Neuaufnahmen 1929 (%) |
Neuaufnahmen Nov. 1936–März 1939 (%) |
|
Arbeiter Bauern Intelligenz u. Angestellte |
81,2 17,1 1,7 |
41,0 15,2 43,8 |
Quelle: Rigby, Membership, 223
Die neuen Aufgaben verlangten indes nicht nur ein verändertes Sozialprofil und Qualifikationsniveau, sondern auch schlichtes numerisches Wachstum. Die Dezimierung der Mitgliedschaft durch Ausschluss und Verhaftungen drohte auf längere Zeit dysfunktional zu werden. Ob diese Einsicht als ausschlaggebendes Motiv für das allmähliche Ende der tagtäglichen Willkür gelten kann, muss offen bleiben. In jedem Falle führte die wachsende Kritik im Januar 1938 nicht nur zur erwähnten Verurteilung falschen Übereifers, sondern auch zu einer Wende in der Mitgliederpolitik. Die Öffnung beschleunigte sich nach dem 18. Parteitag. Von April 1939 bis Ende Juni 1940 wurden 1,13 Mio. neuer Bolschewiki aufgenommen – bis dahin die höchste Zahl in einem vergleichbaren Zeitraum überhaupt. Ein solcher Andrang warf allerdings (neben erheblichen organisatorischen Problemen) die Frage auf, ob er mit dem weiterhin gepflegten elitären Selbstverständnis der Partei vereinbar war. Als Korrektur wurden die Beitrittsbedingungen wieder so weit verschärft, dass die Neuzugänge drastisch (um drei Viertel) zurückgingen. Das Resultat der Vorkriegsentwicklung blieb davon aber unberührt: Die Bolschewiki füllten ihre von Säuberungen und Terror heimgesuchten Reihen wieder auf; sie taten dies ausgiebig, um den neuen Aufgaben gewachsen zu sein, und unter besonderer Förderung der neuen technisch-administrativen Elite – schrieb man dieser doch zu Recht eine fundamentale Loyalität zum Regime auch und gerade in der Gestalt der persönlichen Diktatur Stalins zu.[40]
Eine weitgehende personelle Erneuerung stand schließlich auch am Ende der Turbulenzen, die an der Partei- und Staatsspitze die einschneidendsten Veränderungen seit Lenins Tod bewirkten. Von außen gesehen, entsteht das Bild besonderer Brutalität. Andererseits mag dieser Anschein insofern trügen, als er auf dem Zufall ungewöhnlich genauer Überlieferung beruht. Was die erwähnte Information Chruščevs, über die Hälfte der Parteitagsdelegierten von 1934 hätten den nächsten Kongress nicht erlebt, konkret bedeutete, lässt sich an wenigen, zu jener Zeit Furcht und Respekt einflößenden Namen veranschaulichen. Das vom 17. Parteitag gewählte ZK bestimmte Anfang Februar 1934 das neue Politbüro. Ihm gehörten neben Stalin Molotov, Kaganovič, Vorošilov, Kalinin, Ordžonikidze, Kujbyšev, Kirov, Andreev und S. V. Kosior an; zu Kandidaten avancierten Mikojan, V. Ja. Cubar’, G. I. Petrovskij, P. P. Postyšev und Ja. Ė. Rudzutak. Kirov starb am 1. Dezember 1934 unter den geschilderten Umständen; Ende Januar 1935 schied Kujbyšev aus dem Leben. Für sie rückten Mikojan, ein eiserner Stalinist, und Cubar’ nach, der zumindest im Rückblick als Gegner physischer Säuberungen galt. Den Rang von Kandidaten erhielten Ždanov, damals Parteisekretär von Gor’kij (Nižnij Novgorod), und R. I. Ėjche. Mitte Februar 1937 beging Stalins einstiger enger Weggefährte Ordžonikidze Selbstmord, vermutlich weil er nicht mithelfen wollte, seinen Freund Pjatakov zu einem falschen Geständnis zu bewegen. Die freie Position übernahm im Oktober Stalins neuer Vertrauter Ežov. Das ZK-Plenum vom Januar 1938 schloss Postyšev mit dem Vorwurf aus, ein verkappter ukrainischer Nationalist zu sein. Chruščev, der Postyšev (wahrheitswidrig) zum Verteidiger Bucharins aufwertete, hätte es eigentlich besser wissen müssen, da er selber, seit 1935 Parteisekretär von Moskau, ihn beerbte. Im Laufe des Jahres 1938 wurden Kosior, Cubar’, Rudzutak, Ėjche und Ežov erschossen; im folgenden Frühjahr verlor Petrovskij seinen Posten. So standen auf dem 18. Parteitag im März 1939 ganze sieben der 1934 gewählten fünfzehn Mitglieder und Kandidaten zur Bestätigung an: Andreev, Kaganovič, Kalinin, Molotov, Vorošilov, Mikojan und Stalin selbst. Hinzu kamen nach den Säuberungen des Jahres 1938 Ždanov, Nikita Sergeevič Chruščev, N. M. Švernik (als Gewerkschaftschef) und Berija, Nachfolger Ežovs und schon bald nicht minder berüchtigt. Sie bildeten – mit Ausnahme am ehesten von Kalinin, der stets eine gewisse Sonderrolle innehatte (und dessen Frau Stalin mehr als ein Jahrzehnt in Geiselhaft nahm) – fortan den innersten Kreis der Macht. Sie taten, was Stalin befahl, und trugen erhebliche Mitschuld an unzähligen Verbrechen. Dieses Ergebnis, die absolute Loyalität gegenüber dem ‹Führer›, mag eine zentrale Frage zu den Motiven des brutalen Kehraus vor allem auf den oberen Ebenen der Partei beantworten helfen. Bucharin stellte sie in seiner letzten Botschaft an Stalin vor seiner Erschießung: «Koba [Stalins nom de guerre aus den Untergrundjahren], warum brauchst Du meinen Tod?» Der Diktator beantwortete sie nicht. Aber er fühlte sich offenbar so getroffen oder so klar durchschaut, dass er diesen Zettel bis zu seinem Tode 1953 in der Schublade seines Schreibtisches aufbewahrte.[41]
Was immer die Absicht der Gewaltexzesse war, sie sorgten für den tiefgreifendsten Generationswechsel in der sowjetischen Führung. Selbst Inhaber höchster Ämter ‹verschwanden› einfach. Viele waren selber erst wenige Jahre zuvor im Zuge der ‹Wende› aufgestiegen. Junge wurden durch noch Jüngere ersetzt. Wer in den zwanziger Jahren avanciert war, hatte gute ‹Chancen›, von Ežovs gefürchteten «eisernen Handschuhen» – mit denen er auf einem bekannten Plakat im Kampf gegen das ‹Otterngezücht› der ‹Konterrevolution› zu sehen war – zerquetscht zu werden. Es begann die große Zeit der ‹Nachgeborenen›, der Jahrgänge nach der Jahrhundertwende. Vor Kriegsausbruch hatte die Sowjetunion die jüngste Regierung der Welt, deren Durchschnittsalter mit 39 Jahren noch dasjenige der allerersten Volkskommissare unterbot. So auffällig war der Wandel, dass ihn keine Studie über die politische Elite der Sowjetunion übersehen hat: Die «Männer des Jahres 1938» wurden zum Begriff. Leonid Il’ič Brežnev und Aleksej N. Kosygin, später Generalsekretär und Ministerpräsident, standen für eine ganze Generation von Profiteuren des Terrors, die in diesen Jahren den Grundstein ihrer Karriere legten und maßgeblich zur Konservierung des Sowjetstaates in der ihnen vertrauten Form beitrugen.[42]
Auch die Parteiorganisation blieb von tiefgreifenden Veränderungen nicht verschont. Sie zeigte im Gegenteil eine besondere Unstetigkeit, die das Ausmaß der zu bewältigenden Probleme deutlich machte. Zu lösen waren im Wesentlichen drei Aufgaben: Zum einen brauchte die Partei, wenn sie die sozialisierte Industrie und Landwirtschaft tatsächlich dirigieren wollte, neben qualifiziertem Personal auch neue Koordinationsgremien, in denen die Plandaten umgesetzt und, wichtiger noch, in denen Personalentscheidungen getroffen werden konnten. Zum anderen musste sie die neue Wirtschafts- und Herrschaftsordnung – samt der Beseitigung der innerparteilichen Gegner – ideologisch und institutionell flankieren. Ihr fiel die paradoxe Pflicht zu, die gesetzlose Gewalt gegen ihre eigenen Reihen nicht nur mitzuerleiden, sondern auch noch zu rechtfertigen. Beide Funktionen flossen in einer dritten Aufgabe zusammen: die ernste «Kaderkrise» zu lösen, die sich daraus ergab, dass der staatlich kommandierte industrielle Aufbruch den Bedarf an fachlich ausgewiesenen und zugleich ideologisch ‹zuverlässigen› Kräften vervielfachte, während die ziellose Ausschaltung vermeintlicher ‹Volksfeinde› gerade unter den ‹Managern› den Kreis geeigneter Mitglieder nachhaltig verkleinerte.
Der gestiegenen Nachfrage versuchte das Zentralsekretariat zunächst durch eine Erweiterung der zuständigen Abteilung zu entsprechen. Die Orgraspred wurde in eine Sektion für die Partei (Organisation und Instruktion) und eine Sektion für die übrigen Kader aufgespalten; Letztere zerfiel ihrerseits in acht Unterabteilungen, die überwiegend auf die wichtigsten Bereiche der Wirtschaft zugeschnitten waren (Schwerindustrie, Leichtindustrie, Handel usw.). Diese Dezentralisierung bewährte sich indes nicht. Es kam zu Kompetenzüberschneidungen, die schon 1934 zu einer abermaligen Reform Anlass gaben. Der 17. Parteitag wertete die branchenorientierten Unterressorts gleichsam zu Hauptabteilungen auf. Doch zeitigte auch diese Reorganisation nicht den gewünschten Effekt. Es gelang dem Parteiapparat nicht, sich die ausgedehnte Wirtschaftsverwaltung wirklich zu unterwerfen. Da auch die ‹ideologische› Arbeit, wie nicht zuletzt Stalin bemängelte, viel zu wünschen übrig ließ, beschloss der 18. Parteitag eine faktische Rückkehr zum status quo ante von 1930. Die ‹Industriezweig-Abteilungen› wurden größtenteils wieder aufgelöst. Vor allem aber konzentrierte man die wichtigen Personalentscheidungen für alle Bereiche, die Wirtschaft eingeschlossen, wieder in einer Abteilung. Dazu gab nicht nur der Vorteil besserer Übersicht Anlass, sondern auch die Abwerbung zwischen den Unterabteilungen. In der Praxis führte diese ‹Gegenreform›, die bis 1948 Bestand hatte, zur Herausbildung zweier dominanter Ressorts, deren Leiter gleichsam eine Doppelherrschaft im ZK-Sekretariat errichteten: der Kaderabteilung unter dem aufstrebenden G. M. Malenkov und der Abteilung für Propaganda und Agitation unter Ždanov. Kontinuität bestand bei alledem, vom ungelösten organisatorischen Grundproblem abgesehen, nur in einer, aber zentralen Hinsicht: Keiner der Sekretäre wagte es, auf Stalins Spuren zu wandeln. Dessen singuläre Stellung blieb völlig unangefochten.[43]
Mit der ungelösten Kaderkrise hing auch eine andere Maßnahme zusammen, die den organisatorischen Charakter der Partei nachhaltig veränderte. Seit der Spaltung der Sozialdemokratie 1903 hatten die Anforderungen an die Mitgliedschaft in der bolschewistischen Fraktion eine größere Rolle gespielt als in den meisten anderen Parteien. In zarischer Zeit hatte Lenin auf die aktive Teilnahme besonderen Wert gelegt. Danach waren Klassengesichtspunkte in den Vordergrund getreten. Arbeiter, Bauern und «Rotarmisten» wurden gegenüber Anwärtern aus anderen sozialen Schichten durch die Verringerung der (neu eingeführten) Kandidatenzeit privilegiert. Im Statut von 1934 erreichte diese Differenzierung mit der Festlegung von vier sozialen Mitglieder- und Anwärterkategorien ihren Höhepunkt. Umso auffälliger war, dass sie in der Neufassung von 1939 fehlten. Zwar blieb der begehrte Beitritt zu einer Organisation, die zur exklusiven Agentur für die Verteilung von Karriere- und Lebenschancen geworden war, schwierig. Nach wie vor mussten Empfehlungen vorgelegt und mehrere Kandidatenjahre absolviert werden. Auch ein Mindestalter wurde vorgeschrieben. Aber die soziale Barriere und die positive oder negative Privilegierung durch den ausgeübten Beruf bzw. die soziale Herkunft entfielen. Ždanov begründete diese einschneidende Veränderung mit Fortschritten auf dem Wege zur ‹herrschaftsfreien›, sozialistischen Gesellschaft. Wo es keine «Ausbeuter» mehr gab, brauchten diese nicht aus der proletarischen Partei ferngehalten oder einer besonders intensiven Gesinnungsprüfung unterworfen zu werden. Indes darf man vermuten, dass der eigentliche Antrieb für diese Öffnung ein anderer war: Die Partei brauchte neue Kader, die am einfachsten durch die Senkung der Eintrittsschwelle zu gewinnen waren. Dass sie deshalb von ‹Klassen- und Volksfeinden› überschwemmt werden würde, war nach dem «Großen Terror» nicht mehr zu befürchten – Berijas Leute wussten Rat. So mutierte die proletarische Avantgarde förmlich und absichtlich zur klassenlosen Partei, freilich nur für diejenigen, die sich dem von ihr bestimmten Staatsziel verschrieben und selbst auf den Hauch sichtbarer Eigenständigkeit verzichteten.[44]
Angesichts der Unterwerfung der Partei unter die diktatorische Führung konnte es kaum ausbleiben, dass auch der Komsomol von diesem Schicksal ereilt wurde. Als Zusammenschluss jugendlicher Aktivisten gegründet, war ihm die Idee einer besonderen Parteilichkeit gleichsam in die Wiege gelegt. Die «junge Garde», so wollte es Lenin und so verstand sie sich selbst, sollte die Vorhut des Kommunismus nicht erst von morgen, sondern schon der Gegenwart sein. In diesem Geiste achtete sie auf die Überzeugung ihrer Mitglieder ebenso wie auf die ideologische ‹Korrektheit› der Klassenlage, die allerdings die «arme Bauernschaft» einbezog. In diesem Geiste ließ sie sich auch willig vor den Karren der «zweiten Revolution» spannen. Stalin belohnte den Einsatz für seinen Kurs indes nicht. Schonungslos wurde auch der Komsomol dem Umbau der Partei und den «Säuberungen» unterworfen. Schon im letzten Jahr der ersten Planperiode musste der größte Teil der Funktionsträger seine Ämter aufgeben. Insgesamt schätzt man die Zahl der zwischen 1933 und dem Beginn der zweiten Jahreshälfte 1935 ausgeschlossenen Mitglieder auf 450.000. Welches Ziel dem Bund vorgegeben war, machte der zehnte Gesamtkongress 1936 klar. Nach dessen Beschlüssen sollte er sich öffnen und im Grundsatz alle «fortschrittlichen, politisch geschulten werktätigen Jugendlichen aus Stadt und Land» vereinigen. Im Kern war ihm damit dieselbe Metamorphose zugedacht wie der Partei: die Klassenschranken zu überwinden und zur Organisation aller Aktivisten der Bevölkerung zu werden.
Dem Wandel des sozialen Charakters entsprach eine veränderte Aufgabenstellung. Nicht tatkräftige Mithilfe beim Aufbau des Sozialismus hatte fortan im Vordergrund zu stehen, sondern die propagandistisch-agitatorische Tätigkeit. In gewisser Weise kehrte der Komsomol damit zu seinen Anfängen zurück: Auch er sollte wieder vorrangig als ‹Transmissionsriemen› zwischen Partei und Masse fungieren. Tatsächlich zeigte die Offensive binnen Kurzem Wirkung. Aus 3,9 Mio. Mitgliedern, die dem Verband 1936 angehörten, waren schon 1939 9 Mio. geworden. In der Zwischenzeit wütete der NKVD im Komsomol nicht minder als in der Partei. Der Vorsitzende verschwand ebenso in seinen Gefängnissen wie andere Repräsentanten des alten Bundes. Als das neue Statut von 1939 den Führungsanspruch der Partei durch direkte Unterstellung unmissverständlich festschrieb, nahm es schon eine andere Organisation in die Pflicht: keine idealistische, in gewissem Maße ‹eigensinnige› Elite mehr, sondern einen abhängigen Verband, der mehr und mehr einem einzigen Zweck diente: der politischen Indoktrination und Verbreitung des Stalinkults.[45]
Die Armee Die Rote Armee konnte zu Beginn der neuen Ära eine durchaus positive Bilanz im Sinne des Regimes vorweisen. Ein Jahrzehnt nach ihrer Gründung befand sie sich fest in der Hand junger, in ihren Reihen und im bolschewistischen Geist aufgewachsener Führer. Auf der höchsten Ebene, unter den Korpskommandeuren, fand sich 1928 keiner mehr, der nicht der Partei angehörte; unter den Divisionskommandeuren waren 71,9 % eingeschriebene Mitglieder und unter den Regimentskommandeuren 53,6 %. Auf der anderen Seite blieben nach den Maßstäben sowohl der Generäle als auch vor allem der neuen ZK-Mehrheit noch manche Wünsche offen. So lag die durchschnittliche Quote formeller Parteiregistration unter allen Soldaten nur bei 38,7 %. Auch die Repräsentation der Arbeiterschaft entsprach mit 39,7 % (1927) ‹nur› der ungefähren demographischen Proportion, nicht aber den ideologischen Ansprüchen oder der Sozialstruktur der Partei. Schwerer noch aber fielen die Ausrüstungsmängel ins Gewicht. Die Frunzeschen Reformen hatten die Priorität eindeutig auf die Organisation und politische Zuverlässigkeit der Streitkräfte gelegt. Ihre Größe blieb dagegen unverändert und – nach Meinung des Volkskommissars selber – unzureichend. Deshalb unterstützte die Armeeführung den Übergang zur forcierten Industrialisierung, ohne allerdings maßgeblichen Einfluss auf diese Diskussion zu nehmen. Im ersten Planjahrfünft hielten sich die Fortschritte in dieser Hinsicht in Grenzen. Die Priorität galt, was sich von selbst ergab, der Grundlegung einer Infrastruktur und Produktionskapazität, von denen auch die Streitkräfte später würden profitieren können.
Umso energischer trieb die neue Parteiführung unter der Zuständigkeit Vorošilovs den politisch-sozialen Wandel der Armee voran. Bis Ende 1933 stieg der Anteil von erklärten Bolschewiki (Parteimitglieder und Komsomolzen) auf 59 % (1927 = 36 %). Schon 1930 belief sich die entsprechende Quote unter den «höchsten Kommandeuren» (aber nicht nur den allerhöchsten) auf 76 %, unter den «höheren» auf 50–52 % und unter den «mittleren» auf 60 %. Deutlicher noch veränderte sich die soziale Zusammensetzung aller Soldaten. Zwar stellte die Bauernschaft nach wie vor den Kern der Armee. Aber der Anteil der Arbeiter wuchs spürbar und schnell von 1929 = 24,3 % auf 1932 = 38,7 %. Hinzu kam ein neues Militärstatut (1928), das die Disziplinvorschriften verschärfte, sie wie zu zarischen Zeiten auf das außerdienstliche Leben der Soldaten ausdehnte und von kritischen Zeitgenossen wegen seiner starken Betonung von Hierarchie und Rängen als Magna Charta der Offiziere verspottet wurde. Es war bereits eine tiefgreifend veränderte, politisch, strukturell und mental weitgehend regimekonforme Armee, die in den Jahren der Wende entstand. Dennoch fehlte ihr in der Sicht der neuen Führung zumindest eines: hinreichende Schlagkraft samt der dafür erforderlichen technischen Ausrüstung. Dass Verbesserungen in dieser Hinsicht auch zum Nutzen der persönlichen Diktatur im Innern wirken konnten, bedarf dabei keiner Begründung.[46]
Nicht ohne Symbolkraft begann Stalin den weiteren Umbau der Armee mit einer Reorganisation ihrer Führung. Kurz nach dem 17. Parteitag wurde der Revolutionäre Militärrat, dem der Verteidigungskommissar (formal) nur vorsaß, aufgelöst (März 1934). Damit verschwand das letzte Relikt kollektiver Führung, das aus den frühen Tagen des neuen Staates noch übrig geblieben war. Zwar gehörte auch zum Apparat des neuen Volkskommissariats für Verteidigung, das per Dekret vom 20. Juni desselben Jahres geschaffen wurde, ein «Militärrat»; aber dessen Befugnisse beschränkten sich auf die bloße Beratung. Wenig später erhöhte man die Friedensstärke der Streitkräfte erheblich (von 562.000 auf 940.000) und veränderte ihre innere Struktur. Über drei Viertel aller Divisionen standen fortan permanent unter Waffen. Das Gewicht der Territorialmiliz wurde deutlich verringert und – vielleicht die wichtigste Neuerung – das nationale Prinzip bei der Aufstellung einiger Einheiten verworfen. So stand am Ende dieser Maßnahmen zumindest eine partielle Verwirklichung des neuen Konzepts: die «eine und unteilbare», der politischen Zentralgewalt in klarer Hierarchie unterstellte Sowjetarmee.
In dieser Gestalt konnten ihre Führer in den folgenden Jahren nicht nur eine weitere erhebliche numerische Stärkung auf 1,3 Mio. 1935/36 und 4,7 Mio. bei der totalen Mobilisierung nach dem deutschen Überfall im Juni 1941 verbuchen. Hinzu kam eine beträchtliche Verbesserung und Vermehrung ihrer Waffen und sonstigen technischen Geräte. Der zweite Fünfjahresplan bescherte auch den Streitkräften jenen Investitionsschub, den sie sich schon früher gewünscht hatten. 1936 lag der gesamte Ausstoß an Waffen um «mehr als das Doppelte» über dem des Jahres 1932. Vor allem die Produktion von Panzern und schwerer Artillerie stieg deutlich (Erstere allein 1936 um 29 %); und nachgerade ein «goldenes Jahr» erlebte die Flugzeugindustrie, die ihren Ausstoß um 44 % steigern konnte. Ihrer Zahl nach und zunehmend auch hinsichtlich der Leistungsfähigkeit ihrer Waffen und Kriegsgeräte befand sich die Rote Armee in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre auf dem Wege zu einer der größten und schlagkräftigsten der Welt. Vieles spricht dafür, dass dieses Ergebnis ohne die brachiale Industrialisierung mitsamt der ungeheuren Opfer, die sie kostete, nicht denkbar gewesen wäre. Allerdings kann daraus keine Rechtfertigung abgeleitet werden.
Der stärkeren Berücksichtigung ihrer ökonomischen Wünsche entsprachen die materiellen Privilegien der Armee. So wie Stalin den NKVD durch Vergünstigungen an sich band, so bemühte er sich auch um das Wohlergehen der Offiziere und Soldaten. Die Bezahlung vor allem der Kommandeure wurde so beträchtlich erhöht, dass sie sich im Wettlauf mit der allgemeinen Inflation gut behauptete. Eine sinnfällige Gestalt nahm diese Sonderstellung durch die Schaffung einer eigenen Laden- und Kaufhauskette an. Der «Armeehandel» (Voentorg) versorgte die Kompanien nicht nur mit Gerät und Möbeln, sondern auch mit Nahrungsmitteln und sonstigem Alltagsbedarf. Das Militär wurde in gewissem Sinne autark und wirtschaftlich ein Staat im Staate.[47]
Mit einiger Zwangsläufigkeit wuchs aufgrund all dieser Maßnahmen auch das politische Gewicht der Armee. Dabei tut man gut daran, zwischen der grundsätzlichen Regimetreue und der Ergebenheit gegenüber Stalin klar zu unterscheiden. Alles deutet darauf hin, dass die Armee keine zuverlässige Einrichtung in seinem Sinne war. Nach wie vor gaben die ‹alten› Generäle den Ton an, fast alle noch jung an Jahren, aber Helden des Bürgerkriegs und Bolschewiki seit frühen Tagen. Dass der Diktator viele von ihnen gezielt beseitigen ließ, weil er in ihnen mögliche Gegner witterte, oder einfach, weil sie seine Vergangenheit kannten, steht außer Zweifel. Aber warum er darüber hinaus das Offizierskorps beinahe pauschal liquidieren ließ, dafür lässt sich nach wie vor «kein triftiger Grund» finden.[48]
Schon seit Januar 1937 schwebten düstere Wolken über den Köpfen von V. K. Putna und M. N. Tuchačevskij, als ihre Namen im Prozess gegen Radek, Pjatakov und andere fielen. Stalin beruhigte Tuchačevskij aber, indem er den ‹Zeugen› zwang, den wohl fähigsten Kopf der gesamten Armeeführung im gleichen Atemzug wieder zu entlasten. Auch in den folgenden Monaten wiegte er den General in Sicherheit. Tuchačevskij wurde für eine Auslandsmission vorgesehen und durfte im Mai dabei sein, als der Arbeiterfeiertag mit der gewohnten Militärparade auf dem Roten Platz begangen wurde. Wie hinterhältig Stalin dabei abermals verfuhr, führten die folgenden Ereignissen besonders nachdrücklich vor Augen. Denn offenbar wurde in dieser Zeit nicht nur gegen Tuchačevskij und andere Generäle ermittelt, sondern auch das Urteil bereits gefällt. Am 11. Mai verkündeten die Zeitungen ein umfassendes Revirement in der Armeeführung, das Tuchačevskij an die Wolga versetzte. Bald nach der Ankunft wurde er dort verhaftet. Die meisten seiner engeren Kollegen erlitten um dieselbe Zeit dasselbe Schicksal, darunter der Oberkommandierende des weißrussischen Militärbezirks I. P. Uborevič, der Leiter der politischer Verwaltung der Roten Armee (PURKKA) Ja. B. Gamarnik, der Chef der zentralen Militärakademie A. I. Kork sowie der Oberkommandierende des Leningrader Militärbezirks I. E. Jakir. Mit vier weiteren Generälen wurde ihnen hinter verschlossenen Türen wegen einer angeblichen «militär-politischen Verschwörung» gegen die Sowjetmacht der Prozess gemacht. Der Mitteilung darüber am 11. Juni konnte bereits anderntags die Vollzugsmeldung folgen: Alle Angeklagten, soweit sie nicht wie Gamarnik Selbstmord begingen, wurden standrechtlich erschossen.
Doch dies war nur der Auftakt für die physische Liquidierung der Armeeführung in einem Ausmaß, das als schlagender Beleg für den grenzenlosen Irrationalismus gilt, der den Stalinschen Terror auch auszeichnete. Vor dem Hintergrund der numerischen Verstärkung und technischen Aufrüstung der Streitkräfte seit 1934, der ideologisch-politischen Konfrontation mit der kapitalistischen und vor allem der faschistischen Außenwelt, der offensichtlichen deutschen Aggressivität, des japanischen Eroberungszuges in China und fraglos nicht nur eingebildeter wachsender internationalen Spannungen bleibt es rational nach wie vor unverständlich, warum der Diktator es für möglich und nötig hielt, die Armee nachgerade zu enthaupten. Eine Aufzeichnung des Leiters der entsprechenden ‹Kaderabteilung› im Militärkommissariat erlaubt es nun, Umfang und Art der Maßregelungen genauer zu bestimmen. Demnach wurden von Anfang 1937 bis Anfang Mai 1940 in Heer, Luftwaffe und PURKKA 34.301 Offiziere aus ihren Ämtern entfernt. Bis zum Ende dieses Zeitraums – die große Mehrheit davon 1938/39 – wurden 11.596 wieder aufgenommen (meist aber ohne ihre alten Funktionen zurückzuerhalten). Es bleiben 22.705 Männer, deren Schicksal ungeklärt ist. Ein Teil wurde sofort vom NKVD verhaftet; ohne Berücksichtigung der Luftwaffe galt dies für ein knappes Drittel (31,6 %) aller Betroffenen. Die übrigen und meisten wurden – entgegen der bisher üblichen Annahme – ‹nur› entfernt, überwiegend wegen ‹Kollaboration› mit ‹Parteifeinden›, an zweiter Stelle wegen moralischer Verfehlungen (Trunkenheit) und an dritter wegen Kontakten zu missliebigen Nationalitäten (von Polen bis Esten) sowie wegen Alters oder aus gesundheitlichen Gründen. Die Analogie zum ‹zivilen› Terror legt allerdings die Vermutung nahe, dass zumindest den politisch motivierten Entlassungen die baldige Verhaftung folgte; dadurch würde sich der Anteil der Offiziere, die den Weg in den Gulag antreten mussten, auf ca. 70 % erhöhen. Da auch die ‹moralischen› Verstöße häufig mit Lagerhaft geahndet wurden, kommen sehr wahrscheinlich weitere hinzu. So dürfte es zwar zutreffen, dass der Armeeterror in der praktischen Durchführung ebenfalls nicht so weit von den üblichen ‹Parteisäuberungen› entfernt war, wie man zumeist gemeint hat. Auch die starke Beteiligung der unteren Parteigremien spricht für eine solche Sicht. Aber zur Verharmlosung besteht kein Anlass: Sicher mussten nicht nur die unmittelbar Verhafteten lange Jahre hinter Stacheldraht verbringen – wenn ihnen nicht Schlimmeres geschah –, sondern auch viele der ‹bloß› Entlassenen. Die Lagerhaft blieb das normale Schicksal der Gemaßregelten.[49]
Hinzu kamen ‹qualitative› Gewaltmaßnahmen gegen die Armee. Zwar müssen die Annahmen über den Anteil der Entfernten an der gesamten Armeeführung (im Wesentlichen wegen der erheblichen Unterschätzung der Größe des Offizierskorps) offenbar korrigiert werden. Statt auf 20–25 % oder gar die Hälfte belief er sich im angegebenen Zeitraum offenbar ‹nur› auf 7,7 %. Unbestritten aber ist, dass die Erschießungen und Verhaftungen vor allem die oberste Führung trafen. So ‹verschwanden› drei von fünf Marschällen – darunter die berühmten Generäle A. I. Egorov und V. K. Blücher (Bljucher) –, 13 von 15 Armeekommandeuren, 57 von 85 Korpskommandeuren, 110 von 195 Divisionskommandeuren, 220 von 406 Brigadekommandeuren, alle elf Stellvertreter des Verteidigungskommissars, 75 von 80 Mitgliedern des Obersten Militärrats sowie alle Oberkommandierenden der Militärbezirke und die Kommandeure der Luftwaffe und Marine bis auf eine Ausnahme; nach Rängen aufgegliedert: neun von zehn Generälen und acht von zehn Obersten. Selbst wenn diese Angaben des japanischen Geheimdienstes übertreiben, steht außer Zweifel, dass weder die sowjetische noch die russische und womöglich keine Armee der Welt bis dahin einen vergleichbaren gewaltsamen Aderlass erlebt hatte. Allerdings ist es nicht leicht zu ermessen, welchen Folgen diese Gewaltorgie in der Armee hatte. Rein quantitativ wurde die Zahl der Erschossenen und Entlassenen sogar ‹überkompensiert›. Trotz der «Säuberungen» wuchs die Zahl der Rotarmisten weiter. Dagegen war der Verlust an Erfahrung und Wissen auf kurze Sicht nicht wettzumachen. Wie schwer er wog, sollte nicht nur in der schmählichen Niederlage gegen das kleine Finnland während des «Winterkriegs» 1940/41 zutage treten, sondern vor allem auch nach dem deutschen Überfall vom 22. Juni 1941, als die sowjetischen Stellungen von der Wehrmacht förmlich überrannt wurden und die Angreifer tief ins Hinterland vordringen konnten. Chruščev hat auch diesen Zusammenhang in seiner berühmten «Geheimrede» deutlich benannt. Andererseits haben neuere Studien darauf aufmerksam gemacht, dass die katastrophalen Niederlagen der Roten Armee im ersten Kriegshalbjahr nicht allein und auch nicht in erster Linie auf den Terror zurückzuführen waren. Die Vernichtung der alten Offiziere kann nur als «einer von mehreren Faktoren» gelten.[50]
Im Innern aber räumte die «Säuberung» der Armeeführung den Weg frei für die Herstellung zuverlässiger Kontrolle durch Stalin und sein ZK. Dekrete vom Mai und August 1937 gaben den politischen Kommissaren wieder das gleiche Gewicht wie den jeweiligen Militärführern. Auch damit griff man auf das Vorbild des Bürgerkriegs zurück: Wie damals mussten alle Befehle von beiden unterzeichnet werden. Darüber hinaus setzte Stalin ein deutliches personelles Zeichen. Zum Nachfolger Gamarniks als Leiter der PURKKA ernannte er einen seiner engsten Gefolgsleute, den einstigen Leiter seines Privatsekretariats L. Z. Mechlis, der dank eines gut funktionierenden Spitzelsystems zu einer Schlüsselfigur bei der personellen Erneuerung der Armee aufrückte. Den sichtbarsten Ausdruck aber fand das Generalrevirement in der Schaffung eines Obersten Militärflottenrates und eines Obersten Militärrates Anfang 1938. Beide waren den jeweiligen Volkskommissaren übergeordnet und dem Politbüro direkt unterstellt. Die Leitung des Ersteren übernahm Ždanov, die des Letzteren in Personalunion Vorošilov. Dem Militärrat gehörten, anders als dem 1934 neu besetzten alten, nur noch elf hochrangige Politiker an, neben dem Verteidigungskommissar und Mechlis auch Stalin. Damit war ein möglicher, vielleicht sogar wahrscheinlicher Zweck auch des Todes von Tuchačevskij und fast aller Angehörigen seiner Generation in der Militärführung erfüllt. Denn trotz der starken Mitwirkung der unteren Parteizellen auch an der terroristischen Erneuerung der Armee verstand sich von selbst, dass Stalin die entscheidenden Fäden in der Hand behielt und die prominenten Opfer persönlich auswählte. Zu seinen Lebzeiten hat kein General mehr gewagt, den Kopf zu heben (jedenfalls nicht ungestraft).[51]
Nationalitäten Auch die Nationalitätenpolitik änderte sich mit dem Aufstieg Stalins. Zugleich gilt hier aber in besonderem Maße, dass weitere ursächliche Faktoren zu bedenken sind. Zum einen beschränkte sich die korenizacija auch auf ihrem Höhepunkt weitgehend auf die regionale Politik sowie die Kultur einschließlich des Bildungswesens und der Publizistik. Strategische Entscheidungen wurden dagegen weiterhin ebenso in Moskau getroffen, wie alle wichtigen Funktionen und Ämter von hier aus besetzt wurden. Die Stützpfeiler und Instrumente staatlicher Macht, Partei, Geheimpolizei und Armee, blieben unter zentraler Kontrolle. Zum anderen forderten Planwirtschaft und Zwangskollektivierung auch in dieser Hinsicht ihren Tribut. Nach der Grundsatzentscheidung zugunsten einer planwirtschaftlich gelenkten und forcierten Industrialisierung unter Einschluss einer ebenfalls gefügigen Landwirtschaft blieb noch weniger Spielraum für lokale ‹Sonderwege› als ohnehin. Ein Übriges bewirkte die Notwendigkeit, den tiefgreifenden Umbruch durch eine ideologische Renaissance zu unterfüttern, da sie angesichts der Abneigung des Sozialismus gegen nationale Regungen in dieselbe Richtung wies. So liegt die Vermutung nahe, dass sich die tradierte Hegemonie des ZK in der bolschewistischen Partei, das Erbe des zarisch-kaiserlichen Herrschaftsmonopols und die Folgen der ökonomischen Zentralisierung zu einer Übermacht addierten, die der ohnehin kaum entwickelten regionalen Eigenständigkeit keine Chance ließen. Der ‹Sozialismus in einem Lande› duldete keine Eigenmächtigkeiten.
Was Partei und Staat nun vorschrieben, machten sie mit den Mitteln der neuen Ära in einem Schauprozess jedermann klar. Im März 1930 sahen sich 45 ukrainische Politiker und Intellektuelle mit der Anklage konfrontiert, einem Geheimbund anzugehören, der die Sezession ihrer Heimat von der UdSSR betreibe. Zwar gab es solche Organisationen im Gegensatz zu ‹trotzkistisch-zinov’evistischen› Verschwörungen in Ostpolen tatsächlich. Dennoch zeigte nicht nur der Vorwurf, die Wiedereinführung des Kapitalismus anzustreben, dass das Verfahren in die Reihe der inszenierten seit der ‹Šachty-Affäre› von 1928 gehörte. Als kurz darauf noch ein «Ukrainisches Nationales Zentrum» ‹enttarnt› und der ehemalige Vorsitzende der ukrainischen Rada von 1917, M. N. Hruševs’kyj, der 1924 aus dem Exil zurückgekehrt und zum Leiter der historischen Abteilung der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften ernannt worden war, zu dessen Mitglied erklärt wurde, war die Botschaft unmissverständlich. Die korenizacija hatte ihren Zweck erfüllt, die nichtgroßrussischen Völker an das neue Regime zu binden und den friedlichen Wiederaufbau des ruinierten Landes abzustützen – nun musste sie einer neuen, programmatisch zentral gesteuerten sozioökonomischen und einer ihr entsprechenden politischen Ordnung weichen. Dieser Kurswechsel schien umso eher geboten, als die Kollektivierung nur mit Gewalt durchzusetzen war und besonders in fremdethnischen Gebieten auf heftigen Widerstand stieß. Dessen oft blutige Überwindung lud dazu ein, zugleich mit missliebigen Traditionen wie etwa der nomadischen Lebensweise bei den Kazachen aufzuräumen. Im Ergebnis erhielt derselbe Prozess einen weiteren, nachhaltigen Schub, der die imperiale großrussische Expansion seit Jahrhunderten begleitet hatte: die Ausweitung staatlicher Herrschaft und der Export sozialer Schichtungsmuster und Verhaltensnormen in völlig andere Gesellschaften und Kulturen.[52]
So wirkten seit Beginn der großen Wende viele Kräfte zusammen, um den regional-nationalen Pluralismus zurückzudrängen. Dennoch blieb eine offene Kehrtwende aus. Dem stand nicht nur die Staatsverfassung nach wie vor im Wege. Auch die unantastbare ideologische Begründung des großen Lenin, der sich in dieser Frage besonders engagiert hatte, verbot einen unverblümten Widerruf. Stalin ‹löste› das Problem auf seine Weise: durch die formale Bestätigung des Bestehenden auf der einen Seite und theoretische Spitzfindigkeiten sowie eine gewalttätige, gegenläufige Praxis auf der anderen. Im März 1929 belehrte er zwei hartnäckige Genossen, die sich in Sorge um die Zukunft der korenizacija für eine klarere Anerkennung auch der staatlichen Eigenständigkeit der Nationalitäten ausgesprochen hatten, in brüsker Form über ihren grundlegenden Irrtum. Ihr Vorschlag offenbare eine schädliche Denkweise, weil er nicht beachte, dass es in der Geschichte «zwei Typen von Nationen» gebe: die bürgerlich-kapitalistische und die sozialistische. Die Einführung der Letzteren musste jeden Marxisten aufs höchste überraschen. Wer die Schriften der Urväter gelesen und die berühmte Debatte zwischen Luxemburg und Lenin verfolgt hatte, war darüber belehrt worden, dass der Nationalstaat mit dem Übergang zum Sozialismus überwunden sei. Doch Stalin meinte, dieses Manko durch den Hinweis auf die äußere Lage wettmachen zu können. Solange der Sowjetstaat mit seiner weltgeschichtlichen Pioniertat allein stehe, habe auch der ‹Proletarier› ein Vaterland. Es liegt auf der Hand, dass durch diesen Gedanken der Sowjetpatriotismus begründet und als weitere Quelle der ideologisch-psychologischen Mobilisierung der Masse für das neue große Ziel erschlossen wurde. Partikulare Interessen hatten demgegenüber so weit zurückzutreten, dass sie von der Oberfläche verschwanden. Alle Loyalität war auf das Ganze und sein Zentrum zu richten, das mit keinem geringeren Anspruch auf Ausschließlichkeit auftrat als der bürgerliche Nationalstaat.[53]
Auch institutionell waren die Signale für den weiteren Abbau des Föderalismus nicht zu übersehen. In der alten RSFSR hatte es – ein deutliches Indiz für das Gewicht, das man diesem Problem beimaß – ein Kommissariat für Nationalitätenfragen gegeben. Im SNK der Sowjetunion fehlte es zwar; aber grundsätzlich gewährte die neue Verfassung, die ja eine föderale war, den nichtrussischen Völkern in Gestalt der Nationalitätenkammer als Teil des CIK eine formal höherrangige Vertretung. Darüber hinaus richtete man in den politisch entscheidenden Institutionen des Landes, den Parteikomitees und -sekretariaten, besondere Sektionen für Nationalitätenfragen ein, die den großen Vorteil eines bis zur lokalen Ebene hinunterreichenden Instanzenzugs besaßen. Im Zuge der Wende gerieten diese Sektionen, einschließlich der symbolträchtigen «jüdischen» (evsekcii), ins Abseits und wurden abgeschafft. Zwar blieben noch nationale Kommissionen und Beauftragte bei den Präsidien der Exekutivkomitees der Obersten Republiksowjets. Unter dem Druck der Zentralregierung und von der Partei handverlesen, waren sie aber weit davon entfernt, ein wirkliches Gegengewicht gegen den VSNCH, den Gosplan, die Finanz- und Industrieressorts oder gar das Politbüro und Stalin bilden zu können.[54]
Genau besehen, gab die neue Verfassung von 1936 die ganze Widersprüchlichkeit der offiziellen Politik in dieser Frage deutlich zu erkennen. Einerseits stärkte sie mit propagandistischem Gestus das föderale Element im Staatsaufbau. Der Nationalitätensowjet blieb nicht nur erhalten, sondern wurde durch das Recht zur Gesetzesinitiative (Art. 38) noch aufgewertet und endgültig in den gleichen Rang wie der Unionssowjet erhoben. Die Zahl der in ihm repräsentierten Territorien wuchs weiter: Nach den drei mittelasiatischen Republiken kamen 1936 Georgien, Armenien und Azerbajdžan (durch die Aufgliederung der Transkaukasischen Republik) sowie Kazachstan und Kirgisien (durch Statuserhöhung von einer Autonomen Republik) samt sechs weiterer Autonomer Republiken und neun Autonomer Kreise (im Hohen Norden und Fernen Osten) hinzu. Da der Nationalitätenrat nicht nur Teil des CIK, sondern gleichsam auch des Allunionssowjets insgesamt wurde, brachte seine Einrichtung eine erhebliche Vermehrung der Zahl ‹nationaler› Abgeordneter mit sich (569 bei 574 Mitgliedern des Unionsrats nach der ersten Wahl 1937). Desgleichen erhöhte man auch den Status ihrer Bestellung durch die Einführung der direkten Wahl (Art. 35).
Andererseits enthielt die neue Verfassung auch Änderungen, die eindeutig zu Lasten der föderativen Kräfte ausschlugen. So entzog sie den Republiksressorts die Möglichkeit der Appellation an das oberste Organ der Rätepyramide, während die Unionskommissariate zusätzlich zur Bestätigung der bindenden Kraft ihrer Dekrete die Befugnis erhielten, Gesetze und Anordnungen der Republikskommissariate zu kassieren, wenn sie Unionszuständigkeiten berührten (Art. 67, 69). Zugleich erweiterte sie die Aufgaben der Zentralregierung deutlich. Die reinen Unionsangelegenheiten wurden durch die Schwer- und Verteidigungsindustrie ergänzt. Gemischte Kommissariate waren für die Nahrungsmittel-, Leicht- und Holzindustrie sowie für die Landwirtschaft, Viehzucht, innere Angelegenheiten, Justiz, öffentliche Gesundheit, Finanzen und den Binnenhandel vorgesehen. Den Republiken blieb demnach schon formell nur noch die Leitung des Erziehungswesens, der lokalen Wirtschaft und der Sozialfürsorge – mithin kein größerer Kompetenzbereich als den zemstva unter dem Ancien Régime. Da den Unionsgliedern auch die Erlaubnis entzogen wurde, ein eigenes Rechtswesen zu unterhalten, straften die praktisch wirksamsten exekutiven und judikativen Neuerungen den Anspruch Lügen, den der institutionelle Umbau zugunsten des Föderalismus erhob.[55]
Wen diese Manöver immer noch nicht alarmierten, der wurde vom «Großen Terror» nachdrücklich auf Stalins Absichten hingewiesen. Auf dem Höhepunkt ihres unseligen Wirkens wüteten Ežov und seine Komplizen an der nichtrussischen Peripherie wohl noch skrupelloser als im Zentrum. Keine Republik, kein bedeutenderes nationales Territorium blieb verschont. Überall sorgten Verhaftungen und Erschießungen für eine drastische Dezimierung der indigenen politischen Elite. Die bedeutendsten Republiken hatten darüber hinaus so hohe Verluste unter den Repräsentanten von Kultur und Wissenschaft zu beklagen, dass sie gleichsam geistig enthauptet wurden. Ausnahmslos ergriffen Abgesandte oder Statthalter der Zentrale die Schalthebel der Macht. So offenbarte die Gewalt auch in dieser Hinsicht eine erkennbare politische Zielsetzung oder zumindest Wirkung: die endgültige Ausrottung der korenizacija durch die Liquidierung ihrer Träger.
In der Ukraine begnügte sich Stalin nicht mit der Beseitigung der ranghöchsten Genossen Cubar’, Postyšev und Kosior. Insgesamt ‹verschwanden› hier 1937 über 150.000 Parteimitglieder. Zur Auswahl der prominenten Opfer traf im August Molotov persönlich, damals Vorsitzender des SNK, in Kiev ein. Er sorgte bis zum Januar 1938, von einer Ausnahme abgesehen, für die Verhaftung des gesamten regionalen Politbüros. Wer verschont blieb, musste gleichwohl fürchten, vom neuen Parteisekretär Chruščev auf denselben Weg geschickt zu werden. Andere nahmen sich beizeiten das Leben. Von der Prominenz überlebte so gut wie niemand. In Weißrussland begann die Säuberung früher. Schon 1937 war «buchstäblich kein ZK-Mitglied mehr übrig». Als Ersatz wurden Parteisekretäre aus der Provinz nach Minsk beordert, wo sie ebenfalls in den «gigantischen Fleischwolf» gerieten. Auch diese Republik verlor ihre gesamte Führung ohne nennenswerte Ausnahmen. In Transkaukasien eröffnete Berija selbst die Jagd, indem er im Juli 1936 den Vorsitzenden des armenischen ZK eigenhändig erschoss. Einen besonders hohen Blutzoll zahlte allem Anschein nach Stalins Heimatprovinz Georgien. Als Indiz dafür kann gelten, dass von 644 Delegierten, die sich im Mai 1937 zum 10. Parteitag dieser Republik versammelten, in der Folgezeit 425 (= 66 %) verhaftet, verbannt oder hingerichtet wurden. Ein Zusammenhang mit der besonders langen sozialdemokratischen, menschewistisch geprägten Tradition liegt nahe. Von den prominenten Bolschewiki überlebte im Wesentlichen nur der Parteisenior F. Macharadze. In Armenien füllten sich die Gefängnisse, als Malenkov, Berija und Mikojan im September 1937 nach Erevan kamen. Allein in der Hauptstadt wurden in den nächsten Wochen mehr als tausend Personen in Gewahrsam genommen. Von neun Mitgliedern des armenischen ZK schieden sieben aus. Kein einziges von 56 Mitgliedern des hauptstädtischen Exekutivkomitees von Anfang 1937 wurde im April 1938 wiedergewählt. In Azerbajdžan fungierte ein ehemaliger Mitarbeiter der transkaukasischen Tscheka und Vertrauter Berijas als Henker. Auch hier überlebte kaum ein Bolschewik von Rang. Gleiches galt schließlich für so gut wie alle Autonomen Republiken (z.B. der Tataren, Kabardinen und Balkaren, Osseten, Čečenen und Ingušen) und Autonomen Regionen in der RSFSR selbst. Allenthalben schoss die Geheimpolizei, womöglich auch hier mit tatkräftiger Unterstützung der lokalen Parteikomitees, (im beklemmend wahren Wortsinn) den Weg frei für Satrapen und Marionetten der Zentralgewalt – für junge Aufsteiger großrussischer Herkunft, die Stalins Wohlgefallen erregt hatten.[56]
Auch bei diesem Akt des Schreckensdramas stellt sich die Frage nach den Ursachen und Motiven. Sicher vermag der alleinige Hinweis auf die persönliche Machtgier des Diktators nicht zu überzeugen. Stalins Herrschaft wurde von keiner Republik und keiner Nationalität ernsthaft bedroht. Säuberungen konnten sie nicht festigen oder erweitern. Größere Plausibiltät darf das Argument beanspruchen, dass es dem Diktator um die endgültige Durchsetzung der neuen «Generallinie» ging. In der Tat bestand die sicherste Methode zur Gewährleistung bedingungsloser Loyalität darin, ergebene Gefolgsleute in allen Schaltstellen der lokalen Macht zu installieren. Stalin hat dies ebenso rücksichtslos und brutal beherzigt wie in vielen anderen Aktionen vor und nach 1929. Auch bei der Massengewalt gegen nichtrussische Eliten sollten indes weitere Umstände nicht übersehen werden, die erklären helfen, warum es ihm abermals nicht schwerfiel, Helfer zu gewinnen. Naturgemäß verband sich das Ende der ‹liberalen› Nationalitätenpolitik mit der Stärkung großrussischer Emotionen und der Privilegierung Kernrusslands und seiner Bevölkerung. In gewisser Weise wiederholte sich die Unterwerfung der nichtrussischen Peripherie durch das russische Zentrum. Stalin hat diese Implikation gesehen und nationale, zunehmend auch chauvinistische Emotionen bewusst geschürt. Damit schuf er den Kitt, der die mächtigen Organisationen und Kräfte im Staat noch enger aneinanderbinden sollte. Die Gesellschaft wurde gewiss nicht monolithisch. Aber es bot sich ihr eine integrative Orientierung, die nicht nur die Partei, Armee und Sicherheitspolizei als Säulen der staatlichen Zwangsgewalt ansprach, sondern auch aufstrebende und zunehmend einflussreiche soziale Schichten: die doppelten Profiteure von Terror und Russifizierung. Zugleich blieb die Sowjetunion natürlich ein Vielvölkerstaat und Rücksicht auf nichtrussische Nationalitäten unverzichtbar. Stalin belebte die alte Formel von der «Freundschaft und Brüderlichkeit» zwischen den (sozialistischen) Völkern nach 1933 sogar ausdrücklich, um ein Gesamtbewusstsein als eine Art Einheit in der Vielfalt zu beschwören. Und auch in den konkreten Maßnahmen hat der Verfasser der jüngsten Monographie Rückgriffe auf die korenizacija oder deren stillschweigende Fortsetzung entdeckt. Dies hat ihm Anlass gegeben, lieber von einem scaling back als von ihrem Widerruf unter Stalin zu sprechen. In der Gesamtschau mag eine solche Nuancierung zutreffen; die faktische Nationalisierung in allen entscheidenden Bereichen der inneren Politik bleibt davon aber unberührt.[57]
Industrie zwischen Licht und Schatten Dem zweiten Fünfjahresplan (1933–37) war nicht nur die Fortführung des ersten zugedacht. Nach der Grundlegung der sozialistischen Industrie sollte er eigene Akzente setzen und den Unterschied zwischen Stadt und Land einerseits, geistiger und körperlicher Arbeit andererseits abbauen. Dabei nahm man auch die Tempovorgaben zurück. Das Motto der zweiten Planperiode hieß: Konsolidierung statt ungestümer Expansion, Augenmaß statt unerfüllbarer Zielsetzungen. Die ‹Technik beherrschen› lernen, lautete eine beliebte und symptomatische Devise. Zu dieser Reorientierung gehörte auch ein neues Gewicht der Konsumgüterproduktion. Was im ersten Jahrfünft aus politischen Gründen missachtet wurde, sollte nun in gewisser Weise nachgeholt werden. So gab der Plan in deutlicher Umkehrung der geltenden Prioritäten bei den Produktionsgütern für das Jahr 1937 ein Soll von 197,2 vor (1932 = 100), bei den Konsumgütern aber eines von 233,6. Auch die Löhne und verschiedene Fonds für soziale Leistungen und materielle Verbesserungen sollten spürbar steigen.[1]
In der Tat lagen drei ‹gute Jahre› in der Mitte der zweiten Planperiode. Die Triade von 1934–36 gab nicht nur den Fachleuten, sondern auch der Bevölkerung Anlass zum Aufatmen. Selbst eine überaus skeptische Darstellung bescheinigt der sowjetischen Wirtschaft in dieser Zeit «eindrucksvolle» Resultate; eine andere spricht von den «vielleicht erfolgreichsten Jahren der sowjetischen Industrialisierung insgesamt», und die jüngste, aus der Feder der besten Sachkennner, führt die «Jahre des Fortschritts» sogar im Titel. Die industrielle Bruttoproduktion wuchs nach wie vor in schnellem, aber nicht zerstörerischem Tempo (1934–36 zwischen 19 und 29 %); die Investitionen blieben hoch, erforderten aber keinen Raubbau; der Lebensstandard erholte sich wieder, wenn auch langsam; ebenfalls zögernd, aber spürbar wuchs die Arbeitsproduktivität; und die Ausgaben für den Staatsapparat (einschließlich der Armee und Wirtschaftsverwaltung) stiegen lediglich in ungefähr demselben Maße wie die ökonomische Leistungsfähigkeit. Eine entscheidende Ursache für diesen ‹Aufschwung› bestand offenbar in der Fertigstellung einiger zentraler Großprojekte. Die Stahlwerke der gigantomanischen Retortenstadt Magnitogorsk im Ural konnten ebenso ihren Betrieb aufnehmen wie andere metallurgische Unternehmen in Zaporož’e und Tula. Sie profitierten dabei von der erhöhten Kohle- und Erzförderung in den neu erschlossenen Lagerstätten Südsibiriens (Kuzbass, Karaganda). Auch die Erzeugung von Elektrizität vor allem für den industriellen Verbrauch wurde erheblich ausgeweitet. Wenngleich auf Importe noch lange nicht verzichtet werden konnte, verfügte die Sowjetunion 1937 doch über einen erheblichen Teil der Ausrüstung, um Maschinen selbst herstellen zu können. Insofern hatte sie zweifellos einen großen Sprung nach vorn getan und eine neue Stufe des industriellen Aufbaus erreicht.[2]
Allerdings war schon im letzten Jahr der Planperiode ein massiver Rückgang der Produktion und Investitionen zu verzeichnen. Mehrere Gründe kommen als Erklärung in Betracht. Zum einen verweist der Zeitpunkt auf die sicher schrecklichsten Ereignisse im Vorkriegsjahrzehnt. Zu den Hintergründen des rätselhaften Selbstmords von Stalins langjährigem Weggefährten G. K. («Sergo») Ordžonikidze im Februar 1937 gehörte auch, dass auffällig viele hohe Funktionäre aus dem Volkskommissariat für Schwerindustrie, dem er vorstand, und der gesamten Wirtschaftselite des Landes ‹verschwanden›. Manager und Ingenieure hatten eine kaum geringere ‹Chance›, der «Sabotage» oder sonstiger sowjetfeindlicher Umtriebe angeklagt zu werden, als ‹alte Bolschewiki›.[3] Selbst allerhöchste Amtsinhaber wie der Vorsitzende des Gosplan V. I. Mežlauk und der angesehene Ökonom E. I. Kviring blieben nicht verschont. Die Folgen machten sich in noch größeren Defiziten bei der Planerfüllung und anderen Problemen umgehend bemerkbar. Allerdings hat man darauf hingewiesen, dass die Wende schon vor dem Höhepunkt der Gewalt in den wirtschaftlichen Leitungsbehörden eintrat. Insofern vermag der erklärende Hinweis auf den Abschluss der erwähnten Großbauten, ohne dass der Grundstein für neue gelegt worden wäre, als zusätzlicher Grund zu überzeugen. So endete der erfolgreiche zweite Fünfjahresplan in mancher Hinsicht recht frühzeitig.
Der dritte und letzte Fünfjahresplan (1938–42) vor dem deutschen Überfall lag nach frühzeitigen Vorarbeiten 1938 im Entwurf vor. Nicht nur die erwähnten Säuberungen, sondern auch die erheblichen Vollzugslücken des Vorjahres gaben Anlass, ihn gründlich zu revidieren. Trotz größerer Rücksicht auf die ernüchternde Wirklichkeit verankerte die endgültige, vom 18. Parteitag im März 1939 angenommene Version dieses Planes ebenfalls hohe Erwartungen. Nationaleinkommen und Industrieproduktion sollten in annähernd denselben Raten wachsen wie im vorangegangenen Jahrfünft. Zugleich war vorgesehen, den Konsumgütersektor davon wieder stärker auszunehmen und auch die Löhne nur geringfügig anzuheben. Verzicht für die Arbeiter und Verbraucher zugunsten von Stahl, Maschinen, Rohstoffen und Energie prägten das Zahlenwerk abermals deutlich. Was aus den Vorgaben wurde, lässt sich nicht mehr genau angeben. Die Daten für 1939 lassen bereits gegen Ende des Jahres bei einigen Schlüsselprodukten und den Investitionen einen erheblichen Rückstand erkennen. Diese Tendenz verstärkte sich im folgenden Jahr; die Realisierungsquote der Sollzahlen fiel bei Investitionsgütern auf 76 %, bei Konsumgütern (auf niedrigem absoluten Niveau) auf 84,5 %; die Stahlerzeugung nahm kaum noch zu. Als Begründung hat sich die Annahme erhärtet, dass die deutlich erhöhte Rüstungsproduktion einen erheblichen Teil der Ressourcen in andere Kanäle lenkte. Auch für diese Zeit wird man außerdem, ohne dass sie sich quantifizieren ließen, erhebliche Schäden und Ausfälle durch den Terror in Rechnung stellen müssen.[4]
Indes besagen Pläne und deren Untererfüllung, die das Urteil vor allem ökonomischer Laien in den letzten Jahrzehnten geprägt haben, noch nicht viel über das tatsächlich Erreichte. Komplementär hat man deshalb immer wieder versucht, das Wirtschaftswachstum in den wichtigsten Branchen zu berechnen und sonstige zuverlässige Indikatoren zu sichern. Die statistischen Probleme dabei sind kaum lösbar. Offiziellen Angaben zufolge stieg das Nationaleinkommen während des ersten und zweiten Fünfjahresplans, i. e. 1928–1937 fast um das Vierfache, eine andere volkswirtschaftliche Messgröße, das Nettomaterialprodukt, in Preisen von 1926/27 bis 1940 sogar auf 513 %. Ein solcher Zuwachs hat stets als unglaubwürdig gegolten. Neuberechnungen sowjetischer Ökonomen in der Gorbačev-Ära haben ihn deutlich nach unten korrigiert und auf bloße 50 % 1928–1941 taxiert. Eine solche drastische Verringerung scheint jedoch zur anderen Seite hin zu übertreiben. Schätzungen westlicher Autoren lagen aber, ausgehend von 1928 = 100, mit einem Index des Bruttosozialprodukts (GNP) zwischen 145 und 187 für 1940 nicht wesentlich darüber. Auf die Bevölkerung bezogen, hat man daraus Maßzahlen errechnet, die unabhängig von ihrer absoluten Größe die charakteristische Entwicklung deutlich erkennen lassen (s. Diagramm 2): Nach der Wiedergewinnung des Vorkriegsniveaus gegen Ende der NĖP begann ein rasanter Anstieg, dessen Grundlage offensichtlich während der ersten Planperiode gelegt wurde, der in der Zweiten Planperiode seinen Höhepunkt erreichte und danach auf dem erklommenen Niveau stagnierte. Im Ergebnis lag das Pro-Kopf-Einkommen 1940 um etwa 3/5 höher als am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Unter Einrechnung der Phasenverschiebung, weil die Expansionsperioden in den einzelnen Ländern zu unterschiedlichen Zeiten stattfanden, gehörte die Sowjetunion dieser Jahre damit, wie Deutschland und Japan, zur Gruppe auffallend dynamischer Volkswirtschaften.[5]