige Genossen vor Gericht. Bucharin, der «Liebling der Partei», gehörte nicht nur zu den langjährigen Mitstreitern Lenins, sondern überragte alle an Geistesschärfe und theoretischer Begabung. Rykov vermochte zwar weniger Popularität und Talent ins Feld zu führen, dafür aber eine ähnliche Anciennität und als ehemaliger Vorsitzender des SNK ein höheres Amt. Krestinskij war 1919–20 Parteisekretär und Mitglied des ersten Politbüros gewesen, danach Botschafter in Berlin und 1930–37 stellvertretender Außenkommissar. Hinzu kamen drei von Stalin selbst eingesetzte Volkskommissare sowie nicht zuletzt sein erster oberster Kerkermeister Jagoda. Insgesamt gehörten 9 der 21 Beschuldigten dem ZK von 1934 an. Tomskij fehlte gewiss nur, weil er sich der Verhaftung in zunehmender Gewissheit seines Schicksals durch Selbstmord entzogen hatte. Insofern drängte sich der Eindruck nachgerade auf, den Trotzki aus dem Exil auf die Formel brachte, hier stehe die gesamte frühe Sowjetunion, der revolutionäre Staat von gestern, vor Gericht.

Auch dieser Prozess war nach dem bewährten Muster vorbereitet worden. Ežovs Folterknechte hatten sich alle Mühe gegeben, den Angeklagten das Eingeständnis abzupressen, als Mitglieder eines «Blocks von Rechten und Trotzkisten» – so der Titel der Anklageschrift – gegen die Staatsmacht konspiriert zu haben. Ihre besondere Aufmerksamkeit galt dabei Bucharin. Zwar wurde er allem Anschein nach als Einziger nicht physisch gefoltert. Dafür machte man ihm unmissverständlich deutlich, dass er seine junge zweite Frau Anna Larina und ihren neugeborenen Sohn nur durch Gefügigkeit vor Unheil würde bewahren können. So gab Bucharin seinen Widerstand nach dreimonatigen Verhören auf. Dazu mochte der Umstand beigetragen haben, dass er seit längerem nicht nur ahnte, sondern wusste, was ihn erwartete. Zur letzten Einsicht in die mörderische Psyche Stalins und zur Erkenntnis, dass der unumstrittene Sieger im innerparteilichen Kampf auch vor dem Äußersten nicht zurückschrecken würde, brachte ihn offenbar der Anschlag auf Kirov samt der Verhaftung Zinov’evs und Kamenevs. Jedenfalls hinterließ er schon während seines letzten Auslandsaufenthalts in Paris im März und April 1936 bei seinen menschewistischen Kontaktpersonen – wenn die Gespräche in der überlieferten Form stattgefunden haben – den Eindruck, als habe er die sensationellen Interna voller Verzweiflung im Vorgriff auf das eigene, erzwungene Schweigen enthüllt. Weil er nicht «als Emigrant» leben zu können glaubte, kehrte Bucharin dennoch nach Moskau zurück. Dort wurde er zuvorkommend behandelt und durfte seine Wohnung im Kreml samt Dienstwagen ebenso behalten wie seine Parteiämter. Beim jährlichen Revolutionsjubiläum im November erwies ihm Stalin die Reverenz, ihn auf die Ehrentribüne zu bitten. Aber Bucharin wusste, dass man hinter seinem Rücken längst Material gegen ihn zusammentrug. Im August belasteten ihn Zinov’ev und Kamenev in ihren ‹Geständnissen›. Im Januar 1937 wiederholten Radek, Pjatakov und andere die Anschuldigungen. Auf dem nächsten Plenum des ZK Ende Februar war es dann so weit: Letztlich stand nur eine Frage auf der Tagesordnung – was mit Bucharin und Rykov geschehen sollte. Die Debatte verlief äußerst erregt und heftig. Bucharin warf Stalin vor, eine «monströse Verschwörung» gegen die Partei zu inszenieren, um eine «auf Polizeigewalt» gestützte «persönliche Diktatur zu errichten, und forderte eine Untersuchung der Methoden des NKVD. An einen Erfolg einer solchen Verzweiflungsoffensive dürfte er aber selber nicht geglaubt haben. Der Generalsekretär reagierte harsch und drohte seinem letzten bedeutenden Kontrahenten offen mit Haft (und Schlimmerem), überließ die Entscheidung dann aber heuchlerisch einer Kommission (der er selber angehörte).

In der sicheren Erwartung des Schlimmsten verfasste Bucharin noch während der Beratungen einen Brief «An eine künftige Generation von Parteiführern», den er seine Frau auswendig zu lernen bat. Als eines der erschütterndsten Dokumente über Stalins Verbrechen gegen die Partei hat dieses ‹Testament› dem ZK unter Chruščev vorgelegen. Er fühle sich hilflos, schrieb Bucharin, gegenüber einer «Höllenmaschine», die eine «gigantische Macht» angesammelt habe und systematischen Rufmord betreibe, einer «degenerierten Organisation von Bürokraten, ohne Ideen, verkommen, gut bezahlt», die «Stalins krankhaftes Misstrauen» nähre und «jedes Parteimitglied» zu einem «Verräter, Terroristen, Diversanten» und «Spion» erklären könne. Welche Vorwürfe auch immer gegen ihn erhoben würden, er sei unschuldig und vertraue darauf, dass «der Filter der Geschichte früher oder später den Schmutz» von seinem Haupt fegen werde. Und er schloss mit dem beschwörenden Appell: «Wisset, Genossen, dass sich auf dem Banner, das Ihr auf dem siegreichen Marsch in den Kommunismus tragen werdet, auch Tropfen meines Blutes befinden.» [27]

Auch in Kenntnis dieser Zeilen hätte die Kommission sicher getan, was von ihr erwartet wurde. Umstritten aber ist der genaue Inhalt dieses impliziten Auftrags. Einige Kommissionsmitglieder – darunter auch solche, die bald selber von diesem Schicksal ereilt wurden – votierten für die sofortige Erschießung Bucharins. Andere wollten ihn vor Gericht stellen, aber ein Todesurteil untersagen. Die Mehrheit folgte dem Vorschlag Stalins, ihn aus der Partei auszuschließen, keinen Prozess zu veranstalten und die Angelegenheit zur weiteren Aufklärung an den NKVD zu übergeben. Es lag auf der Hand, dass Letzteres einer Hinrichtung gleichkam. Die ‹Milde› war scheinheilig. Wenn die Akten zeigen, dass Stalins ursprünglicher Vorschlag eine bloße Verbannung ohne Hinzuziehung des NKVD empfahl, erhebt sich die Frage, ob ein solches Verfahren realistisch war. In jedem Falle nützte den Betroffenen selbst eine mögliche Unentschlossenheit des ‹Führers› wenig: Sie wurden auf der Stelle verhaftet und ins Hauptquartier des Geheimdienstes gebracht.

Der Prozess begann am 2. März 1938. Trotz der einjährigen Zurichtung gehorchten nicht alle Angeklagten der Regie Vyšinskijs. Krestinskij brachte den selbstmörderischen Mut auf, sein ‹Geständnis› zu widerrufen. Er bezahlte diese Unbotmäßigkeit mit qualvoller Folter, die ihn einige Tage später völlig verändert aussehen ließ (falls der Vorgeführte kein Doppelgänger war). Auch Rykov vermittelte den Eindruck eines gebrochenen Mannes, der seine Aussagen gelegentlich durch «albernes Gekicher» unterbrach. Aber er spielte seine Rolle ebenso willfährig wie der gleichfalls gefolterte Jagoda. Am schwersten war zweifellos Bucharin für die Anklage auszurechnen. Körperlich weitgehend unversehrt, verfügte er auch über genügend rhetorisches Talent, um die Wahrheit zwischen den Zeilen und in Andeutungen zu enthüllen. In welchem Maße er auf diese Weise tatsächlich einen «Gegenprozess» inszenieren konnte, bleibt allerdings weiterhin offen. Eindeutig geht aus dem Protokoll nur hervor, dass Bucharin alle kriminellen Anschuldigungen, vom Attentatsversuch auf Lenin (als Komplize Kaplans 1918) bis zum Mord an Kirov, von sich wies, dagegen in einem «sorgfältig formulierten Schuldeingeständnis» die Richtigkeit der politischen Vorwürfe – «einer der maßgeblichen Führer» des «Blocks der Rechtsabweichler und Trotzkisten» zu sein, «weißgardistische Kulakenaufstände gegen die Mitglieder des Politbüros» vorbereitet und «Verrat an der sozialistischen Heimat» begangen zu haben – einräumte. Indem ausgerechnet er, die Verkörperung der hohen Ideale von einst, sich selbst des Verrats bezichtigte, klagte er, wie eine sympathisierende Auffassung meint, unüberhörbar eigentlich Stalin an. Indem er Geständnisse als «mittelalterliches Prinzip der Jurisprudenz» verwarf, deckte er die Folterpraxis auf. Indem er Verbrechen im strafrechtlichen Sinn abstritt, verteidigte er das «historische Erbe» des Bolschewismus gegen dessen Perversion im Stalinschen Schreckensregime. Vyšinskij vermochte dem abermals nichts anderes entgegenzusetzen als Lügen und Beschimpfungen. Bucharin als Gestapoagent war so unglaubwürdig, dass die Vorwürfe auf ihre Urheber zurückfielen. Am Ausgang des Prozesses änderte dies freilich nichts. Die Angeklagten wurden (mit drei Ausnahmen) zum Tode verurteilt und in Erfüllung von Vyšinskijs Plädoyer am 15. März wie «räudige Hunde» erschossen.[28]

Es hieße die tiefe Tragik Bucharins verkennen, wollte man den Erfolg seiner Verteidigungsstrategie an ihrer Wirksamkeit auf das Verfahren messen. Er kehrte aus Paris zurück, obwohl er nach Zinov’evs und Kamenevs Verhaftung wissen musste, dass sein Leben in Gefahr war. Er forderte Stalin im ZK heraus, obwohl ihm niemand mehr folgte. Er bemühte sich während des Prozesses, seine Ehre (und die seiner Partei) zu bewahren, nicht zu Kreuze zu kriechen und den wahren Schurken zu entlarven, ohne Verwandte und Bekannte noch stärker zu gefährden. Diese Gratwanderung mag ihm den Umständen entsprechend gelungen sein. Ob die letzte Rede auch seine «beste Stunde» war, mag offen bleiben. Nicht nur seine Frau, die trotz allem zwei Jahrzehnte in sibirischen Lagern verbringen musste, und sein Sohn, der in Waisenhäusern aufwuchs, mochten der Meinung sein, dass es zu diesem Ende samt dem Teilgeständnis offensichtlich erlogener politischer Vergehen besser gar nicht erst gekommen wäre.[29]

Schon bevor dieser letzte Schauprozess begann, verdichteten sich die Anzeichen dafür, dass der Höhepunkt der Gewalt für die Masse der Bevölkerung überschritten war. Die willkürliche Vernichtung sorgte nicht nur für Botmäßigkeit, sondern auch für lähmendes Entsetzen und traf viel herausragende Begabung und unersetzbares Talent. Der «Terror als Machtsystem» ließ die Grenzen seiner Beherrschbarkeit erkennen. Seine Eigendynamik machte ihn selbst zur Gefahr: Die dritte Welle ‹säuberte› mit erheblicher innerer Konsequenz die ‹Säuberer› selbst. Den Auftakt zu dieser Wende gab eine Resolution des ZK-Plenums vom Januar 1938. Darin wurden «Fehler der Parteiorganisationen beim Ausschluss» von Mitgliedern angeprangert. Auf bloßen Verdacht habe man verdiente Kommunisten ins Unglück gestürzt und der Denunziation Tür und Tor geöffnet. Die individuelle Überprüfung sei durch pauschalen ‹Automatismus› ersetzt und in «unerträgliche Willkür» pervertiert worden. Dem Zehnpunkte-Katalog zur Abhilfe folgten gegen Jahresende Taten. Im Sommer mehrten sich die Zeichen, dass Ežovs Stern zu sinken begann. Anfang Oktober setzte das Politbüro eine Kommission zur Überprüfung der Verhaftungen ein. Am 15. November wurde die mörderische Tätigkeit der Schnellgerichte (Trojki) «bis auf Weiteres» eingestellt. Was folgte, entsprach der blutigen Logik des Terrors und seines eigenen Aufstiegs. Nach einem ‹Gespräch› mit Stalin trat Ežov noch am Ende desselben Monats als Chef des NKVD zurück. Kein halbes Jahr später verhaftete ihn sein Nachfolger Lavrentij P. Berija höchstpersönlich, der auch seine Erschießung im Februar 1940 befahl. Im Gefolge der Absetzung ‹verschwanden› NKVD-Schergen auf allen Ebenen. Da zugleich Häftlinge entlassen wurden, erlebten die Gefängnisse und Lager in der Tat einen bemerkenswerten Wandel: Anstelle manch eines Opfers saß dessen ‹Richter› ein. Diese Wende fand auf dem 18. Parteitag im März 1939 einen gewissen Abschluss. Als Referent zur Organisationsfrage wiederholte Ždanov nicht nur ex cathedra den Appell zur Beendigung der «Massensäuberungen»; darüber hinaus regte er sogar eine Änderung des Statuts mit dem Ziel an, ehrbare Mitglieder vor der Willkür ihrer Genossen zu schützen. Stalin rief damit die Geister zur Ordnung, die er selbst losgelassen hatte. Sicher durften sie auch weiterhin zeigen, was sie gelernt hatten. Terror gehörte nach wie vor zum System. Aber bei aller Eigendynamik, die er vorübergehend gewann, zeigte das Machtwort auch, wer ihn letztlich lenkte: einzig der Diktator selber.[30]

Diese Aussage enthält bereits eine Antwort auf die schwierige Frage nach der Deutung des Stalinschen Terrors. Im Großen und Ganzen stehen einander zwei Auffassungen gegenüber. Die herkömmliche Meinung argumentiert persönlichkeitsbezogen. Sie sieht einen unauflöslichen Zusammenhang zwischen der Gewalt, Stalins Charakter und seiner diktatorischen Stellung. Willkür und Mord erscheinen ihr als gezielte Mittel, mit denen der «Führer» die im Laufe der Wende gewonnene Macht zu festigen suchte. Terror wird zum notwendigen Ferment des endgültigen Übergangs der monopolistischen Parteiherrschaft in die persönliche Diktatur Stalins. Auf diese Weise verbindet sich eine methodische Position mit einer Sachinterpretation: Der individuell-psychologische, nicht selten als Biographie dargestellte Zugang wird durch eine Analyse der Herrschaftsordnung gestützt, die von der weitgehenden Kontrolle der Aktionen von Partei und Staat durch den obersten Machthaber ausgeht. Stalin wollte die alleinige Macht und eroberte sie auf die Art und Weise, die seinem intriganten und brutalen Charakter einerseits sowie den vorgegebenen, in der bolschewistischen Gesellschafts- und Staatsidee wurzelnden Strukturen andererseits entsprachen. Die Herrschaftspraxis stützte sich dabei zugleich auf neue Methoden und Instrumente der Massenmanipulation, sozialer Kontrolle, politischer Lenkung, der ‹Organisation› von Charisma und der polizeilichen Überwachung zumindest aller kollektiven Regungen. Die persönliche Diktatur nahm die Form totalitärer, durch die Partei und ihren Führer ausgeübter Herrschaft an.

In der Tat steht die herausragende Rolle Stalins bei der Gewaltausübung außer Zweifel. In der Kirov-Affäre belasten ihn immer noch viele Indizien. Nach dem Anschlag ergriff er unverzüglich gezielte Maßnahmen, um seinen Feinden den letzten gesetzlichen und politischen Schutz zu nehmen. Fraglos dirigierte er alle Schauprozesse aus nächster Nähe. Gewiss auch nahm er entscheidenden Einfluss auf die Auswahl der Opfer in der Armeeführung und der oberen Staats- und Wirtschaftsbürokratie. Selbst im Massenterror behielt er, wie am Beispiel des fürchterlichen Befehls 00447 gezeigt worden ist, alle Fäden in der Hand. Das Verfahren, das man sich dafür ausdachte, war ebenso einfach wie ungeheuerlich. Auf Anweisung Stalins persönlich stellte das NKVD (Anfang Juli 1937) Listen zusammen, die pro Republik und Region, in zwei Kategorien sortiert, vorgaben, wie viele Personen jeweils zu erschießen oder zu deportieren waren. Der Generalsekretär gab sie nicht nur in Auftrag, sondern nahm das Endprodukt auch entgegen und legte es dem Politbüro vor, das es ergeben verabschiedete. Und auch das skizzierte Ende des Massenterrors kann als klares Indiz für Stalins entscheidendes Wort gewertet werden. Als er zu der Einsicht kam, dass die enthemmte Gewalt die Funktionsfähigkeit des Staates und vor allem der Wirtschaft bedrohte, weil sie allzu viel Qualifikation zerstörte, Zuständigkeiten durcheinanderbrachte und ängstliche Initiativlosigkeit erzeugte – so die meistgenannten, letztlich aber nur zu vermutenden Motive –, da begann er Fehler und Überspitzungen zu kritisieren. Für diese Kehrtwende opferte er auch bedenkenlos seinen willfährigen Helfer und schlimmsten Henker Ežov. Damit zeigt sich wiederum, was neuere Biographien als weiteres, in seinem Gewicht schwer einzuschätzendes Motiv für die ausgiebige Nutzung des Terrors als Herrschaftsmittel im Übermaß belegen: eine persönliche Neigung zu ausgesuchter, ja sadistischer Brutalität. Anders als Hitler, der kein Blut sehen konnte, kannte Stalin keine Berührungsangst gegenüber Gewalt.[31] Auch in dieser Hinsicht war er kein schwacher Diktator, sondern ein starker, dessen jederzeitige Kontrolle über die Gewalt, die er selbst ausgelöst hatte, inzwischen – nach langer Kontroverse – außer Frage steht.

Auf der anderen Seite bleiben Tatbestände und Überlegungen, die Anlass zur Ergänzung dieser Deutung geben. Sie sind in der Vorstellung gebündelt worden, dass der terroristische Impuls auf der lokalen Ebene eine Art von Eigendynamik entfaltet habe. In den Stadt-, Rayons- und Bezirksorganisationen pflanzte er sich aus eigener Kraft und mit lawinenartigem Effekt fort. Die bloße Herkunft eines Parteimitglieds genügte, um aus der Partei verbannt zu werden. Wer auf diese Weise gezeichnet war, trug zugleich den Stempel des Sowjetfeinds und lief ernsthaft Gefahr, in die Fänge des NKVD zu geraten. Wo auch immer nach Saboteuren und Diversanten gefahndet wurde, da fand man sie auch. Eine ganze Organisation, die in Bewegung gesetzt wurde, um ‹Gegner› zur Strecke zu bringen, konnte gar nicht anders, als ‹Gegner› zu entdecken, wenn sie ihre Existenzberechtigung nicht widerlegen oder sich selbst Unfähigkeit bescheinigen wollte. In diesem Sinne verwandelte sich die ideologisch erzeugte Vorstellung von einer «allgegenwärtigen Konspiration» in beklemmende Realität. Dabei halfen persönliche Motive, da die faktische Lizenz zu Verrat und Denunziation nachgerade dazu einlud, alte Rechnungen zu begleichen.[32]

Als Beleg für diesen Effekt dürfen sozusagen der zweite Teil der Genese und die Umsetzung des Befehls 00.447 gelten. Denn schon an der Erstellung der ursprünglichen Liste waren die lokalen NKVD- und Parteiführer beteiligt. Das lag in der Natur der Sache, da die zentralen Instanzen gar nicht wussten, wie viele «ehemalige Kulaken», um die es zunächst nur ging, sich wo befanden. Die Rückmeldungen aus der Provinz bildeten nachgerade eine Voraussetzung für die Listen. Die lokalen Sekretäre waren es auch, die auf Erweiterung der Zielgruppe durch «konterrevolutionäre» Elemente drängten. Solches Engagement hielt während der gesamten Dauer der Operation an. Es schlug sich im regen Gebrauch der Möglichkeit nieder, die Opferkontingente zu erhöhen. Wohlgemerkt: diese zusätzlichen Listen mussten von den Zentralgremien, dem Politbüro oder dem NKVD, bestätigt werden; aber die Initiative ging von den Regionen aus, und sie war meist erfolgreich. In der Praxis kam es zu einem regelrechten Wettbewerb um die Erhöhung der Kontingente – jeder sowjetische Provinzfürst und manch subalterner Intrigant konnte letztlich jeden ans Messer liefern, den er aus dem Weg schaffen wollte. Terror wurde zum tödlichen Instrument in lokalen Machtintrigen. Wer aber angeschwärzt und aus heiterem Himmel verhaftet wurde – das entzog sich zentraler Nachprüfung. Insofern gewann der Terror zweifellos ein Eigenleben, das sich von der ursprünglichen Absicht löste und die Gefahr heraufbeschwor, die Parteiherrschaft und Stabilität des Staates selber zu unterminieren.[33]

Auch in der Frage möglicher Ursachen für die Gewaltexzesse vor allem der Jahre 1937–38 zeichnet sich ein weitgehender Konsens ab. Dabei liegt auf der Hand, dass mehrere Motive zusammenkamen. Ganz oben auf der Liste wahrscheinlicher Beweggründe stehen Angst und Verunsicherung. So erstaunlich das klingt, fürchteten Stalin und seine Clique offenbar vieles: die Rückkehr der Kulaken – weshalb die verbreitete Bezeichnung «Kulakenbefehl» für die Order 00447 durchaus zutrifft –, aber auch die Rache ehemaliger Parteimitglieder, die in den Vorjahren ausgeschlossen worden waren. Berichte lokaler Parteiführer, die Stalin im Juli 1937 vorlagen, machten nicht nur auf das Kulakenproblem aufmerksam, sondern warnten auch vor vielen Tausend ‹gesäuberter› Ex-Genossen. Auch dies mag ein Grund dafür gewesen sein, dass die Zielgruppe des schlimmsten aller Befehle schnell erweitert wurde – letztlich auf alle, vor denen man sich fürchtete. Jeder, der Anlass dazu gab, wurde zum «Konterrevolutionär» und die Furcht allgegenwärtig. Molotov nannte das Dekaden später in einem rückblickenden Interview die «5. Kolonne», die man rechtzeitig ausgemerzt habe. Den ‹inneren Feind› sah man überall: unter den prominenten Alt-Bolschewiki, der Managerelite, den nichtrussischen Nationalitäten und nicht zuletzt in den eigenen Reihen. 1937 bestand besonderer Grund zur Wachsamkeit, da sich die internationale Lage zuspitzte. Das nationalsozialistische Deutschland hatte gerade das Rheinland besetzt und rüstete weiter auf. In Spanien bekämpfte Franco mit offener Unterstützung durch Deutschland und Italien die Volksfrontregierung. Die ‹kapitalistischen› Westmächte taten nichts – für Stalin, der großen Anteil an den spanischen Vorgängen nahm, ein klarer Beleg dafür, dass sie den Faschismus nicht im Zaum halten würden und der einzige sozialistische Staat der Erde, die Sowjetunion, auf der Hut sein müsse.[34]

Gegenüber dieser Deutung haben andere Hypothesen an Überzeugungskraft verloren. Zugleich schließen sie einander nicht aus. So mag es durchaus sein, dass auch die Angst vor der versprochenen, im üblichen Kampagnenstil propagierten freien Abstimmung über die neue Verfassung (1936) im Spiel war. Denn in der Tat war es denkbar, dass sich hier der ansonsten ohnmächtige Protest vieler vom Regime Gemaßregelter in der ein oder anderen Form geäußert hätte. Und auch biographische Erklärungen ergänzen die ‹Furcht-Hypothese› eher, als dass sie ihr widersprächen – attestieren sie Stalin doch nicht nur einen ausgeprägten Hang zur Intrige (aber auch die Fähigkeit dazu), sondern eine gleich starke, von wachsendem Argwohn genährte Neigung zu Brutalität und geradezu sadistischer Grausamkeit.[35]

Klareres Licht werfen die neu zugänglichen Quellen auch auf die Frage, wer konkret vom Massenterror betroffen wurde. So nannte der Befehl 00447 neben den «ehemaligen Kulaken» und einstigen Mitgliedern «antisowjetischer» Parteien auch «Anhänger von Sekten», «Kirchenmitglieder» sowie «Kriminelle (Banditen, Schmuggler)». In der Tat trugen diese Truppen ein größeres Risiko, erschossen oder deportiert zu werden. Zugleich förderten die erstmaligen, umfangreichen Recherchen in der Provinz aber auch deutliche Unterschiede im Grad der Heimsuchung zutage. Rein quantitativ waren Randgruppen wie Bettler, Obdachlose, Kleinkriminelle, Prostituierte, «Hooligans» und andere «sozial feindliche Elemente» in auffallendem Maße betroffen. Offenbar nutzte das Regime die Gelegenheit, auch mit unerwünschten Personen aufzuräumen, um dem Sozialismus ein sauberes Antlitz zu verleihen. Wer auf der Straße herumlungerte, störte dessen glänzende Schaufassade. Regional machten solche Personen ein ganzes Drittel der Verhafteten aus.[36]

Dieser Befund verändert auch die Deutung und konzeptionelle Kennzeichnung des Geschehens. Die Neigung hat erkennbar zugenommen, solchen Terror nicht allein und eventuell auch nicht primär als Abrechnung mit ideologischen Feinden zu betrachten, sondern als gewalttätige Variante von Sozialpolitik. Ausgemerzt und aus dem Gesichtskreis verbannt wurde, was nicht zum idealen Selbstbild einer sozialistischen Gesellschaft passte, zumal man ihr in der neuen Verfassung (von 1936) attestierte, der Vollendung eine Stufe näher gekommen zu sein. Terror löste sich vom förmlich beendeten «Klassenkampf» und wurde zum Instrument der Herstellung von Ordnung und Anständigkeit nach Maßgabe eines diktatorischen Regimes, dem man schon früh eine Rückkehr zu konservativen Werten attestiert hat. So interpretiert, entfernt er sich in seinen kennzeichnenden Merkmalen auch weiter von den vorangehenden und parallelen Schauprozessen. Dazu passen Befunde grundlegender neuer Studien über die reguläre Polizei, die deren zunehmende Einbeziehung in den Massenterror belegen. Stalin fürchtete offenbar nicht nur «politische Opposition», sondern in gleichem Maße «soziale Unordnung». Willkürliche Verhaftungen ‹auffälliger› Personen wurden zum Alltagsgeschäft der normalen Polizei. Die Grenze zwischen politischer und normaler Polizei verschwamm; die Verschmelzung von OGPU und NKVD, von Geheimpolizei und Innenkommissariat im Juli 1934, wurde gleichsam auch in eine neue Praxis umgesetzt. Zumindest der Massenterror gehorchte keinem «Meisterplan», sondern der Logik des totalitären social engineering.[37]

Die Partei: Struktur, Säuberungen und neue Funktionen Bereits die Schauprozesse und andere Formen des Terrors zeigen an, wie sehr nicht zuletzt die Partei vom Stalinschen Schreckensregiment betroffen wurde. Die herrschende Organisation im Staate erlebte einen Aderlass von nie dagewesenem Ausmaß und neuer, schrecklicher Gestalt. Aber es verschwanden nicht nur Mitglieder, es kamen auch neue hinzu. Ein bolschewistischer Kommunist von 1939 glich weder seinem Vorgänger aus der Zeit des großen Aufbruchs noch gar dem der NĖP. Die «Säuberungen» (im terroristischen Sinn) gaben diesem Wandel sicher einen enormen Schub, veränderten aber seine Richtung nicht. Gleichviel wie systematisch die Ausrottung der alten Bolschewiki von Stalin ins Werk gesetzt wurde – sie verstärkte eine Tendenz, die spätestens mit der ‹großen Wende› begonnen hatte. Die neue Ordnung stellte gerade an die Partei veränderte und höhere Anforderungen. Nach der Ausweitung der staatlichen Lenkung auf die gesamte Industrie und Landwirtschaft, nach der endgültigen Unterwerfung aller wichtigen kulturellen und sozialen Verbände und Zusammenschlüsse stieg der Bedarf an einschlägig vorgebildetem Führungspersonal mit systemkonformer Gesinnung abermals sprunghaft an. Die Verstaatlichung der Partei erreichte eine neue Qualität; nun erst entstand jene Stalinsche Herrschafts- und Verwaltungsorganisation, deren tragendes Gerüst in allen Bereichen ohne Ausnahme die Partei bildete und deren bewaffneten Schutz die Geheimpolizei und die Armee besorgten.

Auf mittlere Sicht gehörte dazu an vorrangiger Stelle das quantitative Wachstum. Die neue, Stalinsche Partei musste omnipräsent und möglichst auch omnipotent sein. Wollte sie ihre Funktion als ‹Transmissionsriemen› des politisch-ideologischen Willens annähernd realisieren, konnte sie noch weniger am überkommenen elitären Selbstverständnis festhalten als zuvor. Die Auserwählten mussten zumindest so zahlreich und kompetent werden, dass sie Einfluss nicht nur zu reklamieren, sondern auch zu praktizieren vermochten. Andererseits traute Stalin, darin von manchen aufstrebenden ‹Sozialisten› bestärkt, der alten Partei nicht zu, diesen Zielen zu entsprechen. Daraus ergab sich die doppelte Aufgabe, zum wiederholten Male ‹untaugliche› Mitglieder auszusondern und zugleich neue in der Absicht zu werben, den ‹großen Sprung› mit ihrer Hilfe zu bewältigen. Die Personalentwicklung lässt die Wellenbewegung, die sich daraus ergab, deutlich erkennen (vgl. Tabelle A 7/1).

Demnach stieg die absolute Zahl der Kommunisten in der Sowjetunion während der Wende kontinuierlich an und erreichte 1933 mit 2,2 Mio. endgültig und 1,35 Mio. vorläufig registrierten ihren Gipfelpunkt. Erst 1933 kehrte die erwähnte, im physischen Sinne noch gewaltlose «Säuberung» die Entwicklung um. Statt zu wachsen, schrumpfte die Partei im Laufe der nächsten fünf Jahre. Am Höchststand gemessen, fiel die Mitgliederzahl fast um die Hälfte, ohne allerdings das Niveau von 1930 zu unterschreiten. Der starke Einbruch von 1935 dürfte dabei mit der doppelten «Reinigung» durch eine Überprüfung und gleichzeitige Verfügung eines Aufnahmeverbots zusammenhängen, das erst im Herbst 1936 aufgehoben wurde. Keiner Erläuterung bedarf, dass der Rückgang nach 1936 aber in erster Linie die Opfer des NKVD anzeigte. Es ist daher mehrfach versucht worden, deren Zahl über die als einigermaßen zuverlässig geltenden Parteistatistiken zu ermitteln. Auch dieses Verfahren wirft jedoch erhebliche Probleme auf, da die belegte Mitgliederbewegung das Resultat aus Ab- und Zugängen wiedergibt. Wenn man von höchstens 40.000 Neulingen ausgeht und den verzeichneten Mitgliederschwund von 60.000 addiert, ergibt sich für das Jahr 1937 ein Gesamtdefizit von ca. 100.000. Danach scheint die Verhaftungswelle abgeklungen zu sein. Bis zum 18. Parteitag vom März 1939 ist die Maximalzahl der Opfer der Ežovščina in der Partei auf weitere 80.000 geschätzt worden. Auch dies wäre ein Beleg dafür, dass sich die Übergriffe mehr und mehr auf die oberen Ränge der Partei (und der Armee) konzentrierten. Andererseits stehen nach wie vor entschieden höhere Schätzungen auch dieses Teils der Opfer im Raum. So schien Stalins Bemerkung im Rechenschaftsbericht vom März 1939, seit dem letzten Parteitag (1934) sei etwa eine halbe Million Genossen in führende Ämter befördert worden, Rückschlüsse auf die Zahl derer zu erlauben, die diese Positionen zuvor innehatten. Die natürliche Mortalität und andere Gründe der Funktionsaufgabe abgezogen, glaubte man schätzen zu können, dass die Verluste (verschiedener, nicht unbedingt mit Tod oder Lagerhaft gleichzusetzender Art) in der Partei ebenfalls nach «Hunderttausenden» zählten.[38]

Angaben über das Parteialter der Funktionäre und Mitglieder insgesamt untermauern diesen Befund. Erstaunlicherweise finden sie sich wohl ungeschminkt und sogar mit einem gewissen Stolz präsentiert im offiziellen Protokoll des 18. Parteitages. Zusammen mit ähnlichen Angaben für den 17. Parteitag 1934 ergeben sie folgendes Bild: Von 1225 stimmberechtigten Delegierten des ‹Sieger›-Kongresses waren 80 % vor Ende 1920, «in den Jahren des Untergrundes und Bürgerkrieges», eingetreten. Zugleich betrug der entsprechende Anteil in der Gesamtpartei «charakteristischerweise» nur 10 %. Zutreffend kommentierte Ežov als Ausschussvorsitzender, die große Differenz verweise auf das unverminderte Übergewicht der Kämpfer der ersten Stunde (immerhin 22,6 % hatten ihr Mitgliedsbuch sogar vor 1917 erworben). Dies änderte sich in den folgenden Jahren nachhaltig. Von den 1569 Delegierten des letzten Vorkriegskongresses waren der bolschewistischen Sozialdemokratie vor 1917 nur noch 2,4 %, von allen Parteimitgliedern ganze 0,3 % beigetreten. 17 % der Delegierten und 8 % der Mitglieder hatten sich im Bürgerkrieg (1918 bis Ende 1920) der Partei angeschlossen. Der große Rest war nach 1929 hinzugestoßen. Mithin verdankten 43 % der Delegierten ihre Position, zu einem erheblichen Teil als hauptamtliche Parteisekretäre, der Mitwirkung oder Billigung des Generalsekretariats, 70 % der Mitglieder dürften überwiegend im neuen Geist der ‹Aktualität› des Sozialismus aufgenommen worden sein. Säuberungen und Terror hatten die Partei nicht nur dezimiert, sondern auch grundlegend verändert. Sie raubten ihr – neben den letzten ‹Generälen› der frühen Jahre – vor allem die regionale und lokale Elite, sozusagen das ‹Offiziers- und Unteroffizierskorps›. Auf keiner Ebene vollzog sich ein vergleichbar vollständiger personeller Austausch. Beschleunigt und begleitet vom Schreckensregime des NKVD war eine neue Partei – die stalinistische im engeren Sinne – entstanden.[39]

Herkunft, Beruf und Bildungsniveau der Parteimitglieder illustrieren und bestätigen diesen Charakterwandel. So zeigt sich für 1932, dass zwei Drittel aller registrierten Bolschewiki, an ihrer «sozialen Lage» gemessen, zur Arbeiterschaft zählten (vgl. Tabelle A7/2). Ein gutes Viertel stammte aus der Bauernschaft, und nur ein kleiner Rest (7,9 %) gehörte zur Gruppe der Angestellten, Beamten und anderer gehobener Positionen. Damit korrespondierte die berufliche Schichtung, die 43,5 % «Arbeiter» im engeren Sinne industriell abhängig Beschäftigter und 17,9 % kollektivierter Bauern auswies. Unter den übrigen machten die Angestellten mit 28,4 % den größten Teil aus. Obgleich analoge Gesamtangaben für die Vorkriegsjahre fehlen, legt die Aufschlüsselung der von November 1936 bis März 1939 neu aufgenommenen Vollmitglieder einen Wandel in so deutlicher Weise nahe, dass vernünftige Zweifel an ihrer Aussagekraft ausgeschlossen scheinen. Demnach fiel der Anteil der Arbeiter auf 41 %, während die Quote der Angestellten und qualifizierten Kader auf 43,8 % stieg. Selbst wenn der in Tabelle 13 gezogene Vergleich mit 1929 das Bild verzerrt, weil auf dem Höhepunkt der ideologiebewussten Wende überproportional viele ‹Proletarier› aufgenommen wurden, und sich unter den «Arbeitern» manche Bauern («Dorfproletarier») verbergen, steht die Gesamttendenz außer Frage: Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges hatte sich die Arbeiterpartei weit von ihrem Selbstverständnis entfernt. Zu Beginn der dreißiger Jahre konnte sie mit guten Argumenten (besseren als je zuvor und danach) behaupten, die städtisch-industrielle Unterschicht zu repräsentieren. Gegen Ende der Dekade war davon wenig geblieben. Die neuen Kommunisten zeichneten sich durch Jugendlichkeit und eine deutlich verbesserte Qualifikation aus: 49,5 % der stimmberechtigten Delegierten des 18. Parteitages waren höchstens 35, weitere 32 % 36 bis 40 Jahre alt; immerhin 26,5 % von ihnen verfügten über eine abgeschlossene Hochschulausbildung.

So stand die Partei im Begriff, zur «genauen Antithese» ihres einstigen sozialen Charakters werden. Die primär technisch-administrativ qualifizierte erste eigene Funktionselite des sozialistischen Staates im Stalinschen Sinne, die «Sowjetintelligenz», stellte die Mehrheit auch der Parteimitglieder. Überraschen konnte an dieser Entwicklung indes nur die Schnelligkeit. Der Wandel selber vollzog sich mit erheblicher Zwangsläufigkeit – waren doch die neuen intelligenty überwiegend die Arbeiter und Bauern von gestern. Zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des alten Regimes und ein Jahrzehnt nach dem forcierten Aufbruch zum Sozialismus zeigten sich die Folgen der Öffnung des Bildungssystems, der systematischen Bevorzugung von Arbeitern (im ideologischen Sinne), der Schaffung neuer Führungspositionen im Zuge der Industrialisierung sowie nicht zuletzt des katapultartigen Schubs für die Aufwärtsmobilität durch die massenhafte physische Liquidierung der alten Kader. Darin trat eine andere Variante der bekannten Probleme beim Übergang von der «Bewegung» zum «Regime» zutage: Eine Partei, die tatsächlich zum Rückgrat von Staat und Gesellschaft geworden war, brauchte so viel Qualifikation und Professionalität, dass sie gar keine «Arbeiterpartei» im sozialen Sinne mehr sein konnte.