1940 |
1941 |
1942 |
1943 |
1944 |
1945 |
|
Getreide, Zentner |
2,0 |
1,6 |
1,0 |
0,8 |
– |
0,7 |
Kartoffeln, Zentner |
1,2 |
0,4 |
0,3 |
0,5 |
– |
0,3 |
Geld, Rubel |
113 |
127 |
129 |
146 |
123 |
92 |
Quelle: Arutjunjan, Sovetskoe krest’janstvo, 340
Was zum Überleben blieb, war im Wesentlichen der Ertrag des privaten Hoflandes. Es ist gewiss bemerkenswert, dass die Zahl der Kolchoshöfe trotz der rapiden demographischen Auszehrung des flachen Landes in den frontfernen Regionen nur unwesentlich zurückging. Dabei verteilte sich die Verminderung noch ungleich und konzentrierte sich vor allem auf die Regionen, in denen die Industrie Dorfbewohner auf Dauer aufnehmen konnte (Ural, Südsibirien). In den meisten Regionen, besonders dort, wo sich Landwirtschaft einigermaßen lohnte, nahm die Zahl der Höfe sogar eher zu als ab. Dies mag zum einen aus der Rücksiedlung dorfstämmiger Stadtbewohner zu erklären sein, die hofften, auf dem Lande besser überleben zu können. Vorrangig aber war dieser paradoxe Tatbestand auf die wachsende Unentbehrlichkeit der privaten Nebenwirtschaft zurückzuführen. Wo der verteilbare Restertrag des Kolchos nur noch zum Hungern reichte, wurden die eigene Kuh, Schweine, Geflügel und sonstige Kleintiere samt des halben Hektars Garten- bzw. Hoflandes zur letzten, endgültig unverzichtbaren Nahrungsquelle. Mehr noch, angesichts der allgemeinen Lebensmittelknappheit eröffneten sie auch eine günstige – und zumeist die einzige – Möglichkeit, Geld einzunehmen oder durch Naturaltausch dringend benötigte industrielle und sonstige, nicht selbst herstellbare Güter, vom Salz bis zu landwirtschaftlichen Geräten, zu erwerben. Partei und Staat duldeten diese Entwicklung, weil sie erkannten, dass nur sie Schlimmeres verhütete. Überleben und Sieg hatten Vorrang vor Sozialismus und Doktrin.
Bei alledem sollte das Konsumniveau der Landbewohner nicht überschätzt werden. Man mag es angesichts der völligen Überraschung durch den deutschen Überfall, des niedrigen Produktivitätsniveaus und des temporären Verlusts der fruchtbarsten Gebiete als große Leistung würdigen, dass ein Massensterben anders als am Ende des Bürgerkriegs oder nach der Zwangskollektivierung ausblieb. Aber der Preis war hoch. Der ‹große Hunger› konnte sozusagen nur durch den alltäglichen ‹kleinen Hunger› vermieden werden. Details über die Ernährung der typischen Dorffamilie zeigen, dass sie zwar mehr Kalorien zu sich nahm als die städtische, aber nicht weniger einseitig aß. Da Getreide immer knapper wurde, rückte die Kartoffel auch auf dem Lande zum wichtigsten Grundnahrungsmittel auf. Sie lieferte alle wichtigen Nährstoffe und vermochte Mangelerscheinungen einzudämmen; aber ausgewogen war diese Kost ebenso wenig wie in den Städten. Hinzu kam, dass der Mangel an Gebrauchsgegenständen des Alltags, insbesondere an Kleidung und Schuhwerk, vom Grundbedarf an Hygiene nicht zu reden, noch größer war als in den Städten. Erst recht fehlte es weitestgehend an ärztlicher Versorgung, schulisch-beruflicher Bildung und allgemein infrastrukturellen Einrichtungen. Allerdings hatte das materiell-kulturelle Lebensniveau schon zuvor sehr zu wünschen übrig gelassen. Nicht zuletzt in dieser Hinsicht stach neben dem ‹Bruch› auch die Kontinuität ins Auge.[16]
Schon die stalinistische Herrschaft der dreißiger Jahre hatte auf ideologische Hilfe nicht verzichten können. Sie bedurfte ihrer sowohl zur legitimatorischen Abstützung als auch zur Erzeugung von Engagement. Neben anderen Zwecken sollten Indoktrination und Propaganda bewirken, was materielle Anreize nicht zu sichern vermochten. Der Krieg trieb den Bedarf an Leistungsbereitschaft auf die Spitze. Zugleich verringerte er die Mittel seiner Befriedigung drastisch. Es lag nahe, die wachsende Kluft mit zusätzlichen ideologisch-geistigen Antrieben zu füllen. In vieler Hinsicht geschah damit in der Sowjetunion Ähnliches wie in den anderen kriegführenden Staaten auch. Dessen ungeachtet gab es nicht nur in der konkreten Ausgestaltung der moralisch-weltanschaulichen Unterfütterung des Abwehrkampfes bezeichnende Eigenarten, sondern auch in der situationsbezogenen politischen Instrumentalisierung. Während die Werte und Ziele, für die Deutschland den Krieg vom Zaun brach und die Großbritannien und die Vereinigten Staaten verteidigten, weitgehend dieselben blieben, änderten Stalin und seine Gehilfen den ideologischen Kurs nach dem Überfall merklich: An die Stelle des Sozialismus trat endgültig der Patriotismus. Wohlgemerkt, auch vaterländische Appelle waren nicht neu. Wie erwähnt, gehörte die Beschwörung russischer Vergangenheit und Größe in Verbindung mit einer Reorientierung auf konservative soziale Werte zur Essenz der stalinistischen Konsolidierung nach der ‹Wende›. Allerdings stand sie bis zum Krieg im Schatten des überragenden Ziels des Sozialismus und machte dessen abstrakte Theorie, wie man argumentiert hat, gleichsam massenkompatibel.[1] Der deutsche Überfall veränderte die Gewichte in diesem eigenartigen Amalgam. Offensichtlich erkannte die Führung, dass die patriotische Mobilisierung umfassender und wirkungsvoller sein würde als die sozialistische. Auch wer dem Regime fernstand, konnte gute Gründe haben, das Vaterland bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen. Nationale Loyalität sollte die ‹revolutionäre› überwölben. Mit Bedacht erinnerte der offiziöse Name, den die Propaganda dem neuen Krieg unverzüglich gab, an den Widerstand gegen Napoleon: Dem «Vaterländischen Krieg» von 1812 folgte nun – als stereotype Sprachregelung bis zum Ende der Sowjetunion (und darüber hinaus) – der «Große Vaterländische Krieg». Damit einher ging die weitgehende Unterordnung aller anderen geistig-moralischen Tätigkeiten und Maßstäbe unter das beherrschende Ziel der Verteidigung. In den meisten Bereichen, etwa im Bildungswesen, bedeutete sie eine weitere Festigung konservativer Werte; in anderen, wie in der Wissenschaft und Literatur, brachte sie aber auch eine Befreiung von ideologischen Zwängen mit sich. «Alles für die Front, alles für den Sieg» galt nicht zuletzt für die öffentliche Kultur.
Wie alles andere war auch der Appell an das «Volk» nicht vorbereitet, als die deutsche Wehrmacht in Weißrussland einfiel. Nach der ominösen elftägigen Sprachlosigkeit rief Stalin am 3. Juli 1941 zwar zum Widerstand gegen die faschistischen Aggressoren auf. Aber patriotische Töne traten noch ganz hinter die Rechtfertigung des Paktes mit dem nunmehrigen Feind und den Versuch zurück, den Nimbus seiner Unbesiegbarkeit zu zerstören. Erst als Moskau zu fallen drohte, auf dem Höhepunkt der deutschen Erfolge und sowjetischen Niederlagen, wandte sich der Diktator mit nationalen Parolen an seine Untertanen. Dazu nutzte er die Feier zum 24. Revolutionsjubiläum am 6. November 1941 in der prächtigen Metro-Station «Majakovskaja». Psychologisch zwingend, ließ er sich weder von der gedrückten Stimmung noch von der unheilvollen Gesamtlage beirren. Vielmehr konstatierte er umgekehrt das Scheitern der deutschen «Blitzkriegs»-strategie, rief zum unbedingten Widerstand auf und prophezeite den Untergang des Gegners. Gleichsam als Begründung dieser Zuversicht und als Motivation für den geforderten, zu allen Opfern bereiten Siegeswillen nahm er die gesamte russische Geschichte und Kultur in Anspruch. Zwar standen Symbolfiguren des sowjetischen Sozialismus am Anfang seiner Reihung, aber Stalin scheute nicht mehr davor zurück, auch andere, einst für gestrig erklärte Geistesgrößen in das nationale Erbe aufzunehmen, das es mit allen Kräften zu verteidigen gelte. Nach Plechanov und Lenin nannte er (unter anderem) Puškin, Tolstoj und Čechov sowie Glinka und Čajkovskij; und durchaus im Sinne einer Steigerung fehlten mit Blick auf die aktuelle Lage an letzter Stelle auch die klangvollsten Namen der russischen Militärgeschichte nicht: die von A. V. Suvorov, des siegreichen Feldherrn Katharinas II. auf den Schlachtfeldern Europas, und von M. I. Kutuzov, des Bezwingers Napoleons im Schicksalsjahr 1812. Vor den Soldaten auf dem Roten Platz sparte er die Repräsentanten der Kultur aus, aber es blieben die patriotischen Helden, Verteidiger der russischen Heimat gegen fremde Eindringlinge und siegreiche Eroberer: Aleksandr Nevskij (der die deutschen Ordensritter 1242 auf dem Peipus-See zurückschlug), Dmitrij Donskoj (der 1380 den ersten Sieg über die Tataren erfocht), Kuz’ma Minin und Dmitrij Požarskij (die den Widerstand gegen die polnische Invasion von 1612 organisierten) sowie Suvorov und Kutuzov. An der Nachahmung ihres ‹heldenmütigen Vorbilds› sollte, wie es danach in Zeitungsartikeln und Proklamationen hieß, auch die «tierische Natur» der «faschistischen Scheusale» zuschanden werden.[2]
Von Anfang an verband sich der forcierte Nationalismus mit fortgesetztem Lobpreis auf Stalin. Zu den zahllosen Tugenden, die ihm die zensierten und devoten Medien – neben der Presse nun vor allem auch der Rundfunk – schon seit Beginn des ‹Personenkultes› attestierten, traten weitere, von der Situation scheinbar geforderte. Stalin, der «Vater, Lehrer und Führer», wurde zum «Siegeszeichen». Er «schmiedete die Macht der ruhmreichen Roten Armee», er war «der große Feldherr», den keine «Stürme» schreckten. Stalin liebte «Heimat und Volk» und verabscheute die «Feinde der UdSSR»; unter seiner «ruhmreichen Führung» werde die Rote Armee die «feindlichen Heerscharen» vernichten. In welchem Maße patriotische Appelle den Rest der revolutionären Ideale von einst verdrängten, zeigte symptomatisch die Einführung einer neuen Staatshymne. An die Stelle der «Internationalen», die sich 1917 als Fanfare des ersten ‹sozialistischen Staates› der Welt geradezu anbot, trat 1943 ein Text, in dem es unter anderem hieß: «In Schlachten stählten wir unsere Armeen,/den erbärmlichen Eindringling werden wir schlagen!/Wir entscheiden in Schlachten das Schicksal von Generationen/und werden zum Ruhme unserer Heimat siegen!» Dass die nationale Propaganda dabei in Kriegszeiten auch Hass predigte, verband die Sowjetunion sicher mit den anderen kämpfenden Völkern. Die Deutschen wurden zu «Vandalen», die die Heiligtümer des russischen Volkes «besudelten», Museen großer Dichter in Pferdeställe verwandelten und sich derselben schändlichen Barbarei schuldig machten wie ihre «Vorläufer» bei der Eroberung Roms. «Brennende Heimatliebe» und «glühender Hass» waren Kehrseiten ein und derselben Empfindung.
In dieser Hinsicht fand die staatliche Propaganda im Übrigen engagierte Mitstreiter unter einigen führenden Literaten des Landes. Großer Verbreitung erfreuten sich Gedichte von Konstantin Simonov, die den genannten Gefühlen beispielhaft Ausdruck verliehen («Tötet ihn»). Texte von Aleksej Tolstoj standen ihnen an nationalem Engagement und Feindseligkeit nicht nach. Die größte Wirkung aber entfaltete in den gesamten Kriegsjahren Ilja Ehrenburg, dem einer der scharfsinnigsten Zeitzeugen ein «geradezu geniales» einschlägiges «Talent» zuerkannte. Dabei ließ er – in der Situation verständlich, aber aller Humanität spottend – Augenmaß nicht selten vermissen. Dass es «nichts Schöneres» gebe als «deutsche Leichen», verlor auch vor dem Hintergrund systematischer Massenmorde der SS nichts von seinem menschenverachtenden Zynismus. Sicher wurde Ehrenburg nicht deshalb im Frühjahr 1945 von der Pravda offiziös gerügt, sondern weil die sowjetische Führung bereits an die Zeit nach der Stunde Null und die Installierung von Ulbricht, Pieck und anderen ‹guten Deutschen› dachte, die unter ihre Fittiche geschlüpft waren. Dennoch gehörte Differenzierung nicht zu den Verstandesoperationen, die ihm (und der Zensur während des Krieges) unerlässlich schienen.[3]
Im Übrigen verwandelte sich die Konfrontation zwischen «Imperialismus» und «Sozialismus», wie man den Krieg mit dem Großdeutschen Reich zu Beginn nannte, propagandistisch mit zunehmender Dauer in eine Wiederholung des globalen Ringens zwischen deutscher und russischer Kultur. Auch in der sowjetischen Wahrnehmung rückte die ethnische Dimension immer stärker in den Vordergrund. Wenn der «Sowjetpatriotismus» anfangs als «Fortsetzung» des russischen ausgegeben wurde, so galt dies bei Kriegsende zumindest offiziös nicht mehr. Der berühmte Trinkspruch, den Stalin Ende Mai 1945 beim Empfang der Armeebefehlshaber im Kreml ausbrachte, formulierte den wahren Gehalt der nationalen Appelle in zu Recht berühmt gewordenen Worten: Der Georgier erhob das Glas «vor allem auf das Wohl des russischen Volkes, weil es die hervorragendste Nation unter allen zur Sowjetunion gehörenden Nationen» sei, «weil es in diesem Krieg die allgemeine Anerkennung als führende Kraft der Sowjetunion … verdient» und in seinem «Vertrauen» in die Regierung nie gewankt habe. Zwar mochte Stalin gute Gründe haben, dem großrussischen Volk für die freiwillige Gefolgschaft aufrichtig zu danken, die es ungeachtet aller Repression und Arbeitslager sicher gab. Die entscheidenden Schlachten des Krieges wurden bei allem strategischen Gewicht der Ukraine auf russischem Boden geschlagen. Die große Mehrheit der Bevölkerung und der Armee bestand aus Großrussen. Und allein in Großrussland gab es (ungeachtet der Vlasov-Bewegung) keine nennenswerte separatistisch-oppositionelle Bewegung. Dennoch lag die Bevorzugung auch in der Konsequenz der patriotischen Mobilisierung. Wer die Nation im historisch-kulturellen und ethnischen Sinne ins Bewusstsein heben und für aktuelle Zwecke nutzen wollte, musste über kurz oder lang Großrussland in den Vordergrund rücken. Nur hier gab es Geschichte und Helden, die keine Symbole für Selbständigkeitsbestrebungen waren. Nur hier gab es eine Heimatverbundenheit, die im Sowjetreich aufgehen konnte (aber nicht musste), weil dieses aus der russischen Revolution hervorgegangen war. In vieler Hinsicht brachte der russische Nationalismus nur offen zum Vorschein, was längst erkennbar war: dass der Föderalismus in Wahrheit ein russischer Imperialismus war. Auch darin lag eine tiefgründige Kontinuität, die den Krieg nicht nur mit den dreißiger Jahren verband, sondern viel weiter zurückreichte.[4]
Unter allen Kunstgattungen kam dem Film sicher die größte politisch-ideologische Bedeutung zu. Diese Einsicht war dem Regime wahrlich nicht neu; wie kein anderes vor ihm hat es sie von Beginn an beherzigt. Dennoch gab der deutsche Überfall auch dieser Entwicklung weitere Schubkraft. Sicher geschah in allen kriegführenden Staaten Ähnliches. Überall stiegen patriotische Gesinnung und Vaterlandsverteidigung zu vorrangigen Inhalten auf. Dennoch hat man überzeugend argumentiert, das Ausmaß der nationalen Indienstnahme in der Sowjetunion habe nicht nur analoge Tendenzen in den Vereinigten Staaten weit übertroffen, sondern sogar die Zugriffsmöglichkeiten des Goebbelsschen Propagandaministeriums in den Schatten gestellt. Hollywood musste sich auch im Zweiten Weltkrieg an den Besucherzahlen orientieren. In Deutschland begann die staatliche Fernsteuerung der Filmkameras erst nach dem Ermächtigungsgesetz. Berühmte Schauspieler und Regisseure konnten sich, und sei es durch Emigration, dem Drängen der nationalsozialistischen Auftraggeber und Zensoren entziehen. Allein in der Sowjetunion herrschten die zuständigen Volkskommissare und Parteifunktionäre von Anfang an und uneingeschränkt. Nur hier war eine Generation von Künstlern herangewachsen, die nichts anderes kannte und zum Teil auch nichts anderes wollte. Wenn ihre Begeisterung für das Regime nach 1930 erlosch, weil ihre Vorstellungen von Sozialismus mit der praktizierten Politik nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen waren, bedeutete das nicht unbedingt den vollständigen und unwiderruflichen Rückzug aus ihrem Beruf. Einige arbeiteten im zweiten Glied weiter und eilten dem Vaterland nach 1941 mit ihren Mitteln zu Hilfe. Andere waren ohnehin in Stalins Geiste erzogen worden und brauchten sich nicht zu überwinden, um zu tun, was der Diktator von ihnen erwartete.
So traten nach der deutschen Invasion alte und neue Regisseure in Erscheinung, die eines der beiden (neben dem ‹Aufbau des Sozialismus›) Hauptthemen der Stalinära variierten: Vaterlandsliebe und russische Größe. Ihre Produkte ergänzten Wochenschauen, ‹dokumentarische› Werke und kurze Agitationsstreifen (Nachfolger der agitki der frühen Jahre). Von siebzig Filmen, die zwischen 1942 und 1945 fertiggestellt wurden, befassten sich 49 mit dem militärischen Geschehen der Gegenwart. Hinzu kamen historische Inszenierungen, die indirekt, aber offensichtlich Bezug auf die aktuellen Ereignisse nahmen. Gerade für sie galt vielfach, dass ihre Sujets kaum verändert zu werden brauchten. Der Deutsche ersetzte den Kapitalismus, die Aufopferung für den wirtschaftlichen Aufbau verwandelte sich in die heroische Verteidigung der Heimat in und außerhalb der Roten Armee; die Helden der Vergangenheit zeigten sich häufiger in Feldherrnpose, wenn sie ihren Nachruhm nicht ohnehin schon militärischen Leistungen verdankten. So war es kein Zufall, sondern Resultat der propagandistisch-ideologischen Kontinuität, wenn zwei der ersten Werke, die unter den neuen Bedingungen in die Kinos kamen, noch unter den alten entstanden waren. Eisensteins Aleksandr Nevskij (1938) passte mit seiner antideutschen Pointe nicht in die Verbrüderungsphase seit August 1939, aber nahtlos zum Feindbild nach dem 22. Juni. Ähnlich taugte Pudovkins Eloge auf den unbesiegbaren Suvorov, im Frieden gedreht, ebenso gut für den Krieg. V. M. Petrov verfilmte 1937–39 die Taten Peters des Großen, 1944 die von Kutuzov. Starke Eingriffe musste der stalinistische Musterroman, Ostrovskijs «Wie der Stahl gehärtet wurde», hinnehmen. Der Regisseur M. S. Donskoj walzte vor allem, den aktuellen Umständen entsprechend, die wenigen Kriegsszenen in der Ukraine aus. Aber die weitgehende Reduktion der Wirklichkeit auf den ‹positiven Helden› blieb ebenso bestehen wie dessen makellose Idealität. Der propagandistischen Oberflächlichkeit entrann unter all diesen filmischen Epen nur ein Werk: Eisensteins Ivan der Schreckliche (1944, 1946), das Stalin selber über Ždanov anregte. Allerdings verdankt es seinen Rang ebenfalls nicht besonderer Differenzierung bei der Darstellung des Helden, den der amtierende Regent mehr und mehr bewundern lernte. Vielmehr gelang es Eisenstein trotz der plakativen aktuellen ‹Botschaft›, durch die maskenhafte Stilisierung seiner Gestalten und eine beinahe choreographische Inszenierung von Handlung und Ort eine atmosphärische Dichte zu erzeugen, die der immer noch jungen Kunstform abermals eine neue Qualität abgewann.[5]
Auf einem anderen Blatt steht, ob diese Veredelung des Personenkults zur Kunst auch die größte Wirksamkeit entfaltete. Die Wahrscheinlichkeit spricht dagegen. Bilderwelt und Themen der großen Mehrheit der Kriegsfilme waren populärer. Hier wurden der Partisanenkampf geschildert, das Heldentum des Bürgerkriegs beschworen, Hass auf die Invasoren und selbstlose Liebe zur Heimat bis hin zum Opfertod propagiert. Diese Filme griffen ans Herz und appellierten an Emotionen, die offensichtlich stärker waren als der Glaube an den Sozialismus nach zwanzigjähriger Indoktrination. Effektvoll und durchsichtig nutzten ihre Bilder ebenso wie die Plakate und Skulpturen klassische Muster der Darstellung von Leid, Folter, Mutterliebe, Elend und anderen menschlichen Grundbefindlichkeiten. Die Studios schufen Jeanne d’Arc-Gestalten und verhalfen, gemeinsam mit dem Radio, eingängigen Liedern zu enormer Popularität. Später hat sich das Sowjetregime bis über die Grenze des Geschmacks hinaus darum bemüht, solche Mythen und die korrespondierenden Feindbilder präsent zu halten. In welchem Maße die Absicht gelang, wird sich schwer sagen lassen. Aber zweifellos hinterließ die Kriegspropaganda tiefe Spuren im kollektiven Gedächtnis, an die man anknüpfen konnte.[6]
Im sowjetischen Bildungswesen führte der deutsche Angriff allem Anschein nach zu einem tieferen Bruch als im Bereich von Ideologie und Propaganda; zugleich verstärkte er auch hier manche Entwicklungen, die schon im Frieden eingesetzt hatten. Die Erschütterung traf Schulen und Universitäten dabei zunächst vor allem in materiell-institutioneller Hinsicht. Grundsätzlich galt zwar weiterhin die spät durchgesetzte allgemeine Schulpflicht. Die Wirklichkeit aber konterkarierte die Bestimmungen; Fronteinsatz, Massenflucht und allgemeine Mobilität leerten nicht zuletzt Schulbänke und Hörsäle. Wer zu jung war, um eingezogen zu werden, rückte eventuell auf verlassene Arbeitsplätze nach. Andere Jugendliche oder Studenten mussten vorzeitig einen Beruf ergreifen, um die Not ihrer Familien zu lindern. Im Rückblick räumte der Volksbildungskommissar offen ein, dass seine Behörden nicht mehr in der Lage waren, die Schulpflicht zu überwachen. Soweit man sich unter diesen Umständen auf Daten verlassen kann, sank die Zahl der Schüler allgemeinbildender Schulen zwischen 1940/41 und 1945/46 um 26 %, in den Klassen 8 bis 10 sogar auf 41 %, während sich die Studentenzahl nur um 10 % verminderte.
Auch inhaltliche Anpassungen an die Erfordernisse des Krieges blieben nicht aus. Schon in einer Grundsatzerklärung vom August 1941 kündigte das zuständige Regierungsmitglied an, künftig «besondere Aufmerksamkeit» auf die Vermittlung verteidigungsrelevanter Fertigkeiten legen zu wollen. Dies meinte nicht nur eine Bevorzugung naturwissenschaftlicher und technischer Unterweisung, sondern schloss auch Fremdsprachen ein, deren Beherrschung «wichtiger denn je» sei. Wenn Letzteres augenscheinlich ein Tribut an die neue Westallianz war, kam die geistige Rüstung ebenfalls nicht zu kurz: «Die Kenntnis der großen Vergangenheit des eigenen Landes, der Taten der Volkshelden, der Etappen des Freiheitskampfes des russischen Volkes gegen ausländische Eroberer, der genialen Schöpfungen der russischen Wissenschaft, Literatur und Kunst» – dies alles sollte nicht minder als «mächtige Waffe» der Erziehung zu ‹standhaften Verteidigern› der Heimat dienen.
Häufiger aber waren andere Probleme Gegenstand behördlicher Neuregelungen: Disziplin und Leistung. Die Vollmachten der jeweiligen Leitung wurden weiter gestärkt, auch kleinste «Grobheiten» streng geahndet und allgemein harte Strafen für ‹Herumtreiberei› und ‹Rowdytum› vorgesehen, was immer man darunter verstand. Im Resultat kamen diese Verordnungen einer Militarisierung der Schulen und anderer Bildungseinrichtungen nahe. Symptomatischen, wenn auch zugespitzten Ausdruck fand diese Tendenz in den Vorschriften, die der neue, im August 1943 eingeführte Schülerausweis enthielt. Der Staat verlangte darin nicht nur Aufmerksamkeit und Lerneifer, sondern hielt die Karteninhaber auch dazu an, «sauber gewaschen, gekämmt und ordentlich gekleidet zu erscheinen», «vom Platz aufzustehen», um die Lehrer zu grüßen oder Antworten zu geben, nicht zu schimpfen und zu fluchen und die «Ehre» der Schule «hochzuhalten». Dazu passte die Aufhebung der Koedukation seit 1943, die Einführung von Auszeichnungen in Gestalt von Medaillen und die Wiederbegründung von Kadettenschulen in der militärischen Laufbahn. Alte Sowjetbürger mochten sich an ihre Schulzeit unter dem Zarenporträt erinnern. Eben diese Abkehr von den Idealen der frühen Jahre war aber nicht neu. Vielmehr begann sie, wie gezeigt, mit dem endgültigen Aufstieg Stalins zur Macht. Ähnlich hatte auch die Bevorzugung der technisch-beruflichen Ausbildung bereits vor dem Krieg begonnen. Das Gesetz über die «staatliche Arbeitsreserve» vom Oktober 1940 brauchte nicht geändert zu werden. Mehr als 8,2 Mio. Personen durchliefen bis (zu ihrer Abschaffung) 1955 die entsprechenden Schulen. Als ‹Mobilisierungsregime› schon im Frieden konnte sich der Stalinismus im Kriege treu bleiben.[7]
Die beschleunigte konservative Wende im Gefolge der patriotischen Mobilisierung beschränkte sich nicht auf Presse, Propaganda, offiziöse Kunst und Bildung. Sie erfasste fast alle Bereiche der mentalen Orientierung und Verhaltenssteuerung durch soziokulturelle Normen und Werte. Erinnert sei auch in diesem Zusammenhang an die Aufwertung der Familie und die Rückkehr zur traditionellen Sexualmoral, die im erwähnten Gesetz von 1944 ihren Höhepunkt und Abschluss fand.[8] In wenigen anderen Fragen trat die Verbindung zwischen ‹Friedens›- und ‹Kriegs›-Stalinismus so greifbar zutage wie in dieser: Was spätestens seit dem Abtreibungsverbot von 1936 der Absicht diente, durch Stabilisierung der sozialen Kerninstitution Kräfte für das ehrgeizige gesamtgesellschaftliche Aufbauprogramm freizusetzen, ließ sich nach 1941 nahtlos der Hauptaufgabe unterordnen, auch die reproduktiv-demographischen Ressourcen in den Dienst des Überlebens zu stellen. Vor dem deutschen Überfall brauchte das Regime ‹Helden der Arbeit›, nachher ‹Helden des Kampfes›. Die Ziele änderten sich, Mobilisierung und Disziplinierung blieben. Insofern gehörten Sozialkonservatismus (mit der bemerkenswerten Ausnahme der weiblichen Berufstätigkeit) und patriotische Loyalität nicht nur zur Selbstbehauptung im Krieg, sondern auch schon zur ideologisch motivierten sozioökonomischen Aufholjagd der dreißiger Jahre.
Freilich verursachte der Kriegsbeginn auch tiefe Brüche in der sowjetischen Kulturpolitik. Neben dem Austausch der Feindbilder erwies es sich in einigen Bereichen auch als tunlich, die staatliche Haltung insgesamt zu revidieren. Eine solche Kehrtwende vollzog das Regime im Umgang mit der Kirche. Dabei kamen ihm die Feinde von gestern weit entgegen: Beide suchten unter den veränderten Bedingungen die Zusammenarbeit. Ihre Verständigung bedeutete keine Wiederherstellung der historischen symphonia, aber doch ein Zweckbündnis, das zumindest die Möglichkeit eines längerfristig tragfähigen modus vivendi einschloss. Die hauptsächliche (wenn auch vielleicht nicht einzige) Ursache dafür lag wohl in der Einsicht beider Seiten, dass ihnen die Kooperation Nutzen versprach. Dabei machte der Staat als der Stärkere die größeren Konzessionen. Der klare Sieger der nachrevolutionären Auseinandersetzung zwischen den beiden ältesten und mächtigsten Institutionen der russischen Geschichte kam zu der Erkenntnis, dass er auch religiöse Gefühle und Loyalitäten für die Selbstbehauptung der Nation in Anspruch nehmen sollte. Umgekehrt griff die Kirche einerseits auf uralte, untrennbar mit ihr verwachsene Grundüberzeugungen zurück, wenn sie in der Stunde der Not den Schulterschluss mit der weltlichen Macht zur Verteidigung Russlands suchte; andererseits mochte sie diese Hilfe mit der Hoffnung auf Honorierung verbinden.
In jedem Falle tat sie den ersten Schritt. Noch am Tage des deutschen Einmarschs verfasste der immer noch (seit 1925) amtierende Patriarchatsverweser Sergij ein Sendschreiben an die «Hirten» und die «Herde der Rechtgläubigen Kirche Christi», in dem er die Angreifer mit den tatarischen Horden Batus, den Rittern des Deutschen Ordens und den Heerscharen Karls XII. und Napoleons verglich. Er beschwor die Geschichte, um alle Orthodoxen an ihre «heilige Pflicht gegenüber der Heimat und dem Glauben» zu erinnern. Die Kirche habe stets das «Schicksal des Volkes» geteilt und werde es auch in dieser «Prüfung … nicht im Stich lassen». Sie segne die «Verteidigung der heiligen Grenzen» des «Vaterlandes» und bete für den Sieg. Nicht nur in der Bezeichnung der Eindringlinge als faschistische «Räuber» und dem Hinweis auf die «Missachtung aller Verträge» ähnelte diese Proklamation regierungsoffziellen Stellungnahmen. Dasselbe galt auch für die Anrufung der Siegesgewissheit suggerierenden Vergangenheit. Die alte Gleichsetzung von russischer Erde und orthodoxer Frömmigkeit stellte sich ebenso wieder ein wie die Gleichsetzung der Feinde mit Gotteslästerern. Sicher traf Letzteres in höherem Maße zu als zuvor. Dennoch lag die objektive Wirkung der kirchlichen Parteinahme, wie zweckorientiert sie immer gewesen sein mochte, auf der Hand: Angesichts der neuerlichen Aggression kannte die Kirche keine Kommunisten mehr, sondern nur noch Patrioten.
Ähnliche Verlautbarungen der folgenden Monate zeigten, dass die Koalitionsofferte keiner vorübergehenden Mutlosigkeit in schwerer Bedrängnis entsprang. Der Metropolit wiederholte seine Schmähungen der faschistischen «Höllenbrut» und lehnte, anders als einige Kirchenführer Weißrusslands, der Ukraine (vor allem autokephal-orthodoxe) und der Emigration, jedes Entgegenkommen strikt ab. Die Wiedereröffnung von Kirchen und die Einberufung von Synoden in den besetzten Gebieten brandmarkte er – mit guten Gründen – als durchsichtige «Maske der Frömmigkeit», die bloß von den «Untaten» ablenken sollte. Statt mit der Rolle einer ‹dritten Kraft› zu liebäugeln und angesichts der staatlichen Notlage zu versuchen, einen Teil der alten Macht zurückzugewinnen, setzte Sergij weiterhin auf den gemeinsamen Abwehrkampf. Zum Jahrestag der Roten Armee am 23. Februar 1942 spendete die Kirche eine Sonderkollekte für die Kriegskasse; das Beispiel machte Schule und trug zur Aufstellung einer neuen Panzerbrigade bei. Im Juni desselben Jahres veröffentlichte das Patriarchat eine Broschüre, die das neue Verhältnis zwischen Staat und Kirche förmlich zusammenfasste: «Die Wahrheit über die Religion in Russland» besagte nun, dass von einer Verfolgung nicht die Rede sein könne und die Kirche selbst einen Großteil der Schuld für die unbezweifelbare Krise nach der bolschewistischen Machtübernahme trage. Zum Revolutionsjubiläum Anfang November 1942 ging Sergij noch einen Schritt weiter. Er beugte sich dem allgegenwärtigen Personenkult und grüßte Stalin als «göttlich gesalbten Führer». Sicher überschritt diese Devotion das Maß lebensnotwendiger Anpassung erheblich. Sie kam unwürdiger Selbstverleugnung nahe, zu der aber das Heiligste Anlass gab, das die Kirche neben dem Glauben verehrte: die Eigenständigkeit Russlands.[9]
Soweit solche Ergebenheit auch eigene Interessen verfolgte, blieb sie nicht ohne Resultat. Regierung und Partei begrüßten die patriotische Wandlung und zeigten sich erkenntlich. Es war ein weithin wahrgenommener Akt von großer Symbolkraft, dass Stalin am 4. September 1943 den Patriarchatsverweser Sergij sowie die Metropoliten Aleksij von Leningrad und Nikolaj von Kiev im Kreml empfing. Sogar das offizielle Kommuniqué betonte Stalins «Verständnis» für die Wünsche der Kirchenfürsten und seine Versicherung, «dass die Regierung ihnen nicht im Wege stehen werde». Die Zusage wurde umgehend eingelöst. Bereits vier Tage später trat in Moskau eine Bischofssynode zusammen, um einen neuen Patriarchen zu bestimmen. Erwartungsgemäß fiel die Wahl auf Sergij, der damit das Amt formell übernahm, das er 18 Jahre lang verwaltet hatte. Am 12. September konnte erstmals seit 1933 die Zeitschrift des Moskauer Patriarchats wieder erscheinen. Eine Woche später erwies der anglikanische Erzbischof von York – als erster Vertreter seiner Kirche überhaupt – dem zweiten regulären geistlichen Oberhaupt der russischen Kirche seit Peter dem Großen die Ehre eines Besuchs. Anfang Oktober richtete die Regierung einen Rat für Kirchenangelegenheiten ein. Auch wenn sein Vorsitzender nicht den Rang eines Volkskommissars erhielt, nahm der Staat damit die Kirche wieder institutionell zur Kenntnis. Insofern traf der Spottname «NK-bog» (Volkskommissar/iat für Gott) einen richtigen Kern. Das ‹Konkordat› überdauerte sowohl den Krieg als auch den Tod des greisen Sergij im April 1944. Am letzten Januartag 1945 trat zum ersten Mal seit 1917 ein Konzil zusammen, um einen neuen Patriarchen zu wählen. Anders als anderthalb Jahre zuvor fand die Versammlung in großem Rahmen statt. In Anwesenheit der Patriarchen von Antiochia und Alexandria sowie zahlreicher anderer Repräsentanten des orthodoxen Glaubens ließ man es an feierlichem Zeremoniell nicht fehlen. Staat und Kirche profitierten auch davon gemeinsam: Die weltliche Macht meldete außenpolitische Geltungsansprüche an und zeigte innere Toleranz; die geistliche demonstrierte die Wiederherstellung ihrer Selbstbestimmung. Den Regierenden konnte die Zustimmung zu dieser Veranstaltung auch aus einem anderen Grunde nicht schwerfallen. Noch als Verwalter dieses Amtes hatte der neue Patriarch Aleksij dem «teuren Josif Vissarionovič» versichert, dass er ganz und gar der Linie seines entschlafenen Vorgängers zu folgen gedenke: «Befolgung der Kanones … einerseits, unwandelbare Treue zur Heimat und zu unserer von Ihnen geführten Regierung andererseits». Damit war klar, wer im neuen Bunde Herr und wer Knecht sein sollte.
Alles in allem bescherte die militärische Bedrohung der Kirche einen ungeahnten Aufschwung. Seit Sommer 1941 und besonders seit Herbst 1943 konnte sie sich so ungehindert betätigen wie nie zuvor zu sowjetischer Zeit. Sie verdankte diese Rekonvaleszenz der Not des Staates, der Notwendigkeit einer gesamtnationalen, von ideologischen Vorbehalten ungetrübten Mobilisierung der Bevölkerung und ihrer freiwilligen, weil tief in ihrer Geschichte wurzelnden Parteinahme gegen die deutschen Eindringlinge. Auf diese Weise erreichte sie die Wiederherstellung regulärer Verfahren der inneren Administration sowie eine gewisse Erweiterung ihres Aktionsfeldes. Andererseits blieb sie ein Schatten ihrer einstigen Bedeutung. Sollten in der UdSSR im Juni 1945 tatsächlich 16.000 orthodoxe Kirchen ihrem Bestimmungszweck gedient haben, so wären dies immer noch zwei Drittel weniger gewesen als vor 1917. Hinzu kam, dass das Machtungleichgewicht fortbestand und die Kirche nach wie vor keinerlei Rechtsgarantien genoss. Der Patriarch lebte von Stalins Gnaden. Nur breiter, durchsetzungsfähiger Rückhalt in der Gesellschaft hätte dies ändern können. Eine solche Loyalität (wie es sie in Polen auch unter kommunistischer Herrschaft gab) aber war nicht sichtbar.[10]
Mit der Kirche teilte die Wissenschaft den Vorzug, gebraucht zu werden. Daraus ergab sich ein ambivalentes Schicksal. Auf der einen Seite standen verheerende Zerstörung und finanziell-materielle Ausblutung angewandter Disziplinen, auf der anderen Seite die gezielte Förderung kriegs- und industriewichtiger Forschungen sowie eine gewisse Entideologisierung vor allem naturwissenschaftlicher Methoden und Konzepte. Beides ging Hand in Hand. Im Ural wurde ein eigenes Institut gegründet, das neue Lagerstätten knapper Bodenschätze erkunden und materialsparende Verarbeitungstechniken entwickeln sollte. Herausragende Physiker wie Ioffe und Kapica wurden (wie Oppenheimer und Teller in den Vereinigten Staaten) zur Mitarbeit an der Entwicklung neuer Waffen herangezogen. N. G. Flerov entdeckte kurz nach Kriegsbeginn die Kernspaltung und plädierte für den Beginn praktischer Versuche zur Entwicklung der Atombombe. Zwar konnte sie während des Krieges nicht mehr hergestellt werden; dem einschlägigen Institut unter der Leitung von I. V. Kurčatov gelang aber 1946 die Erzeugung einer Kettenreaktion und 1948 der Bau des ersten industriell nutzbaren Reaktors. Mit derartigen Forschungen war faktisch die weitgehende Befreiung der physikalisch-chemischen Theorie aus ideologischen Fesseln verbunden. Um den Idealismusvorwurf gegen die Quantenmechanik wurde es still. Die sowjetische Naturwissenschaft schloss in der Atomphysik weiter zur internationalen Forschung auf. Auch auf anderen Gebieten stellte sich eine Art ‹Waffenstillstand› ein. Obgleich ideologische Denkverbote nicht förmlich widerrufen wurden, zogen Verstöße weniger Sanktionen nach sich. Nutzen und Notwendigkeit setzten das Dogma vorübergehend außer Kraft.
Daraus dürften auch positive Rückblicke auf die Entstehungsbedingungen von Literatur im Zweiten Weltkrieg zu erklären sein. Im Windschatten der patriotisch engagierten Schriftsteller konnten sich diejenigen zum Teil freier bewegen, die sich nicht durch nationales Pathos hervortaten. Dennoch wird man von gedanklicher oder formaler Freiheit angesichts der ungebrochenen Geltung des «sozialistischen Realismus», fortgesetztem Terror und andauernder geistig-ideologischer Kontrolle durch Partei und Staat nicht ernsthaft sprechen wollen. Insofern war der Unterschied zur nachfolgenden Epoche ideologischer Strenge nur ein gradueller, kein qualitativer.[11]
So stellt sich die innere Entwicklung Russlands im Zweiten Weltkrieg alles in allem weit eher als Fortsetzung des Bestehenden denn als Bruch oder Neubeginn dar. Sicher hatte die militärische Konfrontation tiefgreifende Folgen für alle Bereiche von Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und (öffentlicher) Kultur. Sämtliche Aktivitäten und Ressourcen wurden auf die Bedürfnisse des nationalen Überlebens konzentriert. Dies geschah im Wesentlichen durch extreme Zentralisierung und Hierarchisierung der Weisungsbefugnisse über gewohnte Grenzen hinweg sowie durch die Zumutung enormer physischer Leistungen und Entbehrungen an die große Masse der Bevölkerung. Mit dieser Maßgabe aber konnten die meisten Strukturen und Prozesse in der Substanz fortbestehen. Im Bereich der politischen Verfassung und Herrschaft behauptete sich eine diktatorische Ordnung, die sich in allen richtungsweisenden Entscheidungen nicht nur widerspruchslos einem einzigen Willen fügte, sondern stets auch von der Androhung und Anwendung willkürlichen Terrors lebte. In der Wirtschaft blieben die zentrale Planung und Zuweisung der nötigen Kapazitäten, von Rohstoffen bzw. Halbfabrikaten bis zu Investitionsmitteln und Arbeitskräften, unberührt. Die bereits zuvor deutliche Tendenz zur Verlagerung der Schwerindustrie nach Osten, insbesondere in den Ural und nach Westsibirien, beschleunigte sich im Zuge der Evakuierung sogar erheblich. Die gesellschaftliche Schichtung verschob sich weiter zugunsten der Stadtbewohner, der Arbeiterschaft sowie der ‹wissenschaftlich-technischen Intelligenz› und administrativen Elite; Urbanisierung, Industrialisierung und ‹Bürokratisierung› machten ebenfalls eher raschere als langsamere Fortschritte. Im Bereich der Kultur geriet die Verbesserung der schulischen Breitenqualifikation zwar ins Stocken, die Tendenz aber hielt an; Kunst und Wissenschaft profitierten von der partiellen Zurücknahme ideologischer Kontrolle, die sich einerseits aus dem Versuch ergab, durch die Erzeugung vorgeblich unpolitischer patriotischer Loyalität größeres Engagement zu erzielen, andererseits aus der Präferenz für praktische Nutzanwendung bei Konflikten mit ideologischen Vorgaben. Vieles spricht dafür, den Kern dieser Kontinuität im totalitären Mobilisierungscharakter zu sehen, der im Vorkriegsjahrzehnt zur Substanz des stalinistischen Regimes gehörte. Der Zweck änderte sich mit dem deutschen Überfall; die grundlegenden Mittel aber blieben dieselben. Eine solche Sehweise kann nicht ohne Auswirkungen auf die Gesamtdeutung des Stalinismus bleiben. Darüber hinaus schließt sie Hypothesen für die nächste und letzte Periode der Stalinschen Herrschaft ein: Auch in dieser Phase müssten sich deren kennzeichnende Merkmale so weit erhalten haben, dass von ein und demselben politischen System und von einer Einheit, wenn auch gewiss nicht von Einheitlichkeit, gesprochen werden kann.