Tabelle 28: Ernteertrag 1940–1945
1940 |
1941 |
1942 |
1943 |
1944 |
1945 |
|
Saatfläche (Tsd. ha) |
42.665,4 |
42.133,4 |
43.171,8 |
36.569,6 |
31.705,7 |
30.301,0 |
in % |
100 |
97 |
101 |
86 |
74 |
71 |
Bruttoernte (Tsd. Zentner) |
299.787,2 |
296.474,4 |
182.452,3 |
129.378,7 |
137.671,9 |
144.305,6 |
in % |
100 |
99 |
61 |
43 |
46 |
48 |
Ertrag (Zentner pro ha) |
7,03 |
7,04 |
4,23 |
3,54 |
4,34 |
4,76 |
in % |
100 |
100 |
60 |
50 |
62 |
68 |
Quelle: Arutjunjan, Krest’janstvo, 303
Wenn die sowjetische Bevölkerung dennoch überlebte, so trug dazu vor allem eine Neuerung bei: die Ermunterung privater Produktion. Westliche Beobachter waren und sind sich in dem Befund einig, dass eben darin die charakteristische Erscheinung der agrarischen Kriegswirtschaft und der Schlüssel für eine Leistung zu sehen ist, der die meisten ihre Anerkennung nicht versagen. Dabei nahm das private Engagement überwiegend den kleinsten nur denkbaren Maßstab an. Regierung und Partei riefen die Stadtbevölkerung zur Anlage oder Erweiterung von Gemüsegärten auf und stellten dafür brachliegendes Land in den Außenbezirken zur Verfügung. Familien und Kollektive, Ämter und Unternehmen bemühten sich auf diese Weise, ihren Bedarf so weit wie möglich selbst zu decken. Denn darauf lief das ogorodničestvo, dem die Regierung Anfang November 1942 durch eine fünf- bis siebenjährige Garantie des neuen ‹Landbesitzes› einen weiteren Impuls zu geben suchte, hinaus: auf eine neuerliche Natural- und Subsistenzwirtschaft. Analog verfuhr der Staat auf dem Lande. Obgleich er an der Kolchosordnung festhielt, nahm er eine erhebliche Erweiterung der bäuerlichen Privatparzellen hin. Die vorgesetzten Instanzen verstanden sehr gut, dass allein der private Anbau nicht nur die Bauern vor Hunger bewahrte, sondern auch noch jenen geringen Überschuss zu erzeugen vermochte, auf den die Städter bei allen ‹Siegesgärten› angewiesen blieben. Denn auch die Kolchosmärkte bestanden fort und wurden trotz teils enormer spekulativer Preise geduldet, weil man im Krieg noch stärker auf sie angewiesen war als im Frieden. Von 2810 Kalorien, die ein städtischer Erwachsener 1944 durchschnittlich pro Tag zu sich nahm, stammten zwei Drittel aus staatlichen Lagern, die restlichen aus privaten Gärten. Eben dieses Drittel machte, wie man treffend formuliert hat, den «Unterschied zwischen Verhungern und Überleben» aus.[16]
Dass auch der Handel zurückging, bedarf kaum der Erwähnung. Spätestens seit der Abschaffung des freien Marktes konnte von hinreichender Ausstattung mit dem Lebensnotwendigen nicht mehr die Rede sein. Unter der Last des Krieges schrumpfte das Angebot weiter. Zum einen fiel die Produktion drastisch; zum anderen verschlangen Rüstung und Verteidigungsanstrengungen den Löwenanteil sowohl der Finanzmittel als auch der Herstellungskapazitäten. Schon Ende Juli 1941 mussten wichtige Grundnahrungsmittel in Moskau und Leningrad rationiert werden. Zum 1. September erhielten die Bewohner von 197 Städten und Arbeitersiedlungen Bezugsscheine für eine wachsende Palette von Nahrungsmitteln (Fleisch und Buchweizen ebenso wie Fette und Salz). Wie im Bürgerkrieg und zu Beginn der Stalin-Ära machte man dabei Unterschiede nicht nur zwischen Erwachsenen und Kindern, Ernährern und Abhängigen, sondern auch zwischen sozialen ‹Klassen›. ‹Arbeiter› erhielten pauschal größere Rationen als ‹Angestellte›. Die Verteilung erfolgte vor allem durch «Abteilungen für Arbeiterversorgung» in den Unternehmen und Fabriken. Bei Kriegsende gab es 7600 solcher dem Volkskommissariat für Handel unterstehenden Orsy, die 48 % aller zentral versorgten Personen belieferten. Dass die Empfänger über jede preiswert erworbene Kalorie froh sein und keinerlei Qualitätsansprüche stellen konnten, versteht sich von selbst.
Wer von den Zuteilungen nicht leben konnte oder wollte, hatte auch während des Krieges grundsätzlich Gelegenheit, seine Wünsche andernorts zu befriedigen. Wenn er genug Geld oder ‹naturale› Tauschmittel besaß, konnte er seit dem 15. April 1944 Waren des «kommerziellen Handels» kaufen. Noch im Januar 1945 gab es allerdings nur wenige Geschäfte dieser Art, die sich außerdem auf die großen Städte konzentrierten. Hinzu kam ein Preisniveau, das ihr Angebot nur für eine kleine Schicht Wohlhabender erschwinglich machte. Unter dem Gesichtspunkt ihrer Verbreitung bildeten die privaten Kolchosmärkte daher die wichtigere Alternative. Doch sorgten die Preise mit einem Anstieg um mehr als das Zwanzigfache zwischen Juli 1941 und Juli 1943 auch hier für den faktischen Ausschluss der Bevölkerungsmasse. Getreide und Kartoffeln waren besonders stark betroffen, da große Teile der entsprechenden Anbaugebiete unter deutsche Besatzung gerieten. Zeitlich erreichte der Auftrieb 1943 seinen Höhepunkt. Der Index lag aber auch in der ersten Jahreshälfte 1944 noch um mehr als 1000 % und im Sommer 1945 um knapp 500 % über dem Niveau von 1940. Die Gesamterfahrung mochte die Einwohner an den Bürgerkrieg erinnern, auch wenn die Inflationsrate deutlich niedriger blieb. Umso größere Bedeutung kam dem Umstand zu, dass der Anteil des Staates samt der von ihm kontrollierten Kooperative am Güterumsatz en détail erheblich zurückging. Zugleich stiegen die Verkäufe auf den Kolchosmärkten ebenso klar auf 51 % des Gesamtvolumens an Nahrungsmitteln im letzten Kriegsjahr. Auch diese Entwicklung war ein deutliches Indiz für die Unfähigkeit des Kartensystems, die Bevölkerung ausreichend zu versorgen. Allem Anschein nach konnten selbst diejenigen nicht auf das private Angebot verzichten, die ihr Letztes dafür geben mussten.[17]
Desgleichen entsprach es einer allgemeinen Erfahrung, dass der Krieg die öffentlichen Finanzen durcheinanderbrachte und zu verschiedenen Korrekturen zwang. In der Sowjetunion lähmte er umgehend das normale Wirtschaftsleben. Der Warenumsatz, der dem Staat als hauptsächliche Einnahmequelle diente, verminderte sich nachhaltig. Entsprechend gingen die Einnahmen zurück: von 18 Mrd. Rubeln 1940 auf 16,5 Mrd. 1942. Wenn sie danach das Niveau von 1940 wieder erreichten und überschritten, so hatte dies viel mit der Inflation zu tun. Zumindest reichten sie bis 1943 nicht aus, um die Ausgaben zu decken. Auch in dieser Hinsicht erwies sich das zweite Kriegsjahr als Höhepunkt der Krise. Hinzu kam eine Explosion der Kriegskosten. Der Geldbedarf war enorm, die kurzfristig nutzbare Reserve für seine Deckung aber dürftig. Wohl in keinem anderen großen kriegführenden Land stach die Diskrepanz zwischen beiden so sehr ins Auge.[18]
Nirgendwo sonst auch waren die Kosten so exorbitant. Den menschlichen Opfern standen die materiellen Verluste kaum nach. Man hat errechnet, dass sich die Kriegsschäden in Preisen von 1941 auf ca. 67,9 Mrd. Rubeln, entsprechend 30 % des fixen Kapitals am Vorabend des Krieges, beliefen. Direkte Ausgaben (55,1 Mrd.) und den Rückgang des Nationaleinkommens addiert, erreichte der ‹nichtmenschliche› Gesamtverlust etwa 184 Mrd. Rubel oder 2551 Rubel pro arbeitendem Einwohner in den Vorkriegsgrenzen bei einem durchschnittlichen Jahresverdienst von 346 Rubeln. Vermutlich ist ein anderer, wenn auch pauschaler Vergleich einprägsamer: Materiell bezahlte die Sowjetunion für den nicht provozierten Überfall einen Preis, der ungefähr den Investitionen zweier Fünfjahrespläne entsprach.[19]
Einkommensausfälle, Schäden und unabweisbare Verteidigungsausgaben verursachten ein Haushaltsdefizit, das nur durch Mehreinnahmen zu beheben war. Am 21. November 1941 wurden Junggesellen, Kinderlose und Kinderarme mit einer Sondersteuer belegt. Am 29. Dezember folgte eine Kriegssteuer, die zwar nach vermuteter ökonomischer Leistungsfähigkeit differenziert, aber von allen Einwohnern in Stadt und Land aufzubringen war. Anfang April 1942 kamen verschiedene regionale Abgaben auf Gebäude, Land, Vieh, Wagen u.a. in Form der Erhöhung oder Neuerhebung hinzu. Große Bedeutung hatten ferner Anleihen bei der Bevölkerung, die nur formal freiwillig waren. Sie nahmen Arbeitern und Bauern – wie ähnliche ‹Offerten› während des ersten Fünfjahresplans und der Kollektivierung – einen durchaus erheblichen Teil ihrer Bezahlung und führten dem Staat weitere Mittel zu. Eigener Entschluss, der aber teilweise aufrichtigem Patriotismus entsprungen sein mag, lag äußerlich auch der Bereitschaft der Sowjetbürger zugrunde, ihren Beitrag zum «Verteidigungsfond» zu leisten.[20]
Gemeinsam erfüllten diese Maßnahmen ihren Zweck. Während die staatlichen Einkünfte aus der Umsatzsteuer selbst nominal (d.h. nicht inflationsbereinigt) bis Ende 1944 zurückgingen, stieg das Aufkommen aus direkten Steuern von 9,4 Mrd. Rubeln 1940 auf 37 Mrd. 1944 und aus staatlichen Anleihen samt Lotteriegewinnen von 11,5 Mrd. 1940 auf 37,6 Mrd. 1944. Zusammen mit anderen Reserven reichte diese Einnahmeverbesserung aus, um das Staatsbudget trotz der enormen Rüstungsanstrengung und der anhaltenden Paralyse der zivilen Wirtschaftstätigkeit ab 1944 auszugleichen. Den hohen Preis dafür hatte ebenfalls die Bevölkerung zu zahlen: Auch die sowjetische Literatur leugnet nicht, dass die finanzielle Bürde, die der großen Masse durch die Kriegssteuer und sonstigen Zwangsabgaben aufgeladen wurde, den ohnehin niedrigen Lebensstandard bis an die Grenze des knappen Überlebens senkte.[21]
Die Deutungen des Stalinismus konvergieren in der Annahme, dass zumindest der subjektiv spürbare Unterschied zwischen Friedens- und Kriegszustand in der Sowjetunion vielleicht nicht so groß gewesen sei wie in den meisten anderen kriegführenden Staaten. Ob man die totalitäre Herrschaftsordnung als prägendes Merkmal betrachtet oder die anarchische Eigendynamik der sozioökonomischen Mobilisierung – in jedem Falle erscheint die Gesellschaft als unterdrücktes Opfer, das viel hinzunehmen, aber wenig zu bestimmen hatte. Alle Schichten und Gruppen waren Objekte des gigantischen Experiments, das mit dem ersten Fünfjahresplan und der Zwangskollektivierung begonnen hatte. Manche mochten engagiert teilnehmen und temporär profitieren, die meisten aber litten zumindest objektiv, und der Terror verschonte niemanden. So gesehen befand sich die sowjetische Gesellschaft, aus welcher (nichtsozialistischen) Perspektive auch immer, seit Beginn der dreißiger Jahre in einem Ausnahmezustand, der 1941 beileibe nicht beendet war. So wie die zitierte Behauptung manches für sich hat, die sowjetische Gesellschaft sei am ehesten auf die kommenden Entbehrungen vorbereitet gewesen, ist auch die Vermutung bedenkenswert, der Krieg habe Prozesse und Merkmale verstärkt, die schon zuvor begonnen hatten oder sichtbar waren.[1] Gewiss markierte der deutsche Überfall einen qualitativen Einschnitt; dies zu leugnen wäre zynisch. Dennoch gab es bezeichnende Kontinuitäten. Was andauerte und sich zum Teil sogar beschleunigte, war neben der Herrschaftsverfassung vor allem eines: die staatlich gelenkte Transformation des ‹alten Russland› in eine moderne Industriegesellschaft.
Die Arbeiterschaft durchlebte im Großen und Ganzen einen ähnlichen Strukturwandel wie im Ersten Weltkrieg. So wie die grundlegende Ursache dieselbe war, so stellten sich mutatis mutandis verwandte Folgen ein. Der auslösende Vorgang bestand sozusagen in der Essenz einer jeden Kriegführung, der Mobilisierung aller wehrfähigen Männer für den Kampf. Millionen wurden eingezogen, Millionen gerieten in Gefangenschaft oder starben. Eine erste Auswirkung der Massenrekrutierung, die auch die Städte leerte, bestand im deutlichen Rückgang der Arbeiterzahl. Die Großindustrie beschäftigte 1941 ca. 7,8 Mio. Lohnempfänger; davon waren 1942 nur noch 5,5 und 1943 5,7 Mio. übrig; erst danach stieg die Zahl wieder an, erreichte aber auch 1945 mit 7,2 Mio. noch nicht wieder das Niveau von 1940.[2] Unter Einbeziehung der Landwirtschaft und mühseliger Aufgliederung nach Beschäftigungszweigen hat man folgende Rechnung aufgemacht: Von 87, 2 Mio. abhängig Beschäftigten 1940 (jeweils Jahresdurchschnitt) blieben 1941 73,4 Mio. und 1942, auf dem Tiefpunkt der Entwicklung, 55,1 Mio., mithin ein gutes Drittel weniger; danach stieg die Zahl wieder bis 1945 auf 76 Mio. an. Allerdings verlief die Entwicklung in den verschiedenen Bereichen ebenso unterschiedlich wie situationstypisch. Den höchsten Verlust erlitt die Landwirtschaft, die 1942 auf mehr als die Hälfte der Arbeitskräfte verzichten musste. Aber auch die Industrie wurde im ersten Jahr schwer getroffen. Die Zahl ihrer Arbeiter sank von 13,9 Mio. 1940 auf 8,8 Mio. 1942. Allerdings begann im ‹Jahr der Wende› 1943 eine Aufwärtsbewegung, die 1945 zu einem Niveau führte, das sich dem Vorkriegsstand immerhin annäherte. In dieser ‹Erholung› spiegelt sich vor allem die starke Expansion der Verteidigungsindustrie und militärischer Apparate, die beide 1945 deutlich mehr Arbeiter zählten als 1940. Dagegen blieb vor allem die zivile Industrie (d.h. primär die Konsumgüterproduktion) zurück, deren Arbeiterschaft 1942 fast auf die Hälfte gesunken war und die ihre Reihen auch bis 1945 nur auf etwa drei Viertel füllen konnte (vgl. Tabelle 29).