Mitglied |
Geburtsjahr |
Parteieintritt |
Position |
N. S. Chruščev |
1894 |
1918 |
Erster Sekretär des ZK, Vorsitzender des Ministerrats der UdSSR, Vorsitzender des ZK-Büros für die RSFSR |
F. R. Kozlov |
1908 |
1926 |
Sekretär des ZK |
M. A. Suslov |
1902 |
1921 |
Sekretär des ZK |
O. V. Kuusinen |
1881 |
1904 |
Sekretär des ZK |
N. M. Švernik |
1888 |
1905 |
Vorsitzender der Kontrollkommission |
A. P. Kirilenko |
1906 |
1931 |
Erster stellvertretender Vorsitzender des ZK-Büros für die RSFSR |
N. V. Podgorny |
1903 |
1930 |
Erster Sekretär des ukrainischen ZK |
L. I. Brežnev |
1906 |
1931 |
Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets |
A. I. Mikojan |
1895 |
1915 |
Erster stellvertretender Vorsitzender des Ministerrats der UdSSR |
A. N. Kosygin |
1904 |
1927 |
Erster stellvertretender Vorsitzender des Ministerrats der UdSSR |
D. S. Poljanskij |
1917 |
1939 |
Stellvertretender Vorsitzender des Ministerrats |
G. I. Voronov |
1910 |
1931 |
Vorsitzender des Ministerrats der RSFSR |
DURCHSCHNITT |
1901 |
1923 |
|
Kandidaten |
|||
L. N. Efremov |
1912 |
1941 |
Erster stellvertretender Vorsitzender des ZK-Büros für die RSFSR |
V. V. Grišin |
1914 |
1939 |
Vorsitzender des Allunions-Zentralrats der Gewerkschaften |
K. T. Mazurov |
1914 |
1940 |
Erster Sekretär des weißrussischen ZK |
V. P. Mžavanadze |
1902 |
1927 |
Erster Sekretär des georgischen ZK |
Š. R. Rašidov |
1917 |
1939 |
Erster Sekretär des uzbekischen ZK |
V. V. Šcˇerbickij |
1918 |
1941 |
Vorsitzender des ukrainischen Ministerrats |
Quelle: Fainsod, Hough, Soviet Union, 230f.
Lange konnte man nur darüber spekulieren, wer vor allem den Sturz Chruščevs betrieb. Mal wurde Suslov genannt, der die quasi-öffentliche Anklagerede vor dem ZK-Plenum hielt, mal der KGB-Chef V. Ė. Semičastnyj, mal dessen ins Politbüro aufgerückter Vorgänger A. N. Šelepin, und offiziell bat Chruščev ohnehin selber aus Alters- und Gesundheitsgründen um seine Ablösung von einem fordernden Amt. Inzwischen sind die Archive nicht zuletzt zu diesem Problem gründlich durchforstet worden. Was sie freigegeben haben, zeigt sehr klar, dass die Fäden bei zwei anderen Funktionären zusammenliefen: Brežnev und N. V. Podgornyj. Deutlich ist auch, dass Chruščev selber sie in eine ideale Position gebracht hatte, um dies zu tun, als er sie auf dem ZK-Plenum vom Juni 1963 (als Ersatz für den dauerhaft erkrankten Kozlov) zu seinen Stellvertretern im Parteipräsidium beförderte, denen unter anderem die Leitung der Geschäfte in seiner Abwesenheit oblag. Von Anfang an konnten sie sich dabei auf die genannten Geheimdienstler verlassen. Dagegen scheint sich Suslov mit den anderen Präsidiumsmitgliedern der Verschwörung erst später angeschlossen zu haben. Anders als vormals häufig zu lesen war, wurde der Coup auch nicht kurzfristig angezettelt, sondern seit dem Frühjahr 1964 von langer Hand geplant. Im Übrigen aber haben die Akten keine fundamental neuen Erkenntnisse gebracht, so dass der grobe Ablauf der Geschehnisse als verbürgt gelten darf.
Die Verschwörer hatten aus der Erfahrung ihrer Vorgänger von 1957 gelernt. Sie informierten die ZK-Mitglieder und versicherten sich bereits vorher auch ihrer Zustimmung. Ohne Hektik warteten sie den Herbsturlaub ab, den Chruščev wie üblich am Schwarzen Meer verbrachte. In seiner Abwesenheit riefen sie am 11. Oktober 1964 das Präsidium zusammen und ließen dem bereits überwachten Partei- und Regierungschef die Aufforderung übermitteln, zur Beratung über eine neue, von ihm selbst vorgeschlagene Agrarreform nach Moskau zurückzukommen. Chruščev beugte sich dem von Brežnev übermittelten Wunsch erst nach der Drohung, andernfalls werde man sich ohne ihn mit der Sache befassen. Als er am 13. Oktober im Präsidium erschien, wurde ihm der Absetzungsbeschluss eröffnet. Chruščev versuchte sich zu verteidigen. Aber ein Redner nach dem anderen hielt ihm, in seltener Einmütigkeit, seine Verfehlungen vor. Nur Mikojan hielt anfangs zu ihm, sah dann aber die Isolation des Parteichefs und überredete ihn selber, sich in das Unvermeidliche zu fügen. Schon am nächsten Tag (dem 14. Oktober) trat eine Vollversammlung des ZK zusammen. Von den Konspirateuren einberufen, machte sie diesmal keine Anstalten, Chruščev zu retten, sondern diente im Gegenteil als Parteigericht. Die Anklage trug – offenbar stellvertretend für Brežnev und Podgornyj, die sich weigerten – Suslov in einer mehrstündigen Rede vor. Er listete auf, was sich in den vergangenen Jahren angehäuft hatte: vom völligen Fehlschlag der Agrarreformen über die unglücklichen organisatorischen Änderungen bis zu selbstherrlichen außenpolitischen Entscheidungen und Vetternwirtschaft. Ein öffentliches Scherbengericht aber blieb dem Gemaßregelten erspart. Jedermann wusste, was er vom freiwilligen Verzicht aus Gesundheitsgründen zu halten hatte, den die Zeitungen anderntags meldeten. Zur Überraschung auch der Konspirateure blieb es im Lande ruhig. Die Bevölkerung nahm die Ausbootung Chruščevs ohne öffentliche Proteste hin. Solche Ruhe verwies nicht nur darauf, dass spontane Demonstrationen in der Sowjetunion spätestens seit Ende der zwanziger Jahre unterdrückt worden waren. Sie zeigte auch an, dass der Held von einst seine Popularität eingebüßt hatte. Bei den ‹kleinen Leuten› in den Städten hatte ihn eine massive Erhöhung der Einzelhandelspreise, die Fleisch, Geflügel und andere Lebensmittel im Juni 1962 um fast ein Drittel verteuerte, viel Sympathie gekostet. Und die Intelligenz, die seine Stalinkritik eben noch bejubelt hatte, war entsetzt über seine Ausfälle gegen die moderne Kunst. Keiner ging für ihn auf die Straße.[17]
So waren die Umstände des Geschehens ebenso bemerkenswert wie dieses selbst. Was im Juni 1957 zutage getreten war, bestätigte sich: Erstmals in der sowjetischen Geschichte verlief ein Machtwechsel gewaltlos. Der Amtsinhaber wurde formal auf regulärem Wege durch das dazu befugte Gremium abgelöst. Der Übergang der Kompetenzen war nicht mehr gleichbedeutend mit der Änderung der Herrschaftsverfassung und dem blutigen Austausch der gesamten Elite. Dafür spricht auch die neue Art, mit der man den Entlassenen behandelte. Chruščev behielt seine Datscha bei Moskau, Dienstwagen und Chauffeur. Schon dies verweist auf einen tiefgreifenden und nicht nur kosmetischen Charakterwandel der Gesamtordnung. Sie hatte sich gefestigt und auf ihre Weise Prozeduren des Ämterwechsels und der politischen Kurskorrektur gefunden. So sehr sie ihn traf – in mancher Hinsicht hätte sich Chruščev, der offenbar Schlimmeres fürchtete, keinen besseren Beleg für die bleibenden Wirkungen seiner Politik wünschen können als die Art seiner Entmachtung.
Die Einmütigkeit und Gewaltlosigkeit des Umsturzes deuten auch an, wo jenseits konkreter Anlässe seine tieferen Ursachen zu suchen sind. Nicht unverbesserliche Altstalinisten machten Chruščev zum Pensionär, sondern (nach den neuesten Erkenntnissen deutlicher denn je) seine eigenen Schützlinge. Was sie antrieb, war nicht der Versuch, zur Diktatur vergangener Jahre zurückzukehren, sondern eine eigentümliche Mischung aus alter und neuer Mentalität: die Verpflichtung auf die Interessen der machtvollen Organisationen, die der sozialistische Staat inzwischen hervorgebracht hatte. Man mag dies eine sozialistische Staatsraison – oder weniger anspruchsvoll: ‹Apparate-Raison› unter unbestrittener Führung der Partei nennen. Da der Gegenstand dieser Loyalität aber ein Produkt der Stalinschen Herrschaftsordnung war, standen die heimlichen Gegner Chruščevs den alten Strukturen näher als der Partei- und Staatschef. In mancher Hinsicht trat nun eine Hinterlassenschaft Stalins zutage, die bei aller Berechtigung der Aufmerksamkeit für Terror, Industrialisierung und totalitäre Herrschaft nicht aus dem Blick geraten sollte: das enorme Wachstum der Institutionen in Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Armee. Wenn man davon ausgeht, dass sich ihre Interessen im ZK bündelten, wo viele de facto einen Anspruch auf Vertretung hatten, dann enthüllt der Protest gegen ein Novum im Parteistatut von 1961 mehr als nur eine Stimmung in der KPdSU. Der inkriminierte Passus begrenzte erstmals die maximale Amtszeit von Delegierten in den Parteigremien und schrieb die Neuwahl eines bestimmten Anteils (auf der höchsten Ebene eines Viertels, auf der mittleren eines Drittels und auf der unteren der Hälfte) der Funktionsträger vor. Auch höchste Funktionäre sollten nach Ablauf dreier Dienstperioden ausscheiden müssen. Die Betroffenen erkannten wohl richtig, dass diese Rotation sie nicht nur um ihre Pfründe, sondern auch um ihre Macht bringen würde. ‹Volksverbundenheit› stand gegen die Privilegien (und die darauf gegründete Konstitution) einer ganzen Klasse. In diesem Lichte zeigte Chruščevs Sturz auch, dass die nomenklatura längst am längeren Hebel saß.[18]
Angesichts ihrer Schlüsselrolle versteht es sich von selbst, dass auch die Partei vom neuen Geist erfasst wurde. Der Abschied vom Stalinismus war nur mit ihr denkbar. Dabei übernahm sie offenbar eine durchaus aktive Rolle. Alles spricht für die geläufige Hypothese, dass sich der unwahrscheinliche Aufstieg Chruščevs vor allem seiner Verwurzelung im Parteiapparat verdankte. Weder der Geheimdienst noch die Staats- und Wirtschaftsverwaltung oder die Armee waren stark genug, ihre Repräsentanten ins Zentrum der Macht zu befördern. Fraglos siegte in dieser Hinsicht der leninistische Grundsatz, dass die selbsternannte ‹Avantgarde› auch die führende Kraft in Staat und Gesellschaft sein sollte. Bis zu einem gewissen Grade darf man daraus eine Interessenidentität zwischen der Partei und dem ‹Kandidaten› ableiten. Was Chruščev auf seine Fahnen schrieb: die Rückkehr zur kollektiven Führung, stieß vor allem in ihren regionalen Organisationen auf offene Ohren. Deshalb liegt die Vermutung nahe, dass sie auch die Entstalinisierung in dem Maße mittrugen, wie sie sich davon Sicherheit vor Willkür, mehr Einfluss und neue Dynamik versprachen.
Das Ende der personalen Diktatur machte sich zunächst in den Führungsgremien der Partei bemerkbar. Stalins Erben verkleinerten (mit bezeichnender Eile) nicht nur ihre eigene Versammlung, das Präsidium, wieder auf eine arbeitsfähige Größe. Sie sahen sich auch genötigt, das ZK als eigentliches Leitungsorgan zwischen den Parteitagen häufiger zu Rate zu ziehen. Ursache und Anlass dafür lagen auf der Hand: Solange die Diadochen miteinander stritten, bedurfte jeder Schachzug – gleich welcher Fraktion – der Absicherung. Das ZK wurde zum Schiedsrichter. Daraus erklärt sich in erster Linie, warum es nach langen Jahren bloß marginaler Existenz ungewohnt häufig zusammentrat: im März 1953, um die Nachfolge zu regeln und Malenkovs Verzicht auf das Amt Parteisekretärs zu akzeptieren; im Juli, um Berijas Verhaftung zu bestätigen; im September, um Chruščev zum Vorsitzenden des Sekretariats zu wählen, und in den folgenden Jahren im vorgeschriebenen Turnus mindestens zweimal, um über Grundsatzfragen der Agrar- und Industriepolitik zu beraten. Das ZK entschied Anfang 1954 über das Neulandprogramm und billigte im Umfeld des 20. Parteitages die Entstalinisierung. Chruščev nutzte es kalkuliert und erfolgreich, um sich und seine Politik durchzusetzen. Den größten Triumph feierte er dabei im Juni 1957, als er es dazu brachte, den Absetzungsbeschluss des Präsidiums aufzuheben.
Auch nach dem endgültigen Aufstieg zur Alleinherrschaft hielt Chruščev am Usus fest, das Plenum des ZK regelmäßig einzuberufen. In der Retrospektive ist durchaus zweifelhaft, dass er damit nur der Form Genüge tat und auf willenlose Akklamation rechnen konnte. Zwar gab der Erste Sekretär über die Agenda hinaus zumeist auch die Beschlüsse vor. Dessen ungeachtet traf das ZK nicht nur Personalentscheidungen, die ihm unlieb sein mussten, sondern wandte sich zu guter Letzt sogar gegen ihn selber. Man wird dies angesichts der entscheidenden Rolle des Politbüros nicht als Sieg innerparteilicher Demokratie feiern wollen. Aber der Gedanke dürfte der Überlegung wert sein, dass Chruščev eine Art Zauberlehrling zu Hilfe rief, der seiner Kontrolle entglitt und sich selber zum Meister machte. Wenn ihm das ZK im Oktober 1964 anders als im Juni 1957 nicht mehr zur Seite sprang, so kam darin auch ein neues Selbstbewusstsein zum Ausdruck. Die längst mit angestammten Sitzrechten versehenen Provinzfürsten, die wichtigen Ressorts und großen Organisationen (Gewerkschaften u.a.) waren nicht mehr bereit, sich ohne Gegenwehr willkürlichen und noch weniger: sprunghaften Entscheidungen einer autokratischen Obrigkeit zu unterwerfen. Insofern wurde Chruščev vom Prinzip der kollektiven Führung eingeholt, das er selbst propagiert hatte – nur meinte es nicht die Stärkung demokratischer Prozeduren, sondern die Berücksichtigung der Interessen jener Funktionärselite in Partei, Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur, die sich inzwischen als nomenklatura verfestigt und etabliert hatte.[19]
In ähnlicher Weise wie das ZK wertete Chruščev die Parteitage auf. Formal mit den breitesten Kompetenzen ausgestattet, waren sie unter Stalin zu Akklamationsorganen verblasst, die nach 1939 nicht einmal mehr zur Aufrechterhaltung der Fassade gebraucht wurden. Chruščev änderte auch dies, freilich ohne ihnen zu einer ähnlichen Bedeutung zu verhelfen wie kurz vor und nach Lenins Tod. Korrektur und Unterschied waren gleichermaßen bezeichnend. Einerseits berief Chruščev die Repräsentativversammlung aller Parteimitglieder ein, um die großen Weichenstellungen seiner Politik legitimieren zu lassen. Der 20. Parteitag 1956 brachte die Entstalinisierung in Gang und bestätigte die Agrarreformen. Der 21., außerordentliche Parteitag wurde 1959 eigens zur Diskussion über einen neuartigen, vom Usus seit 1928 abweichenden Siebenjahresplan einberufen. Der 22. Kongress, der knapp zwei Jahre später ungefähr wieder im üblichen Turnus zusammentrat, nahm das neue Parteiprogramm samt Statut an, bekräftigte die Notwendigkeit der Aufarbeitung der Vergangenheit und unterstützte Chruščevs hochfliegende Pläne, die Versorgung der Bevölkerung auf amerikanisches Niveau zu bringen. Zugleich bleibt es bemerkenswert, dass nach Stalins Tod immerhin drei Jahre vergingen, bis ein Parteitag zusammentrat. Offenbar sahen die führenden Genossen keinen Anlass, das Parteivolk über den künftigen Weg zu befragen. Sie klärten die Nachfolge unter sich und riefen nur das ZK zur Legitimation an. Ähnlich warteten auch Chruščevs Nachfolger, bis keinerlei Unruhe mehr zu befürchten und ihr Coup fast vergessen war. Erst 1966 beriefen sie den 23. Parteitag ein. Beides zeigt: Das Ende der personalen Diktatur stärkte nur die Oligarchie, nicht aber die tatsächliche Mitsprache der unteren Organisationen. Was sich nie hatte entfalten können, entstand auch 1953 nicht.
Aus der neuen Rolle des ZK ergab sich für jeden Anwärter auf die höchste Macht die Notwendigkeit, seine Gefolgschaft im ZK zu erweitern. Chruščev ging dabei so energisch zu Werk, dass frühe Interpreten gemeint haben, nicht zuletzt darin ein Indiz für die Kontinuität der Herrschaftsordnung sehen zu können. Analogien boten sich in der Tat an: Wie Stalin begann Chruščev die letzte Etappe seines Aufstiegs als Erster (= General-) Sekretär der Partei; wie jener nutzte er diese Stellung, um seine Klientel in die entscheidenden Ämter zu bringen. An erster Stelle galt diese Patronage den leitenden Sekretären der Parteiorganisationen in den Republiken und größeren Städten. Da viele von ihnen über Sitz und Stimme im ZK verfügten, sicherte er sich auf diese Weise nicht nur Rückhalt in der Provinz, sondern auch das Wohlwollen der oberen Parteigremien. Von Chruščevs Fürsorge profitierten dabei zunächst vor allem Mitarbeiter aus den Parteiverbänden, die er selbst geleitet (und gesäubert) hatte. Alte Gehilfen aus Moskau rückten zum Innenminister und zum Stellvertretenden Leiter des KGB auf; treue Anhänger aus der Ukraine wie Kirilenko oder Brežnev wurden Parteifürsten im Ural und in Kazachstan. Hinzu kamen auffallend viele Funktionäre aus Leningrad, die mit Ždanov gefallen waren, aber überlebt hatten. Insgesamt tauschte Chruščev in der kurzen Zeit zwischen September 1953 und Februar 1956 immerhin 45 von 84 Ersten Sekretären von Republiks- und Regionalorganisationen der KPdSU aus. Dies hatte zur Folge, dass ungefähr ein Drittel der ZK-Mitglieder (nicht stimmberechtigte eingeschlossen) eng mit ihm verbunden waren und ein weiteres Drittel aus Personen bestand, die ihn wahrscheinlich unterstützten. Auch diese (traditionelle) Ableitung von Macht aus erfolgreicher Personalpolitik würde erklären helfen, warum sein Stern nach der Dekadenwende sank. Denn zum Ergebnis verschiedener Krisen und Kompromisse zwischen dem 21. und 22. Parteitag gehörte ein massives Revirement der regionalen Parteisekretäre. Mehr als die Hälfte wurde allein in der RSFSR und der Ukraine ausgewechselt. Wenn man davon ausgeht, dass diese Veränderungen nicht von Chruščev, sondern von seinen innerparteilichen Gegnern betrieben wurden, wäre auch die zweite Entstalinisierung als ‹Vorwärtsverteidigung› in bedrängter Lage zu deuten. Aber auch wenn man die Ursachen für seinen Sturz eher in innen- und außenpolitischen Fehlern sucht, liegt im Ergebnis ein Argument zugunsten des oligarchisch-interessenzentrierten und zu Lasten des monokratisch-herrschaftsbezogenen (totalitaristischen) Ansatzes. Wer Chruščevs Aufstieg und Macht mit Stalins gleichsetzt, muss erklären, warum beides wieder zunichte wurde.[20]
Zu einem großen Teil kamen die ‹neuen Leute› fraglos aus der alten Partei. Auf längere Sicht aber wollte Chruščev mehr. Eine Erneuerung der Politik mit dem Ziel der Wiedergewinnung der Dynamik seiner ‹Lehrjahre› im ersten Planjahrfünft verlangte auch eine andere Partei. Für die gesamte Ära war typisch, dass Stalins Nachfolger beides miteinander verband: eine nicht unerhebliche, anfangs sogar ausgeprägte Kontinuität auf den oberen Ebenen und eine bewusst geförderte, zum Teil stürmische Erneuerung der einfachen Mitgliederschaft. Übernahme und langsame Ablösung der alten Kader lassen sich durch eine Langzeitstudie über die ZK-Angehörigen belegen. Demnach behaupteten immerhin 60 % der vom 19. Parteitag 1952 (wieder)gewählten Vollmitglieder auf dem 20. Parteitag 1956 ihren Sitz, während 40 % zum ersten Mal in dieses Gremium eintraten. Das umgekehrte Verhältnis errechnet sich erst für die Personen, die der 22. Parteitag 1961 bestimmte. Von ihnen waren 60 % neu und 40 % ‹alt›. Beachtung verdient überdies, dass der Anteil derjenigen, die dem ZK seit 1956 angehörten, auf die Hälfte schrumpfte. Ähnlich deutlich ging auch die Quote derer zurück, die 1952 den Sprung ins höchste Organ der Partei geschafft hatten. Dies legt den klaren Schluss nahe, dass der personelle Abschied von der Vergangenheit nicht 1956 stattfand, sondern fünf Jahre später auf dem zweiten Entstalinisierungskongress. Paradoxerweise wählte eben diese Versammlung den Großteil derer, die bis zur Mitte der siebziger Jahre und, soweit sie nicht verstarben, bis zum Beginn der Perestrojka die Geschicke der Partei lenkten. Daraus kann man zum einen entnehmen, dass Chruščev beim Tribunal über die ‹parteifeindliche› Gruppe der Altstalinisten von 1957 seine eigenen Totengräber bestellte. Zum anderen drängt sich aber auch die oben skizzierte Deutung auf: dass die mächtigen Institutionen und Interessen des Reiches ihren Einfluss mehr und mehr geltend machen und sozusagen verstetigen konnten. Sie kündigten ihrem Mentor die Gefolgschaft auf, als dessen Reformen in ihren Augen mehr Schaden als Nutzen brachten; danach trugen sie die zunehmend unbewegliche Sowjetunion bis zum Untergang. Ihr Ende war auch deren Ende.[21]