Politbüro |
Sekretariat |
Präsidiumd. Ministerrats |
Posten |
|
Stalin |
M |
M |
M |
Generalsekretär des ZK, Vorsitzender des Ministerrates |
Molotov |
M |
M |
Stellv. Vorsitzender des Ministerrates |
|
Malenkov |
M |
M |
M |
Sekretär des ZK, Stellv. Vorsitzender des Ministerrates |
Berija |
M |
M |
Stellv. Vorsitzender des Ministerrates |
|
Vorošilov |
M |
M |
Stellv. Vorsitzender des Ministerrates |
|
Bulganin |
M |
M |
Stellv. Vorsitzender des Ministerrates |
|
Kaganovicˇ |
M |
M |
Stellv. Vorsitzender des Ministerrates |
|
Andreev |
M |
M |
Stellv. Vorsitzender des Ministerrates |
|
Mikojan |
M |
M |
Stellv. Vorsitzender des Ministerrates |
|
Kosygin |
M |
M |
Stellv. Vorsitzender des Ministerrates |
|
Chrušcˇev |
M |
M |
Sekretär des ZK, 1. Sekretär des Moskauer Gebietsparteikomitees |
|
Švernik |
K |
Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets |
||
Suslov |
M |
Sekretär des ZK |
||
Ponomarenko |
M |
Sekretär des ZK |
||
Saburov |
M |
Stellv. Vorsitzender des Ministerrates, Vorsitzender Gosplan |
||
Malyšev |
M |
Stellv. Vorsitzender des Ministerrates |
||
Tevosjan |
M |
Stellv. Vorsitzender des Ministerrates |
||
Pervuchin |
M |
Stellv. Vorsitzender des Ministerrates |
Quelle: Brown, Political Leadership, 34; M = Mitglied; K = Kandidat
So verweist die ‹typisierte› Zusammensetzung der Parteiführung (vgl. Tabelle 34) in den Nachkriegsjahren auf alte Zustände und neue Entwicklungen zugleich. Zum einen wuchs der Anspruch der aufstrebenden Organisationen, vor allem von Wirtschaft, Staat und Armee, auf Teilhabe zumindest an der administrativen Macht; dem trug die neue Rolle des Ministerrats und sachbezogener, «kommissionsgestützter» Entscheidungen Rechnung. Zum anderen blieb das Bemühen der Partei erhalten, die ‹Teile des Ganzen› zu überwölben und zu integrieren. Eine Entscheidungselite bildete sich heraus, die sich dem Sachzwang der Repräsentation aller wichtigen Interessen immer deutlicher beugte, dabei aber das Monopol auf grundlegende Vorgaben durch die Partei nicht brechen wollte. Diese Tendenz markierte den Beginn jener Institutionalisierung des Interessenausgleichs zwischen den Subsystemen, ohne die ihre Stabilisierung auch über den Tod des Diktators hinaus kaum denkbar ist. Spätestens in der Endphase des Stalinismus – im Keim gewiss schon früher – wurde damit ein Wesensmerkmal der nachstalinistischen Ordnung sichtbar.[7]
Bei alledem fand der ansatzweise regularisierte Konflikt verschiedener Belange und Ressorts unter der unangefochtenen Dominanz Stalins im Rahmen der Grundordnung statt, die dieser geschaffen hatte. Soweit in den Rivalitäten der Machtelite auch gegensätzliche institutionelle Anliegen und nicht nur unterschiedliche politische Vorstellungen und persönliche Temperamente zum Ausdruck kamen, lassen sie sich ebenfalls in die beschriebene Interessenaggregation einordnen. Sie bildeten gleichsam pathologische Formen des Zwanges, divergierende Ansprüche zur Geltung – nicht unbedingt in Einklang – zu bringen und dabei die sakrosankte Oberhoheit eines unberechenbaren höchsten Willens respektieren zu müssen. Insofern verliefen die Renaissance von Fraktionskämpfen, wie sie seit der Abkehr von der NĖP nicht mehr aufgetreten waren, und die weitere Ausschaltung der Partei unterhalb ihrer obersten Führungsgremien kaum zufällig synchron. Was umstritten war, wurde – in vereinfachter vertikaler Schichtung betrachtet – gleichsam im schmalen Raum zwischen den oberen Parteiorganen und dem Diktator ausgetragen. Die Vorzimmer gewannen an Bedeutung, wenn auch nur dadurch, dass allein sie ins innerste Zentrum der Macht führten. Nie zuvor und nie danach waren sie von vergleichbarer Geheimhaltung umhüllt, zu keiner anderen Zeit so personalisiert wie in den Nachkriegsjahren. Als Symptom dafür darf gelten, dass die statutenmäßig vorgesehenen Plenarzusammenkünfte der Partei nicht mehr einberufen wurden. Das ZK etwa tagte bis 1927 wenigstens sechsmal im Jahr; zwischen 1936 und 1940 schrumpfte die Frequenz schon auf sieben Mal im Gesamtzeitraum; und zwischen 1941 und 1952 wurde es überhaupt nur vier Mal (wenn auch 1946/47 jeweils zu häufigen Sitzungen) einberufen. Parteitage, nach der Etablierung Stalins ohnehin selten geworden, traten nach 1939 gar nicht mehr zusammen.
Erst 1952 bequemte sich der Diktator nicht ohne eine besondere Absicht, eine neue Großveranstaltung dieser Art zuzulassen. Vom Alter gezeichnet, trat er selbst nur noch sieben Minuten in Erscheinung. Dennoch erfüllte die Veranstaltung selbstverständlich seine Wünsche. Sie stimmte einer Satzungsänderung zu, die aus dem Politbüro ein deutlich größeres «Präsidium» des ZK der fortan «KPdSU» genannten Partei machte. Dem neuen Gremium gehörten 25 Vollmitglieder und elf Kandidaten an, darunter qua Amt alle der von fünf auf zehn vermehrten Sekretäre des ZK, alle dreizehn Stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrats, der Vorsitzende des Zentralen Exekutivkomitees der Gewerkschaften sowie Repräsentanten der größten Republiksparteiorganisationen (namentlich der Ukraine und Weißrusslands). Zugleich wurde beschlossen, das Organisationsbüro abzuschaffen. Natürlich wusste Stalin, dass das neue Spitzengremium viel zu groß war, um wirklich arbeits-und entscheidungsfähig sein zu können. Deshalb ergänzte er seine Initiative durch den Vorschlag, ein «Büro» einzurichten, das die Tätigkeit des Präsidiums koordinieren sollte. Hier begegneten sich die meisten derjenigen wieder, die sich ohnehin in Kuncevo trafen – mit Ausnahme allerdings von Molotov und Mikojan, gegen die sich kaum zufällig auch auf dem ZK-Plenum, das dem Parteitag folgte, Kritik erhob. Eben darin hat schon Chruščev die Kernabsicht des gesamten Manövers gesehen: dass der einsame und zunehmend gebrechliche Diktator in seinem krankhaften Misstrauen und seiner Angst vor einem Machtverlust den ersten Schritt zu nichts Geringerem als einer neuen Säuberung tat. So gesehen konnten alle seine Jünger, von Molotov bis Berija, aufatmen, als ihr «geliebter Vater, Lehrer und Erlöser» starb, bevor seine Pläne über das Anfangsstadium hinausgelangten.[8]
Schon der Umstand, dass Stalin als bolschewistischer Generalsekretär zu höchster Macht aufstieg und erst kurz vor dem deutschen Überfall förmlich an die Spitze der Regierung trat, verweist auf das Übergewicht der Partei. Daran änderten auch die Schaffung zahlreicher Sonderorgane und die allgemeine patriotische Mobilisierung im Kriege, die beide eher dem Staat zugute kamen, wenig. Dennoch sollte man die politische Nachrangigkeit der Behörden im engeren Sinne nicht zur Einfluss-, geschweige denn Bedeutungslosigkeit überzeichnen. Wenn man die Umsetzung von Grundsatzentscheidungen als substantiellen Bestandteil des politischen Prozesses betrachtet, versteht sich die aktive Rolle der exekutiven Instanzen, insbesondere der oberen, von selbst. Auch die erwähnte Veränderung des Funktionärstyps im engsten Zentrum der Macht spricht für eine gleichsam unauffällige, aber darum nicht unwirksame Teilhabe des Staates (im Sinne öffentlich-hoheitlicher Administration) an der Herrschaftsausübung. Letztere ging in der hierarchischen Ausführung eines obersten Willens nicht auf. Eine Vielzahl von Instanzen war, wie stets, mit der Möglichkeit zu eigener Initiative involviert. Auch Verwaltung erzeugte Macht.[9]
Dabei halfen Eigenarten des Regimes. Der Primat der Partei konnte staatliche Institutionen nicht nur schwächen, sondern auch stärken, da deren Personal von der Partei gestellt wurde und Partei und Staat generell kaum voneinander zu trennen waren. Vor allem aber schlug die Verstaatlichung der Wirtschaft in diesem Sinne zu Buche. Während die Umbenennung der Volkskommissariate in Ministerien am 15. März 1946, so symbolträchtig sie war, die Sache selbst nicht berührte, gehörten diese Tatbestände zum Wesen des stalinistischen (und des späteren) Herrschaftsgefüges. Die Bemühung um umfassende Zentralisierung führte zu einer Aufblähung des Ministerrats (wie man nun wieder sagte), verbunden mit einer deutlichen Gewichtsverschiebung zugunsten der industriellen Ressorts. Typisch waren daneben «Staatskomitees» im Range, aber ohne die förmliche Struktur von Ministerien. Insofern bietet sich eine grobe Dreiteilung aller obersten, im Ministerrat vereinigten staatlichen Behörden in funktionale Ministerien klassischen Typs (zum Beispiel für Inneres, Justiz, Finanzen), Industriezweigministerien und Staatskomitees wie dem Gosplan an. In den Industrieministerien setzten Hauptabteilungen die branchenmäßige Zuständigkeit fort (im Ministerium für Eisenmetalle zum Beispiel allein dreizehn), während andere dieser einst als Verkörperung des ‹Bürokratismus› attackierten glavki übergreifende, gleichsam systematische Aufgaben (Finanzen, Personal) übernahmen. Angesichts der außerordentlichen Bedeutung der Wirtschaft ergab es sich beinahe von selbst, dass die Industrieministerien die anderen numerisch an die Wand drückten. So vereinigte der Ministerrat Anfang 1947 die stattliche Zahl von 57 – nach anderen Angaben 59 – Ressorts, von denen 52 als zentrale Steuerungsbehörden von Industriezweigen gelten konnten. Allerdings bildete diese Zahl auch den Wendepunkt der quantitativen Entwicklung. Die Einsicht setzte sich durch, dass die wirtschaftlichen Lenkungsapparate schon deshalb in dieser Weise nicht weiterwachsen konnten, weil sie nicht mehr zu kontrollieren waren. Hinzu kamen zahlreiche Kompetenzüberschneidungen und Doppeltätigkeiten. Nach Zusammenlegungen schrumpfte die Zahl der Ministerien 1949 auf 48, blieb aber danach etwa konstant. Einen tiefen Schnitt nahmen erst Stalins Erben vor, als sie den administrativen Wasserkopf im März 1953 auf 25 Ministerien halbierten.[10]
Trotz Bürokratisierung und Überzentralisierung, die den Staatsapparat gerade in den letzten Jahren Stalins prägten, enthielt diese Entwicklung auch positive Veränderungen. Vor allem die technisch-industriellen Fachministerien wurden von qualifiziertem Personal geleitet. Die Chefs selbst hatten in der Regel ein ingenieur- oder naturwissenschaftliches Studium absolviert. Überwiegend standen sie ihren Behörden relativ lange vor, so dass sie einschlägige Erfahrungen sammeln konnten. Sachwissen und politisch-administratives Geschick versetzten sie häufig in die Lage, ihre Interessen auch gegen Widerstände zur Geltung zu bringen. Vielfach entzog sich ihre Tätigkeit auch wirksamer Kontrolle durch übergeordnete Instanzen. Was exekutiert wurde, bestimmten die Exekutoren. So gesehen fand, zumal im Vergleich mit der frühen Sowjetzeit, eine Professionalisierung vor allem der Wirtschaftsverwaltung statt. Ob totalitäre Herrschaft auch deshalb an Grenzen innersystemischer Funktionsfähigkeit stieß, ist eine Definitionsfrage. Eventuell wäre ihr Begriff nur so zu fassen, dass diese Abhängigkeit von vornherein eingeschlossen ist.[11]
Der Hinweis auf die Verfassung und Rätestruktur war jedenfalls nach wie vor das schwächste Gegenargument. Weiterhin diente die komplizierte Pyramide von Deputiertenversammlungen und jeweils von ihnen gewählten Exekutivkomitees als formaldemokratische Fassade. Dabei blieb der Schein offenbar in Grenzen wirksam (und mithin auch zweckmäßig). Für die Leichtgläubigen und die vielen, die mitmachten und weder sahen noch sehen wollten, verbarg er die andersartige Wirklichkeit hinter einem Vorhang geschäftiger Gremien. Die zahllosen ehrenamtlichen Abgeordneten kamen, ob im Dorf, Kreis, Gouvernement oder in der Stadt, in aller Regel zusammen, um bereits Beschlossenem zu akklamieren. Alle Befugnisse lagen bei den jeweiligen Parteisekretären, die sich nur mit den staatlichen und wirtschaftlichen Funktionsträgern als den eigentlichen Fachleuten zu verständigen brauchten, um Maßnahmen durchzusetzen. Auch die sog. doppelte Unterstellung der Exekutivkomitees unter die jeweiligen Plenarversammlungen, von denen sie eingesetzt wurden, auf gleicher Ebene einerseits und unter die übergeordneten Exekutivkomitees andererseits stand weiterhin nur auf dem Papier. Faktisch galt eine strenge Hierarchie: Die niedrigeren Gremien hatten auszuführen und die jeweiligen Sowjets, wenn sie denn tagten, zu bestätigen, was die höheren befahlen. Die geschriebene Verfassung blieb weiterhin ebenso ein toter Buchstabe wie die bekannteste Verfassungsänderung. Was immer Stalin genau im Schilde führte, als er allen Unionsrepubliken im Februar 1944 das Recht verbriefte, «direkte Beziehungen zu auswärtigen Staaten» aufzunehmen und eigene Truppenverbände aufzustellen: ob ‹nur› eine stärkere Repräsentanz der UdSSR in der UNO oder mehr, ihre faktische Unterordnung bestand unverändert fort. Deshalb war es symptomatisch, dass ein so farbloser, zugleich altgedienter Funktionär wie Švernik den langjährigen Vorsitzenden des Obersten Sowjets M. I. Kalinin nach dessen Tod 1946 ablöste. Der alte wie der neue Inhaber des formal höchsten Staatsamts hatte wenig zu sagen.[12]
Mit der Stilisierung Stalins zum unfehlbaren Führer auf allen Gebieten hing zusammen, dass selbst die Armee nach Kriegsende schnell an innenpolitischem Gewicht verlor. Gerade weil sie einen grandiosen Sieg errungen hatte, musste sie ins Glied zurücktreten. Für zwei konkurrierende Einrichtungen war in der sowjetischen Autokratie ebenso wenig Platz wie für zwei ‹Führer›. Als Ždanov sich darum bemühte, die uneingeschränkte Vormacht der Partei wiederherzustellen, verdrängte er zuerst die Armee. Schon im Sommer 1945 übernahm einer seiner Anhänger das vakante Amt des Leiters der Politischen Armeeverwaltung. Im Herbst des folgenden Jahres wurde der zampolit, der politische Stellvertreter des Kommandeurs, auf Kompanieebene wieder eingeführt. Bolschewistische Funktionäre sicherten sich wieder ein Mitspracherecht bei Beförderungen. Die Militärs mussten sich abermals gefallen lassen, was sie im Herbst 1942 erfolgreich beseitigt hatten: die Kontrolle durch die Partei. Auch auf höchster Ebene setzte man eindeutige Signale. Solange Stalin lebte, duldete er niemanden, der auch nur in einem Kompetenzbereich hätte ebenbürtig erscheinen können. Deshalb musste selbst Žukov, der Triumphator, für seine couragierte Bemerkung bei der Verleihung des Titels eines Generalissimus an Stalin während der Siegesfeier vom 24. Mai 1945, auch «so verrufene Persönlichkeiten wie Franco und Tschiang Kai-schek» schmückten sich mit dieser Auszeichnung, büßen: Er wurde, wenn auch ein Jahr später, vom Posten des Oberkommandierenden des Heeres abgelöst und zum Chef des Militärbezirks von Odessa degradiert.[13]
Wie ihr Leitungsapparat blieb auch die Partei insgesamt vom Kriegsende nicht unberührt. Manches gibt sogar zu der Behauptung Anlass, dass sie sich stärker veränderte als alle anderen Säulen des Regimes. Während ihre höchsten Gremien angesichts der argwöhnischen Unberechenbarkeit und Brutalität ihres Führers gleichsam erstarrten, erging es ihr in mehrerer Hinsicht besser als je zuvor unter Stalins Zepter. Sie blieb von terroristischen Säuberungen im Stil der dreißiger Jahre verschont. Sie wurde von der Bevorzugung der Armee befreit. Und sie war dank der fähigen Führung Ždanovs und der Rückendeckung ihres Generalsekretärs auf dem besten Wege, wieder an jene Rolle anzuknüpfen, die ihr nach Idee und Struktur des Regimes zustand: Avantgarde von Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur zu sein. Denn die Einsicht wurde bestimmend, dass die nationale Mobilisierung der Bevölkerung während des Krieges sozialistische Inhalte über Gebühr in den Hintergrund gedrängt habe. Daraus ergab sich als parteipolitische Leitlinie: Es sollte wieder etwas Besonderes werden, registrierter Kommunist zu sein. Zwar vermerkte eine ZK-Resolution vom Juli 1946 mit Stolz, dass nun alle Welt in die Partei dränge; aber sie empfahl den unteren Komitees auch, diesem «Selbstlauf» den Riegel einer Prüfung vorzuschieben.[14]
Die bloße Mitgliederstatistik gibt diesen neuen Kurs nur unvollständig wieder. Der Andrang war nach dem Triumph zu groß, als dass eine absolute Verminderung der Mitgliedschaft möglich gewesen wäre. Nur zwischen 1945 und 1946 verzeichnete man einen leichten Rückgang von 5,76 Mio. Mitgliedern und Kandidaten auf 5,51 Mio. Aber auch diese Zahl lag immer noch höher als je vor Kriegsende. Danach setzte ein stetiges Wachstum ein, das die VKP(b)/KPdSU 1950 auf 6,34 Mio. und 1953 auf 6,9 Mio. Mitglieder und Kandidaten anschwellen ließ. Dessen ungeachtet wurde die Anweisung des ZK nicht vergessen. Vor allem nach 1948 fanden in manchen Regionalkomitees regelrechte Säuberungen (im ursprünglichen Wortsinne) statt, die in ihrem Ausmaß durchaus mit den Vorgängen der zwanziger und frühen dreißiger Jahre vergleichbar waren. Zum Teil wurden so strenge Kriterien angelegt, dass übergeordnete Parteikomitees Anlass zu Korrekturen sahen. Im Resultat wuchs die Partei sichtbar, aber doch erheblich langsamer, als demographisch möglich und sozioökonomisch vielleicht sogar angezeigt gewesen wäre.[15]
Deutlicher veränderte sich die soziale Struktur der Kommunisten. Während des Krieges waren Soldaten und Bauern in die Partei geströmt und hatten das Gewicht der unteren Schichten merklich vergrößert. Die stärkere Selektion der Kandidaten nach der Rückkehr zur ‹Normalität› begünstigte eine Umkehrung dieser Entwicklung. Angehörigen der technisch-administrativen Intelligenz und höher qualifizierten Arbeitern gelang es nun häufiger, den Ansprüchen zu genügen oder die Barrieren auf anderem Wege zu überwinden. Allerdings brachte die erneute Betonung der reinen sozialistischen Lehre Widersprüche hervor. Sie führte nicht nur zu genauerer Prüfung von Beitrittsgesuchen, sondern auch zur abermaligen Betonung des ‹Klassengesichtspunktes›, mithin – wenigstens theoretisch – zur Bevorzugung einfacher Arbeiter und Bauern. Eine solche Präferenz ist regional vor allem für die Jahre 1948–1951 bezeugt. Dabei ergaben sich erstmals auch deutliche Erfolge in der Werbung unter den Landbewohnern. Was in den zwanziger Jahren misslungen war und die Zwangskollektivierung erst recht nicht erreichte, stellte sich nun ein. Sicher spielte dabei der Vertrauensgewinn des Regimes durch den Sieg über den deutschen Aggressor eine Rolle. Desgleichen mochte sich die nun offensichtliche Dauerhaftigkeit der Herrschaftsordnung auswirken. Nicht zuletzt stärkte die Vergrößerung der Kolchosen durch ihre numerische Reduzierung im Zuge einer Reorganisation zwischen 1950 und 1952 die Kontrollmöglichkeiten der Leitung. Gewiss nicht zufällig fasste die Partei erstmals auf dem Lande Fuß, als das alte Dorf endgültig zerfiel, weil Dorf und Kolchos nun nicht mehr identisch waren. Im Gesamtergebnis stellte sich eine ausgewogenere soziale Repräsentation der Bevölkerung her als zuvor. Sie befriedigte zum einen das Bedürfnis der Partei, über ein ausreichendes Reservoir an qualifiziertem Führungspersonal zu verfügen; zum anderen erfüllte sie ihren neu bekräftigten Anspruch, Anwalt vor allem der Unterklassen in Stadt und Land zu sein.[16]
Zukunftsträchtiger waren indes andere Veränderungen dieser Jahre. Zum einen weisen alle Daten darauf hin, dass die Partei jung blieb, ihre Führung aber merklich alterte. Im ersten Nachkriegsjahr (1946) waren 18,3 % ihrer Mitglieder – gegenüber nur 8,9 % vor dem Krieg – jünger als 25 Jahre und 63,6 % jünger als 35 Jahre. Fast drei Viertel hatten den Schritt des förmlichen Beitritts nach 1941 unter dem Eindruck des deutschen Überfalls getan. Zugleich verlangsamte sich der Aufstieg in die Spitzengremien. Der Krieg dezimierte die Parteielite in weit geringerem Maße als der Terror. Wer vom Verschwinden der Oberen profitiert hatte, verfügte über relativ gute Chancen, seine neue Position zu halten. Während 49,5 % der stimmberechtigten Delegierten, die nach den großen ‹Säuberungen› 1939 zusammenkamen, unter 35 Jahre alt waren, belief sich dieser Anteil unter den Teilnehmern des 19. Parteitags 1952 nur noch auf 5,9 %. 1939 stellten die 40–50-Jährigen 15,5 % der regulären Deputierten, 1952 aber schon 61,1 %. Hinzu kam, dass sowohl die ‹Novizen› als auch die wenig älteren Führungskader einen höheren Bildungsgrad mitbrachten als ihre Vorgänger. Zwei Jahre nach der deutschen Kapitulation konnten etwa 6,3 % aller eingeschriebenen Bolschewiki auf ein abgeschlossenes Hochschulstudium verweisen; gut 20,5 % oder 1,3 Mio. Personen hatten eine höhere Schule («Mittelschule») oder eine vergleichbare Einrichtung besucht. Vor dem Krieg beliefen sich die entsprechenden Werte auf knapp 5,1 % bzw. 14,2 %. Besonders eindrucksvoll aber trat dieser Wandel in der Parteielite zutage: Während sich der Anteil der Hochschulabsolventen unter den Delegierten des 18. Parteitages 1939 nur auf 26,5 % belief, besaßen dreizehn Jahre später auf dem 19. Parteitag schon 58 einen entsprechenden Abschluss, die meisten davon in den Ingenieurwissenschaften. Somit deuten alle Indikatoren darauf hin, dass sich die Partei in den Nachkriegsjahren tiefgreifend wandelte: Sie repräsentierte die großen sozialen Gruppen der Bevölkerung angemessener als je zuvor und schloss die neue, technisch geprägte «Sowjetintelligenz» in ihre Führungskader ein. In mancher Hinsicht erreichte Stalin nun, nach zwei Jahrzehnten ebenso brutaler wie stabiler Diktatur und einem gewonnenen Krieg, was er mit dem gewaltsamen Aufbruch in die Planwirtschaft und total(itär)e Herrschaft der Partei beabsichtigt hatte.[17]
Probleme eigener Art bereitet die Frage nach Charakter und Funktion von Gewalt und Terror im späten Stalinismus. Auf der einen Seite ist unstrittig, dass Willkür und Zwang nach wie vor zu seinen tragenden Pfeilern gehörten. Auf der anderen Seite wurden organisatorische Veränderungen vorgenommen, die als Versuch verstanden werden können, die Allmacht des NKVD zu beschneiden. Auch Berija und sein Imperium wurden in die Cliquenkämpfe hineingezogen, die zu den charakteristischen Merkmalen der Nachkriegsjahre zählten. Zugleich waren beide in erheblichem Maße auch Inspiratoren und in jedem Falle Instrumente dieses verdeckten, aber umso zäheren, tödlichen Ringens.
Für kurze Zeit wurden «Sicherheits»- oder besser: Geheimpolizei und Innenressort bereits im Februar 1941 getrennt. Ob die Absicht einer weiteren Stärkung der allgemeinen Überwachung dahinterstand oder das gegenteilige Bemühen, den übermächtigen Apparat des NKVD nach den Exzessen des «Großen Terrors» zu domestizieren, bleibt weiterhin offen. Faktisch änderte sich womöglich wenig, da der Leiter des neuen Volkskommissariats für Staatssicherheit (NKGB), V. N. Merkulov, ein alter Vertrauter Berijas war. Schon im Juli wurde die Maßnahme angesichts des Kriegsausbruchs wieder aufgehoben, um im April 1943 – vor der militärischen Wende – abermals und bis zu Stalins Tod endgültig in Kraft gesetzt zu werden. In der Sache entstand auf diese Weise (ebenfalls unter der Leitung Merkulovs) die (O)GPU mit ihrer Kernzuständigkeit für die Bekämpfung innerer Opposition und der Grenzsicherung neu; zugleich wurde die Innenbehörde – von der Lagerverwaltung abgesehen, die man ihr beließ – auf die Oberaufsicht über die Verwaltung, Justiz und reguläre Polizei zurückgestutzt. Während die Umbenennung auch dieser Volkskommissariate in Ministerien im März 1946 eine papierne Angelegenheit blieb, tangierten zwei personelle Veränderungen an ihrer Spitze im selben Jahr die Herrschaft über das Land. Sowohl Berija als auch sein Gefolgsmann Merkulov mussten die Ressortleitung an Männer aus dem zweiten Glied abgeben. Nachfolger Merkulovs wurde der Spionagechef V. S. Abakumov. Der gefürchtetste aller Schreibtischtäter selber machte Platz für seinen Stellvertreter S. N. Kruglov, rückte aber zugleich vom Kandidaten zum Vollmitglied des Politbüros auf und übernahm als einer der Stellvertretenden Vorsitzenden im Ministerrat den Aufgabenbereich seines ehemaligen Ressorts. Insofern bleibt es ungewiss, ob er durch das Revirement tatsächlich an Macht verlor. Andererseits mochte er sich zurückgesetzt fühlen, zumal die Zuständigkeit für Sicherheitsfragen im Politbüro einem neuen Mitglied und Gefolgsmann des Erzrivalen Ždanov übertragen wurde. Gewiss hielt Berija im Hintergrund weiterhin viele Fäden in der Hand; gewiss standen ihm auch alte Loyalitäten zu Gebote und betraute ihn Stalin um dieselbe Zeit mit einer ebenso geheimen wie wichtigen Aufgabe, der obersten Kontrolle über das sowjetische Atomwaffenprogramm. Dennoch bleibt fraglich, ob diese Kontakte und Funktionen ausreichten, um den formalen Machtverlust voll zu kompensieren.[18]
Auch deshalb mochte Berija Ursache genug gehabt haben, gegen Ždanov und seine Anhänger Front zu machen. Dabei tat er sich mit Malenkov zusammen, der sich durch den ideologischen Zensor in seiner Kontrolle über den Parteiapparat bedrängt sah. Hinzu kam der junge M. A. Suslov, dessen Motive aus seinen eng benachbarten Aufgaben – er leitete zu dieser Zeit die Agitprop-Abteilung des ZK – zu erklären sein mögen. Kaum ohne Einverständnis Stalins nutzte die Troika verschiedene Kontroversen, um die Stellung ihres Opfers zu untergraben. So beteiligten sie sich 1947 an der Debatte über ein Buch von E. S. Varga, Direktor des Instituts für Weltwirtschaft und führender theoretischer Ökonom jener Tage, das eine zunehmende staatliche Intervention und als deren Folge wachsende Stabilität des Kapitalismus zu belegen suchte. Die Studie hatte das Pech, nach Ausbruch des Kalten Krieges nicht mehr in die sowjetische Außenpolitik zu passen. Sie konstatierte eine Erholung, wo der baldige Zusammenbruch erwünscht war. Da half es auch wenig, dass sie die Fakten auf ihrer Seite hatte. Auch in der parallelen ‹philosophischen› und wissenschaftstheoretischen Debatte stand Ždanov nach anfänglichen Siegen seit Mitte 1947 auf der ‹falschen› Seite, d.h. derjenigen, der sich Stalin nicht anschloss. Mit dem Scharlatan Lysenko triumphierte weniger die vaterländisch-sozialistische Wissenschaft als die Front der Ždanov-Gegner. Ein Übriges tat Mitte 1948 das öffentliche Zerwürfnis zwischen Stalin und dem jugoslawischen Partisanenkämpfer und Staatsgründer J. B. Tito, das über die kommunistische Welt hinaus großes Aufsehen erregte. Dieses an sich ferne Ereignis schwächte Ždanovs Position nachhaltig, da er nicht nur Chefideologe im Innern war, sondern als Gründer des «Kommunistischen Informationsbüros» (Kominform), der Nachfolgeorganisation der Komintern (seit September 1947), auch nach außen hin für die Verbreitung der reinen Lehre stalinistischer Prägung zu sorgen hatte. So dürfte es kein Zufall gewesen sein, dass der ehemalige Leningrader Parteichef auf demselben Kominformkongress im Juni 1948, der Tito «exkommunizierte», zum letzten Mal öffentlich auftrat. Stalins vermeintlicher Erbe verschwand von der politischen Bühne. Seine Gegner triumphierten, äußerlich vor allem Suslov, der 1947 zum ZK-Sekretär aufstieg, 1949 auch die Chefredaktion der Pravda übernahm und Anspruch auf ideologische Führerschaft (unterhalb Stalins, versteht sich) als Nachfolger Ždanovs erhob.[19]
Damit gaben sich die Drahtzieher indes nicht zufrieden. Sie überzeugten Stalin von der Notwendigkeit, ein strenges Exempel zu statuieren, um auch die Anhänger des Gemaßregelten ebenfalls zur Verantwortung zu ziehen. Die Vorbereitung dieser sog. Leningrader Affäre übernahm Berija, der ein hochverräterisches «Komplott» erfand, Geständnisse erpresste und die Strafen festlegte. Der Prozess fand vor einer «handverlesenen ‹Öffentlichkeit›» in den letzten Septembertagen des Jahres 1949 statt. Ein Jahr später folgten die drakonischen Urteile und deren Vollstreckung. Mehrere hochrangige Parteifunktionäre, allesamt Protégés und Anhänger von Ždanov, wurden hingerichtet, darunter als prominenteste: Voznesenskij, Leiter des Gosplan, Stellvertretender Vorsitzender des Ministerrats und Mitglied des Politbüros, A. A. Kuznecov, ebenfalls Mitglied des Politbüros, zugleich ZK-Sekretär und Angehöriger des Politbüros, P. S. Popkov, Erster Parteisekretär des Leningrader Gebiets sowie dessen Stellvertreter und der Vorsitzende des Exekutivkomitees des Leningrader Stadtsowjets. Andere regionale und lokale Parteiführer erhielten hohe Gefängnisstrafen. Dies war gleichwohl erst der Anfang einer gründlichen ‹Säuberung›, der zwischen 1949 und 1951 über 2000 Funktionäre, nicht wenige davon durch Erschießung und Lagerhaft, andere in Form ‹bloßer› Amtsenthebung zum Opfer fielen. Wer davon profitierte, wurde offensichtlich, als Malenkov im Februar 1949 unerwartet einer Leningrader Parteikonferenz präsidierte und – gleichsam als Vorbote künftiger Verhaftungen – neue Parteisekretäre inthronisierte. Ebenso umfassend wie der junge Molotov Anfang 1926 die Gefolgsleute Zinov’evs in Leningrad ausräucherte, räumte Malenkov ein knappes Vierteljahrhundert später mit den Anhängern Ždanovs auf. Allerdings hatten er und Berija wenig Grund zu ungetrübter Genugtuung. In Chruščev und anderen standen schon neue Rivalen bereit.[20]
In der Tat folgten noch zwei weitere Intrigen von jener Art, die den Begriff des mörderischen Komplotts rechtfertigt. Ironischerweise waren Berija und die Geheimpolizei dabei nicht nur abermals hilfreich, sondern allem Anschein nach am Ende auch selber Opfer. Ende 1951 musste Stalins eifrigster Exekutor nicht nur mitansehen, dass ein Anhänger Chruščevs anstelle eines seiner Schützlinge das Amt des Ministers für Staatssicherheit übernahm. Um dieselbe Zeit ‹entdeckte› Stalin eine ‹nationalistische Verschwörung› in Berijas Heimat Mingrelien, wo er seit langen Jahren Parteichef war. Der Diktator formulierte nicht nur höchstpersönlich eine scharfe Resolution ‹des ZK› gegen die Umtriebe, sondern beauftragte ausgerechnet Berija, das Widerstandsnest auszuheben. Welche Motive ihn im Einzelnen leiteten, ist bislang ungeklärt. Falls der Diktator die Loyalität Berijas auf die Probe stellen wollte, hatte er keinen Grund zur Klage. Sein Landsmann eilte selbst in den Kaukasus und rottete das erfundene Übel mit derselben Kaltblütigkeit aus, die er stets an den Tag gelegt hatte. Chruščev hatte sicher recht, als er Berija einen ‹Schurken› nannte, der über «unzählige Leichen zu höchsten Regierungsämtern» emporgestiegen sei.[21]
Bei der letzten Inszenierung schließlich wurde selbst das Minimum an Plausibilität unterschritten, dem offenbar auch eindeutig erlogene Anschuldigungen genügen mussten. Jedenfalls wurde der Vorwurf höchster Absurdität für das sog. Ärztekomplott Anfang 1953 besonders häufig bemüht. Einzelheiten sind bis heute im Dunkeln geblieben. Zum Glück für alle Betroffenen hinderte der Tod Stalin daran, seine finsteren Absichten zu verwirklichen. Der Auftakt lässt allerdings vermuten, dass eine ‹Säuberung› auf höchster Ebene geplant war. Immerhin richtete sich der Angriff gegen die Ärzte der Spitzenpolitiker, denen vorgeworfen wurde, durch falsche Medikamente unter anderem Ždanov umgebracht zu haben. Einer der fünf Marschälle der Sowjetunion unterstützte die Anschuldigung mit der Behauptung, er sei ähnlichen Machenschaften mit knapper Not entgangen. Sieben Mediziner, darunter Stalins langjähriger Leibarzt V. N. Vinogradov, wurden verhaftet. Der Diktator selbst soll dem Staatssicherheitsminister unter Androhung schlimmster Strafen befohlen haben, umgehend Geständnisse beizubringen. Was auf diese Weise zustande kam, brachte nach bewährtem Muster die nächsten Opfer ins Spiel: Juden sollten die Missetäter angestiftet haben – ein Freibrief für die wüstesten obrigkeitlich sanktionierten antisemitischen Verfolgungen seit der Zarenzeit. Die idée fixe der jüdischen Weltverschwörung erlebte einen bolschewistischen Epilog. Manches spricht dafür, diese Kampagne mit der Abschaffung des Politbüros ein Jahr zuvor in Verbindung zu bringen. Beide Maßnahmen waren geeignet, das Terrain für die Liquidierung der alten Garde, nicht zuletzt Berijas selbst, zu bereiten.[22]
So gibt es keinen Anlass, von der verbreiteten Auffassung abzurücken, dass Gewalt und Terror auch in den letzten Jahren der Stalinära unverzichtbare Instrumente des Herrschaftssystems blieben. Dies bekamen jene Millionen besonders schmerzlich zu spüren, die von der ersten und größten Verhaftungswelle unmittelbar nach Kriegsende mitgerissen wurden. Solženicyn führt sie als einen der Ströme von Leid und Blut auf, die sich in den nimmersatten Schlund des Archipels Gulag ergossen. Aber die Ungeheuerlichkeit des Geschehens hat auch andere Beobachter schockiert: dass Gefangene, Verschleppte, Vertriebene, Versehrte und Kranke, in jedem Fall überwiegend unfreiwillig außer Landes Geratene, oft Geschundene und Malträtierte, die nichts sehnlicher wünschten, als ihre Heimat wiederzusehen, dort vom NKVD in Empfang genommen und in Arbeitslager deportiert wurden. Ob Überläufer oder im Kampf Besiegte, ob «Ostarbeiter» oder Kollaborateure – wer immer in Feindesland gelebt hatte, stand unter pauschalem Verratsverdacht. Mit englischer und amerikanischer Hilfe kehrten ca. 2,27 Mio. Sowjetbürger und Emigranten zurück. Ca. 20 % von ihnen wurden zum Tode oder zu 25-jähriger Lagerhaft, 15–20 % zu fünf bis zehn Jahren Haft, 10 % zu mindestens sechsjähriger Verbannung nach Sibirien und 15 % zum Wiederaufbau in den zerstörten Gebieten verurteilt. Nur 15–20 % konnten nach Hause fahren; von den Übrigen dürfte ein erheblicher Teil ‹unterwegs› umgekommen oder verschollen sein. Dies alles führte dazu, dass die Lager sich füllten, anstatt sich zu leeren.[23]
Wenn das Maß des Kontrollierbaren nicht überschritten wurde, so lag das nicht nur an der Brutalität des Lagerregimes, sondern auch an der steigenden Todesrate als Folge der allgemein katastrophalen Versorgung. Die Lage besserte sich (in dieser Hinsicht) erst seit 1948. Den zitierten neuen Quellen zufolge gab es am Vorabend des deutschen Überfalls ca. 2 Mio. Insassen der Arbeitslager und -kolonien (das ‹Kulakenexil› nicht eingerechnet). Während des Krieges sank die Zahl (auf 1944 = 1,2 Mio.), da viele an die Front entlassen wurden, nicht mehr ernährt werden konnten oder einfach starben. Nach dem Krieg aber füllten sich die Lager wieder in einem solchen Ausmaß, dass der Höchststand des gesamten Zeitraums seit 1934 mit mehr als 2,5 Mio. 1949–1952 erreicht wurde. Danach sank die Häftlingszahl bis zu Stalins Tod nur leicht auf 2,47 Mio. ab. So steht eine denkwürdige Besonderheit des Stalinregimes außer Frage: dass nach der Kapitulation des Feindes und dem Ende der äußeren Bedrohung der Gulag nicht zusammenbrach, sondern grassierte. Der Krieg war schlimm, der Frieden in dieser Hinsicht nicht besser. Die Tage des Ivan Denisovič glichen einander wie eine Qual der anderen.[24]
Unabhängig davon bleibt zu klären, ob Terror und Gewalt deshalb in alter Form weiterhin konstitutiv für die Herrschaftsordnung waren. Zumindest die Vermutung liegt nahe, dass sie andere Personengruppen und andere Bereiche der politisch-sozialen Ordnung als vor dem Krieg erfassten. Funktions- und Amtsträger scheinen überwiegend ‹nur› auf höchster Ebene als Opfer von Cliquenkämpfen und Intrigen des Diktators selbst betroffen worden zu sein. Massenverhaftungen nach Art des «Großen Terrors» gab es – mit Ausnahme am ehesten der Kriegsheimkehrer – offenbar nicht. Die «Apparate» von Partei und Staat blieben im Großen und Ganzen unversehrt. Systematische Denunziation scheint weniger verbreitet gewesen zu sein. Sozusagen flächendeckende Gewalt verwandelte sich in punktuelle. Auch in dieser Hinsicht mag man im Spätstalinismus bereits Vorzeichen des Nachstalinismus erkennen. Als permanentes Herrschaftsmittel war Terror gefährlich, weil er sich der Berechenbarkeit entzog.[25] Die weitere Institutionalisierung des Regimes als Voraussetzung für Dauerhaftigkeit gebot auch seine Zähmung. Er verschwand beileibe nicht, wurde aber ‹fokussiert› – die Gehorsamen bemerkten ihn nicht, die anderen umso eher.
Trotz seiner Jahre und seiner bekannt ungesunden Lebensweise kam Stalins Tod schließlich überraschend. Dies hat zu vielerlei Spekulationen über seine Ermordung Anlass gegeben. Noch jüngste Biographien halten Argwohn für begründet. Auch wenn sich bislang kein Verdachtsmoment erhärten ließ, bleibt der Verlust des Autopsieberichts ebenso erklärungsbedürftig wie der Umstand, dass ein Bulletin über den Verlauf seiner letalen Erkrankung erst im Juli, vier Monate später, veröffentlicht wurde. Aber auch ohne diese Dokumente lassen sich die letzten Stunden des Diktators inzwischen recht zuverlässig rekonstruieren:[26]
Stalin ergötzte sich am Abend des 28. Februar gemeinsam mit Berija, Malenkov und Chruščev im Kreml-Kino und lud seine Kumpane, wie so oft, anschließend zu sich in die Datscha ein. Dort aß man gut und trank sehr viel bis zwischen fünf und sechs Uhr in der Frühe. Während die Gäste zurück in die Stadt fuhren, legte sich der Hausherr zu Bett. Als er entgegen seiner Gewohnheit auch am folgenden Abend (des 1. März) nicht um Tee oder Essen bat, wurden seine Leibwächter unruhig. Gegen zehn Uhr wagte es einer von ihnen, sein Zimmer zu betreten, um ihm die Post des ZK zu bringen, und fand ihn im Pyjama und bewegungsunfähig auf dem Teppich liegen. Aus Angst, etwas falsch zu machen, rief er keinen Arzt, sondern nur seinen Vorgesetzten an, der wiederum die engere Führungsriege im Politbüro informierte. Gegen drei Uhr nachts (am 2. März) kamen Berija, Malenkov, Chruščev und Bulganin nach Kuncevo, fanden den Diktator scheinbar schlafend auf einem Sofa, auf das ihn die «Tschekisten» inzwischen gelegt hatten – und beschlossen, ebenfalls aus Angst vor fürchterlicher Strafe, sollte er sich erholen, wieder nach Hause zu fahren. Kurze Zeit später wurden sie von den Wachen erneut mit der Nachricht gestört, Stalins Schlaf sei ungewöhnlich. Nicht vor fünf Uhr morgens fanden sie sich wieder in Kuncevo ein. Nun erst entschieden sie, Ärzte hinzuziehen, fremde allerdings, da Stalins Leibarzt samt seinen fähigsten Kollegen im Zuge des ‹Ärztekomplotts› verhaftet worden war. Die Mediziner diagnostizierten einen Hirnschlag mit anschließender Lähmung und versorgten den Schwerkranken, so gut es ging, in seiner Wohnung, wo er etwa drei Tage später, am 5. März, um 9.50 Uhr, starb.
Während dieser Zeit hielten Berija und Malenkov, Vorošilov und Kaganovič sowie Bulganin und Chruščev jeweils zu zweit Wache. Vor allem Berija benahm sich auffällig. Als der Diktator unrettbar im Sterben lag, soll er in den Kreml geeilt sein und dessen später leer vorgefundenen Tresor ausgeräumt haben. Wenn es ein Testament und belastendes Material gab, so nahm er es an sich. Und nach dem ‹entsetzlichen› Todeskampf und endgültigen Ableben Stalins, als alle anderen, die um sein Bett standen, in ehrlicher Erschütterung und tiefer Trauer verharrten, rief er «mit unverhohlenem Triumph» sofort nach seinem Wagen und eilte davon. Aber dies sind subjektive Urteile von Augenzeugen, die ihn ebenso hassten wie fürchteten. Unbestritten ist jedoch, dass der Diktator, abhängig davon, wann ihn der Gehirnschlag ereilte, im Höchstfall immerhin fast 24 Stunden ohne ärztliche Hilfe blieb, weil niemand nach ihm zu schauen wagte. Dass Berija, wie seine Gegner früh argwöhnten, die Attacke durch eine schleichende Vergiftung provozierte, ist weder auszuschließen noch zu belegen. Die verbürgten Todesumstände sind aber auch unabhängig davon bezeichnend: Stalin starb, wie er in den letzten zwei Jahrzehnten gelebt hatte, vereinsamt und von servilen Heuchlern umgeben, die seine Rache noch fürchteten, als er faktisch schon im Sterben lag. Einen ganzen Tag und eine ganze Nacht ließ man ihn bewegungsunfähig liegen – ein Opfer seiner eigenen Tyrannei.[27]
Mit der Bevölkerung hatte die Wirtschaft der Sowjetunion besonders schwer unter dem deutschen Überfall gelitten. Was den Invasoren nicht schon beim Einmarsch unter die Ketten geriet, walzten sie spätestens beim Rückzug nieder. Wo die Verteidiger Hals über Kopf fliehen mussten, versuchten sie, nichts Brauchbares zu hinterlassen. Diese Politik der verbrannten Erde kostete die Sowjetunion 31.850 Industrieunternehmen oder etwa ein Drittel der zivilen Produktionsanlagen, ca. 24 % der vor dem Krieg bestellten Saatfläche und ein gutes Drittel des größeren, für die Ernährung unentbehrlichen Hornviehs. Ganze Regionen, vor allem in Weißrussland, der Ukraine und am Nordrand des Schwarzen Meeres, glichen Trümmerfeldern. Straßen, Brücken und Schienen waren zerstört, Gewerbe und Landwirtschaft weitgehend ausgestorben. Etwa 1710 Städte und 70.000 Dörfer mit 1,2 Mio. bzw. 3,5 Mio. Häusern lagen in Schutt und Asche. Mitte 1945 fehlte es in der Sowjetunion an allem: an intakten Produktionsanlagen und Äckern, an Nutz- und Zugtieren, an Nahrungsmitteln, Wohnungen und Geld. Zugleich wurden Millionen von Männern, oft für ein ganzes Leben geschwächt oder verkrüppelt, aus der Armee entlassen und reihten sich ein in den kaum weniger breiten Strom der Geflohenen und Evakuierten, die schon seit dem Frühjahr 1944 aus dem Osten in ihre Heimat zurückkehrten. Die wirtschaftliche Aufbauleistung, die bevorstand, war ebenso gewaltig wie das Ausmaß der erlittenen Schäden.[1]
In dieser schwierigen Lage hätte massive äußere Hilfe notgetan. Doch die internationalen Beziehungen entwickelten sich anders. Schon wenige Monate nach der deutschen Kapitulation stellten die Vereinigten Staaten alle kostenlosen Lieferungen nach dem lend-lease-Abkommen ein. Ein Dreivierteljahr später, im Februar 1946, gab das berühmte «lange Telegramm» von George F. Kennan, Stellvertreter und politischer Berater des US-amerikanischen Botschafters in Moskau, die politische Begründung für den beginnenden «Kalten Krieg». Materielle Unterstützung – die nur aus den USA kommen konnte – für den geschundenen, nunmehr beargwöhnten Alliierten von gestern verbot sich unter diesen Umständen von selbst. Umso entschiedener hielt sich die Sowjetunion an den Territorien schadlos, in denen sie ungehindert schalten und walten konnte. Auf Panzer und Gewehre der Roten Armee gestützt, installierte sie in Ostmitteleuropa, ihrer deutschen Besatzungszone und Teilen Südosteuropas nicht nur Marionettenregierungen und diktatorische Regime heimischer Prägung, sondern transportierte auch ab, was immer beweglich und brauchbar schien. In besonderem Maße litt die spätere DDR, da sie über ihre Zugehörigkeit zum besiegten Land hinaus auch am meisten zu bieten hatte. Mehrere tausend Fabriken, darunter hochmoderne wie die Carl-Zeiss-Werke in Jena, wurden mit etwa 12.000 Zügen in die Sowjetunion verfrachtet. In den übrigen Staaten, von Polen bis Rumänien, lohnte die Demontage, die dennoch stattfand, weit weniger. Welchen Sachwert diese Art von Reparations-Selbsthilfe besaß und welchen Nutzen sie dem wirtschaftlichen Wiederaufbau der Sowjetunion brachte, lässt sich bis heute nicht genau angeben. Eine kenntnisreiche Schätzung beläuft sich auf 10 % aller fixen Staatsinvestitionen der Jahre 1945 und 1946, eine andere nennt die «erhebliche» Größenordnung von 10 Mrd. Dollar (in Preisen von 1938). Hinzu kamen bald Zwangslieferungen zu Niedrigpreisen aus den neuen Satellitenstaaten, die der sowjetischen Industrie gleichfalls halfen. Dennoch: auch wenn der äußere Beitrag bedeutend war, blieb er lediglich ein zusätzlicher Faktor. Der Wiederaufbau verdankte sich ganz überwiegend eigener Kraft.[2]
Weil der große Sieg daher, äußerlich wie innerlich, bei aller Kontinuität einen Neuanfang brachte, barg die Gesamtlage zumindest wirtschaftlich durchaus Chancen für Veränderungen. Was politisch gefährlich und deshalb unwahrscheinlich war, hätte sich ökonomisch leichter, wenn auch nicht risikolos verwirklichen lassen. Fraglos gab es manche Erwartungen in diese Richtung, die sich aus den erwähnten Gesten der Regierung und den ungeheuren Opfern der Bevölkerung speisten. Einige Bauern in Uniform scheinen sogar die Aufhebung der Kolchosen für möglich gehalten zu haben (vielleicht in Erinnerung an die Freiheit, die ihre leibeigenen Vorfahren als ‹Lohn› für lebenslangen Militärdienst erhielten). Und der ein oder andere Arbeiter und Intellektuelle mag an die Rückkehr zur NĖP geglaubt haben. Nichts von alledem geschah. Auch der ökonomische Wiederaufbau stand ganz und gar im Zeichen der Restauration der Vorkriegsordnung.[3]
In der Industrie wurden erste Maßnahmen früh ergriffen. Das Ziel lag auf der Hand; die Produktion war so schnell wie möglich auf den Zivilbedarf umzustellen. Schon im Monat der Kapitulation traf das GKO die erste entsprechende Anordnung. Am 19. August legten Partei und Regierung fest, wie die neuerliche Umstellung zu organisieren war: Sie gaben Anweisung zur Ausarbeitung eines neuen, des vierten, Fünfjahresplans für die Jahre 1946–50. Dabei zeigte sich, dass der Übergang zum Frieden wirtschaftsorganisatorisch höchstens die außerordentliche Zentralisierung der Kompetenzen beenden, aber keinesfalls die zentrale Planung selber abschaffen sollte. Letztlich tat man in dieser Hinsicht wenig mehr, als die Industrieministerien und den Gosplan wieder in ihre alten Befugnisse einzusetzen. Die Fachressorts konnten erneut dirigieren. In welchem Maße sie auch entschieden, ist bereits eine Frage der Interpretation des Herrschaftssystems. Verbürgt scheint aber, dass die Eckwerte wie zuvor im Politbüro, d.h. von Stalin, festgelegt wurden. Dem entsprach, dass der einschlägige Beschluss (formal des ZK) über die Vorbereitung der neuen Planperiode das politische und ökonomische Hauptziel bereits vorgab – zum Ende des Jahrfünfts das Vorkriegsniveau der Schlüsselbranchen nicht nur zu erreichen, sondern zu übertreffen.
Während sich die Planbehörde unter der Leitung Voznesenskijs an die Arbeit machte, setzte in der höchsten politischen Führung erneut jenes Rekordfieber ein, das so wenig von der staatlich gelenkten Wirtschaft zu trennen war wie die Grundsituation der Rückständigkeit. In der erwähnten ersten längeren Rede vom Februar 1946 bemühte Stalin nicht nur den militärischen Sieg als historische Rechtfertigung von Staatswirtschaft und Zwangskollektivierung, sondern nannte auch konkrete Ziele für die Fortsetzung der Produktion im alten Korsett. Sie übertrafen die gegebenen Möglichkeiten so weit, dass der «längere Zeitraum» für ihre Verwirklichung, den der Diktator ansprach, sehr wörtlich zu nehmen war. 50 Mio. t Roheisen, 60 Mio. t Stahl, 500 Mio. t Kohle und 60 Mio. t Erdöl wurden überwiegend erst ein Vierteljahrhundert später erreicht. Was nach Maßgabe des Gosplan im März 1946 Gesetzeskraft erlangte, ging zwar über den Auftrag des ZK hinaus, blieb aber einigermaßen realistisch.[4]