Alle Entscheidungen und Aktivitäten fanden ihren natürlichen Maßstab in ihrer Wirkung. Soweit die Ergebnisse messbar waren, blieben sie überwiegend hinter den Erwartungen zurück. Weder die Gesamt- noch wichtige Einzelvorgaben des Fünfjahres- oder der anderen Pläne wurden erreicht. Damit verfehlte das Regime auch sein Hauptziel, bis zum Dekadenende die Kriegsschäden zu beseitigen und das Aufbauprogramm der dreißiger Jahre fortzusetzen. Einige Indikatoren seien genannt (vgl. Tabelle 36). Die Getreideproduktion, der wohl wichtigste Indikator für die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln, lag noch 1950 gut 15 % unter dem Niveau von 1940; im Durchschnitt der Jahre der vierten Planperiode (1946–50) betrug der Abstand sogar 32 %. An Gemüse standen im Durchschnitt der zweiten Dekadenhälfte 13 %, im offenbar schlechten Jahr 1950 sogar 32 % weniger zur Verfügung. Bei Fleisch, Milch, Zuckerrüben und Eiern fehlten im Planjahrfünft durchschnittlich jeweils etwa 35 %, 4 %, 25 % und 39 %; erst 1950 wurden die Mengen von 1940 zum Teil leicht übertroffen. Eine Ausnahme waren Kartoffeln, von denen sowohl im Jahresdurchschnitt (um 6 %) als auch im Schlussjahr (116 %) deutlich mehr erzeugt wurden als vor dem Kriege. Schon dies zeigt, wovon sich die Masse der Bevölkerung beim Wiederaufbau eher schlecht als recht ernährte. Dagegen verzerren die Wachstumsraten bei der Erzeugung von Rohbaumwolle im fernen, vom Krieg unberührten Uzbekistan in mancher Hinsicht das Gesamtbild. Der wertmäßige Rückstand der agrarischen Gesamtproduktion von 10 % im Durchschnitt der Jahre 1946–50 und bloßen 0,7 % im direkten Jahresvergleich zwischen 1940 und 1950 wäre deshalb entsprechend zu erweitern.

Bis zu einem gewissen Grade lässt sich der Rückgang aus einer Verminderung der Anbaufläche erklären. Der Schaden war bei Kriegsende zweifellos gewaltig, da etwa ein Viertel weniger Land bestellt werden konnte (113,8 Mio. ha 1946 gegenüber 150,6 Mio. 1940). Bis 1950 wurde in dieser Hinsicht aber viel erreicht und beinahe das gesamte Vorkriegsterrain (146,3 Mio. ha bzw. 97 %) wieder unter den Pflug genommen. Lediglich bei Getreide blieb ein Defizit von 7 %, während andere Kulturen sogar in etwas größerem Umfang angepflanzt werden konnten als zuvor. Die Folgerung liegt deshalb nahe, die Hauptursache für die zögerliche Erholung im geringen Produktivitätsfortschritt zu suchen. In der Tat zeigen die entsprechenden Berechnungen ganz überwiegend, dass die Hektarerträge im Durchschnitt der vierten Planperiode deutlich hinter denen der Jahre 1936–40 zurückblieben; ausgenommen davon waren auch in dieser Hinsicht Rübenzucker und Kartoffeln. Nicht anders stand es um die Viehzucht. Allerdings war die Entwicklung unterschiedlich. Während es 1951 wieder mehr Rinder, Schafe und Ziegen gab als zehn Jahre zuvor, blieb die Anzahl der Schweine und vor allem der Pferde (hier um fast 35 %) weiterhin hinter dem Vorkriegsniveau zurück. Letzteres wirkte sich nachhaltig auf die Erträge der Landwirtschaft aus, da Pferde als Zugkraft nach wie vor unentbehrlich waren.[12]

Alles in allem kam auch die auf sozialistische Siegesmeldungen verpflichtete offiziöse Darstellung für diese Jahre zu dem Ergebnis, dass die Lage zu Beginn des neuen Jahrzehnts in der Viehwirtschaft immer noch «angespannt» war und die Zieldaten des vierten Fünfjahresplans im Feldbau nicht erreicht wurden. Die Versorgung vor allem der nichtdörflichen Bevölkerung mit Lebensmitteln blieb prekär. Ungewöhnlich offen ließ die Übersicht auch eine wichtige Ursache für die enttäuschende Entwicklung erkennen: die ungleichgewichtige Förderung von Industrie und Landwirtschaft. Gewiss produzierten die Fabriken auch Traktoren und andere Maschinen, die geeignet waren, den Bodenertrag zu steigern. Nie zuvor verfügten Kolchosen und Sowchosen (an den Stückzahlen gemessen) über mehr Traktoren, Mähdrescher und Lastwagen als um die Jahrhundertmitte (in 1000): Ende 1940.531, Ende 1950.595 bzw. 182 gegenüber 211 und 228 gegenüber 283. Und gewiss konnten mehr Dörfer die symbolträchtige Errungenschaft der Elektrizität nutzen als je zuvor. Aber abgesehen von der Einsatzfähigkeit der Maschinen floss der Löwenanteil der industriellen Produktion in andere Sektoren, nicht zuletzt in die Rüstung und die Armee. Insofern kommt den Kennziffern für das Wachstum der beiden volkswirtschaftlichen Basisbereiche erhebliche Erklärungskraft zu: Im Vergleich zu 1940 (= 100) erhöhte sich die Werterzeugung der Industrie auf 173, die der Landwirtschaft aber nur auf 99, bezogen auf 1945 (= 100) stieg die entsprechende Industrieproduktion auf 189, die der Landwirtschaft auf 163.

Dieses Ergebnis hatte viele Ursachen, schwer veränderbar objektive und politisch erzeugte subjektive. Dabei scheinen Letztere überwogen zu haben. Schon der Umstand, dass die staatlichen Aufkaufpreise für die Kolchosprodukte bis zu Stalins Tod unverändert niedrig blieben und in Verbindung mit hohen Ablieferungsquoten nicht den geringsten Anstoß zu größerer Arbeitsleistung gaben, deutet darauf hin. Nach wie vor lohnte sich Einsatz nur in der privaten Produktion, die aber wieder an kürzerer Leine geführt wurde. Vor diesem Hintergrund legen die zitierten Indikatoren eine weitere Lesart nahe: dass die Führung von Partei und Staat analog zur Bevorzugung der Investitionsgüter gegenüber den Konsumgütern den größeren Teil der Ressourcen entgegen ihren Versprechungen nicht in die Landwirtschaft lenkte, sondern in die Industrie. Stalin misstraute den Bauern ebenso, wie er jedem ernsthaften Kurswechsel der Wirtschaftspolitik mit wachsender Skepsis begegnete. Auch wenn die Versorgung in seinem letzten Lebensjahr so kläglich wurde, dass der tägliche Kalorienkonsum eines sowjetischen Normalbürgers – laut Daten der eigenen Statistischen Zentralverwaltung – die offizielle Lagernorm kaum noch überschritt, weigerte er sich, einer Erhöhung der Aufkaufpreise, geschweige denn weitergehenden Reformen zuzustimmen. Seine ideologisch und zunehmend auch militärpolitisch begründeten Prioritäten blieben bis zuletzt unverändert.[13]

Andererseits trat die Konsumorientierung der Produktion nicht so weit in den Hintergrund, dass ein Schritt von großer Symbolkraft unmöglich geworden wäre: die Aufhebung der Rationierung. Nichts galt so sehr als Inbegriff von Krise und Mangelwirtschaft wie die Zuteilung von Grundnahrungsmitteln auf Bezugscheinen. So wie deren Abschaffung Anfang 1935 (wenn auch trügerisch) den Übergang zur Normalität und ihre Wiedereinführung im Sommer 1941 das Gegenteil anzeigten, weckte die deutsche Kapitulation 1945 Erwartungen, die auf längere Sicht ohne Glaubwürdigkeitsverlust nicht unerfüllt bleiben konnten. Allerdings bedurfte es mehrerer ökonomischer Voraussetzungen. Zum einen musste das Angebot an Grundnahrungsmitteln annähernd ausreichen. Zum anderen mussten Preise und Löhne so reguliert werden, dass die Güter auch für den normalen Käufer erschwinglich waren. Die Missernte von 1946 machte die Hoffnung zunichte, die organisierte Notversorgung schon im ersten Nachkriegsjahr beseitigen zu können. Hinzu kam der Umstand, dass der Unterschied zwischen den (1944 auch formell anerkannten) «kommerziellen Preisen» der Kolchosmärkte und den staatlichen Preisen zwar schrumpfte, aber noch zu groß war. Da er weiter verringert werden musste, bot sich der Einschnitt auch als Möglichkeit an, die von Inflation und Krieg geschädigte Währung zu sanieren. Im September 1946 wurden die staatlich fixierten Preise für rationierte Lebensmittel drastisch, im Durchschnitt um 250 %, heraufgesetzt. Um die Folgen einigermaßen aufzufangen, erhöhte man parallel, aber in sehr viel geringerem Maße, die (ebenfalls zentral festgelegten) Löhne. Der entscheidende Schritt folgte am 14. Dezember 1947, an dem alle Geldrubel im Verhältnis von 10:1 abgewertet wurden; ausgenommen waren lediglich kleine Vermögen von weniger als 10.000 Rubel, die man günstiger konvertierte. Löhne und Gehälter behielten ihren Nennwert. Somit vernichtete die Währungsreform einen Großteil der Barvermögen (einschließlich bäuerlicher Ersparnisse), zog aber auch spekulative Gelder aus dem Verkehr und reduzierte die Schulden erheblich. Zwei Tage später wurden die Rationierungskarten eingezogen und einheitliche Preise verfügt, die bei Lebensmitteln etwa 250 % und bei Industriewaren 320 % unter den kommerziellen lagen.[14]

An den mittelfristigen Resultaten gemessen, erreichte die Reform ihren Zweck. Bis zum Ende der Planperiode hatten die Einheitspreise Bestand. Danach drifteten die Forderungen der privaten Anbieter auf den Kolchosmärkten (die es nach wie vor gab) und der staatlichen Läden wieder stärker auseinander; bei Stalins Tod lagen die Ersteren erneut etwa 30 % über den Letzteren. Wichtiger aber war die Gesamtentwicklung von Handel und Versorgung. Wenn man den (einzig verfügbaren) offiziösen Statistiken glauben darf, so schloss der Einzelhandelsumsatz in den Staats- und Kooperativgeschäften wieder zum Vorkriegsniveau auf. Zugleich verlagerten sich die Käufe in die staatlich geführten Läden (unter Einschluss der kooperativen) zurück, deren Anteil, 1945 auf knapp die Hälfte geschrumpft, bis 1950 auf 88 % stieg. Die allermeisten Käufer mieden die Kolchosmärkte wieder. Dies war möglich geworden, weil auch die staatlichen Geschäfte nicht leer waren und die Waren dort dank gezielter Subvention billiger angeboten wurden. Bei Grundnahrungsmitteln reduzierten die Planer die offiziellen Preise sogar, wenn das Angebot nicht ausreichte. Dies mochte eine ideologisch konforme und politisch gefällige Geste sein, nur ergab sich die Konsequenz einer weiteren Verknappung nahezu zwangsläufig. Seit 1950 öffnete sich die Schere zwischen den staatlichen Preisen und denen der Kolchosmärkte auch wieder deutlich. Private Produkte blieben als Ersatz für staatliche «Defizite» und qualitativ gehobenes Komplement zum spartanischen Normalangebot weiterhin unentbehrlich. Wer sie sich nicht leisten konnte, lebte wie zuvor oder erneut hart am Rande des Hungers.[15]

Umso eher stellt sich die Frage, wie der sowjetische Staat den Wiederaufbau finanzierte. Dabei liegt die allgemeine Antwort angesichts der Einstellung der lend-lease-Lieferungen samt jeder anderen ökonomischen Hilfe aus dem westlichen Ausland nach dem schnellen Beginn des Kalten Krieges, angesichts enttäuschender Reparationsgewinne und (noch) sehr begrenzter Möglichkeiten zur ökonomischen Nutzung des entstehenden ‹informal empire› auf der Hand: dass die Masse der Bevölkerung selber durch ihre Arbeit und große materielle Anspruchslosigkeit die notwendigen Werte schuf. Ungeachtet dessen bleibt die Wahl der Mittel und Wege von Interesse. Auf der Einnahmenseite zeigen alle Daten an, dass der sozialistische Staat auch in der Finanz- und Steuerpolitik wieder zur Vorkriegsordnung zurückkehrte. Um die enormen Rüstungs- und Verteidigungskosten zu decken, hatte er noch 1941 eine deutliche Anhebung der direkten Abgaben im Vergleich zur indirekten Umsatzsteuer verfügt. Auch wenn die neue Einnahmequelle nicht ausreichte und der Staatshaushalt drei Jahre lang (1941–1943) eine Deckungslücke aufwies, verschob sich das Gewicht zwischen den beiden Ressourcen erheblich. Nach Kriegsende hob man die Sonderopfer auf und stützte sich wieder vorwiegend auf die weniger augenfällige, weil in den Preisen verborgene Umsatzsteuer. Deren Anteil stieg von 35,1 % der Einnahmen zur Zeit ihres niedrigsten relativen Aufkommens auf 62,1 % 1947 an. Zugleich erhöhte sich das Aufkommen aus einer zweiten, nicht minder charakteristischen Quelle: dem Verkauf der Erzeugnisse staatseigener Unternehmen. Sein Anteil stieg von 5,1 % 1946 auf 13 % 1953.

Auch die Ausgaben zeigten deutliche Veränderungen. Die hauptsächlichen Empfänger blieben zwar dieselben; aber die Gewichte verschoben sich in bezeichnender Weise. Schon im letzten Vorkriegsjahr (1940) war die höchste Summe in die Volkswirtschaft geflossen, die man in dieser Hinsicht angesichts der geringen Kapitalintensität von Landwirtschaft und Handel weitgehend mit der Industrie gleichsetzen darf. Eine erstaunlich hohe, beinahe gleich große Summe verschlang aber bereits die Rote Armee. Demgegenüber standen die «sozio-kulturellen Maßnahmen», darunter neben dem Bau und Betrieb von Schulen, Krankenhäusern, Theatern und Versammlungsgebäuden auch Sozialleistungen, sowie der Unterhalt der Verwaltung deutlich zurück. Im Krieg überflügelten die Verteidigungsausgaben aus zwingenden Gründen alle übrigen. Nach dem Krieg erreichten die wirtschaftlichen Investitionen schnell wieder ihren alten Umfang (1950 38,2 % der Ausgaben). Auch die «sozio-kulturellen Maßnahmen» wurden besser bedacht als 1940 (28,2 %). Demgegenüber gingen die Ausgaben für die Verteidigung (noch) und die Verwaltung zurück, wenn auch nur proportional.[16]

Der Krieg zerstörte nicht nur das wirtschaftlich-materielle Fundament der Bevölkerung, sondern auch ihre sozialen Beziehungen. Familien wurden auseinandergerissen, Freunde getrennt, Arbeitszusammenhänge zerschnitten. Was dem Einzelnen widerfuhr, veränderte auch das Ganze: Rekrutierung, Evakuierung, Flucht und Migration nivellierten die Verteilung von Macht, ‹funktionaler› Qualifikation, Einkommen und Prestige, die nach der Abschaffung des Privateigentums in erster Linie über den sozialen Status entschieden. Vor allem die Armee sog Angehörige sehr verschiedener Gruppen und Schichten auf; das gesamte Sozialgefüge veränderte sich. Dieser komplexe Vorgang musste mit dem Ende des Krieges wieder rückgängig gemacht werden. Nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Gesellschaft war zu re-‹konvertieren›. Hier wie dort standen dafür im Prinzip mehrere Wege offen. Auch wenn sich politische Grundsatzentscheidungen zu mächtigen Institutionen und einer beherrschenden Gesamtorganisation aller wesentlichen Bereiche von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur verfestigt hatten, blieben Kurskorrekturen möglich. Man hätte das Entlohnungssystem in der Industrie und Landwirtschaft ebenso ändern können wie die sektoralen Prioritäten der volkswirtschaftlichen Entwicklung. Angesichts der Kontinuität von Herrschaftsordnung und Herrschenden war dies aber wenig wahrscheinlich. In der Tat zeigte sich, dass der Begriff des Wiederaufbaus auch in sozialer Hinsicht wörtlich zu nehmen war: Die neue Gesellschaft sollte die alte sein.

Wie die meisten anderen sozialen Schlüsselgruppen musste die Arbeiterschaft – im engeren Sinne der außerhalb von Ackerbau und Viehzucht lohnabhängig Beschäftigten (unter Einschluss mithin von Bauwesen, Transport und Handel) – zu diesem Zweck erst wieder zusammengeführt werden. Wohl hatte sie den Krieg mit einem größeren Kern überdauert als die Bauernschaft, da die Rüstungsproduktion bei aller Bedeutung ausreichender Versorgung mit Lebensmitteln Vorrang besaß. Aber es waren nur ausgewählte Branchen, deren Personal, soweit es über Spezialqualifikationen verfügte, von der Einberufung verschont blieb. Überdies hatten viele von ihnen die Umsiedlung nach Osten auf sich nehmen müssen, so dass sie ebenfalls zumindest aus ihren außerbetrieblichen sozialen Bindungen gerissen wurden. Die weniger kriegswichtige Leicht- und Konsumgüterindustrie wurde nicht geschont. Trotz deutlicher Erholung seit 1943 hatte die Arbeiterschaft ihre Vorkriegsgestalt daher zum Zeitpunkt der deutschen Kapitulation weder numerisch noch in anderer Hinsicht annähernd zurückgewonnen.

Das Ende der Kampfhandlungen beschleunigte die Konsolidierung. Nach Maßgabe der neuen Prioritäten setzte sich auch die arbeitende Gesellschaft neu zusammen. Millionen von Menschen kehrten in ihre Heimat und Berufe zurück. Sie kamen aus verschiedenen Institutionen und Regionen, die ihnen transitorisch Unterschlupf und Auskommen geboten hatten. Zu nennen sind hier besonders drei solcher Quellen, aus denen sich die ‹neue Arbeiterschaft› nach dem Krieg auf dem Fundament des verbliebenen Kerns im Wesentlichen speiste.

(1) Der breiteste Strom floss naturgemäß aus der Armee zurück. Schon am 22. Juni 1945 begann die formelle Demobilisierung durch die Ausmusterung der dreizehn ältesten Jahrgänge. Weitere Entlassungen folgten in kurzen Abständen. Zugleich traf die Regierung organisatorische Vorsorge zur Wiedereingliederung der Rückkehrer. Auf allen Verwaltungsebenen wurden einschlägige Kommissionen eingerichtet. Sie trugen dazu bei, dass zum Beispiel von 324.000 Armeeangehörigen, die bis Ende 1945 ins Leningrader Gebiet zurückkehrten, 47 % an industriellen Werkbänken unterkamen. 1946 galt dies unter Einschluss auch gewerblicher Baustellen für 1,52 Mio. von 2,9 Mio., von denen viele über eine fachlich-handwerkliche Ausbildung verfügten. Alles in allem führte die Demobilisierung (trotz einer Friedensstärke der Roten Armee, die größer war als je zuvor) bis 1948 8,5 Mio. Menschen in die verschiedenen Bereiche der Volkswirtschaft zurück. Danach verlor diese Rekrutierungsquelle an Bedeutung.[1]

(2) Erhebliches quantitatives Gewicht kam an zweiter Stelle auch denjenigen gefangenen und verschleppten Sowjetbürgern zu, die sich bei Kriegsende im Ausland befanden. Offiziösen Angaben zufolge konnten oder mussten insgesamt – über die von den Alliierten Zurückgeschickten hinaus – bis Ende 1947 etwa 5,4 Mio. Heimkehrer ihr Leben in der Diaspora aufgeben. Was mit ihnen geschah, bleibt weitgehend im Dunkeln. Postsowjetischen Daten zufolge wurden 6 % von ihnen «Sondereinheiten» des NKVD zugewiesen, weitere 14 % anderen «Arbeitsbrigaden», insgesamt also ca. 860.000 Personen. Wenn die Übrigen überwiegend – anderen Angaben zufolge 59 % von insgesamt 4,1 Mio. – ins normale Berufsleben entlassen wurden (während 19 % in der Armee blieben), so hätten diese Repatriierten ebenfalls einen erheblichen Teil der entstehenden Arbeiterschaft in der Größenordnung von 2,4–3,1 Mio. gestellt.[2]

Des Weiteren drängten (3) auch die Flüchtlinge und Evakuierten wieder in ihre Heimat, obwohl sie kaum hoffen konnten, hier mehr als Ruinen und Asche wiederzufinden. Wenn die zitierte Schätzung von 7,5–10 Mio. offiziell Ausgesiedelter und 6,5–9 Mio. aus eigenem Antrieb Geflohener ungefähr zutrifft, dürften diese Remigranten die weitaus größte Gruppe derer ausgemacht haben, die nach dem Krieg in Fabriken und auf Bauernhöfen mithalfen, die normalen Lebens- und Wirtschaftsfunktionen wieder in Gang zu bringen. Dieser Befund gilt ungeachtet der Tatsache, dass manche Zwangsverpflanzte an ihren neuen Wohn- und Arbeitsstätten blieben. Nicht zuletzt sie trugen dazu bei, dass die Ostverlagerung der sowjetischen Industrie Bestand hatte. Der größere Teil der Investitionen floss allerdings, wie erwähnt, in die alten Standorte des Westens. Auch demographisch lag das Zentrum des Riesenreiches weiterhin in Europa. Dass die ‹Ostheimkehrer› dabei eine besondere Arbeitsmotivation und nicht selten eine ausgeprägte Loyalität gegenüber dem Staat erkennen ließen, der ihnen den heimatlichen Boden zurückgegeben hatte, leuchtet ein. Dagegen bestätigte der komplementäre, pauschale Kollaborations- und Korruptionsverdacht gegen die gewaltsam nach Deutschland Deportierten und die unter deutscher Besatzung am Ort Gebliebenen eher auf zynische Weise die böse Volksweisheit, dass ein Unglück das nächste nach sich ziehe.[3]

Zu erwähnen ist schließlich (4) eine Rekrutierungsquelle, die eine neuere Darstellung nachgerade als zeit- und regimetypisch wertet: unfreie Arbeit. Dazu gehörten Ende 1947 zum einen ca. 1,7 Mio. Gulag-Häftlinge, die an den Großbaustellen, in den Minen und in sonstigen Unternehmungen des NKVD bzw. nunmehr MVD tätig waren. Hinzu kamen nach dem Krieg ca. eine Million deutscher und japanischer Gefangener sowie eine gleich große Zahl intern Exilierter, darunter vor allem Wolgadeutsche. Zusammen stellten diese Gruppen mit ca. 3 Mio. Personen etwa ein Fünftel der ingesamt 12 Mio. Industrie- und Bauarbeiter, von der diese Studie für 1947 ausgeht. Gute Gründe sprechen aber dafür, ihnen auch solche Arbeitskräfte hinzuzurechnen, die persönlich frei waren, aber entweder – meist gleich aus ihren Berufsschulen – als ‹Arbeitsreserve› verpflichtet oder auf andere Art ‹organisiert› rekrutiert wurden (orgnabor). Die Zahl Ersterer betrug 1946 immerhin knapp 2,17 Mio., fiel im Folgejahr auf 578.000 und bewegte sich bis 1952 ungefähr auf diesem Niveau; die Zahl der ‹Arbeitsreservisten›, die überwiegend vom Lande kamen, lag zwar deutlich darunter, summierte sich aber für die Jahre 1946–52 ebenfalls auf gut 4,2 Mio. Vor allem in den ersten Nachkriegsjahren war unfreie Arbeit unverzichtbar. Nur mit ihrer Hilfe vermochte der Staat den hohen Blutzoll gerade an arbeitsfähigen Männern zu kompensieren; sie ‹füllte die Lücke›, die der deutsche Überfall riss. So kennzeichnend ihr Einsatz daher war, so problematisch blieb ihr Nutzen. Allein in der Extraktionsindustrie, in den sibirischen Gold-, Diamanten- und Kupferminen, beim Kohleabbau, beim Holzschlag oder in den großen Bauprojekten brachte sie offenbar nach wie vor Gewinn. Grundsätzlich aber war und blieb ihre Produktivität niedrig, so dass sich ihr Einsatz mit fortschreitender Technologie immer weniger lohnte. Das Ende des Wiederaufbaus zu Beginn des neuen Jahrzehnts markierte auch in dieser Sicht eine Zäsur. Selbst Berija konnte sich, wie erwähnt, den Konsequenzen einer Berechnung nicht entziehen, die ihm Innenminister Kruglov im Oktober 1950 vorlegte: dass die Bewachung eines Häftlings mehr kostete, als ein duchschnittlicher freier Lohnarbeiter verdiente.[4]