Auch Schulen und Universitäten blieben vom Versuch, das gesamte kulturell-geistige Leben wieder der Parteifuchtel zu unterwerfen, nicht verschont. Dabei hatten es die ideologischen Strategen einfacher als in anderen Bereichen. Die Erfordernisse des Krieges arbeiteten ihren Wünschen weitgehend vor. Es konnte bei den Grundsätzen bleiben, die seit Stalins Machtübernahme in den Vordergrund getreten und nach dem deutschen Überfall gefestigt worden waren: Disziplin und Zwang sollten jene Qualifikation sichern, die für den sozialistischen Aufbau nötig schien. Die Verhaltensmaßregeln für Schüler behielten ebenso ihre Geltung wie die obrigkeitlich-autoritäre Stellung der Lehrer und die Geschlechtertrennung als vermeintliche Voraussetzungen für aufmerksames Lernen. Ausdrücklich wurde der Komsomol angewiesen, seine Generalaufgabe der Förderung einer kommunistischen Avantgarde in Übereinstimmung mit dieser Ordnung zu begreifen. In gleichem Geiste hielt man auch an der «Arbeitsreserve» fest, die nichts anderes war als ein Heer staatlich verfügbarer Arbeitskräfte. Denn eine solche Militarisierung der Berufs- und Allgemeinbildung, die das Experiment der Erziehung des ‹neuen Menschen› seit den dreißiger Jahren abgelöst hatte, fügte sich ebenso nahtlos in die Aufbaupläne der Nachkriegs- wie zuvor in die Verteidigungszwänge der Kriegszeit ein. Zu Änderungen gab erst das Ende der unmittelbaren Wiederaufbauphase Anlass. Auch sie betrafen nicht die schulisch-pädagogischen Grundsätze, sondern lediglich ihren Umfang. Es zeigte sich, dass die elementare, in den ersten obligatorischen vier Klassen erworbene Qualifikation nicht mehr ausreichte. ZK und Regierung beschlossen daher 1949, die Schulpflicht auf sieben Jahre zu verlängern. Noch weiter ging der nächste, der fünfte Fünfjahresplan (1951–55), an dessen Ende laut Beschluss des 19. Parteitages die Zehnjahresschule, d.h. die sog. vollständige mittlere Bildung, für alle stehen sollte. Selbst wenn der Plan auch diesmal nicht erfüllt wurde, waren Fortschritte der Breitenqualifikation, auf welchem Niveau auch immer, nicht zu übersehen.[12]

Selbst die Kirche, so will es scheinen, wurde in den späten Stalin-Jahren endgültig auf Linie gebracht. Die Notgemeinschaft überdauerte das Kriegsende und verwandelte sich in das erste freiwillige Bündnis. Nicht nur Koexistenz im Sinne gegenseitiger Duldung stellte sich ein, sondern eine Kooperation. Dabei diktierte der Staat die Bedingungen. Die Kirche kam zum Regime, nicht umgekehrt. Offenbar hatte sie zu der Meinung gefunden, dass ein Kompromiss mit der weltlichen Macht vorteilhafter sei als ohnmächtige Opposition. Aber auch die Herrschenden nahmen die Religion von der Rückkehr zum ideologischen Purismus aus. Statt die Kirche wieder zu würgen, schien es ihnen ratsam, die Zusammenarbeit fortzusetzen. Voraussetzung dafür war ein neues gemeinsames Interesse, das an die Stelle der Vaterlandsverteidigung treten konnte. Dieser ‹Kitt› fand sich vor allem auf außenpolitischem Gebiet: Die Kirche unterstützte nach Kräften, was die Sowjetregierung «Friedenspolitik» nannte und faktisch auf ihre Schachzüge im voll entfachten Kalten Krieg hinauslief. Aber auch innenpolitisch trug sie zumindest verbal eines mit – die Reverenz vor dem allmächtigen Stalin. Zum dreißigjährigen Jubiläum der Oktoberrevolution verurteilte der Patriarch nicht etwa den verbal unverminderten offiziellen Atheismus oder die fortdauernde ‹Entkirchlichung› des öffentlichen Lebens. Vielmehr rief er die Gläubigen zu Gebeten für die «göttlich beschützte russische Macht und für ihre Behörden unter der Leitung des weisen Führers» auf, «den der Wille Gottes erwählt und eingesetzt» habe. Noch untertäniger erteilte er dem ‹lieben Josif Vissarionovič› zweieinhalb Jahre später zum siebzigsten Geburtstag des Diktators den kirchlichen Segen und wünschte ihm «Wohlergehen» zum «Glück» der Sowjetvölker. Am 21. Dezember 1949 geschah, was sowohl die Revolutionäre als auch die Gläubigen der frühen Jahre als schlimmsten Verrat betrachtet hätten: In den orthodoxen Kirchen des Landes bat man um Gottes Beistand für ein langes Leben des «großen Führers».[13]

Solches Wohlverhalten brachte der Kirche reichen Lohn. Noch als Dank für die patriotische Solidarität im Krieg dürfte ein Beschluss vom 15. August 1945 zu verstehen sein, der ihr erlaubte, ihre Gotteshäuser mit Hilfe der örtlichen Sowjets wiederaufzubauen und so weit ökonomisch tätig zu werden, dass sie ihren Bedarf an Kultgegenständen aus eigener Produktion decken konnte. Ein halbes Jahr später wurden die Steuern für Klostergebäude und -ländereien aufgehoben. Und gleichfalls 1946 erhielt die Kirche ihr Allerheiligstes, das Dreifaltigkeitskloster östlich von Moskau samt der Gebeine des heiligen Sergej von Radonež, zurück. Doch auch danach dauerten die Gunstbeweise noch an. Die Zahl der anerkannten Gemeinden wuchs ebenso wie die der Würdenträger. Anfang 1949 standen den Gläubigen 14.447 Kirchen (im Vergleich zu 40.000 am Vorabend des Ersten Weltkriegs) offen, deren 13.483 Geistliche im Folgejahr von 73 Diözesanbischöfen und Erzbischöfen angeleitet wurden. Die Ausbildung eigenen Nachwuchses konnte verstärkt und der Klerus verjüngt werden. Überall scheinen Spenden vergleichsweise reichlich geflossen zu sein, so dass die russische orthodoxe Kirche das 500-jährige Jubiläum ihrer faktischen Autokephalie im Juli 1948 mit großem Prunk im Beisein ausländischer Patriarchen und Metropoliten feiern konnte. Als Gegenleistung durfte der Staat auf kirchliche Unterstützung im politisch-ideologischen Kampf gegen ‹den Westen› rechnen. Wenn der Patriarch das «kapitalistische Amerika» anlässlich der ersten Allunions-Friedenskonferenz im August 1949 als «rasende Hure eines neuen Babylon» schmähte und ihm drei Jahre später vorwarf, den Koreakrieg angezettelt zu haben, so sprach er damit nicht nur der Regierung aus dem Herzen. Auch im Verhältnis zwischen Staat und Orthodoxie konnte der Kalte Krieg den ‹heißen› darin problemlos ersetzen, dass der äußere Feind ähnlich blieb: Es war ‹der Westen›, ob lateinisch oder kapitalistisch, der das heilige und sowjetische Russland nach wie vor bedrohte. Dessen ungeachtet trübten sich die Beziehungen seit dem Herbst 1948 wieder ein. Die Rivalitäten zwischen Stalins Paladinen und seine eigenen Intrigen zur Machterhaltung zogen auch sie in Mitleidenschaft. Die Rückgabe von Gotteshäusern wurde beendet. Stattdessen kam es sogar wieder zu Verhaftungen von Geistlichen. Grundsätzlich blieb der Status quo aber bewahrt. Erst Chruščev stellte ihn im Zuge der Reideologisierung der Politik wieder in Frage.[14]

Nicht nur bei oberflächlicher Betrachtung kam die Essenz der Nachkriegsordnung im Personenkult um den Diktator zum Vorschein. Auch wenn seine Statthalter im höchsten Parteigremium wachsenden Einfluss ausübten und trainierte Fachleute mit Rückhalt in der Staats- und Wirtschaftsverwaltung in die Fachressorts vordrangen, war seine Stellung stärker denn je. Der Sieg über Hitlerdeutschland hob ihn im Innern endgültig auf ein Podest hoch über alle Kritik und verwandelte ihn außerhalb von einem (faktischen) Staatschef unter mehreren in eine der drei wichtigsten politischen Persönlichkeiten der Welt. Ob seine ohnehin schon unbeschränkte Machtfülle dadurch noch gesteigert wurde, mag offen bleiben. In jedem Falle wuchsen sein Prestige und die Ehrerbietung, die ihm die Bevölkerung entgegenbrachte. Nach dem Krieg hörte Stalin endgültig auf, nur der gewalttätige Zuchtmeister zu sein, der das Land mit Knute und Peitsche in eine angeblich bessere Zukunft trieb. Er war nicht länger nur der Eroberer, der das Dorf einmal mehr mit staatlich-städtischer Gewalt unterworfen hatte und es nach neuen, dem Kopf, nicht der Tradition entsprungenen Grundsätzen umbaute. Nun galt er als Urheber eines großartigen, kaum für denkbar gehaltenen Triumphes und konnte als Repräsentant des Staates, der zweifellos den hauptsächlichen Anteil an der deutschen Kapitulation hatte, die Glückwünsche der führenden Staatsmänner der Welt entgegennehmen. Stalin entrückte endgültig ins Mythische. Er verkörperte nicht nur das Regime, sondern auch das Land, das die ungeheuere Leistung vollbracht hatte. Nicht zuletzt daraus ist zu erklären, warum es zweier Anläufe bedurfte, um das Stalinsche Erbe wirklich zu überwinden.

Gewiss gilt in vieler Hinsicht, dass Stalin diese Lorbeeren ohne sein Zutun erntete. Die deutsche Wehrmacht wurde trotz seiner anfänglichen Fehlentscheidungen niedergerungen und die kolossalen Anstrengungen galten der Verteidigung der Heimat, nicht des Sozialismus. Zugleich steht außer Frage, dass er den grandiosen Sieg für sich zu nutzen wusste. Dies gilt trotz mancher Hinweise auf einen gewissen Überdruss an den endlosen Huldigungen, mit denen er bei jedem öffentlichen Auftritt empfangen wurde. Allem Anschein nach ging Stalin das Gespür für die Nützlichkeit manipulierter Begeisterung nicht verloren: Er wusste zwischen seinen Empfindungen und denen der Bevölkerung zu unterscheiden. Massenloyalität als affektiven, nicht (nur) der Treue zum Gesetz entspringenden Gehorsam hielt er nach wie vor für einen Grundpfeiler seiner Herrschaft. In diesem Sinne pflegte er den Personenkult als Mittel zur Erzeugung von Gefolgschaft und als Faustpfand einer Herrschaft, die jenseits der Apparate auf ihn zugeschnitten, in diesem Sinne charismatisch war und ihn vor allen, die nur qua Amt Macht ausübten, auszeichnete.[15]

Auch wenn eingehende Studien über den Charakter und Wandel dieser Führerschaft noch am Anfang stehen, sprechen viele Indizien dafür, dass die Verehrung in den Nachkriegsjahren ihren Höhepunkt erreichte. Mit guten Gründen zitierte Chruščev weidlich aus einer 1948 erschienenen «Kurzen Biographie». Stalin erscheine in diesem Machwerk als «größter Führer» und «hervorragendster Stratege aller Zeiten und Völker». Er werde ‹in den Himmel gehoben› und zum «Götzen» verklärt. Wie schon im berüchtigten Kurzen Lehrgang zehn Jahre zuvor habe er durch eigenhändige Korrekturen dafür gesorgt, als makelloser Held von Sieg zu Sieg durch die sowjetisch-bolschewistische Geschichte zu schreiten. Zielstrebig gipfele diese «widerwärtige Lobhudelei» in der Behauptung, Stalin habe Lenins Werk «würdig» fortgesetzt. In der Tat lag die Konstruktion dieser Ahnenreihe weiterhin im Interesse des Diktators. An sich nicht neu, wuchs ihr nach zwei Jahrzehnten persönlicher Herrschaft und dem größten denkbaren Triumph immer sichtbarer das Moment der Vollendung zu: Stalin übernahm die Staffette nicht nur, er brachte sie auch ins Ziel.[16]

Ebenfalls in diesem Licht wird man die Feierlichkeiten zu seinem siebzigsten Geburtstag sehen müssen. Was im Umfeld des 21. Dezember 1949 geschah, darf als Gipfel jener Apotheose bezeichnet werden, die den Nachfolgern als besonders schlimme Sünde wider den Geist des Bolschewismus galt. Auch wenn er sich, was ihm niemand abnahm, bescheiden gegeben und einen «weiteren Stern» (i. e. Orden) abgelehnt haben soll, sperrte sich Stalin nicht ernsthaft gegen den immensen Pomp, mit dem das Ereignis auf allerhöchster Ebene begangen wurde. Das Politbüro setzte ein Jubiläumskomitee ein; man scheute weder Geld (5,6 Mio. Rubel) noch Mühe. Die Reden während des Festakts im Bolschoj-Theater ließen Stalin nicht nur hochleben, sondern erhoben ihn zum «Genie», unübertreffbaren Denker und bedeutendsten Feldherrn aller Zeiten. Zahlreiche Verse wurden für diese Gelegenheit geschmiedet, die sich im hymnischen Tonfall und der Maßlosigkeit verbaler Überhöhung mit barocker Panegyrik messen konnten: «Genosse Stalin! Alle Winkel der Erde sind von Deinem Licht erleuchtet! Stalin ist die bolschewistische Partei. Stalin ist das Banner des großen Kampfes. Stalin ist das Lied der kommenden Jahrhunderte. Stalin ist die Sonne für die Bestimmung der Völker. Stalin ist das Glück der Sowjetmenschen; Stalin ist der Stolz und der Ruhm der Siege; Stalin ist die Weisheit unsterblicher Ideen; Stalin ist der Lenin von heute.» Dem so Besungenen widmete die Tret’jakov-Galerie eine eigene Ausstellung. Unzählige Geschenke aus dem In- und Ausland wurden in den heiligen Hallen des Revolutionsmuseums am Ausgang des Roten Platzes ausgestellt. Weitere Städte erhielten seinen Namen, und weitere Monumente wurden errichtet. Für den größten dieser «Gedenksteine des Lebenden» nahe Stalingrad stellte der zu Ehrende eigenhändig durch seine Unterschrift unter ein entsprechendes Regierungsdekret 33 Tonnen Kupfer zur Verfügung. Während die Bewohner dieser Gegend, wie Chruščev böse kommentierte, noch in Erdhöhlen lebten, gab man «Unsummen» für eine gigantische Vergötzung aus.

Bei alledem wurde der Entrückte nicht nur immer einsamer, sondern auch älter. Die Kluft zwischen Bild und Wirklichkeit wuchs. Insofern kam dem Umstand Symbolwert zu, dass die Ovationen auf dem 19. Parteitag 1952 länger dauerten als die Rede Stalins selbst. Der Jubel der dreißiger Jahre, dem man trotz aller Ambivalenz eine gewisse Dynamik nicht absprechen kann, hatte sich längst in ein starres Ritual für einen lebenden Toten verkehrt. Stalin, der nicht zurücktreten konnte, selbst wenn er gewollt hätte, stand im Begriff, sich zu überleben. Seine Kronprinzen wussten das und hielten sich bereit. Noch im Todesjahr des Diktators begann die Entstalinisierung – mit der Beendigung des Kultes und der Zertrümmerung des Mythos an vorderer Stelle.[17]

Der deutsche Angriff veränderte nicht nur die innere Lage der Sowjetunion schlagartig, sondern auch die äußere. Was eben noch gefeiert wurde, erwies sich über Nacht als schlimmster aller Irrtümer. Wie widernatürlich auch immer, verwandelte sich der Pakt in eine Falle, indem er die Westmächte vor den Kopf stieß und im Innern eine trügerische Sicherheit erzeugte, ohne deren Unterstellung die Ungläubigkeit der sowjetischen Führung und ihre verspätete Reaktion bislang nicht plausibel zu erklären sind. Zugleich markierte der Überfall eine so tiefgreifende Wende im gesamten (noch europäischen) Kriegsgeschehen, dass Hitlers Gegner die Gunst der Stunde nutzen mussten. Nach dem anscheinend so leichten Siegeszug der Wehrmacht durch beinahe ganz Europa, die deprimierend rasche Niederwerfung Frankreichs eingeschlossen, eröffnete der Zweifrontenkrieg neue Hoffnung. Voraussetzung war die Widerstandsfähigkeit der Sowjetunion. So lag es nahe, dass der hauptsächliche Kriegsgegner des Großdeutschen Reiches den ersten Schritt tat: Schon am 12. Juli 1941 traf der britische Botschafter in Moskau ein, um ein Hilfsabkommen zu unterzeichnen. Eine gute Woche später informierte sich der Sondergesandte und Vertraute des amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt am selben Ort, um in Erfahrung zu bringen, was die Rote Armee am dringendsten für die Verteidigung bräuchte. Stalins Bitten wurden nicht abgeschlagen. Am 7. November beschloss der Kongress, die Sowjetunion an den Vergünstigungen von Lieferungen nach dem (ursprünglich vor allem für die Unterstützung Großbritanniens gedachten) lend-lease-Gesetz vom 11. März teilhaben zu lassen. Damit war wirtschaftlich das Bündnis bereits geschlossen, das einen knappen Monat später durch den Kriegseintritt der Vereinigten Staaten als Antwort auf den japanischen Überfall auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 auch politisch besiegelt wurde. Schon diese Genese zeigte aber eines deutlich: Die Allianz war aus der Not geboren; ihr Kitt bestand im gemeinsamen Kampf gegen einen Feind, der nach Weltherrschaft strebte und sich nicht einmal mehr durch elementaren Realitätssinn im Zaume halten ließ. Unter dem Firnis des alles beherrschenden Nahziels bestanden die ideologischen und politisch-systematischen Gegensätze fort. Gerade in dieser Hinsicht war der Friede der Normalfall und der Krieg die Ausnahme.[1]

So lässt sich die Geschichte dieser Kriegskoalition ungeachtet ihres säkularen Triumphes über Hitler durchaus als Weg von vernunftgeleiteter Kooperation zu wachsender Uneinigkeit beschreiben. Dabei begannen die Schwierigkeiten schon früh. Sicher konnte in den ersten beiden Kriegsjahren, als die Sowjetunion mit allen Mitteln ums nackte Überleben kämpfte, am ehesten von ungetrübter Zusammenarbeit die Rede sein. Vor allem die Vereinigten Staaten als Land mit der größten Wirtschaftskraft lieferten schwere Waffen, deren militärische Bedeutung schwer zu ermessen, aber angesichts der Evakuierung und Konversion der eigenen Industrie nicht gering zu veranschlagen ist. Dennoch stand auch in dieser Zeit ein Problem im Raum, das nur deshalb zu keiner ernsthaften Verstimmung führte, weil keine Seite ein Zerwürfnis riskieren konnte: die Frage der ‹zweiten Front› in Westeuropa. Mit gutem Grund hatte Stalin diese Forderung schon wenige Tage nach der Vereinbarung mit Großbritannien am 18. Juli 1941 erstmals erhoben, lag es doch auf der Hand, dass vor allem ein paralleler Angriff auf der anderen Seite des Kontinents Entlastung bringen würde. So einleuchtend es war, mit dem Zweifrontenkrieg ernst zu machen, so sehr scheuten die neuen Verbündeten ein solches Wagnis. Sicher traf es zu, wenn Churchill Stalin noch im ersten Kriegsjahr schrieb, seine Generäle hielten eine solche Operation für unmöglich. Aber der Nebeneffekt dieses Ratschlags, dass die Sowjetunion die Hauptlast der Verteidigung zu tragen hatte und vor allem ihre Soldaten starben, dürfte nicht unwillkommen gewesen sein. Insofern hatten Churchill und Roosevelt aus sowjetischer Sicht leicht reden, als sie sich Ende Januar 1943 bei einer Zusammenkunft in Casablanca darauf verständigten, Deutschland müsse bis zur «bedingungslosen Kapitulation» niedergerungen werden. Soweit ersichtlich, hat Stalin dennoch nie ernsthaft an ein separates Abkommen mit Deutschland nach Art des Friedens von Brest gedacht.[2]

Als die ‹großen Drei› schließlich Ende November 1943 zum ersten Mal im zwischenzeitig sowjetisch besetzten Teheran zusammentrafen, hatte das militärische Geschehen bereits eine entscheidende und sichtbare Wende genommen. In Russland befanden sich die deutschen Truppen auf dem Rückzug, und Italien hatte im September kapituliert. Stalin, und daran war ihm sehr gelegen, musste nicht mehr fürchten, als bloßer Bittsteller dazustehen. Er konnte Leistungen präsentieren, auf die Gunst der Stunde verweisen und als Repräsentant des Landes, das dabei war, das Schicksal des gesamten, weltumspannenden Krieges zu entscheiden, auch bereits Forderungen stellen. Für ihn war die Konferenz, die ansonsten wenig brachte, kein Fehlschlag. Die Kernfrage, was nach dem Krieg mit Deutschland und Europa (bis an die sowjetische Grenze) geschehen sollte, blieb zwar offen; aber sie brannte noch nicht auf den Nägeln. Was unmittelbar anstand, erreichte Stalin im Bunde mit Roosevelt: die feste Zusage der westlichen Verbündeten, die ‹zweite Front› an der französischen Küste (und nicht etwa in Südeuropa) im Mai 1944 zu eröffnen. Im Gegenzug stimmte er dem amerikanischen Hauptanliegen zu, den globalen Frieden nach dem Krieg durch eine neu zu begründende Weltorganisation zu sichern. Churchill war darüber hinaus noch so großzügig, dem sowjetischen Wunsch nach der (bereits 1919 vom damaligen britischen Außenminister vorgeschlagenen und nach ihm benannten) Curzon-Linie als Ostgrenze Polens und einer Kompension im Westen auf Kosten Deutschlands grundsätzlich zuzustimmen. Ob die westlichen Partner mit diesem Entgegenkommen auch einem stets befürchteten neuerlichen Arrangement Stalins mit Hitler vorbeugen wollten, bleibt ungeklärt. In jedem Falle dürfte es unhistorisch sein, sich über die ‹Konzessionen› zu wundern. Die Sowjetunion tat in mancher Hinsicht immer noch das, was Stalin im März 1939 so vehement abgelehnt hatte: ‹Kastanien› für die ‹kapitalistischen› Mächte aus dem Feuer zu holen, und konnte dafür durchaus eine Belohnung erwarten. Der Kampf gegen Deutschland überdeckte Meinungsverschiedenheiten im eigenen Lager. Dennoch zeigte die Konferenz, dass der Preis für den sowjetischen Beitrag zur Niederwerfung Hitlers stieg. Auch wenn der Generalsekretär Roosevelt durch einen Toast auf die Wirtschaftskraft der Vereinigten Staaten schmeichelte, war er sich seines neuen Gewichts bewusst und nutzte es.[3]

Fraglos spielte ihm die militärische Entwicklung im folgenden Jahr in die Hände. Je schneller die Wehrmacht floh und die Rote Armee vorrückte, desto offenkundiger wurde, was auf der Hand lag: dass die Waffen über das Schicksal der ihr unterworfenen Länder und Bevölkerung entschieden. Der gegenwärtige Krieg unterscheide sich, wie Stalin dem jugoslawischen Kommunisten (und späteren Dissidenten) M. Djilas im April 1945 anvertraute, von den vorangegangenen dadurch, dass die Armeen auch ihre politischen Systeme im Gepäck führten. Wer das Land beherrsche, bestimme die politische und sozioökonomische Ordnung. Welche Folgerungen Stalin und der enge Kreis seiner Ratgeber daraus im Einzelnen ableiteten, hat sich bis heute nicht feststellen lassen. Auch die Archive schweigen sich (nicht nur) in dieser Hinsicht bislang aus. Weiterhin ist die Forschung darauf angewiesen, Rückschlüsse aus den Aktivitäten und offiziellen Verlautbarungen zu ziehen. Als markante Tatbestände ragen dabei im Jahr des deutschen Rückzugs vor allem zwei heraus. Zum einen konnten sich die Verbündeten relativ problemlos auf die Aufteilung des besiegten Deutschland in drei Besatzungszonen (später kam noch die französische hinzu) und deren Grenzziehung einigen. Die britischen Vorstellungen stimmten in dieser Hinsicht mit den sowjetischen weitgehend überein, so dass Roosevelt auf seinen ursprünglich abweichenden Vorstellungen nicht beharrte. Die Einigung wurde im September 1944 unter Dach und Fach gebracht. Zum anderen hat die berühmt-berüchtigte Aufteilung Südosteuropas in prozentuale Einflusszonen, die Churchill und Stalin bei einer separaten Zusammenkunft in Moskau im Oktober festlegten, viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Was der britische Premier auf ein Stückchen Papier kritzelte, brachte das Novum der anstehenden Friedensordnung in der Tat auf den Begriff: Quoten über die Fremdbestimmung der jeweiligen Regionen durch die Sowjetunion und ‹den Westen›. Auch wenn die Abmachung viel zu allgemein blieb, um wirksam werden zu können, war sie in Inhalt und Gestus bezeichnend. Man unterstellte nicht nur, dass die Wünsche der Betroffenen zumindest vorübergehend keine Rolle zu spielen hätten, sondern setzte bereits einen schwer überbrückbaren, nur durch ‹Proporz› gleichsam in Schach zu haltenden Gegensatz der Systeme voraus. Ob damit trotz so bizarrer Formeln wie «90:10» zugunsten der Sowjetunion in Rumänien oder «50:50» in Jugoslawien, bei Licht betrachtet, schon der Kalte Krieg begann, ist vor allem eine Definitionsfrage. Historisch gesehen, wenn Begriff und zeitlicher Rahmen einigermaßen zusammenfallen sollen, war das sicher nicht der Fall. Aber hinter der ‹Einigung› gewann die Konfrontation bereits deutlich an Kontur.

So gesehen kann die zweite Konferenz der Kriegsalliierten, die nach Maßgabe von Umfang und Reichweite der Entscheidungen sicher am erfolgreichsten war, nachgerade als Ausnahme gelten. Nach Jalta, nicht zufällig auf sowjetischem Boden (der Krim) am Schwarzen Meer gelegen, kamen die drei Regierungschefs (vom 4. bis 11. Februar 1945) im ersten Überschwang des sicheren und nahen Triumphes. Dabei hatte sich Stalins Position im Vergleich zu Teheran erheblich, nachgerade im ‹Quantensprung›, verbessert. Die Rote Armee hatte die einst kraftstrotzende Wehrmacht niedergerungen; sowjetische Truppen standen an der Oder. Demgegenüber war der Krieg in Ostasien noch nicht beendet. Japan trotzte den Vereinigten Staaten nach wie vor, und die Sowjetunion hatte sich gehütet, in diesen Krieg einzutreten. Man tut sicher gut daran, diese Ausgangsposition bei der Wertung der Beschlüsse von Jalta mitzubedenken. Zwar war die Aufteilung Deutschlands schon im Vorjahr von den Außenministern besiegelt worden, so dass ihre Bestätigung nur noch eine Formsache war. Aber die endgültige Zustimmung Stalins zur Gründung der Vereinten Nationen musste Roosevelt in Gestalt des Vetorechts im Sicherheitsrat (und dreier sowjetischer Stimmen in der Vollversammlung, neben der UdSSR auch der Ukraine und Weißrusslands) teuer bezahlen.

Ungeahnte Folgen hatten auch die Beschlüsse über Polen. Allerdings standen hier eher englische Interessen auf dem Spiel als amerikanische, da Großbritannien sich als eigentliche Schutzmacht betrachtete und Hitler, zumindest formell, den Krieg erklärt hatte, um Polen zu Hilfe zu kommen. Was in Jalta besiegelt wurde, war auch in dieser Hinsicht nicht neu. Die Curzon-Linie wurde als Ostgrenze fixiert und ein «beachtlicher» Zuwachs im Westen ins Auge gefasst. Dass Roosevelt und Churchill sich weigerten, die Oder-Neiße-Linie festzuschreiben, wog die Stalinsche Ablehnung freier Wahlen für den abermals wiederherzustellenden Staat nicht auf. Ohne diese Garantie bot auch die Aufnahme demokratischer Politiker aus der in London ansässigen polnischen Exilregierung keinen Schutz gegen sowjetische Fernsteuerung. Ob Churchill und Roosevelt hätten wissen müssen, was wenige Monate später auf der Hand lag, bleibt spekulativ. Selbst wenn sie ahnten, dass sie Polen und Ostmitteleuropa faktisch der Sowjetunion überließen, ist die Frage nicht leicht zu beantworten, was sie außer militärischen Maßnahmen, die ausschieden, wirksam hätten tun können. Wahrlich nicht zum ersten Mal war Polen gewaltsam der Hegemonie des östlichen Nachbarn unterworfen worden. Alles spricht dafür, dass Stalin entschieden hatte, diesen Trumpf nicht aus der Hand zu geben. Darin mag man eine Lehre aus dem deutschen Überfall sehen, der nur durch die Auslöschung Polens möglich geworden war. Zugleich kehrte die sowjetische Außenpolitik deutlicher als selbst im Geheimen Zusatzprotokoll von 1939 zur imperialen Tradition zurück: Gestützt auf russische Gewehre sollte ein Satellitenstaat als Pufferzone entstehen. Die Gelegenheit war günstiger als je zuvor seit dem 18. Jahrhundert, und Stalin ergriff sie in der ihm eigenen Weise – ohne jede Rücksicht auf die Betroffenen.

Zwischen dem Treffen von Jalta und dem nächsten in Potsdam vom 17. Juli bis 2. August 1945 lagen nur wenige Monate und dennoch tiefgreifende Veränderungen. Dabei fiel die deutsche Kapitulation am wenigsten ins Gewicht. Sie war seit Längerem absehbar und markierte zwar einen epochalen und rechtlich wie symbolisch notwendigen Schlussakt, kam aber nicht mehr überraschend. Bedeutender war sicherlich ein personeller Wechsel. Anstelle des verstorbenen Roosevelt saß Harry Truman am Verhandlungstisch. Wie hoch immer dieser Faktor zu veranschlagen ist, der Wechsel war kaum geeignet, die Verständigung zu fördern. Dessen ungeachtet besteht Konsens darüber, dass die wichtigste Veränderung in der westlichen Wahrnehmung der sowjetischen Politik in Polen und Südosteuropa bestand. Im sowjetischen Nachbarland regierten Kommunisten, die nichts gegen den Willen des mächtigen Diktators taten. Auch die Zusage, Politiker der Exilregierung aufzunehmen, die ein Sonderemissär des amerikanischen Präsidenten im Juni 1945 in Moskau erwirkte, veränderte die faktische Lage nicht. Und dass die Rote Armee nach vier Jahren schlimmster Kämpfe im Angesicht eines geschlagenen Feindes nicht haltmachte, sondern Budapest, Bukarest, Wien und Prag einnahm, deutete gewiss nicht nur Churchill als strategische Aktion. Faits accomplis sollten die Ausgangsposition im großen politischen Ringen um Einflusszonen in der europäischen Nachkriegsordnung verbessern, das nach dem militärischen Sieg beginnen musste.

So standen die Zeichen nicht günstig für das Treffen der Sieger in nächster Nähe zur völlig zerstörten Hauptstadt des Besiegten, das die Grundlagen für ein neues Europa legen sollte. Man einigte sich über das Wenige, das ohnehin schon geklärt war: die Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen, auf deren Grenzen sich die weiter vorgerückten amerikanischen Truppen noch im Juni zurückgezogen hatten. Alle darüber hinausgehenden wichtigen Fragen blieben ungelöst. Dabei konnte Stalin mit der Lösung für die polnische Westgrenze noch am ehesten zufrieden sein. Juristisch mochten die Westmächte die Oder-Neiße-Linie zwar nicht endgültig akzeptieren, aber das Zugeständnis polnischer «Verwaltung» lief auf ihre faktische Anerkennung und damit auch der polnischen Westverschiebung hinaus. Wenig war dagegen das Zugeständnis der westlichen Staatschefs wert, Deutschland ungeachtet der Aufteilung in Besatzungszonen als «wirtschaftliche Einheit» zu betrachten. Was die Sowjetunion mit ihrem Drängen begehrte und – neben dem cordon sanitaire – als ihr oberstes Ziel in den Nachkriegsjahren gelten kann, erhielt sie nicht: einen verbrieften Anspruch auf hohe Reparationen aus Gesamtdeutschland. In dieser Hinsicht scheiterte Stalin an einem Zielkonflikt. Die Vorherrschaft über Polen sowie prospektiv über andere Staaten Ostmittel- und Südosteuropas und Entschädigung für die fraglos enormen Kriegszerstörungen zugleich waren nicht zu haben. So blieben die entscheidenden Fragen in Potsdam offen. Statt des Friedensvertrages mit Deutschland rückte ein Konflikt zwischen den Siegern immer näher. Kaum hatte sich die Klammer des gemeinsamen Kampfes gelöst, brachen die alten Gegensätze wieder auf. Außenpolitik ließ sich nicht von Ideologie und Wertvorstellungen lösen.

Über wenige Fragen wurde in den sechziger und siebziger Jahren so heftig gestritten wie über die Triebkräfte dieser Auseinandersetzung, die bald als Kalter Krieg bezeichnet wurde. Allerdings bezog sich die einschlägige Debatte allein auf die Motive der amerikanischen Politik. Was die sog. Revisionisten gegen die ältere, durchweg zustimmende Sehweise einwandten, gehörte offenkundig in den Gesamtkontext der Neuen Linken und des Aufbegehrens gegen offiziöse, regierungsgenehme Selbstdeutungen. Die Sowjetunion blieb außer Betracht. Über ihre Absichten und Antriebe konnte man nur mutmaßen. Dabei brachte es die Kritik an der amerikanischen Selbstdarstellung mit sich, dass Stalin und seine Mannschaft in eine Opferrolle gerieten. Aus dem Schurken der dominanten Sehweise, dessen ideologisch begründetem Expansionsdrang die freie, westliche Welt unter Führung der Vereinigten Staaten entgegentreten musste, wurde tendenziell der Getriebene, der sicher nichts Gutes, aber nach dem Leid des Krieges durchaus Legitimes wollte, von materieller Wiedergutmachung bis zu einer Sicherheitszone. Inzwischen ist die Debatte längst selber Geschichte. Neuere Übersichten referieren sie als historiographische Kontroverse und bemühen sich um eine Mittelposition. Insofern hat die revisionistische Korrektur, so überzogen sie war, Spuren hinterlassen. Darüber hinaus aber scheint ein gewisser Stillstand eingetreten zu sein. Bislang hat sich die Erwartung, dass endlich von russischer Seite neues Licht auf die Entstehung der weltgeschichtlich so bedeutsamen Konfrontation (die letztlich erst 1989/91 ihren Abschluss fand) fallen würde, nicht erfüllt. Eine ‹Revisionismusdebatte› aus der ‹anderen› Perspektive ist nicht in Sicht. So bleibt es mit Blick auf die amerikanischen Beweggründe bei einer Verbindung aus weltanschaulich-politischer Abwehr, dem Export politischer, aber auch – untrennbar damit verbunden – ökonomischer Freiheit in Gestalt offener Märkte sowie innenpolitischem Integrationsbedarf, hinsichtlich der sowjetischen Absichten bei der weitgehend spekulativen Meinungsbildung zwischen den gegensätzlichen Positionen der Unterstellung eines ungehemmten ideologischen Expansionsdrangs oder der Annahme begrenzter Sicherheitsinteressen, auch hier womöglich mit willkommenen innenpolitischen Nebeneffekten. Was Stalin wirklich wollte, liegt in weit größerem Maße im Verborgenen als die Ziele der amerikanischen Politik, die sicher vielfältiger waren als die sowjetischen.[4]

Deshalb ist auch kein neues Licht auf die erwähnte ‹Wahl›-Rede Stalins vom 9. Februar 1946 gefallen, die in der amerikanischen Diplomatie so viel Wirbel hervorrief und als ‹autoritatives Zeugnis› der wahren Absichten sowjetischer Außenpolitik der Nachkriegszeit gewertet wurde. Dort war die Rede von der Überlegenheit des Sozialismus und der Krise des Kapitalismus, die zur Selbstzerfleischung führen müsse. Auch wenn «Sozialismus» und «Kapitalismus» noch nicht wieder zu unversöhnlichen Gegnern erklärt wurden, ergab sich diese Folgerung unausgesprochen von selbst. Die Klassenkampfrhetorik der Vorkriegsjahre lebte auch in der Außenpolitik wieder auf. Ob sie so gemeint war, verliert angesichts ihres Echos an Bedeutung. Offensichtlich war die Bereitschaft schon groß, sie ernst zu nehmen. Sie schien zu bestätigen, was man ohnehin argwöhnte. Keinen Monat später, am 5. März 1946, fielen daher im Westen jene Worte, die seine Wahrnehmung bis zum Beginn der Entspannungspolitik prägten und in einem suggestiven Bild zusammenfassten: Von Stettin bis an die Adria, formulierte Churchill in einer Rede (als Oppositionsführer) im amerikanischen Fulton, habe sich «ein eiserner Vorhang» durch den europäischen Kontinent gelegt, hinter dem die Sowjetunion herrsche und keinen westlichen Einfluss zulasse. Dies sei nicht die Ordnung, für die man gekämpft habe und die den Frieden garantieren könne. Obwohl sich Stalin selbst die Zeit nahm, auf diesen ersten offenen Angriff zu antworten, erholten sich die Beziehungen zwischen den Noch-Alliierten nicht mehr. Die Außenminister, nun einschließlich des französischen, einigten sich zwar im Laufe des Frühjahrs und Sommers auf mehreren Konferenzen über die Einflussverteilung in Süd- und Südosteuropa, aber die westlichen Vorschläge für Friedensverträge mit Deutschland und Österreich stießen auf die mehrfache und kategorische Ablehnung Molotovs, der spätestens jetzt (mit guten Gründen) zur Verkörperung von Sturheit, eigensüchtiger stalinistischer Machtpolitik und ideologischer Borniertheit sowjetmarxistischer Prägung wurde. Welch tiefgreifende Wende sich vollzogen hatte, machte am 6. September 1946 ein weiteres Mal die Rede des amerikanischen Außenministers J. F. Byrnes in Stuttgart deutlich. Darin ging er über die deutliche, aber sozusagen noch unentschiedene Kritik Churchills insofern hinaus, als er den Weg wies, den die Westmächte beschreiten sollten: wo die Einheit nur nach sowjetischen Vorstellungen zu erreichen sei, gezielt die Teilung zu betreiben. Mit dem Vorschlag zur Einrichtung eines «deutschen Nationalrats» zwecks Ausarbeitung einer Verfassung war der Weg zur Staatsgründung auf westlichem Territorium gewiesen. Für die amerikanische Politik wurde bestimmend, was Kennan schon in Jalta für unumgänglich gehalten hatte – den Westen Europas unter Führung seiner neuen Vormacht zu konsolidieren und den Osten «abzuschreiben».[5]

Die Uneinigkeit eskalierte im Laufe des nächsten Jahres zum offenen Konflikt. Dabei bezeichnete der einprägsame Begriff, der nun in der Publizistik und Politik populär wurde, die Sachlage recht genau. Es herrschte kein Krieg im Sinne bewaffneter Auseinandersetzungen, aber auch kein Friede im Sinne des einvernehmlichen Miteinanders. Stattdessen nahm die Konfrontation einen anderen, nichtmilitärischen, politisch-ideologischen Charakter an. Aller Anschein deutet darauf hin, dass die Dimension, die neu hinzukam, ebenfalls wesentlich zur Zuspitzung beitrug: die wirtschaftlich-finanzielle. Denn dem ersten Schritt, dem Entschluss zur teilenden Zusammenfassung der Westzonen (förmlich am 2. Dezember 1946 in New York gefasst), musste der zweite folgen, der Bi-Zone auch zur Lebensfähigkeit zu verhelfen. Diesem Erfordernis kam das europäische Wiederaufbauprogramm entgegen, das der neue amerikanische Außenminister G. C. Marshall am 5. Juni 1947 in einer Rede an der Harvard-University vorstellte. Das Angebot galt zwar ausdrücklich auch für Osteuropa und reagierte als bewusst zonenübergreifende Offerte unmittelbar auf das Scheitern einer neuerlichen Außenministerkonferenz, die im März und April in Moskau stattgefunden hatte. Aber angesichts der festgeschriebenen Federführung durch die Vereinigten Staaten war seine Verwirklichung nur im westlichen Einflussgebiet kalkulierbar. Insofern bildete es nach dem Moskauer Treffen und nach Auseinandersetzungen im griechischen Bürgerkrieg, die den Vereinigten Staaten Anlass gegeben hatten, die Region unter ihren besonderen Schutz zu stellen («Truman-Doktrin» vom 12. März 1947), eine Art letzter Überprüfung der Bereitschaft Stalins, seine Einflusszonen zu öffnen. Angesichts der nur wenig später im Juli erschienenen offiziösen Darstellung der Ziele sowjetischer und der Aufgaben amerikanischer Außenpolitik («containment») aus der Feder eines «Mr. X» – hinter dem sich kein Geringerer als Kennan in seiner neuen Eigenschaft als Leiter der Planungsabteilung des State Department verbarg – liegt allerdings die Vermutung nahe, dass das Ergebnis beim Vorschlag zumindest mitbedacht wurde: Die Zurückweisung war vorhersehbar. Molotov bestätigte diese Erwartung und lehnte die Teilnahme am Marshall-Plan auf einer neuerlichen Außenministerkonferenz Ende Juni 1947 nicht nur für sein Land, sondern für die gesamte sowjetische Einflusszone ab. Die Tschechoslowakei, die ihre Bereitschaft bereits zugesagt hatte, musste diese widerrufen. Auch wirtschaftlich war (unter Einbeziehung West-Berlins in das Programm) die Teilung des Kontinents vollzogen.

Bei alledem ist noch kein wirklich neues Licht in das Dunkel der sowjetischen außenpolitischen Motive und Absichten gefallen. Solange sich dies nicht ändert, bewahren einige eher indirekte Schlussfolgerungen ihre Überzeugungskraft. Stalins Hauptinteresse galt, auf der Moskauer Außenministerkonferenz im Frühjahr 1947 noch einmal vorgetragen, offensichtlich der Entschädigung für die materiellen Kriegsverluste. Dabei reichte ihm, aus nachvollziehbaren Gründen, das Potential der eigenen Besatzungszone nicht aus. Der Hauptteil industrieller Anlagen (auf die sich auch das französische Begehren richtete) befand sich außerhalb im Ruhrgebiet. Reparationen sollten daher aus der Gesamtmasse bestritten werden. Ob die wiederholten sowjetischen Vorschläge zur Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung der Einheit Deutschlands (bis an die Oder-Neiße-Linie) nur als bloßes Mittel zu diesem Zweck zu verstehen und nicht ernst gemeint waren, bleibt weiterhin ungeklärt. Allerdings spricht sehr vieles für eine solche Annahme, wobei die nicht minder entscheidende Frage ebenfalls ohne Antwort bleibt, welchen politischen Preis die Sowjetunion dafür zu zahlen bereit war. Dass der Versuch unternommen worden wäre, Gesamtdeutschland sowjetischer Kontrolle zu unterwerfen, darf man unterstellen. Die kommunistische Machtergreifung in Prag vom 23. Februar 1948 wurde in dieser Hinsicht mit gutem Grund als Vorbild betrachtet. Ob er angesichts der begrenzten Präsenz sowjetischer Truppen (anders als in Polen oder der Tschechoslowakei) ohne weiteres gelungen wäre, wie die Politik gezielter Westintegration der späteren Bundesrepublik unterstellte, wird man wohl auf Dauer der Spekulation überlassen müssen.[6]

Unabhängig davon tut man gut daran, das sowjetische Verhalten nicht als Indiz der Stärke zu deuten. Schon ein flüchtiger Blick auf das Land verweist vielmehr auf das Gegenteil. Mitten in der kräftezehrenden industriellen Aufholjagd getroffen, lag die Sowjetunion nach vier Kriegsjahren wirtschaftlich und finanziell am Boden. Wiederaufbau war das Gebot der Stunde, und nichts hätte sie dringender benötigt als massive technologische und monetäre Hilfe. Wenn Stalin das Angebot nicht annahm, so stand dem das Fundament seiner Entwicklungsstrategie und der gesamten politischen und sozioökonomischen Ordnung entgegen, die darauf gegründet war, aus eigener Kraft das Niveau an Wirtschaftsleistung und politischer Gesamtstärke zu erreichen, das es erlauben würde, eine unanfechtbare Stellung unter den führenden Mächten Europas und der Welt einzunehmen. Mit dem Sieg über Hitler-Deutschland war dieses Ziel politisch erreicht, aber ökonomisch verfehlt worden. Weil das stalinistische System sich behauptet hatte, blieb die Art und Weise, diese wirtschaftliche Schwäche zu beheben, an seine Wahrung gebunden. Darin aber unterschied sich die mögliche westliche Nachkriegshilfe zweifellos von den lend-lease-Leistungen während des Krieges, dass sie an die Öffnung der Empfängerländer für Demokratie und den freien Markt geknüpft war. Stalin erkannte richtig, dass die «Dollaroffensive» auf seine Ordnung zielte und geeignet war, sie zu erschüttern. So gesehen stand sich der Sowjetstaat selber im Wege: Er hatte großen Bedarf an äußerer Unterstützung, konnte sie in der angebotenen Form aber nur mit dem Risiko der eigenen Destabilisierung akzeptieren.

Man darf vermuten, dass sich die Alternative ernsthaft gar nicht erst stellte. Die Selbsterhaltung hatte in jedem Fall Vorrang. Zugleich brachte die Konfrontation mit einem wirtschaftlich haushoch überlegenen Gegner, die damit begann, neue Kosten und Lasten mit sich. Wahrscheinlich kann der Verzicht auf die anfängliche Konsumorientierung zugunsten der Schwer- und Rüstungsindustrie schon bald nach Beginn des vierten Fünfjahresplans auch als eine ihrer Folgen gelten. Wenn dieser Zusammenhang bestand, erscheint die Argumentation plausibel, dass der politisch-ideologische Konflikt – ähnlich wie mutatis mutandis in den Vereinigten Staaten – auch zur Festigung des inneren Zusammenhalts genutzt wurde. Keiner Erläuterung bedarf, dass wohl nur eine Diktatur und Siegermacht in dieser Form fähig war, gegen die Bedürfnisse der Bevölkerung zu handeln und in imperialer Manier gleich für die unterworfenen Nationen mitzuentscheiden. Allein sie konnte es wagen, unter Anwendung ihrer friedlichen und gewaltsamen Mobilisierungskapazitäten den alten Weg des isolierten und (weitgehend) autonomen wirtschaftlichen Aufbaus fortzusetzen. Dabei sollte diese Wahl aber weder als Demonstration der Stärke noch als Notbehelf angesichts westlichen Drucks verstanden werden. Vielmehr ergab sie sich aus dem Charakter des Stalinschen Systems und seiner Politik.[7]

Bei alledem wird man wirtschafts- und innenpolitisch nicht begründbare ideologisch-expansive Motive der sowjetischen Außenpolitik der Nachkriegszeit nicht ausschließen können. Sie ließen sich mit der Herstellung eines sowjetisch kontrollierten Blocks und der Option eines – wie immer auch dauerhaft zu verankernden – neutralen gesamtdeutschen Staates durchaus vereinbaren. Bislang lassen sich aber auch darüber keine unbezweifelbaren Aussagen machen. Unabhängig davon mag sich die Alternative zwischen Sicherheitsinteressen und Revolutionsexport nach dem definitiven Ende der Nachkriegszeit als Konstrukt des Blockdenkens erweisen und auflösen. Jede annähernd durchsetzungsfähige Außenpolitik tat gut daran, das für unverzichtbar Gehaltene mit dem Wünschbaren zu verbinden und beides nach Maßgabe des Möglichen voranzutreiben. Innere und äußere Antriebe waren gleichermaßen im Spiele. In dieser Hinsicht zeigte die stalinistische Sowjetunion wohl die geringsten Besonderheiten.

Was folgte, war mit Blick auf die großen Entwicklungslinien der Nachkriegsaußenpolitik ‹nur› noch eine Folge der Grundentscheidungen. Die westliche, längst von den Vereinigten Staaten geführte Politik steuerte zielstrebig auf die Gründung eines deutschen Teilstaates in den Westzonen hin. Die Sowjetunion versuchte dies eine Zeitlang zu verhindern, bereitete aber den komplementären Schritt vor. Die letzte, bereits unwahrscheinliche Chance einer Einigung verstrich auf der Londoner Außenministerkonferenz Ende November/Anfang Dezember 1947. Erneut prallten die amerikanische Vorstellung eines offenen und die sowjetische eines zonalen Europa ohne Brückenschlag aufeinander; danach sah man von weiteren Einigungsversuchen und Zusammenkünften dieser Art ab. Als die Westmächte Ende Juni 1948 in Gestalt der Währungsreform den bedeutendsten Schritt zum politischen Zusammenschluss ihrer Zonen taten, versuchte die Sowjetunion diesen Prozess gewaltsam und hart an der Grenze der militärischen Konfrontation aufzuhalten. Es begann die Blockade der Zufahrtswege nach Berlin (24. Juni 1948), die erst ein knappes Jahr später (12. Mai 1949) aufgehoben wurde. Fraglos bedeutete dieser Rückzug eine empfindliche – und weithin sichtbare – Niederlage. Die vielbeschworene ‹Luftbrücke›, bald ein Stück bundesrepublikanischer Identität, erwies sich als wirkungsvoll und in der Lage, die Millionenbevölkerung der Stadt einigermaßen zu ernähren. Stalin musste einlenken, ohne das Hauptziel erreicht zu haben. Die westdeutsche Staatsbildung wurde weiter vorangetrieben, neue Gespräche über Reparationen und ein neutrales Gesamtdeutschland fanden nicht statt. Einleuchtend hat man argumentiert, dass die Blockade in mancher Hinsicht sogar kontraproduktiv war. Sie beschleunigte die Gründung der Bundesrepublik, deren Grundgesetz am 23. Mai 1949 in Kraft trat, eher, statt sie zu verlangsamen, und lieferte vor allem ein dauerhaft wirksames Argument für die Notwendigkeit der Integration des neuen Staates in die NATO und die Wiederaufrüstung. Allerdings blieb auch die Sowjetunion im langen Blockadejahr nicht untätig. Abgesehen von der weiteren Konsolidierung ihres Einflusses in Osteuropa beschleunigte sie in dieser Zeit die Vorbereitung für einen eigenen Teilstaat in ihrer Besatzungszone. Mit der Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 wurde nicht nur – für ziemlich genau vierzig Jahre und ebenso lange, wie die Patenschaft der Sowjetunion anhielt – die Spaltung Deutschlands besiegelt, sondern ebenso Europas und letztlich der Welt.[8]

Daran änderte auch die vieldiskutierte Stalin-Note vom 10. März 1952 nichts, mit der die Sowjetunion einen letzten Versuch unternahm, ihre Vorstellung von einem neutralen Gesamtdeutschland durchzusetzen. Mit Blick auf das tatsächliche Geschehen ist es ohnehin müßig, über die Ernsthaftigkeit des Angebots zu streiten, da der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer sie in Übereinstimmung mit den Westmächten ohnehin ablehnte. Aber auch hinsichtlich der Ziele sowjetischer Außenpolitik dürfte nach Einsichtnahme in die nun zugänglichen Akten feststehen, dass Stalin nicht ernsthaft daran dachte, die DDR zur Disposition zu stellen und sich auf ein wirklich neutrales Deutschland einzulassen.[9]

Wenn die Sowjetunion auf diese Weise zumindest eines ihrer Hauptziele nicht erreichte, so erging es ihr im Fernen Osten nicht besser. Dabei wirkte ihre dortige Niederlage auf Europa zurück. In mancher Hinsicht galt, dass die militärische Konfrontation, die im Brennpunkt der Konfrontation, in Berlin, ausblieb, in Ostasien, wenn auch auf sowjetischer Seite durch einen Stellvertreter, stattfand. Auch deshalb hat nach der Blockade kein anderes Ereignis so nachhaltig auf die Auseinandersetzung zwischen den beiden Atommächten eingewirkt wie der Koreakrieg. Die Entwicklung im Fernen Osten wies so viele Parallelen zu Mitteleuropa auf, dass politisch-ideologische Querverbindungen nicht ausbleiben konnten. Nach dem deutschen Überfall hatte Stalin das große Glück, dass die japanische Regierung beschloss, sich auf ihre pazifischen Interessen zu konzentrieren. Dies ersparte ihm einen Zweifrontenkrieg, der seine Lage noch schwieriger gemacht hätte. Wie hoch er den Nichtangriffspakt vom August 1941 einstufte, geht daraus hervor, dass er sich erst in Jalta bereiterklärte, in den Krieg gegen Japan einzutreten. Als Lohn gestand ihm Roosevelt den nördlichen Teil der koreanischen Halbinsel zu, die von sowjetischen Truppen besetzt wurde. Nach Kriegsende vollzog sich hier im Großen und Ganzen eine ähnliche Entwicklung der Konversion des Feindes von gestern, Japan, und der Regierung der westlichen Besatzungszone, Südkorea, zu Verbündeten wie in Mitteleuropa. Zugleich verhärteten sich im Zuge des Kalten Krieges die Fronten. Als der chinesische Bürgerkrieg 1949 mit dem Sieg der Kommunisten unter Mao Zedong endete, veränderte dies nicht nur die politisch-strategische Gesamtsituation in der Region, sondern löste auch einen Schock in der amerikanischen Politik aus. Dessen ungeachtet erklärte der Außenminister in Übereinstimmung mit dem regionalen Oberbefehlshaber der Streitkräfte, dass Korea außerhalb der vitalen Interessenzone seines Landes liege. Ob diese Äußerung Stalin zu einer schweren Fehleinschätzung verleitete, lässt sich wiederum nicht mit Sicherheit sagen. Außer Zweifel steht nur, dass der Vorstoß nordkoreanischer Truppen über die Demarkationslinie (den 38. Breitengrad) nicht ohne seine Zustimmung unternommen werden konnte. In Verbindung mit der UNO reagierten die Vereinigten Staaten sofort und intervenierten, zur völligen Überraschung der Invasoren, mit eigenen Truppen. Als Nordkorea schon fast besiegt war, griff Rotchina in den Kampf ein, der sich dadurch gefährlich zuspitzte und in die Länge zog. Auch hier muss offen bleiben, in welchem Maße Mao Zedong für Stalin handelte. In jedem Fall bemühte sich die Sowjetunion um einen Waffenstillstand, der seit Juni 1951 verhandelt, aber erst am 8. Juni 1953, drei Monate nach Stalins Tod, unterzeichnet wurde.[10]

So bestand am Ende dieser so fatalen und folgenschweren Ära der Sowjetgeschichte, mit der zugleich die unmittelbare Nachkriegszeit ihren Abschluss fand, gerade auf außenpolitischem Gebiet wenig Anlass zu einer positiven Bilanz. Der ‹heiße› Krieg gegen Deutschland war, unter welchen Opfern auch immer, gewonnen worden, der Kalte Krieg gegen die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten in Europa und Fernost fürs Erste verloren. Weder hatte die Sowjetunion Reparationen aus den westlichen Einflusszonen erhalten noch Berlin in die Knie zwingen, noch die Gründung der Bundesrepublik verhindern können. Erst recht hatte sie in der einzigen, von ihr zumindest mitzuverantwortenden militärischen Konfrontation den Kürzeren gezogen. Ihre beiden größten Niederlagen, in Berlin und Korea, gaben dem westlichen Militärbündnis unter Einschluss der Bundesrepublik einen kräftigen Schub. Auf der anderen Seite hatte sie konsolidiert, was ihr nach dem Vormarsch der Roten Armee auf Berlin und in die Hauptstädte Ostmittel- und Südosteuropas niemand mehr nehmen konnte. Dieser Gewinn war größer als je zuvor in der russisch-sowjetischen Geschichte. An der Ausdehnung ihres Hegemonialbereichs gemessen, übertraf die spätstalinistische Sowjetunion selbst das Zarenreich nach den Napoleonischen Kriegen und konnte in manchen territorialen Ambitionen an die imperiale Tradition anknüpfen. Wenn aber der Kalte Krieg schon als Wettkampf der Leistungs- und Überzeugungsfähigkeit der Systeme zu verstehen war, dann standen die Chancen für den Sozialismus nicht gut.

Es ist üblich geworden, die Sowjetordnung unter Stalin als «Stalinismus» zu bezeichnen. Allerdings ist bis heute unklar, was darunter genau zu verstehen sei. Die inhaltliche Füllung des Begriffs hing und hängt vom Vorverständnis nicht nur der sowjetischen, sondern auch der russischen Geschichte und eventuell von weltanschaulichen Grundeinstellungen allgemein ab. Diese Mehrdeutigkeit teilt er mit verwandten Konzepten, die seine Prägung sehr wahrscheinlich angeregt haben. Wie beim Faschismus ist es in erheblichem Maße eine Frage der Interpretation, welche Merkmale jeweils als entscheidend angesehen werden. Hinzu kommt, dass sich die Inhaltsgebung mit den Jahren verändert hat. Gleich anderen historisch-politischen System- und Globalbegriffen gehörte der Stalinismus jeweils in den größeren Kontext der vorherrschenden wissenschaftsinternen und meist auch breiter in der politisch-öffentlichen Meinungs- und Theoriebildung verankerten Deutungsmuster. So besagte Stalinismus in der aktuellen Auseinandersetzung mit dem so benannten Regime anderes als für die nachfolgenden Generationen, denen sich die Sowjetunion vielfach auch anders darstellte. Was im weltanschaulichen Konsens der zeitgenössischen Perspektive eindeutig schien, löste sich aus der Distanz in unverbundene, oft für unhaltbar erklärte Einzelaspekte auf. Im Ganzen darf dieser Vorgang als ‹Verwissenschaftlichung› eines stark weltanschaulich geprägten Konzepts im Sinne sowohl kritischer Überprüfung implizit unterstellter Prämissen als auch der Konfrontation mit neuen Forschungserkenntnissen im engeren Sinne gelten.

Eine solche Neubesinnung erscheint umso eher geboten, als der Begriff des Stalinismus – anders als Faschismus und Nationalsozialismus – keine Selbstbezeichnung war. Es hat weder eine stalinistische Bewegung noch ein Regime gegeben, das sich stalinistisch oder ähnlich genannt hätte. Stalin wurde im Gegenteil nicht müde, seine Treue zum Leninismus zu beteuern. Als ergebenster Nachlassverwalter Lenins, keinesfalls als dessen selbstbewusster Erbe schwang er sich zum Diktator auf. Insofern blieb es seinen ausländischen Gegnern in und außerhalb der marxistisch-sozialistischen Bewegung überlassen, der von ihm geprägten Ordnung einen eigenen Charakter zuzuschreiben und seinen Namen zur Kennzeichnung zu wählen. Stalinismus wurde als politischer Kampfbegriff, nicht als deskriptiv-neutraler Begriff erfunden. Auch Stalins inländische Diadochen hielten sich aus guten Gründen terminologisch durchaus bedeckt, als sie ihn vom Sockel stürzten. Sie attackierten Stalins ‹Größenwahn› und sprachen von «Personenkult», nicht von stalinizm in Analogie zum leninizm und marksizm. Allein die Hypertrophie der personalen Diktatur war ihnen zuwider, nicht das politisch-sozioökonomische Grundgefüge. Der Begriff des Stalinismus im landläufigen Sinn gehörte daher im Wesentlichen zum außer- (und post-) sowjetischen historisch-sozialwissenschaftlichen und publizistisch-politischen Diskurs mit der vorherrschenden Zweckbestimmung nicht nur der analytischen Beschreibung, sondern auch des wertenden Systemvergleichs.[1]

Im kursorischen Rückblick auf die einschlägigen Diskussionen seit gut sechs Jahrzehnten sind vor allem folgende Deutungsvorschläge, die nacheinander oder in Konkurrenz nebeneinander Verbreitung gefunden haben, zu nennen:

Am wirkungsvollsten war wohl die Totalitarismustheorie. Sie entstand gleichsam durch die Übertragung und Erweiterung von Versuchen vor allem deutscher Emigranten, Struktur und Charakter des nationalsozialistischen Regimes zu beschreiben. Was Hannah Arendt, Ernst Fraenkel, Franz Neumann und andere zu prägenden Merkmalen des ‹Dritten Reiches› erklärten, fanden mehr und mehr professionelle Beobachter auch in der Sowjetunion unter Stalin wieder. Dabei verdient Beachtung, dass im Wesentlichen Politik- und Sozialwissenschaftler nach derartigen Strukturkennzeichen Ausschau hielten und den Versuch unternahmen, sie zu einem neuen Herrschaftstypus zusammenzufügen. Die Absicht war vergleichend und zielte auf verallgemeinernde Abstraktion im Sinne der Aussonderung des Charakteristischen. Aus dieser Perspektive fiel der Blick vor allem auf Eigenarten der Herrschaftsverfassung in einem umfassenden Sinne unter Einschluss von Sozialbeziehungen und Wirtschaftsabläufen, die staatlicher Regulierung zugänglich waren. An oberster Stelle legte er die Schrankenlosigkeit der Zentralgewalt, verkörpert im Diktator, frei. Dabei kam es ihm weniger auf die Monokratie und deren personale Zuspitzung als auf die Regellosigkeit, Allgegenwart und Durchsetzungskraft der Machtausübung an. Qualitativ neu im Vergleich zu herkömmlichen autoritären Regimen und Diktaturen schien die Fähigkeit der Herrschenden zu sein, jederzeit in das Leben eines jeden Einzelnen eingreifen, es zumindest im Groben bestimmen und auch vernichten zu können. Das ‹bürgerliche Individuum› der spätneuzeitlichen societas civilis, gleichsam als geschützte Monade und in seiner politischen Denk- und Handlungsfähigkeit prinzipiell frei gedacht, schien zerstört zu sein. Die neuartigen Regime denaturierten es zu einem kopflosen, der Selbständigkeit beraubten Befehlsempfänger, der sich mit zahllosen ähnlich ‹entmenschten› Wesen zu einer beliebig manipulierbaren Masse verband und darin aufging. Die literarischen Utopien eines George Orwell oder Aldous Huxley gaben diesem sozial- bzw. staatsphilosophischen Kern des Totalitarismuskonzepts eine ebenso anschauliche wie didaktische Gestalt.

Um für eine gewisse Dauer wirksam zu werden, bedurfte eine solche Herrschaft verschiedener Institutionen und Vorkehrungen. Diese konkret zu benennen und zugleich ihre prinzipielle Verallgemeinerbarkeit in typologischer Absicht zu wahren, hat den Denkansatz vor die größten Probleme gestellt. Dabei schälten sich in der langjährigen Diskussion folgende konstitutive Merkmale heraus. Totalitäre Diktaturen besaßen – in einer späten Formulierung der beiden bedeutendsten Vertreter der Theorie – eine «ausgearbeitete», alle Lebensbereiche der Menschen umfassende «Ideologie», die einen noch herzustellenden «Endzustand» von Gesellschaft und Staat verhieß und in Gestalt einer allgemeinen, auch retrospektiv-historisch argumentierenden Welterklärung ein notwendig eintretendes, von übergreifenden Gesetzen verbürgtes Ziel begründete. Sie verfügten über eine monopolistische «Massenpartei», nominell und in letzter Instanz auch faktisch vom Diktator selbst geführt, die diese offizielle Ideologie gleichsam verwaltete, alle öffentlichen Führungspositionen besetzte, in diesem Sinne die politische, soziale, kulturelle, tendenziell auch die wirtschaftliche Elite bildete und kraft ihrer Loyalität faktisch als verlängerter quasistaatlicher, bis in die Keimzellen der Gesellschaft hinunterreichender Arm des Regimes fungierte. Sie stützten sich zur weiteren Machtabsicherung auf Terrororganisationen in Gestalt einer omnipräsenten Geheimpolizei und eines weitverzweigten Netzes von Zwangsverwahrungsanstalten, die außerhalb jeder unabhängigen Gerichtsbarkeit operierten und letztlich nur dem Führer und seinen Statthaltern verpflichtet waren. Sie sicherten sich die zentrale Kontrolle über alle Medien der Massenkommunikation, von den Zeitungen bis zum Film, und nutzten sie unter Einsatz moderner Techniken zur propagandistischen Beeinflussung der Bevölkerung. Sie zogen die exklusive Verfügung über bewaffnete Kampfeinheiten, reguläre ebenso wie paramilitärische Organisationen, an sich. Und sie bemühten sich um die Lenkung der Wirtschaft durch administrative Koordinierung in Gestalt kurz- und mittelfristiger Planvorgaben.[2]

Keiner Erläuterung bedarf, dass verschiedene Autoren verschiedene Akzente setzten. Insofern gab es keine einheitliche Totalitarismustheorie und macht sich jede knappe Zusammenfassung unzulässiger Vereinfachung schuldig. Desgleichen liegt auf der Hand, dass die genannten Merkmale schon in den beiden hauptsächlich gemeinten Herrschaftsystemen höchst unterschiedlich ausgeprägt waren. Der letzte Punkt etwa bezog sich vor allem auf die stalinistische Sowjetunion, da die Planwirtschaft nur hier uneingeschränkt praktiziert werden konnte. Dies allein hätte das Modell aber kaum in Misskredit gebracht. Hinzu kamen weitere, wichtigere Schwächen. Zum einen offenbarte die sozialwissenschaftliche (nicht die philosophische) Formulierung der Totalitarismustheorie eine deutliche Tendenz, zu einem oberflächlichen Merkmalskatalog zu erstarren. Die komparative Absicht begünstigte eine statische Sehweise. Auch die modifizierende Betonung des «revolutionären» Eifers der Regime (Z. Brzezinski) – die im Übrigen ebenfalls primär auf den Stalinismus gemünzt war – änderte dies nicht durchgreifend. Die Besonderheiten, die auf diese Weise der Vergleichbarkeit allzu bereitwillig geopfert wurden, waren aber von ihrer Entstehung nicht zu trennen. Daraus dürfte zu erklären sein, dass die Kritik vor allem auf die Ausblendung der historisch-genetischen Dimension und, damit verbunden, der dynamischen Komponente hinwies. Auch wenn sie damit in mancher Hinsicht den Dauerstreit zwischen den Advokaten des Individuellen (mit je eigener Vergangenheit) und den Fürsprechern der Generalisierung im Dienste der Übertragbarkeit wiederholte, fand sie zunehmende Resonanz, da sie Zweck und Kern der Totalitarismustheorie selbst in Frage stellte: die Vergleichbarkeit. Je genauer Spezialisten nachfragten, desto klarer traten die Grenzen eines gemeinsamen Modells zutage. Der Graben zwischen Nationalsozialismus und Faschismus auf der einen und dem Stalinismus auf der anderen Seite wurde breiter, auch wenn niemand die Existenz formaler Gemeinsamkeiten leugnete. Seither hat sich das historische Forschungsinteresse ganz eindeutig auf die einzelnen Regime konzentriert. Vergleiche wurden im Wesentlichen nur noch unter begrenzten, im weiteren Sinne systemtheoretischen, primär politik- und sozialwissenschaftlichen Aspekten vorgenommen. Zwar lebte die Totalitarismustheorie weiter, aber stark modifiziert und auch in ihrem umfassenden Verständnisanspruch erheblich reduziert, nicht dynamisch und als synthetisches Konzept.[3]

Offensichtlich hingen die wachsenden Bedenken mit dem tiefgreifenden Wandel der Interessen, Methoden und Maßstäbe innerhalb der historischen Wissenschaft und benachbarter Disziplinen sowie der gesamten geistigen Umwelt in den westlichen Ländern zusammen. Spätestens seit Beginn der siebziger Jahre traten sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Fragestellungen in den Vordergrund, zu denen sich auch Versuche gesellten, die Binnenstruktur der Staatsverwaltung unter der Frage nach ihrer Effizienz genauer auszuleuchten. Was sie zutage förderten, vermehrte die Einwände und stützte solche, die zum Teil schon zuvor im Rahmen des überkommenen Modells vorgebracht worden waren. Vor allem folgende Einsichten und Hypothesen erwiesen sich dabei als besonders wirkungsvoll.

(1) Noch vor dem eigentlichen ‹Paradigmenwechsel› wurden Einwände gegen die stillschweigende Gleichsetzung von Leninismus und Stalinismus laut, zu der das überkommene, unhistorische Konzept neigte. Gegen die Kontinuitätsannahme beharrte diese Position darauf, dass die Sowjetordnung mit dem Aufstieg Stalins zur alleinigen Herrschaft eine neue Qualität gewonnen habe. Nicht nur die NĖP sei liquidiert worden, sondern mit ihr eine ganze Strömung, die auf dem Boden der Leninschen Politik eine realistische Alternative zum Stalinschen Kurs angeboten habe. In seiner zugespitzten Formulierung behauptete das Argument, der Stalinismus habe eine «radikale Abkehr vom bolschewistischen programmatischen Denken» (S. Cohen) vollzogen. Aber auch ohne die bezweifelbare Lokalisierung der ‹eigentlichen› frühsowjetischen Strategie im Umkreis von Bucharin blieben gute Gründe, zu Beginn der dreißiger Jahre eine Zäsur zu erkennen. Robert C. Tucker hat sie in dem Begriff der «Revolution von oben» und dem Gedanken zusammengefasst, dass diese die wesentlichen Merkmale des stalinistischen Regimes erst hervorgebracht habe: die zentrale ökonomische Planung auf der Grundlage der Verstaatlichung sowohl der Industrie als auch der Landwirtschaft, die terroristische Disziplinierung der Gesellschaft, eine neue Elite als soziale Trägerschicht und einen formal omnipotenten Staatsapparat mit verschiedenen Affiliationen (von der Partei bis zu den Gewerkschaften) mit diktatorischer Spitze. Unbestritten blieb in dieser Version, dass der Oktoberumsturz und die Leninschen Grundentscheidungen über Art und Struktur der neuen Ordnung durchaus wesentliche Voraussetzungen für die späteren Zustände legten. Zugleich fügte sie aber hinzu, dass die zeitliche Folge nicht zur logischen verfälscht und aus der Möglichkeit keine Notwendigkeit gemacht werden dürfe. In dieser Form hat sich die Überlegung als weithin unbezweifelte Erkenntnis etabliert.[4]

Nicht weniger überzeugende Einwände erwuchsen (2) aus sozialhistorischer Feldforschung. Dabei traten gleichsam ‹negative› wie ‹positive› Faktoren in den Vordergrund. Zu Ersteren lassen sich jene Strukturen und Verhaltensweisen rechnen, die nach den Maßstäben des Regimes als Hindernisse empfunden wurden und zu überwinden waren, desgleichen solche, die neutralisiert oder sogar nutzbringend eingesetzt werden konnten; zu Letzteren solche, die mithalfen, das Neue hervorzubringen. Als besonders bedrückend empfand die selbsternannte ‹proletarische Avantgarde› zweifellos den Umstand, dass sie eine Art Insel im bäuerlichen Meer bildete und gegen eine Übermacht dörflicher ‹Kleineigentümer› und eine zählebige Tradition aus rückständiger Subsistenzwirtschaft und parochial beschränktem Gemeindeleben ankämpfen musste. Auch wenn die frühere antitotalitaristische Deutung als widerlegt gelten muss, die Zwangskollektivierung sei aus der Not geboren worden, bleibt das Faktum bestehen, dass die Führung subjektiv zum Ergebnis kam, der Knoten sei nur mit Gewalt zu durchschlagen. Stalin und seine Umgebung wurden nicht getrieben, aber sie meinten, treiben zu müssen, weil die sozioökonomischen Verhältnisse nicht so waren, wie sie nach ihrer Überzeugung für den ‹Aufbau des Sozialismus› zu sein hatten.

Bei dieser tour de force spielte ihnen eine Entwicklung in die Hände, die ein Überhang aus alter Zeit und eine neue Erscheinung zugleich war: die Unterstützung durch eine neue Elite. Vydvižency, bolschewistische Kämpfer der Bürgerkriegsjahre, alerte Mitläufer, überzeugte Neumitglieder mit Aufstiegsmotivation und die ersten Absolventen der Arbeiterfakultäten und ‹klassenorientierten› neuen Bildungseinrichtungen nutzten die Gelegenheit, um vom Neubeginn zu profitieren. Zugleich bedurften die Stalinisten ihrer als zuverlässige Exekutoren des abermaligen gewaltsamen Umsturzes. Sozialhistoriker orteten eine «kulturelle Revolution», die eine neue Generation mobilisierte und bald in Schlüsselstellungen brachte. Was seit dem Oktoberumsturz beschworen worden war, eine ‹eigene› «sowjetische Intelligenz», hatte Gestalt angenommen. Stalinismus war in dieser Sicht von den Profiteuren der Öffnung der Fach- und Hochschulen nicht zu trennen: Sie trugen und ermöglichten sein Regime nicht nur, sondern unterwarfen sich ihm auch, indem sie auf politische Mitsprache verzichteten. Stalins Diktatur beruhte auf einem big deal, einem stillschweigenden ‹Herrschaftsvertrag›, den die ‹strategische› Elite der Gesellschaft als Gegenleistung für ihren Aufstieg akzeptierte. Ihre sozial-politische Prämisse und ihr eigentliches Wesen lagen in diesem kollektiven Opportunismus, auch wenn Gewalt und Terror sie von Anfang an begleiteten. Letztere waren, schon weil sie einer Vielzahl von Exekutoren bedurften, akzidentiell, nicht substanziell.[5]

In ähnlicher Weise haben neuere Studien (3) Teile des Staats- und Parteiapparats genauer in den Blick genommen. Sie fanden heraus, dass es um dessen innere Funktions- und äußere Gestaltungsfähigkeit anders bestellt war, als das Konzept totalitärer Herrschaft zumindest der Idee nach voraussetzte. Anstelle von Effizienz und geordneten Entscheidungsabläufen fanden sie Wirrwarr und Improvisation, anstelle klarer Vorgaben der Zentrale oft erbitterte Rivalität zwischen verschiedenen Kommissariaten, anstelle von wirksamer Kontrolle erhebliche institutionelle Eigenständigkeit und einen bemerkenswerten Spielraum für lokale Akteure. Angesichts dieser Befunde geriet die verbreitete Annahme ins Wanken, Stalin und seine Umgebung hätten nach der Ausschaltung der innerparteilicher Opposition über gehorsame Apparate verfügt und nach Belieben schalten und walten können. Zugleich ist aber ebenso deutlich zutage getreten, dass ältere Thesen vom Chaos auch im sowjetischen Führerstaat – die Analogie zur entsprechenden Diskussion über die Struktur des nationalsozialistischen Regimes ist häufiger hergestellt worden – weit überzogen sind. Aus dem Befund administrativer Mängel, konkurrierender Kompetenzen und fehlender Umsetzung von Vorgaben (einschließlich der ubiquitären Nichterfüllung von Plänen) sollten keine Rückschlüsse auf Stalins Macht und Rolle gezogen werden. Mangelnde ‹bürokratische› Effizienz war nicht mit fehlender Durchsetzungsfähigkeit der Zentrale gleichzusetzen. Eher spricht vieles dafür, dass sich obrigkeitliche Kontrolle durchaus mit institutionellem Eigenleben vertrug, abhängig vom jeweiligen Sektor, Zeitpunkt und Ausmaß der Ansprüche. Insofern sollte man den Rat beherzigen, ein «dynamisches Element» in die Vorstellung vom Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie einzufügen. Eine solche Korrektur tangiert Stalins Machtfülle in keiner Weise, gibt aber Anlass, Begriff und Konzept des Totalitären weiter zu relativieren – zeigt sich doch, dass «selbst despotische Macht» nicht «absolut» war.[6]

Mit solchen Einsichten eng verbunden waren (4) schließlich Einwände gegen die überkommene Deutung des Terrors der dreißiger Jahre. Durch- und Gegeneinander hätten zumindest auf regionaler Ebene und als zusätzliche Faktoren Richtung und Ausmaß der willkürlichen Gewalt bestimmt, die zahllose Unschuldige vernichtete. Allerdings hat diese These der archivalischen Überprüfung nach 1991 am wenigsten standgehalten. Zwar haben die regionalen Machthaber, wie oben erwähnt, am Massenterror der Jahre 1936–38 höchst aktiven Anteil genommen; ihren Wünschen war es zu verdanken, dass die Zahl der gemäß dem schlimmsten aller Befehle (der Order 00.447 vom 30. Juli 1937) gleich zu Erschießenden oder ‹nur› zu Deportierenden um 180 % (von 268.950 auf 753.315) erhöht wurde. Nur geschah dies auf höchst obrigkeitliche Weise: nach Genehmigung der ergänzten Listen durch Stalin selber oder Berija, der in seinem Namen handelte. Die unbeschränkte Gewalt und Letztentscheidung durch den Diktator stand zu keiner Zeit in Frage. Angesichts der erdrückenden einschlägigen Evidenz kann von einer nennenswerten Eigendynamik des Terrors nicht mehr die Rede sein. Letztlich hält nur noch der Urheber selber an dieser Position fest.[7]

Eine weitere Wendung nahm die Diskussion über den Stalinismus zu Beginn der neunziger Jahre, als die Alltags- und Mentalitätsgeschichte auch die historische Russland- und Sowjetforschung erreichte. Nun gerieten die einstigen Kritiker selber in die Kritik, weil sie allzu einseitig auf neue Schichten als soziale Gewinner geschaut und ihnen in einer funktionalistischen Denkfigur eine Art von berechnendem Opportunismus unterstellt hätten. Stattdessen erkannte man nun tatsächliche Überzeugungen. Zumal die junge Generation, die schon nichts anderes mehr kannte als das neue Regime, glaubte an seine Lehren und ‹sprach› nicht nur bolshevik, sondern dachte auch so. Sie glaubte an den «Aufbau des Sozialismus» und sonstige Verheißungen, nicht als Dank für Aufstieg, sondern selbstlos und aufrichtig. Damit rückten die Werte und Träume eher der einfachen Leute als der Elite ins Zentrum der Aufmerksamkeit. ‹Gelebter› Stalinismus stand im Mittelpunkt, nicht Stalinismus als System. Der Präferenz für die Wahrnehmung entsprechend, gewannen dabei Vorstellungen und Eindrücke neues Gewicht. Das Bewusstsein bestimmte wieder das Sein. Zugleich kehrte die Ideologie in den Kreis der bevorzugten Untersuchungsgegenstände zurück. Dabei erfuhr sie, im genauen Gegensatz zur totalitaristischen Sicht, eine positive Umwertung, die sicher zu den problematischen Aspekten dieser Deutung zählt. Bislang offenbart die ‹Erfahrungsgeschichte› des Stalinismus eine ausgesprochen affirmative Tendenz: Sie neigt dazu, für bare Münze zu nehmen und als Realität darzustellen, was viele glaubten. Offen bleibt bei alledem, wie groß der Schritt von der Sozialgeschichte zur Erfahrungsgeschichte tatsächlich war. Einigen Vertretern der Ersteren fiel es nicht schwer, die neue Perspektive zu integrieren. Insofern gibt es gute Gründe, sie als Erweiterung und nicht als methodische Entgegensetzung zu sehen.[8]

Anderes gilt für eine Variante des neuen Interesses an Mentalität und Erfahrung der Sowjetbürger in der Stalinzeit. Ihr geht es eher um eine bewusstseinsgeschichtliche als um eine alltagsgeschichtliche Reinterpretation. Sie setzt sich sozusagen zum Ziel, Stalinismus von innen zu beschreiben, weniger ihn von unten zu betrachten. Vor allem dies ist dank einschlägiger Materialfunde erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion möglich geworden. Wie sich wider alles Erwarten herausgestellt hat, haben mehrere Dutzend Tagebücher die Wirren eines halben Jahrhunderts überstanden. Erstmals lagen damit Quellen vor, die es erlaubten, die subjektive Wahrnehmung und Verarbeitung der Wirklichkeit durch ganz ‹normale›, weder zu den Geistesgrößen noch zu den Dissidenten gehörende stalinistische Untertanen zu rekonstruieren. Besondere Aufmerksamkeit haben dabei diejenigen gefunden, die sich nicht (nur) als Opfer fühlten, sondern sich um aktive Anpassung bemühten. Vor allem auf den Niederschlag solcher Bemühungen hat man weitreichende Thesen von einer eigenen ‹stalinistischen Identität› gegründet, die in der einfachen Dichotomie zwischen völliger Selbstaufgabe und ‹heroischer› Opposition – wie still und innerlich sie immer sein mochte – nicht aufging. Keiner Erläuterung bedarf, dass diese Interpretation weder mit der ‹totalitaristischen› Annahme, dass die Beherrschten ‹dem Apparat› mehr oder weniger wehrlos ausgeliefert gewesen seien, noch mit dem Postulat ‹zweckrationaler› Handlungsstrategien sozialhistorischer Art vereinbar war. Vielmehr erhebt sie implizit den Anspruch, eine Alternative zum ‹Vertragsmodell› ebenso wie zu bloßen Gewalthypothesen als Erklärung für die unzweifelhafte Stabilität des Vorkriegsstalinismus zu präsentieren: Denn die zumindest passive Zustimmung der Bevölkerungsmehrheit wäre dann weder opportunistisch noch erzwungen gewesen, sondern Resultat aufrichtiger «Selbstformung».[9]

Eher konträr sah dies eine Interpretation, die sich ebenfalls dem Zerfall der Sowjetunion verdankte. Sie wurzelte aber nicht im Fund neuartiger Quellen, sondern entstand als Reaktion auf das säkulare Ereignis selber, mit dem eine ganze, vom Sozialismus als politisch-ideologische und sozioökonomische Ordnung geprägte Epoche ebenso unerwartet wie plötzlich zu Ende ging. In den Versuchen, die wesentlichen Merkmal dieses Systems rückblickend und in Kenntnis seines Zusammenbruchs zu beschreiben, erlebte die Totalitarismustheorie in mancher Hinsicht eine Renaissance. Nicht nur in Russland, wo sie außerhalb der Dissidentenzirkel unbekannt war, schien sie vielen eine schlüssige Erklärung für das Versagen der alten Ordnung zu liefern. Auch westliche Historiker fanden unter dem Eindruck des Schicksals der Perestrojka zu ihr zurück. Sie hielten die Reformunfähigkeit des alten Systems für einen Geburtsfehler, der letztlich nur aus ihren weltanschaulichen Grundlagen zu erklären war. In der Sicht der konsequentesten, aber auch einseitigsten Version dieser Deutung lag der Kern des Übels schon in der petitio principii des marxistischen Sozialismus begründet, eine Gesellschaft Gleicher schaffen zu wollen. Weil es viele Quellen der Ungleichheit gab und gibt – von unterschiedlichen Fähigkeiten, Glück und Unglück bis zur sozialen und materiellen Lage –, mussten sie verschlossen werden. Die Utopie wurde zum Maßstab der Realität und diese nach ihr geformt – auch mit Gewalt. Deren Anwendung war umso einfacher, als sich der Staat von Anfang an ein Machtmonopol schuf. Mit der geballten Kraft staatlicher Repression konnte er daran gehen, Konformität nach seiner Definition herzustellen. Für Andersdenkende war in einer solchen Gesellschaft kein Platz. Zugespitzt hat man der exklusiven sozialistischen Ideologie dieser Art sogar einen inhärenten eliminatorischen Grundzug attestiert. Sie wurde zur «Utopie der Säuberung», die auch massenhaften Terror als notwendiges Mittel zur Erreichung des übergeordneten Zwecks legitimierte und ihn dadurch nicht nur ermöglichte, sondern nachgerade nahelegte.[10]

Als letzter Deutungsvorschlag seien schließlich Überlegungen zum Zusammenhang zwischen Stalinismus und Moderne erwähnt, die vor allem die US-amerikanische Forschung seit der Jahrtausendwende geprägt haben. Sie nehmen programmatisch Abschied vom Rückständigkeitskonzept und überführen die ältere Debatte über die Korrelation zwischen Stalinismus und Industrialisierung gleichsam in ihr Gegenteil. Die Hypothese, dass der subjektiv empfundene Zwang, in zehn Jahren nachholen zu müssen, wozu Europa 50–100 Jahre gebraucht habe (so Stalin in einer Rede vom März 1931), die zügellose Anwendung von Gewalt und Terror zumindest begünstigt, dass die Dynamik der Aufholjagd den Preis des Terrors erfordert habe, ist der umgekehrten Annahme gewichen, Letzterer sei sinnvoller als durchaus folgerichtiges und nicht abartiges Produkt der Moderne zu begreifen. Diese habe eben nicht nur Freiheit, Demokratie und Menschenrechte hervorgebracht, sondern auch den totalen Staat, dem ein bis dahin unbekanntes Potential an organisatorischer und physischer Gewalt zur Verfügung stand. Der Staat nutzte die Schattenseite einer ‹ambivalenten Moderne›, um die Bevölkerung gefügig zu machen und seinen Zielen zu unterwerfen. Aber er tat noch mehr – er bediente sich der neuartigen Möglichkeiten, zu denen nicht zuletzt ein enorm gewachsenes statistisches und sonstiges Wissen über seine Untertanen gehörte, um diese nach seinen Bedürfnissen zu modellieren und maßzuschneidern. Der Staat wird zum Gärtner, der hegt, was wachsen soll, aber jätet, was er für Unkraut hält. Auch der Stalinismus schuf sich eine Gesellschaft nach seinem Bilde und war dabei nicht zimperlich. Was ihm missfiel, unterlag dem Verdikt des Unsozialistischen und wurde gnadenlos verfolgt. Was ihm zusagte, wurde zwar – von Funktionären, Ingenieuren und sonstigen Angehörigen der «Sowjetintelligenz» am ehesten abgesehen – nicht gehätschelt, aber überwiegend am Leben gelassen.[11]

Diese Sehweise hilft mehrere Tendenzen und Ergebnisse der jüngeren Forschung zu verstehen. Zum einen rücken Sozial- und Familienpolitik zusammen mit Propaganda, Überwachung und Terror zwischen zwei Buchdeckel. Unter dem Aspekt der obrigkeitlichen Formung der Gesellschaft durch den modernen ‹Interventionsstaat› erscheinen sie als Emanation ein und desselben Geistes. Normale, friedliche Gesetzgebung auf der einen Seite und extralegale Gewalt auf der anderen entpuppen sich als bloß äußerliche Unterschiede, die in Wahrheit nur zwei Seiten ein und derselben Medaille waren. Beide entsprangen dem utopischen Glauben an die nahezu unbegrenzte Veränderbarkeit der sozialen Realität und der materiellen Welt darüber hinaus. Angelsächsische Autoren neigen dabei zu einem schnellen Rekurs auf die Aufklärung, die am Anfang dieser Entwicklung gesehen wird. Aus der Anmaßung der Vernunft sei ein ideologisches Denken hervorgegangen, das sich alles und jedes zu unterwerfen trachtete, eine förmliche Regulierungswut hervorbrachte und in Verbindung mit unkontrollierter politischer Gewalt – im Nationalsozialismus ebenso wie im Stalinismus – auch vor Massenterror nicht zurückschreckte, um seine Vision der künftigen Gestalt von Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur zu verwirklichen.[12]

Zum anderen entfernt sich der Massenterror analytisch von den Schauprozessen. Die Tendenz hat zugenommen, Stalins Abrechnung mit den ‹alten Bolschewiken› andere Motive und einen anderen Charakter zuzuschreiben als der willkürlichen Gewalt im Gefolge des Befehls 00447. Die inszenierten Verfahren dienten einem vergleichsweise klar benennbaren Zweck; sie trafen bestimmte Personen und sollten diese gleichsam öffentlich (hin)richten. Dagegen ließen die Massenaktionen gegen «Kulaken» und andere «Konterrevolutionäre» schon aufgrund der schwammigen Definition der Zielgruppen von Anfang an viel Raum nicht nur für Racheakte lokaler Parteisatrapen, sondern ebenso für die Erweiterung der Kampagne. Wie ein Großprojekt über den «Stalinismus in der Provinz» gezeigt hat, richtete sich diese über die erstgenannten Kategorien hinaus in auffallendem Maße gegen soziale Randgruppen aller Art: Bettler, Obdachlose, Kleinkriminelle, Prostituierte und «Hooligans», wer immer darunter subsumiert wurde. Offenbar nutzte das Regime die Gelegenheit, auch mit sozial unerwünschten Elementen aufzuräumen. Dazu passen Befunde grundlegender neuer Studien über die reguläre Polizei, die deren zunehmende Einbeziehung in den Massenterror belegen. Die Grenze zwischen politischer und normaler Polizei verschwamm; Massenterror wurde zum Instrument von social engineering.[13]

Schließlich liegt auch die Nähe zu einer Interpretationsfigur aus der Gesamtgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf der Hand. Was eine begriffsprägende Pionierstudie zu einem Grundelement des politischen Denkens dieser Jahrzehnte in und außerhalb Europas erklärt hat: die Überzeugung, der Staat könne die Gesellschaft ohne Rücksicht auf Traditionen nach seinen Vorstellungen formen, Menschen in großem Maßstab umpflanzen und sogar die Natur seiner Planung unterwerfen – diese Hybris der «Hochmoderne» (high modernism) galt nicht zuletzt für den Sozialismus sowjetischer Prägung. Lenin und Stalin verschrieben ihrem Land eine neuartige Zukunft; ihre Revolution sollte eine radikale Umwälzung aller Bereiche von Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur sein, die einen «neuen Menschen» hervorbringen sollte, um ihr Dauerhaftigkeit zu verleihen. Beinahe überall, wo diese Ideologie zum Tragen kam, verband sie sich mit autoritären oder diktatorischen Regimen – mit der Folge, dass auch der Übergang von ‹friedlicher› Planung zur gewaltsamen Umsetzung fließend wurde. Stalins Brachialindustrialisierung nutzte (z.B. beim Bau der Retortenstadt Magnitogorsk im Ural oder des Weißmeerkanals) in großem Umfang Zwangsarbeit. Der Gulag diente auch, wenngleich nicht vorrangig, ökonomischen Zwecken. Hitler plante mit Beginn des Ostfeldzugs eine großräumige Zwangsumsiedlung von Millionen slavischer «Untermenschen», um arische «Volksdeutsche» in einem erweiterten Großdeutschland zusammenzuführen («Generalplan Ost») – das Denken, so suggeriert ein solcher Deutungsansatz, war über die Grenzen politischer Systeme hinweg im Kern verwandt, und auch Stalins gigantomanische Projekte zur Umgestaltung der Natur, u.a. der Bewässerung der turkmenischen Wüste, atmen diesen Geist.[14] Fraglos eröffnet dieser Zugang eine Chance, die ‹braune› und die ‹rote› Diktatur auf andere Weise als im Rahmen der Totalitarismustheorie kompatibel zu machen und sie darüber hinaus in einen politisch-sozialen Denk- und Handlungsmodus einzuordnen, der Anspruch darauf erheben kann, zu den kennzeichnenden Merkmalen der inzwischen oft so genannten «klassischen Moderne» zu gehören. Umso eher sollte man sich hüten, deren Schattenseiten als Neuentdeckung zu betrachten. Wer mit der deutschen Geistesgeschichte vor allem der 1920er Jahre vertraut ist, weiß, dass sich Denker wie Max Weber, Walter Benjamin oder Theodor W. Adorno der Ambivalenz der Moderne sehr bewusst waren.

Bemerkenswerterweise zeigt sich trotz aller neuen Befunde, dass einige allgemeinere Überlegungen aus der Frühphase der Kritik am Totalitarismusmodell im Großen und Ganzen Bestand haben. Dies gilt zum einen für die zeitliche Eingrenzung des Stalinismus auf das knappe Vierteljahrhundert zwischen dem faktischen Beginn des ersten Fünfjahresplans samt nachfolgender Zwangskollektivierung und Stalins Tod (1929–1953). Damit verbunden ist eine Teilantwort auf die Frage nach der Kontinuität zwischen Leninismus und Stalinismus: Wer die Periodisierung akzeptiert, kann beide nicht gleichsetzen, wie immer er ihre Beziehung beschreiben mag. Leninismus und Stalinismus bezeichnen nicht nur unterschiedliche Phasen der sowjetischen Geschichte, sondern auch unterschiedliche Formen der Herrschafts-, Sozial- und Wirtschaftsverfassung einschließlich der Auswirkungen auf das kulturelle Leben. Von selbst versteht sich, dass auch das Ableben des Diktators in dieser Sicht eine tiefe Zäsur markierte. Nach ihm dauerte kein Stalinismus ohne Stalin fort. Vielmehr entstand ein anderes System, das eines neuen Begriffs und einer eigenen Kennzeichnung bedarf. Zum anderen haben aber auch erste Versuche einer Neudefinition eine beachtliche Plausibilität bewahrt. Selbst wenn man den Gedanken Tuckers nicht im Einzelnen folgen mag, gibt es gute Gründe, an den drei von ihm benannten wesentlichen Kennzeichen festzuhalten. Als Kernelemente des stalinistischen Systems hätten demnach zu gelten: a) das ‹bolschewistische Erbe›, b) das ‹russische Erbe› und c) Stalins Person.

Das erste Ingredienz nimmt gleichsam die totalitaristische petitio principii auf, dass es einen substantiellen Zusammenhang zwischen bolschewistischer Revolution und stalinistischer Diktatur gebe. Es verweist auf die langfristige Bedeutsamkeit der Grundsatzentscheidungen über den Charakter des neuen Staates. Lenin und seine Mitstreiter betrachteten sich als Interessenvertreter der Unterschichten, insbesondere der industriellen Arbeiterschaft, und als Vollstrecker historischer Gesetzmäßigkeiten in marxistischem Verständnis. Sie wollten eine antikapitalistische, vor allem die städtischen Unterschichten begünstigende, auch institutionell nichtbürgerliche und angesichts starker Gegner und der eigenen Minderheitenposition wehrhafte neue Ordnung aufbauen. Die notgeborene Konzession eines partiellen Marktes in Gestalt der NĖP gab dabei nach dem Verbot konkurrierender Parteien während des Bürgerkriegs auch noch Anlass, die kollektive Äußerung abweichender Meinungen im eigenen Lager zu verbieten. Mithin fand Stalin eine politische und soziale Verfassung vor, die bereits wesentliche Strukturmerkmale ‹seiner› Ordnung enthielt:

  • eine monopolistische Partei, die den Staat einschließlich seiner Zwangsgewalt fast vollständig übernommen und durch das Fraktionsverbot die Reste demokratischer Willensbildung im Innern zugunsten der ausschließlichen Bestimmungsmacht der Zentralgremien aufgegeben hatte;

  • ein Netz mitgliederstarker parteilich kontrollierter Sozialverbände, die den zentral festgelegten politischen Kurs umzusetzen halfen;

  • eine geheim operierende Sonderpolizei, die außerhalb der ohnehin vom Partei- und Staatsinteresse abhängigen Jurisdiktion stand;

  • eine Armee, die nach ihrer personellen Erneuerung und Reorganisation loyal zur Parteispitze stand;

  • und Institutionen zur zentralen Lenkung der Massenmedien (einschließlich modernster wie des Films) sowie von ‹Agitation und Propaganda› allgemein.

Hinzu kam eine auffallende Gewalttätigkeit gegenüber Gegnern, die zwar auch in Weltkriegserfahrungen wurzelte, aber erst durch den Bürgerkrieg bis in die hinterste Provinz getragen wurde und dem Regime gleichsam eine Blutspur anheftete, die auf eine unheilbare Geburtswunde verwies: als Minderheit, durch lokale und temporäre Umstände begünstigt, die Macht ergriffen und sich von der ersten Stunde an in einer Art Festungsmentalität eingeigelt zu haben, um sie gegen eine Vielzahl innerer Feinde – Anhängern der gestürzten liberalen Regierung, Monarchisten und bald auch drangsalierter Bauern – zu verteidigen. Dies alles wurde gleichsam vom vorrangigen Regimeziel überwölbt, den Sozialismus in einem umfassenden, aber unbestimmten Sinne allen ökonomischen, sozialen und kulturellen Widerständen zum Trotz zu verwirklichen.

Das zweite Kernelement fasst die verschiedenen Aspekte zusammen, in denen die vorrevolutionäre, russische Tradition wirksam geworden ist. Einzelne sind früh gesehen, die meisten bestätigt worden. Dass in der bolschewistischen Partei seit der Mitte der zwanziger Jahre ein Generationswechsel stattfand, der die ‹multikulturellen› Exilintellektuellen in den Hintergrund drängte und Untergrundkämpfer, ehemalige Rotarmisten und sonstige Neulinge der ersten Stunde ohne Auslandserfahrung und geistiges Training in die Führungspositionen brachte, gehört in diesen Kontext. Gleiches gilt für die kulturelle Wende: Ungefähr zeitgleich mit dem Ende der NĖP waren die «revolutionären Träume», die ohne nennenswerte Ausnahme aus antibürgerlichen Bewegungen Westeuropas stammten, ausgeträumt. Bei der patriotisch-nationalen Reorientierung von Ideologie, Propaganda, Kunst und Wissenschaft liegt die Nähe auf der Hand. Aber auch die fundamentalen sozioökonomischen und politischen Umwälzungen der frühen Stalinära kann man unter diesem Gesichtspunkt deuten. Dass die Prioritäten der Fünfjahrespläne an die gelenkte Industrialisierung im ausgehenden Zarenreich anknüpften, bedarf keiner Erläuterung. Ähnlich hat man mehrfach auf Parallelen in der Lage der Bauern nach der Zwangskollektivierung mit der Leibeigenschaft hingewiesen. Und dass einsame Entscheidungen einer abgehobenen Obrigkeit samt ihrer Durchsetzung mit staatlichen Zwangsmitteln historischen Handlungsmustern in Russland durchaus entsprachen, wird ebenfalls nicht zu bestreiten sein. Sicher bleibt die Wirksamkeit dieser Tradition für das konkrete Handeln der Akteure unbewiesen. Desgleichen steht vor allem der Vergleich zwischen Leibeigenschaft und Kollektivwirtschaft auf schwachen Füßen. Die eigentlich gemeinte generelle These, Stalinismus sei unter anderem als russifizierter Bolschewismus zu definieren, vermag aber im Sinne einer stärkeren Einbindung des Sowjetregimes in Kontinuitäten der russischen Geschichte, seien es politische, ökonomische, soziale oder mental-kulturelle, dennoch zu überzeugen.

Von selbst sollte sich schließlich das dritte Wesensmerkmal verstehen. Obwohl gelegentlich eine Neigung zu beobachten war, die Rolle Stalins sehr weit herunterzuspielen, wird niemand ernsthaft einem Stalinismus ohne Stalin das Wort reden wollen. Natürlich bedurfte es seiner taktischen Raffinesse, Entschlossenheit, Gewalttätigkeit, Skrupellosigkeit und Heimtücke, aber auch seiner Führungskraft und der spezifischen Art von Charisma, das ihm seit der Wende von Stalingrad nicht abzusprechen ist, um gegen erheblichen, intellektuell brillanten Widerstand den Entschluss zum neuerlichen Bauernkrieg und zum gewaltsamen Sprung in die industrielle Welt durchzusetzen. Mit guten Gründen ist argumentiert worden, eine wirkliche Alternative zu Stalin als Politiker sei nach Lenins Tod nicht erkennbar gewesen. Gewiss förderten die vielzitierten Umstände seinen Aufstieg. Zugleich nutzte er aber auch die Gunst der Stunde und prägte die Entwicklung von Staat und Gesellschaft im weitesten Sinne so sehr, dass sie ohne ihn in der Form nicht denkbar ist, die sie annahm. Individuum und objektiver Kontext gehörten auch in diesem Fall in dem Sinne zusammen, dass beide einander voraussetzten. Die «Revolution von oben» mit ihren (bis zum Ende der Sowjetunion) strukturbildenden Folgen war, als eine Handlungsoption unter anderen, sein Werk.[15]

Freilich ist ein solcher Rahmen groß. Er erlaubt es nicht nur, Schwerpunkte bei einem der Faktorenbündel zu setzen, sondern zwingt nachgerade dazu, sie nach Maßgabe der Akzente aufzuschnüren. Auf diese Weise lassen sich sowohl neuere soziokulturelle und mentalitätsorientierte als auch ältere politisch-systematische und ideologiebezogene Überlegungen aus dem Umfeld der Totalitarismustheorie einfügen, die in manchen Aspekten eine bemerkenswerte (allerdings sozusagen nicht durch eine Kreis-, sondern durch eine Spiralbewegung erzeugte) Nähe aufweisen.

Zum einen dürfte die Art der Kontinuität zwischen Lenin und Stalin weiterhin Gegenstand von Kontroversen sein, auch wenn nicht zu sehen ist, dass der qualitative Einschnitt selbst bestritten werden könnte. Nach Präzisierung verlangt ferner der historische Rückbezug des Stalinismus. Dass sie bislang ungeachtet globaler Etikette von ‹roten Zaren›, neuer ‹Leibeigenschaft› und Weltherrschaftsträumen nach Art der Legenden vom ‹Dritten Rom› nur punktuell vorgenommen wurde, mag an dem implizit erhobenen hohen Anspruch liegen – verbirgt sich dahinter doch die Tocquevillesche Frage nach dem Verhältnis zwischen Kontinuität und Wandel in und nach der Revolution. Gerade aufgrund ihrer Bedeutung spricht manches dafür, die geschichtliche Erblast nicht als eine Ursache unter anderen einzureihen. Zu überlegen wäre, ob das Substrat dieser Hinterlassenschaft, die einst vielzitierte und inzwischen vielgeschmähte Rückständigkeit, nicht (ein) Bestimmungsgrund für mehrere konkrete Ausformungen offensichtlich tradierter Erscheinungen und Probleme sein könnte. Die Annahme liegt nahe, dass die rasche Wiederherstellung eines dominanten Staates, die letztlich – trotz innerparteilicher Widerstände und lokaler Proteste in rätedemokratischem Geist – bemerkenswert reibungslose Zentralisierung aller Entscheidungsbefugnisse, die vergleichsweise konfliktlose Gleichschaltung der gesellschaftlichen Interessen mit den Vorgaben der Partei- und Staatsspitze, die ungeachtet aller passiven Proteste leichte Unterwerfung des Dorfes, die Akzeptierung nicht nur der parteilichen, sondern bald auch der persönlichen Diktatur und die Möglichkeit eines schrankenlosen Terrors, der keine nennenswerten rechtlichen, mentalen oder anders in der politischen Kultur verankerten Barrieren zu überwinden brauchte – dass all dies ohne den Fortbestand der Eigenarten russischer Staatlichkeit, Gesellschaft und Öffentlichkeit kaum denkbar war. Eine solche Bevorzugung des ‹russischen Faktors› würde gerade auch durch die Ergebnisse jüngerer sozial- und herrschaftsgeschichtlichen Studien gestützt werden. So gut wie alle Befunde: die Dysfunktion der Apparate, die Unterversorgung des riesigen Reiches mit administrativen Leistungen (undergovernment), der Wildwuchs terroristischer Willkür auf regionaler und lokaler Ebene, die Rivalität zwischen verschiedenen Satrapien und Satrapen samt ihrer jeweiligen Klientel, der schnelle Elitentausch als Folge einer ebenso gezielten wie inhaltsindifferenten Qualifikationsoffensive lassen sich am überzeugendsten – wenn auch gleichsam nur als notwendige, nicht hinreichende Voraussetzung – durch Rekurs auf Überhänge aus zarischer Zeit verständlich machen. Dies gilt auch im Licht neuerer Erkenntnisse über Keime einer ‹Zivilgesellschaft› in Gestalt einer erstaunlich vielfältigen Vereinslandschaft, aktiver Berufsverbände und einer entstehenden Kommunalpolitik im Umkreis der Stadtdumen. Denn darin sind sich die Sympathisanten des Konzepts einer evolutionären Alternative zum ‹roten Oktober› einig: Dies war ein Anfang und eine Chance, noch keine Disposition und erst recht kein Hemmnis.[16]

Zum anderen versteht sich von selbst, dass auch das alles überragende Regimeziel der Sowjetunion bis in die jüngste Vergangenheit hinein ein Erbe russischer Träume spätestens seit Peter dem Großen war: die Industrialisierung. Ob man sie nun beim Namen nannte oder ideologiekonform vom ‹Aufbau des Sozialismus› sprach, die Sache war dieselbe. Deshalb nützt es auch wenig, wozu Kritiker einer vermeintlichen ‹Verlustgeschichte› Russlands implizit auffordern, auf den Begriff der Rückständigkeit völlig zu verzichten. Man schafft den Tatbestand nicht dadurch aus der Welt, dass man seine Bezeichnung ächtet. Dafür benannten die zeitgenössischen Akteure viel zu offen, was sie wollten: im ersten Fünfjahresplan ein neues Amerika, später eher ein anderes Amerika, aber nicht ohne das technisch-zivilisatorische Niveau dieses Inbegriffs einer kapitalistischen Gesellschaft. Es war die alte Verwestlichung des 18. und 19. Jahrhunderts (hier allerdings bereits in der Ambivalenz des Ein- und Überholens), die gerade die stalinistische Sowjetunion unter marxistischen Vorzeichen auf ihre Fahnen schrieb. Nicht das Rückständigkeitskonzept, das tief in den Quellen verwurzelt ist, sollte aus dem Diskurs entfernt werden, sondern die einseitige Wertung, die es als Variante des Modernisierungsansatzes fraglos aufweist. Andernfalls würde man sich auch bei der Analyse des Stalinismus eines hilfreichen, ja unentbehrlichen heuristischen Instruments begeben und das Kind mit dem Bade ausschütten. Vieles spricht dafür, die Rückständigkeit als prägendes Strukturmerkmal der materiellen Verhältnisse in Verbindung mit der bewussten, persönlichkeits- und ideologiebestimmten, ‹mental› zumindest von ‹strategisch› bedeutenden Gruppen gebilligten Wahl exzessiver Mittel zu ihrer Überwindung als entscheidenden Katalysator der Entwicklung seit 1929 zu betrachten.[17]

Womöglich könnte eine Gedankenfigur aus dem Umfeld der vielgestaltigen Beziehung zwischen Russland und ‹dem Westen› weiterhelfen. Ihre Übertragung geht davon aus, dass die Oktoberrevolution den selbstgewählten Vergleichsmaßstab nicht beseitigt, sondern im Gegenteil als Teil der importierten Staatsideologie noch tiefer eingepflanzt hat. Mehr noch, das Regime beging sogar den Fehler, das Niveau ‹des Kapitalismus› zur Elle seiner eigenen Leistung zu machen und damit Ansprüche zu verfestigen, denen es immer weniger gerecht zu werden vermochte. Von Anfang an zwang es sich, moderne Errungenschaften vor allem, aber nicht nur technischer Art zu übernehmen. Lenins bekannte Definition des Sozialismus als «Sowjetmacht plus Elektrifizierung» brachte diese Faszination auf eine griffige Formel. Stalin verwirklichte sie in den gigantischen Projekten der ersten beiden Fünfjahrespläne und dem Import vor allem amerikanischer Technologie der neuesten Art. Aber auch Planwirtschaft und Zwangskollektivierung entstammten einem Denken, das nach ökonomischer Rationalität gemäß westlich-marxistischen Kriterien suchte (und dabei Effizienz mit Größe verwechselte). Zugleich stießen all diese Pläne und Absichten auf eine durchaus andersartige Wirklichkeit. Nicht zuletzt die russischen Gegebenheiten machten die Fließbandproduktion zur Utopie. Gedanke und Realität enger zusammenzubringen erwies sich als schwierige Operation. Auch wenn sich Stalin auf menschenverachtende Weise bemühte, gemäß seinen bekannten Worten in zehn Jahren nachzuholen, wozu Europa ein halbes Jahrhundert brauchte, und der ‹Gedanke› immer russischer wurde, schloss sich die Kluft nicht. Altes stand neben Neuem, Importiertes neben Bodenständigem, Visionäres neben Erprobtem, Utopie neben Tradition. An sich eine Selbstverständlichkeit (und nachgerade die Definition des Geschichtlichen), lud sich diese ‹Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen› im Maße des Abstandes zwischen selbstgewählter Norm und konkreter Wirklichkeit mit wachsender Spannung auf. Zugleich nahm sie die verschiedensten ‹morphologischen› Formen von Assimilation, Rezeption, Überlappung, beschleunigter Nachholung, Substitution oder auch Abstoßung an.[18]

Welche im Stalinismus zum Tragen kamen, mag im Einzelnen offen bleiben. Aber das Problem ist des Nachdenkens wert, ob seine Strukturmerkmale und der gewaltsame (letztlich im Oktoberumsturz und Bürgerkrieg wurzelnde) politische Grundgestus, der sie hervorbrachte, einschließlich der instrumentalisierten Ideologie und der mentalen Mobilisierung der Bevölkerung nicht zu einem erheblichen Teil als Niederschlag eben jener eigentümlichen Mixtur aus erborgten bzw. extern gesetzten Zielen samt bestimmter Vorstellungen von der Art ihrer Realisierung und bodenständigen, sowohl aus der Tradition als auch aus der ‹Widerständigkeit› der Verhältnisse erwachsenen Mitteln zu verstehen waren. Der bloße Rekurs auf die Ideologie bleibt schon deshalb einseitig, weil er ihre totalitär-eliminatorische Radikalisierung nicht immanent erklären kann. Gerade hierzu bedürfte es der Einbeziehung des sozioökonomischen Kontexts und des selbstgesetzten, zur kollektiven Mentalität geronnenen Hauptziels, die diagnostizierte Rückständigkeit des eigenen Landes in einem beispiellosen Kraftakt auf ‹nichtkapitalistische›, vermeintlich sozialistische Weise in kurzer Zeit zu beseitigen. Und auch die Zuflucht zur Gewalt als einer nicht ableitbaren Triebkraft von der Qualität einer anthropologischen Konstante hilft nur teilweise weiter. Sie vermag vielleicht die terroristischen Exzesse Stalins sowie einige durchaus zentrale institutionell-strukturelle Merkmale seines Regimes wie die Bedeutung des NKVD, die Existenz des Gulag und die persönliche Diktatur als solche mit ihren spezifischen Funktionsmechanismen zu erklären. Aber schon sein Aufstieg und seine Politik bis zum Beginn der Schauprozesse lassen sich mit dieser Kategorie nicht mehr zureichend beschreiben. Stalin war auch ein geschickter Taktiker, der in den Diadochenkämpfen nach Lenins Tod immer auf der richtigen Seite stand und sich – als ein Beispiel für andere – in der (über)lebenswichtigen Agrarfrage 1932/35 auf den Kompromiss der vielzitierten ‹privaten Kuh› einließ. Erst recht vermag die Kategorie der Gewalt keine befriedigende Antwort auf die Frage nach den Gründen für die unbestreitbare aufrichtige Zustimmung eines großen Teils der Bevölkerung zum Regime oder nach den Ursachen für seine ungewöhnliche Langlebigkeit zu geben. Nicht zuletzt hier ist der Hinweis auf die ökonomische und soziokulturelle Aufbauleistung in Gestalt des infrastrukturellen Industrialisierungsschubs und der primär technischen Qualifikationsoffensive unverzichtbar. Neben dem Terror gab es den «Traum», an den viele glaubten, ohne sich damit gleich permanenter Gewaltandrohung zu beugen.[19]

Bleibt schließlich der Vorschlag, den Stalinismus als Schattenseite der Moderne zu begreifen. Zweifellos kann er in den neueren Ausformulierungen für sich in Anspruch nehmen, auf besonders viele Bereiche der historischen Wirklichkeit übertragbar, in diesem Sinne besonders integrationsfähig zu sein. Seine Erklärungskraft kann helfen, spezifische Züge der Sozialpolitik ebenso zu verstehen wie die neu entdeckten Aspekte polizeilicher Überwachung und des Massenterrors, und grundsätzlich wäre er auch auf ältere, gegenwärtig gemiedene Themen wie die wirtschaftliche Entwicklung oder nach wie vor weitgehend unbekannte wie die besondere ‹Verdichtung› des Staatsapparats etwa bei der Kontrolle der Bevölkerung (‹Staatssicherheit›) übertragbar. Zugleich ist er fraglos auch geeignet, die alte, früh gesehene Spannung zwischen «Terror und Fortschritt» im Licht des high modernism, des ideologisch unterfütterten Machbarkeitswahns, der sich um Menschenleben nicht schert, in neue Zusammenhänge zu stellen. Allerdings sollte man sich bewusst sein, dass der Begriff «Moderne» dabei sehr allgemein im Sinne einer ‹Nach-Aufklärung› verwendet wird. Vor allem im angelsächsischen Gebrauch enthält er eine ausgeprägte Tendenz, auf die manipulative Nutzung von Vernunft und Wissenschaft samt deren Errungenschaften zu schrumpfen. Es ist weniger eine ‹ambivalente Moderne›, die mit diesem Konzept gemeint ist, als vielmehr eine ‹partielle› und amputierte, auch in ihrer realen Durchsetzung (bei der Industrialisierung ebenso wie in der Bildung) löchrige Moderne.

Damit nimmt auch diese Deutung, genau besehen, den Gedanken auf, der dem Rückständigkeitskonzept zugrunde liegt. Wenn vom Erbe der Aufklärung nur Kontrolle, Manipulation und Repression durch einen Staat bleiben, dem die Errungenschaften der Moderne zu einem enorm gesteigerten Potential für ihre Anwendung verholfen haben, dann schließt dieser Befund die Feststellung ein, dass sich das andere Erbe: individuelle Freiheit, Demokratie, Pluralismus und weitere Eigenschaften der Zivilgesellschaft, nicht entfalten konnte. Zwar bietet das neue Konzept weiterhin den Vorzug, die Analogien zu gesamteuropäischen Geisteslagen und politisch relevanten Denkmustern zu verdeutlichen und dadurch den Stalinismus in neuer Weise auf andere autoritär-totalitäre Ordnungen der Zeit zu beziehen. Aber seine spezifischen Ausprägungen lassen sich auch in diesem Kontext nicht ohne Rekurs auf autochtone Traditionen einschließlich ihrer Disposition für obrigkeitlich-autoritäre Lösungen – in der politischen Ordnung ebenso wie zur Überwindung von tatsächlichen oder subjektiv empfundenen Mängeln – begreifen. So wie es keinen Stalinismus ohne Stalin gibt, so gibt es auch keinen Stalinismus ohne russische Rückständigkeit und den selbstempfundenen imperativen Zwang, sie sprunghaft beseitigen zu müssen.[20]