1940 |
1945 |
Absoluter Zuwachs |
|
Insgesamt |
330 |
434 |
+ 104 |
Davon |
|||
Industrie |
340 |
470 |
+ 130 |
Bauwesen |
339 |
413 |
+ 74 |
Transport |
347 |
482 |
+ 135 |
Eisenbahn |
341 |
525 |
+ 184 |
Schifffahrt |
409 |
493 |
+ 84 |
Handel, Gemeinschaftsverpflegung, materialtechnische Versorgung |
250 |
269 |
+ 19 |
Quelle: Istorija sovetskogo rabočgo klassa III, 405
Allerdings besagte die nominale Lohnsteigerung nicht viel. Entscheidend war der Gegenwert an Gütern und Leistungen, der für den monetären Arbeitsertrag erworben werden konnte. Dieser Vergleich ist aus verschiedenen Gründen besonders schwierig. Zum einen sicherte die Rationierung zumindest temporär und regional eine gewisse Grundversorgung mit Nahrungsmitteln zu niedrigen Preisen, auch wenn sie weit hinter ihrem Anspruch zurückblieb. Zum anderen verringerte sich die Bedeutung des monetären Lohns zugunsten des naturalen (billiger Wohnraum, privilegierte Versorgung u.a. eingeschlossen). Darüber hinaus lässt sich kaum ermitteln, in welchem Maße die verschiedenen Schichten der Stadtbevölkerung über Zuteilungen und Verköstigungen in subventionierten Garküchen hinaus auf teuren Privatmärkten zukaufen mussten. Trotz solcher Probleme sind Vergleichsrechnungen vorgenommen worden, deren Hauptergebnis in der westlichen Literatur niemand widersprochen hat: dass der Reallohn «schmerzlich» sank. Eine der ältesten Datenreihen versuchte, die Entwicklung zwischen 1928 und 1951 zu erfassen. Ihr zufolge stiegen die Nominallöhne in dieser Zeit auf das Achtfache, bei optimistischen Annahmen sogar auf das Elffache. Zugleich erhöhten sich aber die Preise von Grundnahrungsmitteln deutlich stärker, für Roggenbrot zum Beispiel auf das 21-fache, für Rindfleisch auf das 20-fache, für Butter auf das 14-fache und für Zucker auf das 20-fache. Innerhalb dieses Zeitraums gab es Schwankungen. Zu Beginn der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre etwa war eine gewisse Erholung zu verzeichnen. Danach aber erfolgte ein tiefer Einbruch, der erst nach 1946 zu Ende ging. Weniger anschaulich ergeben verschiedene andere Indizes dieselbe Kurve. Während die Lebenshaltungskosten (1928 = 100) von 1940 = 679 auf 1944 = 952 stiegen, sanken die Bruttoreallöhne von 1940 = 80 auf 1944 = 54 und die Nettoreallöhne (einschließlich der Prämien) von 1940 = 78 auf 1944 = 64. Diesen Daten zufolge markierte erst das Jahr 1948 den Ausgang aus dem Jammertal der Kriegsnot.[8]
Informationen über die materiellen Lebensverhältnisse der Arbeiter bestätigen dieses Bild. Die Ernährung der allermeisten Stadtbewohner vermochte den Hunger mit zunehmender Kriegsdauer immer weniger zu lindern. Vieles spricht dafür, dass die sowjetische Zivilbevölkerung auch in dieser Hinsicht stärker zu leiden hatte als in den anderen großen kriegführenden Ländern Europas. Sachverständige des britischen Ministeriums für Nahrungsmittel schätzten 1943, dass die höchste Ration in Moskau – für körperliche Schwerstarbeit – 2914 Kalorien enthielt; als notwendiges Minimum nahmen sie 3500 Kalorien an. Arbeiter der zweiten Kategorie (normale Handarbeit) hatten Anspruch auf Zuteilungen mit 2394 Kalorien, benötigten aber wenigstens 3000 Kalorien. Büroarbeiter erhielten Marken für 1867 Kalorien, brauchten für die Aufrechterhaltung ihrer Leistungsfähigkeit aber ebenfalls ca. 2500 Kalorien. Allen fehlten Tag für Tag etwa 600 Kalorien. Dies allein wäre zu kompensieren gewesen. Die Angaben erhalten ihre eigentliche Aussagekraft jedoch dadurch, dass Moskau zum einen bevorzugt versorgt wurde und die Vorräte zum anderen in der Regel nicht ausreichten, um die vorgesehenen Rationen wirklich an alle Berechtigten ausgeben zu können. Auch in den Hauptstädten waren viele Karten wertlos. Noch viel weniger kam in der Provinz an. Zudem verschlechterte sich die Nahrung qualitativ. Während der Verzehr von Gemüse, Milch und Fleisch um die Hälfte, der von Fetten um ein Drittel zurückging, wurden Kartoffeln aus den Gemüsegärten zum Hauptnahrungsmittel. Sie gewährleisteten keine ausgewogene Ernährung, verhinderten aber Massenhunger.[9]
Andere Indikatoren für den dramatischen Rückgang der ohnehin niedrigen Lebensqualität in den Städten versuchen, die gesamte Versorgung mit Gebrauchsgegenständen des Alltags zu erfassen. Um abzuschätzen, was die Sowjetbürger zu ertragen hatten, genügt ein Blick auf die Produktion der Leichtindustrie. Auf 1940 bezogen (= 100) fiel die Erzeugung auf 48.1942, um erst danach wieder leicht anzusteigen (1945 = 62). Die entsprechenden Kennziffern für die Vorräte an Oberbekleidung lauten: 61, 10, 18, für Stoffe 73, 14, 29 und für Leder- und Gummischuhe 65, 7, 15. Dies bedeutete, dass 1942 weniger als die Hälfte der Konsumgüter des Jahres 1940 hergestellt wurde und sich dieser Einbruch erst seit 1944 langsam abschwächte.[10]
Besonders schlecht war es um Wohnraum, das wohl begehrteste materielle Lebensgut, bestellt. An der Front und in den besetzten Gebieten wurde zerstört, was der Kriegführung im Wege stand. In die östlichen Regionen des europäischen Reichsteils ergoss sich ein beispielloser Flüchtlingsstrom, der die (im Wesentlichen betroffenen) Städte völlig überforderte. Staat und Gemeinden mochten sich, wie der nachmalige Kriegsmythos behauptete, noch so viel Mühe geben, um Unterkünfte zu schaffen. Ihnen fehlten angesichts vordringlicher Verteidigungsaufgaben nicht nur die Geldmittel, sondern auch die Arbeiter und die Zeit. Die Wohnungen quollen über von Menschen. Bald mangelte es auch an Brennmaterial für den Winter und an Ersatz- und Baustoffen aller Art, um Schäden zu beheben. Zimmer wurden mehrfach geteilt, Notöfen installiert; man heizte mit allem, was sich eignete; Zeitungspapier ersetzte zerbrochene Scheiben, Wasser- und Fallrohre platzten und wurden gar nicht oder notdürftig repariert – die Sowjetunion kehrte zu den unsäglichen Zuständen der Bürgerkriegszeit zurück.[11]
In der Notwendigkeit der Leistungssteigerung unter Verzicht auf materielle Antriebe mag man auch ein wesentliches Motiv für neue Zwangsmaßnahmen sehen, die nach Kriegsbeginn ebenfalls ergriffen wurden. Schon wenige Tage nach dem Überfall, am 26. Juni, erließ der Oberste Sowjet eine entsprechende Anordnung, die gleichsam den Tenor der kommenden Jahre vorgab und bis Kriegsende gültig blieb: Unternehmensdirektoren wurden ermächtigt, bis zu drei, für Jugendliche unter sechzehn Jahren bis zu zwei Überstunden pro Tag zu verfügen und Urlaub in monetäre Ersatzleistungen umzuwandeln. Schon im Vorjahr war der gefeierte, zum zehnjährigen Revolutionsjubiläum eingeführte Siebenstundentag ohne viel Federlesen dem ‹sozialistischen Aufbau› geopfert und der Achtstundentag samt 48-Stunden-Woche wiederhergestellt worden. Tatsächlich arbeiteten Erwachsene – für Jugendliche galten seit März 1944 minimale Schutzbestimmungen – vielfach sogar an allen sieben Wochentagen ohne regelmäßigen freien Tag. Im Durchschnitt leisteten sowjetische Industriearbeiter 1942 54–55 Stunden pro Woche. Da auch alle gesetzlichen Feiertage gestrichen wurden, lief die Verfügung auf eine beträchtliche Erhöhung der Anforderungen hinaus. Dass die vorgesehene anderthalbfache Vergütung der Überstunden diese Mehrbelastung zu kompensieren vermochte, darf bezweifelt werden.[12]
Hinzu kam ein Kranz von Maßnahmen zur Stärkung der staatlichen Kontrolle und Verbesserung der Arbeitsdisziplin. Schon zum ersten staatlichen Zentralisierungsprogramm gehörte die Einrichtung eines ‹Komitees für Arbeit› beim SNK (30. Juni 1941). Formal oblag ihm die Koordination der Umverteilung der Arbeitskräfte bei der Konversion ziviler Unternehmen für die Herstellung militärischer Rüstungsgüter. So wurden im Dezember 1941 alle Arbeiter der Rüstungsindustrie militärischer Disziplin unterworfen. Dies schloss nicht nur die Bindung an ihren Arbeitsplatz ein, sondern auch Schutz vor der Einberufung. Seit November 1942 befand sich die gesamte Mobilisierung von Arbeitskräften für die Kriegsindustrie in der Hand des nun von Švernik geleiteten Komitees. Dennoch zeigt schon die Spärlichkeit durchgreifender Anordnungen, dass es weiterhin Mühe hatte, sich bei den örtlichen Instanzen Autorität zu sichern. Besonders das Verteidigungskommissariat blieb ein mächtiger Rivale. In den Betrieben waren andere Initiativen vermutlich spürbarer. Zum einen bemühte man sich, jene Konkurrenz wiederherzustellen, die es seit dem Übergang zur Planwirtschaft im Grundsatz nicht mehr gab. Die Stachanovščina erlebte eine Renaissance. Ob man zur 200 %-igen Übererfüllung der Normen (und mehr, versteht sich) aufrief oder für den Versuch warb, dieses Ziel jeweils schon zum 20. eines Monats zu erreichen («Wettbewerb der Zwanziger»), ob man «Arbeitswachen» einrichtete, um Aufträge besonders schnell zu erledigen, oder aus Komsomolzen besondere «Frontbrigaden» bildete – das Ziel war stets das gleiche: Leistung anzuspornen, ohne materielle Ressourcen einzusetzen. Freiwilliges Engagement, wenn auch obrigkeitlich gefördert, sollte jenes Produktions-‹Surplus› erbringen, das die ungeheure Herausforderung des Krieges nötig machte. Zum anderen versuchte man, der Einsatzbereitschaft durch Veränderungen im Produktionsprozess nachzuhelfen. Mehrfach wurden die Normen erhöht und die Einsatzpläne umgestellt. Vor allem aber installierte man Fließbänder, um den Fertigungsprozess – wie in den kapitalistischen Ländern – zu beschleunigen und gleichsam im Nebeneffekt die Arbeitsdisziplin zu erhöhen.
Dessen ungeachtet spricht alles dafür, dass die Anstrengungen weitgehend vergeblich blieben. Allzu viele und zu mächtige Faktoren verhinderten einen durchschlagenden Erfolg. Grundlegende Bedeutung kam dabei dem tiefgreifenden Strukturwandel in der Arbeiterschaft und dem gesamten Umbruch der sozialen Ordnung zu, der ihn trug. Wo die ganze Gesellschaft in Bewegung geriet, wo Millionen zu den Waffen gerufen und weitere Millionen aus ihrer Heimat vertrieben wurden, konnten die Industrie- und sonstigen Unternehmen keine Oase der Normalität sein. Besonders spürbar schlug zu Buche, dass trotz des großen dörflichen Reservoirs auf Dauer mehr Arbeiter in Soldaten verwandelt wurden, als ersetzt werden konnten. Arbeitskraft, zumal qualifizierte, war der «engste Flaschenhals» im Kreislauf der sowjetischen Kriegswirtschaft. Dies alles trug dazu bei, dass besonders zwei Kardinalprobleme fortbestanden. Zum einen blieb die Fluktuation der Arbeitskräfte hoch. So wurden 1942 in den staatlichen Eisenhütten 80.000 neue Arbeitskräfte eingestellt; im gleichen Zeitraum verließen aber 50.000 die Betriebe. Im metallurgischen Kombinat von Magnitogorsk begannen zwischen Juni 1941 und August 1942.4851 junge Arbeiter; 1319 von ihnen verließen ihren Platz wieder. Zum Teil betrachteten die zuständigen Behörden diese Fluktuation als gerechtfertigt und normal; zum Teil beruhte sie aber auch auf eigenmächtiger Entscheidung und war ungesetzlich. Hinzu kamen nach wie vor häufige unerlaubte, meist kurzfristige Abwesenheiten vom Arbeitsplatz. Ob jemand seinen Rausch ausschlief, Besorgungen machte oder aus anderen Gründen nicht erschien – die Zahl von jährlich einer Million einschlägiger Gerichtsverfahren und 200.000 Verurteilungen bezeugt, dass alle Disziplinierungsversuche wenig fruchteten. Dies gilt auch, wenn man bedenkt, dass bereits eine zwanzigminütige Verspätung nach den Buchstaben der erwähnten Verordnung vom 26. Juni 1940 als unerlaubtes Säumnis galt. Theoretisch hätten solche Ausfälle durch effektive Arbeit wenigstens teilweise kompensiert werden können. In der Praxis war aber wenig davon zu erkennen. Wie in den dreißiger Jahren fanden die Rekordjäger und Bezwinger aller Planvorgaben (falls sie überhaupt mehr leisteten) kaum Nachahmer. Unbeschadet des aufopfernden Einsatzes vieler für den Sieg, den man nicht in Abrede stellen wird, führten verordnete Mehrarbeit und erhöhter Zwang zu keiner nennenswerten Verbesserung der Produktivität. Die stalinistische Kriegswirtschaft litt unter denselben Defekten wie die Friedenswirtschaft.[13]
Dass die Bauern das größte Opfer für den schwer errungenen Sieg zu bringen hatten, ist ein verbreitetes Urteil über das Schicksal der sowjetischen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg. Seine Verfechter können gute Gründe ins Feld führen. Schon die demographischen Proportionen legen einen solchen Schluss nahe. Der Blutzoll war enorm, die zusätzliche physische Last erdrückend, das Leid unermesslich. Andererseits spricht manches dafür, dass man auf dem Dorf – außerhalb der besetzten und frontnahen Gebiete – eher überleben konnte als in den Städten. Hinzu kam, dass der Staat die bäuerliche Privatwirtschaft jenseits der Befriedigung seiner Ansprüche in zunehmendem Maße schonte. Nur mit ihrer Hilfe, nicht gegen sie ließen sich schlimmere Entbehrungen vermeiden. Eine Übersicht über das Schicksal der Bauern im Krieg sollte deshalb beide Tendenzen bedenken, ohne dabei große regionale wie zeitliche Unterschiede zu verwischen.
Nicht nur für das wirtschaftliche, sondern auch für das soziale Leben auf dem Lande war der menschliche Tribut die schlimmste, unmittelbar spürbare Folge des Krieges. Abwanderung hatte es sicher auch vorher gegeben. Sie gehörte zu den originären Begleiterscheinungen der Industrialisierung und hatte sich schon in den dreißiger Jahren angesichts des planwirtschaftlich forcierten Tempos erheblich beschleunigt. Dennoch war das Ausmaß der Migration neu und destruktiv. Die Städte nahmen dem Dorf zwischen Ende 1926 und Anfang 1939 29, 6 Mio. Menschen entsprechend 2,2 Mio. oder 1, 8 % (bezogen auf 1926) pro Jahr ab. Im Vergleich dazu verlor das flache Land allein in den vier Jahren nach dem deutschen Überfall 13,9 Mio. Bewohner entsprechend 3,5 Mio. oder 4,5 % jährlich. Hinzu kam eine Unwiderruflichkeit des ‹Weggangs›, die seinen anormalen Charakter mit besonderer Deutlichkeit zum Ausdruck brachte: Selbst wer gesund überlebte, konnte vor Kriegsende nicht regelmäßig zurückkehren, wenn für die Aussaat und Ernte jede Hand gebraucht wurde. Von Greisen und Untauglichen abgesehen, waren die Männer weg und standen weder als Verdiener (in und außerhalb der Landwirtschaft) noch für ihre familiären Funktionen zur Verfügung. ‹Heimaturlaub› gab es in der Roten Armee nicht. Die reproduktiven Auswirkungen dieser Zwangsabwesenheit zeigten sich als Teil des demographischen Gesamtverlusts erst nach dem Kriege. Andere Folgen machten sich dagegen sofort bemerkbar, allen voran die Asymmetrie der Generations- und Geschlechterstruktur, die nicht zuletzt ein sozialer Tatbestand war. Welche Veränderungen eintraten, vermag ein Vergleich des prozentualen Verhältnisses zwischen den wichtigsten Gruppen der Dorfbevölkerung unter dem Gesichtspunkt ihrer autonomen Subsistenzfähigkeit zu illustrieren: