Diese Neuerung war ebenfalls leichter angekündigt als umgesetzt. Weder vermochten die Kolchosen die vielfältigen Tätigkeiten ohne Weiteres von einer naturalen Vergütung in eine geldliche umzurechnen, noch verfügten sie über ausreichende Liquidität, um die konvertierten Löhne tatsächlich auszahlen zu können. In den meisten Fällen blieb es bei einer Mischung aus naturalen und monetären Leistungen, die sich allerdings zugunsten der Letzteren verschob. In den Jahren 1959/60 entfielen 58,4 % des gesamten Lohnfonds auf Geld, 1963/64 bereits 67,8 %; umgekehrt wurden im gesamten Jahrfünft bis 1964 immer noch bis zu 25 % des Gesamtlohns in Naturalien ausgegeben. Bis zum Sommer 1962 stellten sich ungefähr 8000 Kolchosen, entsprechend einem Fünftel aller, auf das neue System um. Auch danach verlief die Konversion zögerlich, da vielen Betrieben – vor allem den normalen, nicht auf einträgliche Spezialkulturen wie Zuckerrüben oder Baumwolle ausgerichteten – das Geld fehlte. Das Problem blieb ungelöst. Noch Chruščevs Nachfolger wagten es aber auf dem 23. Parteitag 1966 nicht, sich festzulegen. Sie sprachen lediglich von der Notwendigkeit, über die Einführung des monetären Garantielohns «nachzudenken».[8]

Keiner Erläuterung bedarf, dass die Reformmaßnahmen in ihrer Gesamtheit auch darauf abzielten, das allgemeine Lebensniveau der Bauern zu heben. Chruščev besaß ‹Stallgeruch› genug, um diesen Aspekt nicht aus den Augen zu verlieren. Die Datenlage ist schwierig und besonders mit Blick auf regionale Unterschiede einschließlich der Kaufkraft lückenhaft. Dennoch dürfte feststehen, dass die neue Aufmerksamkeit für die Landwirtschaft in dieser Hinsicht Wirkung zeigte (vgl. Tabelle 46). Bis 1957 erhöhte sich die Auszahlung pro Arbeiter um 83 %; auch wenn man das niedrige Ausgangsniveau von 1952 bedenkt, bleibt der Anstieg bemerkenswert. In den folgenden drei Jahren sanken die ‹gemeinschaftlichen› Einkommen allerdings trotz guter Ernten – eine Entwicklung, die in der Tat auf die finanziellen Belastungen durch die erzwungene Übernahme der MTS hindeutet. Erst nach 1961 setzte vor allem aufgrund der erwähnten Preiserhöhung eine Erholung ein, die aber recht schnell wieder nachließ.

Der Versuch, die kollektiven Einkünfte zu steigern, verband sich mit einer Kampagne zugunsten der Umwandlung von Kolchosen in Sowchosen. Dahinter stand zum einen die frühsowjetische, ideologisch-puristische (im Übrigen auch von Stalin vertretene) Auffassung, nur die von jeglichem (auch dem gemeinsamen) Privateigentum freien Staatsbetriebe seien im eigentlichen Sinne sozialistisch zu nennen. Zum anderen drängte der Umstand in diese Richtung, dass die Arbeiter der Sowchosen als Staatsangestellte von Anfang an nicht nur einen festen, sondern auch einen (um bis zu einem Drittel) höheren Lohn erhielten als die kolchozniki. Und nicht zuletzt gab die missratene Auflösung der MTS Anlass, bankrotte Kolchosen gleich in eigene Regie zu nehmen, statt sie mit staatlichen Geldern zu entschulden. Besonders vor und nach der Dekadenwende wuchs der Anteil der Sowchosen an allen landwirtschaftlichen Betrieben daher erheblich. Während die Zahl der Kolchosen von 83.000.1956 auf 37.600.1964 fiel, stieg die der Sowchosen im gleichen Zeitraum von 5098 auf 10.078. Die bleibend große Differenz schon der bloßen Betriebszahl zeigt dabei aber auch an, dass aus der Annäherung noch lange keine Angleichung wurde. Man nahm dieses Ziel ins Visier, verfehlte es aber bei weitem. Schon deshalb konnte die neue Verstaatlichungskampagne eines nicht gewährleisten: nennenswerten finanziellen Gewinn für die Masse der Bauern. Die kolchozniki mussten sich weiterhin mit erheblich geringeren ‹kommunalen› Erträgen zufriedengeben als die Sowchos-Arbeiter. Hinzu kam, dass sich der Abstand beider zum Einkommen der Industriearbeiter ebenfalls kaum verminderte. Selbst der Durchschnittslohn auf den Sowchosen erreichte 1963–65 nur 77 % des Durchschnittslohns aller Arbeiter und 70–73 % des Einkommens der Industriearbeiter. Daher hatte auch ein besonders folgenschweres und altes Leiden der russischen Gesellschaft, die Kluft zwischen Stadt und Land, Bestand. Mochten noch so viele Häuser, Kinderhorte, Schulen und Klubs errichtet worden sein – das Dorf fand keinen Anschluss an urbanes Leben.

Dieses Gefälle förderte eine Entwicklung, die von der anhaltenden Industrialisierung ohnehin vorangetrieben wurde: die Landflucht. Dabei kamen zwei Ursachen in einem Effekt zusammen. Zur ‹alten› Abwanderung aus Mangel an dörflicher Arbeit und Lebensqualität gesellte sich der zunehmende volkswirtschaftliche Bedeutungsverlust des Agrarsektors. Wer jung und energisch war, tat wieder, was seine gleichgesinnten Vorfahren (mit einer gewissen Ausnahme in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre) ebenfalls getan hatten – er versuchte sein Glück in der Stadt. Infolgedessen stieg das Durchschnittsalter in manchen Kolchosen, wie der Vorsitzende des KSM im Mai 1965 dem ZK-Plenum berichtete, auf fünfzig Jahre an. Wer zurückblieb, musste sich mit kaum verringerten physischen Anstrengungen und anhaltendem Ausschluss von den Errungenschaften der materiellen Zivilisation abfinden. Nicht nur die Mechanisierung der landwirtschaftlichen Produktion trat auf der Stelle. Auch die Elektrifizierung des Dorfes, noch von Stalin mit großem propagandistischen Aufwand eingeleitet, machte ungeachtet einer neuen Kampagne seit Februar 1961 keine entscheidenden Fortschritte. In der Region Kaluga, immerhin nahe Moskau gelegen, verfügte noch 1963 nur jedes zweite Dorf über elektrische Energie. Und auch die, die Strom hatten, mussten sich oft noch aus kleinen und teuren Produktionsstätten versorgen, da die Errichtung von Überlandleitungen aus den Kraftwerken an den großen Staudämmen nur langsam vorankam. Welche Loblieder zeitgenössische sowjetische Berichte auch immer anstimmen mochten, die alten Zustände wichen so langsam, dass Marxens böses Wort von der «Idiotie des Landlebens» für das sozialistische Dorf nach wie vor in besonderem Maße galt.[9]

Zu diesem unerfreulichen Gesamtergebnis trug der Umstand bei, dass Chruščev auch mit seiner Lieblingsidee scheiterte. Auf dem Dorf aufgewachsen, verstand er von der Landwirtschaft genug, um den engen Zusammenhang zwischen Feldbau und Viehhaltung zu begreifen. An eine spürbare Hebung des allgemeinen Konsumniveaus war nur zu denken, wenn es ebenfalls gelang, das Aufkommen an Schlachtfleisch merklich zu vergrößern. Der Schlüssel aber für größere Herden lag weniger in der Erweiterung der Weideflächen als in der Verfügbarkeit von Futter. Schon zu den allerersten Reformvorschlägen Chruščevs gehörte daher die Idee, eine ergiebige Futterpflanze in großem Umfang anzubauen: den Mais. Die Sorte selber und ihre Vorzüge waren nicht unbekannt. Wegen klimatischer Hindernisse aber hatte man bis dahin darauf verzichtet, ihre Verbreitung zu beschleunigen. Mangelnder Niederschlag und kurze Vegetationsperioden erzeugten Risiken, vor denen auch Optimisten zurückwichen.

Dagegen setzte Chruščev mit dem ihm eigenen Wagemut, der von Leichtsinn nicht immer zu trennen war, seine ganze Hoffnung auf den Mais. Schon Ende Januar 1955 vermochte er das ZK zum Beschluss einer erheblichen Erweiterung der Anbaufläche zu bewegen. Vom Konzept her gesehen, war diese Entscheidung zwingend. Denn auch hier hing das eine mit dem anderen zusammen: Chruščev ging davon aus, dass die parallel eingeleitete Neulandkampagne in den alten Anbaugebieten Kapazitäten freisetzen würde, die für anderes genutzt werden könnten. Getreide sollte nach Kazachstan und Südsibirien ausgelagert und an seiner Stelle Mais angepflanzt werden. Der Parteichef war sich dabei der natürlichen Gefährdungen bewusst. Er empfahl jedoch, den Mais dort, wo er nicht reifen konnte, vor der Zeit zu ernten und ausschließlich für Futterzwecke zu verwenden. Vieles spricht dafür, dass er dem Mais von Anfang an eine größere Wirksamkeit zutraute, als er unter den gegebenen Umständen entfalten konnte. Insofern bestärkte der bekannte Besuch in den Vereinigten Staaten im Spätsommer 1959 nur eine Überzeugung, die schon zuvor den Charakter einer ‹fixen Idee› angenommen hatte. Dabei mag auch im Spiele gewesen sein, dass der Mais gleichsam zwischen die Fraktionen gefallen und zum Politikum geworden war. Als Teil von Chruščevs Gesamtprogramm lehnten Molotov und Malenkov seine großflächige Nutzung ebenfalls ab. Sicher hatten ihre Motive wenig mit der Frucht selbst zu tun. Dennoch wiesen sie auf Probleme hin, deren Ernsthaftigkeit sich nur allzu sehr bestätigen sollte.

Die Pflanzung begann schon in den ersten Jahren der neuen Ära. Für eine reife Ernte kamen dabei nur die Ukraine, der Nordkaukasus und einige Regionen an der südlichen Wolga in Frage. Als Grünfutter für Silolagerung aber baute man Mais in fast allen Gebieten ohne Rücksicht auf das Klima an. Auf dem Höhepunkt seiner Aussaat (1962) bedeckte er 37 Mio. ha Land zwischen dem Baltikum und Zentralasien. Nur auf 7 Mio. ha davon konnte er reifen; auf weiteren 7 Mio. ließ man ihn bis zur Bildung grüner Kolben gedeihen; auf der restlichen, immer noch riesigen Fläche wurde er grün geschnitten. Nicht genug damit zog Chruščev spätestens nach seinem endgültigen innerparteilichen Sieg auch gegen die Brache zu Felde. Vor allem die Graslandbrache, die der erwähnte Williams (Vil’jams) als Mitstreiter Lysenkos den politischen Entscheidungsträgern effektiv zu Gehör gebracht hatte, verfiel seinem Verdikt. Chruščev wollte jedes Feld ohne Ausfall nutzen und auch Regenerationsflächen verringern. In Hektar gemessen hatte er Erfolg; von Rückschlägen 1957–59 abgesehen, dehnte sich der Maisanbau kontinuierlich aus. Nur der Ertrag ließ zu wünschen übrig. Auch während der guten Jahre 1958–62 erreichte die durchschnittliche flächenbezogene Erntemenge nicht einmal die Hälfte des amerikanischen Niveaus. Als es 1963 schließlich zu einem regelrechten Misswuchs kam, brach sich die angestaute Kritik Bahn. Man warf dem Regierungs- und Parteichef vor, einer Obsession gefolgt zu sein und alle klimatischen Bedenken missachtet zu haben. Da erprobtes Wintergetreide hatte weichen müssen und die Erträge des Neulandes ebenfalls zurückgingen, summierten sich die Folgen der Fehlentscheidung zu einem «irreparablen Schaden» und prestigezehrenden Fiasko. Nicht zuletzt dieser Schlag trug zu Chruščevs Fall bei.[10]

Und auch die administrativen Veränderungen, die viele dieser Reformen begleiteten, schlugen nicht zu seinen Gunsten zu Buche. Sie begannen in der ersten, erfolgreichen Hälfte seiner Ära als Dezentralisierung. Bereits im Herbst 1953 wurden die lokalen Instanzen des Landwirtschaftsministeriums aufgelöst; die Aufsicht über die MTS und die Kolchosen lag fortan bei den entsprechenden Parteiorganisationen, die umso mehr Ursache hatten, der Kür des Überraschungskandidaten im Kampf um Stalins Nachfolge zuzustimmen. Anfang 1955 folgte die Aufhebung detaillierter Plan- und Terminvorgaben für die Kolchosen. Freilich zeigte sich schnell, dass dem Kernübel mit solchen Korrekturen nicht beizukommen war. Sie beseitigten die Fremdbestimmung der Produktionseinheiten nicht, sondern ersetzten sie nur durch die nicht minder lähmende Rivalität zwischen den MTS und den Kolchosen. Erst die Abschaffung der MTS löste dieses Problem und bewirkte den wohl einschneidendsten Umbruch der Machtverhältnisse auf dem Lande seit der Zwangskollektivierung.

Auch in der Folgezeit blieb das Ziel der Reformen im Kern unverändert. Chruščev hielt an der Prämisse fest, dass der administrative Schlüssel zur Steigerung der agrarischen Produktivität in der Befreiung der Produktionseinheiten von obrigkeitlicher Bevormundung zu sehen sei. Nur verloren die entsprechenden Maßnahmen an Überlegtheit und systematischem Gehalt. Zum Teil ergaben sie sich, wie die Abschaffung des Allunions-Ministeriums für Sowchosen im Jahre 1959 und des zentralen Landwirtschaftsministeriums unter Aufteilung der Kompetenzen beider auf die einschlägigen Republiksministerien, aus vorangegangenen Entscheidungen. Zum Teil reagierten sie auf die unerwarteten Ertragseinbrüche der Dekadenwende. Als ‹Vorwärtsverteidigung› dieser Art sind vor allem zwei Maßnahmen von 1962 zu werten. Im Frühjahr vollzogen die Reformer eine Art von schmerzlicher Radikallösung, als sie eine neue «Produktionsverwaltung» einrichteten, deren lokale Organe Vertreter des Staates und der Kolchosen umfassten und sämtliche Kompetenzen in ihrem Zuständigkeitsbereich vereinten. Zwar unterstanden die neuen Organe entsprechenden Gremien auf der Regionalebene (oblast’) und einer Zentralbehörde. Letztere wurden jedoch nicht wirklich aktiv, so dass sie den ‹produktionsnahen› Organen die faktische Gewalt überließen. Im Herbst folgte die durchgehende Zweiteilung der Parteiorganisationen in einen industriellen und einen agrarischen Strang. Über deren Wirksamkeit lässt sich keine Aussage machen; die Reform hatte zu wenig Zeit, um sich entfalten zu können. Diese Verzögerung enthielt allerdings schon eine deutliche Wertung seitens der Betroffenen: Die Partei fühlte sich in der Substanz bedroht. Die organisatorische Spezialisierung gefährdete ihre Handlungsfähigkeit und schuf weitere Verwirrung. Sie brachte das Fass der Unzufriedenheit zum Überlaufen, da der wahrscheinliche Gewinn endgültig in keinem Verhältnis mehr zum Risiko zu stehen schien.[11]

Bleibt die Frage nach der Gesamtbilanz der Chruščevschen Agrarpolitik. Sie fällt alles in allem erstaunlich positiv aus. Das Neulandprogramm war, an der absoluten Getreideproduktion gemessen, trotz der absinkenden Ertragskurve ein Erfolg. Selbst der Maisanbau erscheint nicht als pure Katastrophe, wenn man die ungeheure Ausdehnung der agrarischen Nutzfläche in Betracht zieht. Die Erhöhung der Ankaufpreise brachte die Monetarisierung der Landwirtschaft ein großes Stück voran. Der private Sektor konnte nach der Abschaffung der Zwangsabgaben aufatmen. Das Bemühen um einen Garantielohn setzte die Angleichung an industriell-gewerbliche Arbeit mit größerem Nachdruck als zuvor auf die Tagesordnung. Der Viehbestand wuchs. Und fraglos erhöhte sich der Lebensstandard sowohl der Bauern – einer Berechnung zufolge 1953–67 sogar um 311 % – als auch der Bevölkerung insgesamt erheblich. Dennoch scheiterte Chruščev nicht zuletzt an und mit seiner Agrarreform. Mehrere Umstände tragen zum Verständnis dieses scheinbar paradoxen Resultats bei. Zum einen versuchte er, das Erbübel mangelnder agrarischer Produktivität eher durch Extensivierung als durch Intensivierung zu beheben. Zum anderen fehlte es seinen Maßnahmen an Klarheit und Linie. Vor allem als sich Rückschläge einstellten, suchte er in hektischem Aktionismus Zuflucht. Zu viele und zu schnelle, unbedachte Reorganisationen folgten einander in zu kurzer Zeit und überforderten die Partei. Diese kontraproduktiven Folgen verbanden sich mit geringer relativer Effizienz angesichts anhaltend rascher Industrialisierung und Urbanisierung. Die bloß extensive Produktionssteigerung reichte nicht aus, um die Ansprüche einer wachsenden Zahl von Menschen außerhalb der Landwirtschaft zu befriedigen. Bei alledem weckte Chruščev auch noch erhebliche Erwartungen, indem er versprach, das allgemeine Lebensniveau zu erhöhen. Wenn er sie nicht einlöste, versagte dabei, genau besehen, weniger der Partei- und Regierungschef als das System. Chruščev vermochte die agrarische Produktivität nicht im nötigen Maße zu erhöhen, weil dies innerhalb der gegebenen Ordnung unmöglich war. Die Landwirtschaft blieb die Achillesferse der sozialistischen Ordnung insgesamt; immerhin aber konnte Achilles, wie man das Bild treffend ergänzt hat, auf seiner Ferse noch gehen.[12]

Auch wenn die Landwirtschaft im Vordergrund des Interesses stand, blieb deren unauflösliche Verbindung mit der Industrie allen Beteiligten stets vor Augen. Ausgesprochen oder unausgesprochen kreisten alle Überlegungen um die alte Streitfrage: wie die Förderung der Produktionsgüterherstellung und der weitere Ausbau der Kommunikationswege, Elektrizitätsversorgung und sonstigen ‹Infrastruktur› mit einer Hebung des kläglichen Lebensstandards der großen Bevölkerungsmehrheit zu vereinbaren sei. Chruščev war und blieb auch darin überzeugter Leninist und Stalinist, dass er die Notwendigkeit des «sozialistischen Aufbaus», verstanden als Grundlegung einer autarken Schwerindustrie, über jede Kritik stellte. Dazu gab nicht zuletzt das neue internationale Gewicht der Sowjetunion Anlass. Als zweite Atom- und Weltmacht, die sich ein breites Glacis aus Satellitenstaaten bis zum Eisernen Vorhang an der Elbe zugelegt hatte, war sie gezwungen, ein riesiges Heer und eine ebenso kostspielige Armada auf den Weltmeeren zu unterhalten. Dies erforderte eine entsprechende Lenkung der Ressourcen und band allgemein erhebliche Mittel. Demgegenüber musste die Konsumgüterindustrie trotz des großen Nachholbedarfs zurückstehen. Malenkov setzte aufs falsche Pferd, als er in der kurzen Zeit seiner Hegemonie die Plandaten zugunsten der alltäglichen Gebrauchsgegenstände ändern ließ. Damit fixierte er nicht nur Ziele in Maß und Zahl, die unerreichbar waren; er brachte auch die mächtige Schwerindustrie und Armee gegen sich auf. So war es kein Wunder, dass die tatsächlichen Produktionsergebnisse von 1955 deutlich hinter den reformulierten Vorgaben zurückblieben. Dennoch darf dieser Plan als ‹einigermaßen erfolgreich› gelten.[13]

Dafür ereilte den nächsten, sechsten (1956–60) ein regelrechtes Desaster. Obwohl gerade er in den zuständigen Behörden gründlich vorbereitet und vom 20. Parteitag im Februar 1956 mit besonders lauten Fanfarenstößen auf den Weg gebracht worden war, kam die Parteispitze schon zum Jahresende zu der Erkenntnis, dass die Vorgaben nicht einzuhalten seien. Das Ungleichgewicht zwischen den verschiedenen Sektoren wurde so groß, dass der Plan aus den Fugen geriet. Bereits im September 1957 widerrief ihn das ZK – beispiellos in Friedenszeiten – förmlich. An seine Stelle trat, gleichfalls ein Novum, ein Siebenjahresplan für die Jahre 1959–65, der zugleich Teil einer noch weitergehenden, bis 1970 reichenden langfristigen Orientierung war. Die Siebenjahresziele waren hochgesteckt. Das Nettosozialprodukt sollte um die Hälfte, die Industrieproduktion um gut 80 % steigen; dabei lag der Akzent abermals auf den Investitionsgütern (+ 85–88 %); aber auch der Ausstoß von Konsumgütern sollte nachhaltig erhöht werden (+ 62–65 %). Zu den Gegenständen besonderer Förderung gehörten die Chemieindustrie, die zukunftsweisenden Sektoren des Maschinenbaus (Elektrotechnik, Feinmechanik), die weitere Elektrifizierung sowie die Verbreiterung der Energiebasis (Öl, Erdgas). Damit verband sich die fortgesetzte Verlagerung der Industrie in den Osten, dem über 40 % aller Investitionen zufließen sollten. Insofern dauerte der Ausbau Kazachstans und Westsibiriens zum dritten Standort der Schwerindustrie, den schon der gescheiterte sechste Fünfjahresplan vorgesehen hatte, an.

Es waren die Werbekampagnen für diese neuen Ziele und ihre weitergehenden Perspektiven, in denen sich Chruščev zu den bekannten, oft verspotteten Vergleichen mit den Vereinigten Staaten hinreißen ließ. Bis 1970 sollte das Vaterland des Sozialismus die Vormacht des Kapitalismus nicht nur in der volkswirtschaftlichen Pro-Kopf-Produktion übertreffen, sondern auch an materiellem Wohlstand. Mit der ihm eigenen Vollmundigkeit versprach der Parteichef schon für die greifbare Zukunft Waren im Überfluss als Beweis für die Überlegenheit des Sozialismus – und errichtete abermals Maßstäbe, an denen sowohl er selbst als auch das Regime gemessen wurde. Nicht zuletzt der prahlerische Leichtsinn solcher Prognosen wurde ihm zum Verhängnis. Dessen ungeachtet sollte man die erheblichen Fortschritte nicht übersehen, die auch in der Industrie zu verzeichnen waren. Die meisten Ziele des Siebenjahresplans wurden annähernd erreicht, einige sogar übertroffen. Was an absoluten Resultaten vorzuweisen war, konnte sich sehen lassen. Auch wenn die jährliche Zuwachsrate von Jahr zu Jahr fiel, betrug sie westlichen Schätzungen zufolge, ausgehend von ca. 10 % zu Beginn der fünfziger Jahre, noch 1963 und 1964 5–6 %. Die Sowjetunion erlebte unter Chruščevs Ägide zwar kein ‹Wirtschaftswunder›, aber eine beachtliche ökonomische Konsolidierung. Sie hatte nur das Pech, dass ihr Ausgangsniveau sehr niedrig war und die Kosten der neuen Weltmachtrolle ihre wirtschaftliche Leistungskraft überforderte.[14]

Außerdem ist zu bedenken, dass die Probleme des abgebrochenen sechsten Fünfjahresplans schon mit organisatorischen Veränderungen zusammenhingen. Zu Chruščevs Lektion aus den stalinistischen Erfahrungen gehörte die Einsicht, dass die zentrale Direktion von allem und jedem in einem so riesigen Land wie der UdSSR große Reibungsverluste verursachte. Bessere Überschaubarkeit der Kompetenzen schien ein erfolgversprechendes Mittel dagegen zu sein. In diesem Geist wurde bereits Mitte 1955 der Gosplan gespalten: Eine Abteilung sollte für die langfristige («perspektivische») Planung in Zeiträumen von zehn und mehr Jahren zuständig sein, eine andere – nun «Staatliche Wirtschaftskommission» genannt – für die laufenden Angelegenheiten. Allerdings stellte sich schnell heraus, dass diese Maßnahme wenig nutzte. Die Unklarheiten, die sie schuf, machte die Begrenzung der Zuständigkeiten allemal wett. Die Reform blieb halbherzig und verlangte nach Erweiterung.

Die Gelegenheit kam, als der sechste Fünfjahresplan ins Stocken geriet. Zur Abhilfe schlug die Wirtschaftskommission vor, ihr Anweisungskompetenz für alle ökonomischen Ressorts zu erteilen, sie mithin zu einer Art Überministerium zu machen. Das konnte Chruščev ganz und gar nicht gefallen, der sich daher im Gegenzug dafür aussprach, die Industrieministerien ganz zu beseitigen und an ihrer Stelle ein Netz regionaler Volkswirtschaftsräte zu schaffen. Die Stoßrichtung dieser Initiative vom Februar 1957 war offensichtlich: Die bürokratische Stütze der Gestrigen sollte geschwächt und ein neuer ‹Ultrazentralismus› vermieden werden. Ein weiteres Mal verband Chruščev taktische Schachzüge des innerparteilichen Machtkampfs geschickt mit einem Reformkonzept, das auf breite Sympathien in den Regionen rechnen konnte. In gewisser Weise spielte er die Parteiprovinz abermals gegen das Zentrum aus – denn die Funktionäre vor Ort begriffen, dass damit eine Kompetenzverlagerung zu ihren Gunsten von erheblichem, über die Wirtschaft hinausgehendem Ausmaß begründet wurde. Auch die Namensgebung war kaum zufällig. «Volkswirtschaftsräte» hatte es in den frühen Jahren des bolschewistischen Regimes gegeben. Ungeachtet der Praxis standen sie der Idee nach für dezentrale Mitbestimmung und demokratische Entscheidungsprozeduren in der Industrie. Diese Suggestion mag dazu beigetragen haben, dass sich Chruščev abermals durchsetzte. Laut Beschluss des ZK (in dem die meisten regionalen Parteisekretäre vertreten waren) vom Februar und des Obersten Sowjets vom Mai 1957 wurden 140 regionale Volkswirtschaftsräte mit Leitungskompetenz für alle Betriebe gebildet, die mehr als lokale Bedeutung besaßen. Die große Mehrheit davon (105) entfiel auf die RSFSR; die Ukraine erhielt elf, Kazachstan neun und Uzbekistan vier; in den übrigen elf Republiken glaubte man mit je einem auskommen zu können. Alle neuen Gremien wurden von den Ministerräten der jeweiligen Republiken eingesetzt. Der Gosplan blieb für die längerfristige Allgemeinplanung zuständig; die Staatliche Wirtschaftskommission wurde abgeschafft.[15]

Allerdings war die Therapie schlimmer als die Krankheit. Was Kritiker (auch inländische) von Anfang an befürchtet hatten, trat schon bei den ersten Maßnahmen der Volkswirtschaftsräte zutage: dass sie im Wesentlichen die Bedürfnisse ihrer Region im Auge hatten, aber den Interessen des Ganzen wenig Beachtung schenkten. Dem Gesamtstaat fehlte nun eine durchsetzungsfähige Agentur. Statt die Zentrale zu schwächen, hatte man sie in der Industrie ganz abgeschafft. Schon im Sommer 1958 wurde es notwendig, lokale Eigenbrötelei mit Strafen zu bedrohen. Zugleich blieben die Kompetenzen unklar. Die Unternehmen erhielten von verschiedenen Institutionen verschiedener Ebenen Anweisungen, so dass sie im Endeffekt ihre eigenen Entscheidungen trafen. Weil niemand mehr zentral zuteilte, mussten sie sich Rohstoffe, Kapital und Arbeitskräfte durch Kooperation über die regionalen Grenzen hinweg selbst beschaffen und den Absatz ebenfalls ‹im Konzert› regeln. Bei alledem bestanden die Systemdefekte fort. Die Unternehmen produzierten weiterhin nach plankonformen Quantitäten, nicht mit Blick auf Qualität und Faktoreffizienz. Regionalisierung war nicht zu verwechseln mit Marktorientierung.

Als die Folgen sichtbar wurden und die industriellen Wachstumsraten zurückgingen, erkannte auch Chruščev die Notwendigkeit von Gegenmaßnahmen. Eine Rezentralisierung begann, die in kurzer Zeit die Fehler von Jahren rückgängig zu machen suchte. Für die wichtigsten Industriezweige wurden «Staatskomitees» eingerichtet (1962), die wenig anderes waren als die seinerzeit liquidierten Ministerien, aber ohne deren Anweisungsbefugnis. Volkswirtschaftsräte wurden miteinander verschmolzen, um größeren Räumen eine einheitliche Leitung zu geben und dem Parochialismus weiteres Wasser abzugraben; ihre Zahl schrumpfte bis Anfang 1963 auf bloße 47. Auf höchster Ebene, wo Änderungen sicher am Platze waren, wurde der Gosplan abermals gespalten: Der 1960 begründete «Staatswirtschaftsrat«sollte sich mit der langfristigen Planung befassen, während es fortan einem neuen Obersten Volkswirtschaftsrat oblag, für deren Umsetzung zu sorgen. Als man im gleichen Jahr, wie erwähnt, auch noch die Parteiorganisation durchgängig in einen industriellen und einen agrarischen Zweig teilte, wusste niemand mehr, wer welche Zuständigkeiten besaß. Hektisch wie die Gegenreformen waren, verfehlten auch sie ihren Zweck.

Dessen ungeachtet gilt ähnlich wie für die Landwirtschaft und das gesamte politische System, dass die Ära Chruščev auf einem Niveau zu Ende ging, das entschieden höher war als bei ihrem Beginn. Auch in der Industrie gaben weniger die Leistungen Anlass zu heftiger Kritik als die gut gemeinten, aber dysfunktionalen und unzureichend durchdachten organisatorischen Reformen einschließlich des Missverhältnisses zwischen tatsächlichen Errungenschaften und propagandistischen Verheißungen. Hinzu kam die Bürde der neuen Weltmachtrolle. Die Sowjetunion bewegte sich auf dünnem Eis. Sie benötigte die gesamte Kraft, die ihr System zuließ. Riskante Experimente konnte sie sich ökonomisch (nicht unbedingt politisch) noch weniger leisten als die Staaten, mit denen sie konkurrierte.[16]

Die tatsächliche Entstalinisierung war vor allem eine Erscheinung des geistig-kulturellen Lebens. Auch wenn sie die politische, soziale und wirtschaftliche Sphäre nicht aussparten, richteten sich Reform und Wandel in allen Bereichen primär auf die Motivation und Mentalität. Neuer Enthusiasmus – nach Art der Aufbruchsstimmung während des Ersten Fünfjahresplans – sollte das überkommene Gehäuse, das bei allen Veränderungen in der Grundstruktur erhalten blieb, mit Leben erfüllen. Die sozialistische Ordnung galt selbst in ihrer stalinistischen Gestalt nicht nur als heilbar, sondern im Grundsatz als historisch notwendig und alternativlos. Was sie gelähmt hatte, war der lange Schatten der Tyrannei. Dieses Verständnis erscheint als petitio principii Chruščevs und sein fataler Irrtum zugleich: dass das System funktionieren werde und der Konkurrenz überlegen sei, wenn ein frischer Geist es beseele. Dazu gehörten Eigeninitiative und ein gewisses Maß an Freiheit, aber beide gezügelt vom Glauben an die Sache des Sozialismus und seine prinzipielle Verkörperung in der gegebenen Ordnung. Eine solche einschränkende Zweckorientierung verlieh auch den kulturellen Reformen von vornherein eine grundsätzliche Ambivalenz: Einerseits schien ein größeres Maß an Meinungsfreiheit in Kunst, Wissenschaft und allgemeiner öffentlicher Diskussion unabdingbar; andererseits sollten ihre Grenzen sichtbar bleiben und ihre Kontrollinstitutionen, von der Zensur bis zu den gelenkten Berufsverbänden, fortbestehen. Nicht zuletzt aus dieser widersprüchlichen Zielsetzung dürfte die Wellenbewegung der Chruščevschen Kulturpolitik zu erklären sein. Zwar brach das «Tauwetter» aus, dem Ehrenburgs gleichnamige Erzählung einen suggestiven Namen gab; aber der Frühling blieb launisch. Auch im kulturellen Leben wurden mehr Hoffnungen geweckt als erfüllt. So gesehen, bereitete die Chruščev-Ära der Dissidentenbewegung nicht nur dadurch den Boden, dass sie den Intellektuellen eine Kostprobe von Meinungsfreiheit gewährte, sondern auch durch deren grundsätzliche Begrenzung.

Bildung und schulische Erziehung mussten in den fünfziger Jahren vor allem einem Imperativ genügen: den wachsenden Qualifikationsanforderungen, die sich aus der ökonomischen und allgemein sozial-politischen Modernisierung ergaben. Bei aller Rückständigkeit erhöhte sich sowohl das naturwissenschaftlich-technische Kenntnisniveau, das man von den Ingenieuren erwartete, als auch das administrativ-organisatorische, das für Leitungsfunktionen in der Staatsverwaltung und in gesellschaftlichen Organisationen für nötig gehalten wurde. Den Schöpfern der Kontrolldaten im Gosplan war dies bewusst. Deshalb gehörte es schon zu den Zielen der fünften Planperiode, die obligatorische Schulzeit zu verlängern und das Bildungsangebot zu erweitern. Laut Beschluss des 19., noch unter Stalin durchgeführten Parteitags sollte die siebenjährige Schule in den größeren Städten schon bis 1955 durch eine zehnjährige ersetzt werden. Zugleich sprach sich die Konferenz für die Verbesserung sowohl der allgemeinen als auch der berufsbezogenen Bildung aus. Insofern gingen die prägenden Entwicklungen im öffentlichen Erziehungswesen unter Chruščev in ihrem wesentlichen Gehalt nicht auf persönliche Vorlieben des neuen starken Mannes zurück, sondern stammten noch aus der Zeit, von der man sich nun distanzierte. Zugleich setzte sich Chruščev aber so nachdrücklich für den praktischen, «polytechnischen» Unterricht bei gleichzeitiger Verlängerung der Schulzeit ein, dass die Reformen dennoch zu einem weiteren Signum seiner Ära wurde. Auch damit knüpfte er gezielt an die sowjetische Frühzeit an. Allerdings drängt sich der Eindruck auf, dass sich Art und Absicht der Ideen gewandelt hatten: Was ursprünglich die Erziehung des «neuen Menschen» befördern sollte und als Überwindung einseitigen geistigen Trainings gedacht war, verengte sich auf den funktionalen Aspekt der Hilfestellung für die Industrialisierung und sozial-administrative Modernisierung.[1]

In dieser Gestalt begann die Renaissance der polytechnischen Ausbildung bald nach Stalins Tod. Erste Änderungen der Stundenpläne wurden 1954 vorgenommen. Ein Jahr später führte das Curriculum in den oberen Klassen zwei Wochenstunden für handwerklich-praktische Unterweisung ein. Insgesamt stieg deren Anteil am gesamten Stundenvolumen in diesem Jahr auf 15 % im Vergleich zu 8 % 1947. Bei weitgehend gleichbleibender Unterrichtszeit verringerten diese Neuerungen das Gewicht anderer Fächer. Vor allem die russische Sprache und Literatur, aber auch die Mathematik mussten Opfer bringen. Besonders schwierig gestaltete sich das praktische Lernen, da es an geeigneten Räumen, Geräten und Materialien fehlte. Mit beiden Umständen mochte zusammenhängen, dass die Lehrplanreform eine Sache, ihre Umsetzung eine andere war. Noch im Juni 1958 legten etwa drei Viertel aller sowjetischen Schulen ältere, nicht manuell-technisch orientierte und primär als Vorbereitung auf die Hochschulen gedachte Curricula zugrunde. Trotz regionaler Unterschiede hatte die Annäherung an die Bedürfnisse des Arbeitslebens noch keine entscheidenden Fortschritte gemacht.[2]

Insofern hatte Chruščev alle Ursache, sein Anliegen weiterhin engagiert zu verfolgen. Was er zur Begründung anführte, blieb dabei im Wesentlichen unverändert. Für alle hörbar und ausführlich formulierte er seine Überlegungen erstmals vor dem 20. Parteitag im Februar 1956. Der Unterricht, so konstatierte er als ‹bekannten Mangel›, bereite «nur ungenügend auf eine praktische Tätigkeit» vor. Die «Verbindung der Schule mit dem Leben» – dies eine bezeichnende und programmatische Redewendung – müsse «gefestigt» werden. Dazu sei es unabdingbar, «nicht nur neue Unterrichtsfächer einzuführen, in denen Grundkenntnisse auf den Gebieten der Technik und der Produktion vermittelt werden, sondern auch die Schüler systematisch zur Arbeit in Betrieben, Kolchosen und Sowchosen, auf Versuchsfeldern und in Schulwerkstätten heranzuziehen». Derselbe Defekt schwäche die Hochschulen, die weit «hinter dem heutigen Stand der Technik» zurückstünden und nicht in der Lage seien, dem «Aufbau des Sozialismus» zu dienen. Allerdings musste Chruščev erst die letzten Gefechte mit den Altstalinisten bestehen, bevor er seine Ideen ungeschmälert durchsetzen konnte. Am 21. September 1958 nahm das ZK ein Memorandum an, das die Parteitagsrede in Titel und Inhalt aufgriff und das entscheidende Gesetz vom 24. Dezember desselben Jahres vorbereitete. Dabei waren schärfere Töne gegen die alten Zustände kaum zu überhören. Es ging nicht mehr ‹nur› um die Harmonisierung von Erziehung und Leben, sondern auch um den Kampf gegen eine «herrschaftlich-verächtliche, falsche Einstellung zur körperlichen Arbeit» im Dienste der Aufwertung dessen, was nun «nützliche Arbeit» für die «kommunistische Gesellschaft» hieß. Das Feindbild gewann an Kontur: Die ‹akademische›, vermeintlich zum Monopolbesitz einer neuen, produktionsfernen Elite erstarrte Bildung stand am Pranger. Wer aus diesen Äußerungen sogar klassenkämpferische Töne heraushörte, lag nicht falsch. Die Aversion des frühsowjetischen Aufsteigers gegen bloß ‹theoretisches› Wissen war mit Händen zu greifen.[3]

Vielleicht blieb die konkrete Umsetzung auch deshalb etwas hinter den vorbereitenden Denkschriften zurück. In der Praxis zwang man nicht alle Kinder, sich praktisch-technische Fertigkeiten anzueignen; ‹polytechnische› Erziehung wurde nur ein Weg neben anderen. Dennoch veränderte die Reform das überkommene Schulsystem nachhaltig. Die obligatorische Schulzeit wurde von sieben auf acht Jahre verlängert. Vierklassige ‹Zwergschulen› sollten nur noch in kleinen Siedlungen geduldet werden. Mit Bedacht gab man der neuen Regelschule aber einen Namen, der ihren fragmentarischen Charakter zum Ausdruck brachte. Die «unvollständige allgemeinbildende polytechnische Arbeits-Mittelschule» sollte zwar «feste Grundlagen» auf allen «theoretischen und praktischen Wissensgebieten» vermitteln (Art. 2, 3). Aber der «vollständige» Abschluss wurde, beginnend mit dem 15. bis 16. Lebensjahr, erst durch eine dreijährige Zusatzausbildung «auf der Grundlage der Verbindung des Unterrichts mit der produktiven Arbeit» erreicht. Für diese Ergänzung durch «nützliche» Tätigkeit wurden drei Typen vorgegeben: Schulen der Arbeiter- und Landjugend für solche Absolventen der achtjährigen Regelschule, die im Berufsleben standen und blieben; allgemeinbildende polytechnische Arbeits-Mittelschulen mit Produktionsunterricht für Tätigkeiten in Wirtschaft und Kultur; und «Technika» und andere mittlere Fachschulen für die Ingenieurslaufbahn (Art. 3, 4). Darüber hinaus sah das Gesetz den Ausbau der Internate sowie die Verbesserung auch der beruflich-technischen, der mittleren Fach- und der Hochschulbildung vor. Die Aufnahme in Universitäten und gleichrangige Institutionen setzte dabei den Erwerb der «vollständigen mittleren Bildung» im neuen Verständnis voraus. Dem entsprach die Vorschrift, auch das ‹akademische› Studium enger «mit gesellschaftlich nützlicher Arbeit» zu verzahnen. «Partei- Gewerkschafts-, Komsomol- und andere gesellschaftliche Organisationen», die bei der Zulassung zu beteiligen waren, hatten nicht zuletzt auf die Erfüllung dieser Voraussetzungen zu achten (Art. 28). Für die Wissenschaft im Sinne zweckfreier Suche nach Erkenntnis blieb wenig Platz. Auch darin lag eine deutliche Abkehr von der Stalinschen ‹Buchschule›, in der ‹abstrakte› Wissensvermittlung und ‹Pauken› nach vorrevolutionärer Art wieder zu Ehren gekommen waren.[4]

Die Reformabsicht wäre indes nur unvollständig benannt, wenn man die Wiederbelebung der polytechnischen Erziehung nicht als Teil eines allgemeineren Anliegens betrachtete. Der populistische Partei- und Regierungschef suchte letztlich einen anderen Typus von Träger der sozialistischen Gesellschaft zu schaffen. Nicht zuletzt darin war er seiner Herkunft und frühsowjetischen Idealen verpflichtet, dass er ‹dem Volk› zu größeren Aufstiegschancen verhelfen wollte. Die Aufwertung manueller Fertigkeiten sollte den Ansturm auf die Hochschulen verringern und deren Funktion als unumgängliche Schleuse zu allen höheren Positionen in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft einschränken. Zugleich bemühte sich Chruščev um die Erleichterung des Zugangs zu den VUZy für Arbeiter und Bauern. Ein entsprechendes Gesetz vom 18. September 1958 war Programm und erinnerte nicht unabsichtlich an die Arbeiter- und Bauernfakultäten der zwanziger Jahre. Hinzu kam die gezielte Förderung des Abend- und Fernstudiums, verbunden mit großzügigeren Regelungen bei Arbeitsfreistellungen zu Fortbildungszwecken. In der Summe liefen diese Maßnahmen in einer Tendenz zusammen: analog zur ‹Demokratisierung› der Parteimitgliederschaft auch die Bildungselite wieder für die Unterschicht zu öffnen und ihrer Neigung zur Selbstrekrutierung entgegenzuwirken.[5]

Zum Abschied von der unmittelbaren Vergangenheit passte schließlich auch die Veränderung der Schulorganisation. Neben den Direktor «aus der Mitte der besten Lehrer» trat ein «pädagogischer Rat», dem außer Partei- und Gewerkschaftsmitgliedern auch Vertreter der Eltern angehörten. Letztere waren in besonderem Maße zu konsultieren. Zu diesem Zweck sah das Gesetz neben dem Rat noch ein eigenes «Elternkomitee» vor. Auch die Schüler, unter Stalin allein zu Gehorsam verpflichtet, durften wieder einen Ausschuss bilden und Wünsche vorbringen. Die «Einmannleitung» blieb zwar erhalten; aber sie fand im «Kollegialitätsprinzip», wie ausdrücklich formuliert wurde, eine Ergänzung. Insofern ging Chruščev in organisatorischer Hinsicht vorsichtiger vor: Er führte die Extreme der jüngeren und älteren Vergangenheit zu einem Kompromiss zusammen.[6]

Freilich erlitt die Schulreform ein ähnliches Schicksal wie die meisten anderen Neuerungen Chruščevs. Theoretisch mochte sie viel für sich haben, praktisch warf sie Schwierigkeiten auf, an denen sie schließlich scheiterte. Nach einer weitgehenden Revision der Curricula im August 1959 als eigentliche Umsetzung des Dezembergesetzes ließen schon Ausführungsbestimmungen vom Mai 1961 eine vorsichtige Distanzierung erkennen. Die polytechnische Unterweisung wurde auf zwei Disziplinen beschränkt. Faktisch lief dies oft auf das Ende der Wahlmöglichkeit und den Widerruf eines Hauptzwecks hinaus: der Vorbereitung auf das (berufliche) «Leben». Dem entsprach, dass bis 1962 etwa zwei Drittel aller Schulen elfjährige Lehrpläne eingeführt hatten, deren Umsetzung aber häufig über erste Anfänge nicht hinauskam. Um dieselbe Zeit wuchs die Kritik am neuen Konzept. Sie richtete sich zum einen gegen die Verlängerung der Schulzeit um ein Jahr und die Rückstufung der traditionellen Fächer. Zwei Übel wurden zugleich am Werk gesehen: die Verschwendung kostbarer Zeit und ein Niveauverlust im allgemeinen, theoretischen Wissen. Zum anderen machten empirische Studien deutlich, dass der manuelle Unterricht in der Regel nutzlos war, weil kaum ein Schüler den Beruf ergriff, dessen Anfangsgründe er erlernt hatte. So wurde noch unter Chruščevs formeller Regentschaft Anfang Oktober 1964 verfügt, dass die praktische Ausbildung von 1966 an auf zwei und die gesamte Schulzeit wieder auf zehn Jahre verringert werden sollte.

Nach seinem Sturz konnte der Unmut ungebremst zutage treten. Die Koordination von allgemeiner Wissensvermittlung und beruflicher Ausbildung sei, so stellte der Präsident der Pädagogischen Akademie der Wissenschaften fest, misslungen. Als ein Gesetz vom Februar 1966 den polytechnischen Unterricht unter den Vorbehalt geeigneter Bedingungen stellte, war das Experiment faktisch beendet. Diese Wende konnte sich umso ungehinderter vollziehen, als auch der abermalige Versuch, Arbeiter und Bauern an die Hochschulen zu bringen, seine Wirkung verfehlte. Der Anteil von Angestelltenkindern ging zwar von 46,1 % 1960 auf 41,1 % 1964 zurück; dementsprechend stiegen die Prozentsätze für «Arbeiter» von 34,6 % 1960 auf 39,4 % 1964 und für «Kolchosbauern» von 19,3 % 1960 auf 19,5 % 1964. Die Veränderungen berührten aber die Vorherrschaft der Manager, Funktionäre und Wissenschaftler in keiner Weise. Auch im letzten Jahr der Chruščevschen ‹Regentschaft› hatten diese Gruppen eine etwa zweieinhalb Mal größere Chance als die Unterschichten, mit einem Hochschulabschluss in oberste Positionen vorzudringen.[7]

Natürlich stellt sich die Frage, ob die geäußerten Einwände nicht noch weitere verbargen. Anlass zu breiter Opposition gab es genug. Chruščevs Rückgriff auf die zwanziger Jahre ignorierte die Existenz einer einflussreichen, anders geprägten stalinistischen Generation. Ihre arrivierten Vertreter bildeten eine neue Elite, deren einziges, an ihre Kinder weitergebbares ‹Kapital› im Zugang zur höchsten Qualifikation bestand. Die Trennung zwischen manueller und geistiger Arbeit hatte den Charakter einer deutlichen, in manchen Fällen der einzigen sozialen Grenzlinie angenommen. Hinzu kam, dass die Abneigung gegen unstandesgemäße polytechnische Verirrungen willkommene Argumentationshilfe in der akademischen Kritik an wachsenden Wissensdefiziten fand. Beide Einwände drängten zu ein und demselben Ziel: die vollständige ‹Mittelschule› wieder primär zur Vorbereitungsstufe für die Hochschulen zu machen. Soziale Distinktion und herausragende wissenschaftliche Qualifikation erwiesen sich als dominante Interessen, nicht die Produktion passgerechter, aber mittelmäßiger Funktionäre für Wirtschaft, Kultur und Politik. Dabei mag offen bleiben, welche Beweggründe letztlich den Ausschlag gaben. Sicher entfaltete die Tendenz der nomenklatura zur Exklusivität eine erhebliche Durchsetzungskraft. Zugleich bedarf die Hypothese einer gründlichen Prüfung, dass Chruščev im Zeitalter der militärischen und ökonomischen Systemkonkurrenz auch die Anforderungen an die ingenieurwissenschaftliche Qualifikation in den Schlüsseltechnologien unterschätzte.[8]

Angesichts ihrer – zumindest prinzipiellen – Unterwerfung unter das Regime wurde auch die Wissenschaft vom politischen Wandel erfasst. Gerade sie atmete auf, als Stalin das Land aus dem Griff ließ und sein Henker in den Nachfolgekämpfen unterging. Ein neuer Geist belebte die Forscherneugier und die Institutionen, die sie beherbergten. Es ist nicht übertrieben, wenn man in der disziplinären Geisteselite des Landes nicht nur ein «Tauwetter» entdeckt, sondern geradezu ein mächtiges Aufblühen unterdrückter Triebe. Vieles spricht sogar dafür, die späten fünfziger Jahre als Hoch-Zeit der sowjetischen Wissenschaft zu bezeichnen. Nie zuvor und nie danach konnte die UdSSR vergleichbare Errungenschaften vorweisen, die ihr auf der ganzen Welt zu Respekt, Glanz und Prestige verhalfen. Dass der Atombombe – nicht zuletzt dank der Genialität von Andrej D. Sacharov – in so kurzer Zeit die Wasserstoffbombe (1953) folgte und sich die erste Raumsonde von Kazachstan aus über die Erdatmosphäre (1957) erhob, beeindruckte die westliche Öffentlichkeit zutiefst und erschütterte den selbstgewissen Glauben an die uneinholbare Überlegenheit der demokratisch-kapitalistischen Ordnung. Die Rarität, dass ein russisches Wort wie sputnik (= Begleiter) zum Synonym einer neuen Erfindung wurde, verwies auf einen ebenso bezeichnenden wie bemerkenswerten Tatbestand. Zugleich zeigte sie aber auch die Grenzen der neuen Leistungskraft: Zum einen erreichte die sowjetische Wissenschaft Weltniveau nur dort, wo sie vom Staat in der Hoffnung auf militärischen und politischen Nutzen im Zeichen der Ost-West-Konfrontation und Systemkonkurrenz massiv unterstützt wurde. Zum anderen liegt auf der Hand, dass die Erfolge nicht vom Himmel fielen, sondern in erheblichem Maße auf stalinistischem Fundament ruhten. Diese Merkmale prägten die Wissenschaft unter Chruščev über den prestigeträchtigen militärtechnologischen Sektor hinaus: Forschung blieb eng mit Partei und Staat verbunden, kam aber in den Genuss größerer Bewegungsfreiheit. Weltweit akzeptierte Befunde, Theorien und Strategien konnten zur Kenntnis genommen und weiterverfolgt werden; zugleich dauerten ideologische Vorgaben und Aufträge, in ihrem Gewicht durch die neue Weltgeltung der Sowjetunion erheblich verstärkt, fort. Dabei genossen die Naturwissenschaften deutlich mehr Unterstützung als die Kultur- und Geisteswissenschaften. Immer noch galten Erstere als unentbehrliche Gehilfen des wirtschaftlichen Fortschritts und als Garanten der militärischen Selbstbehauptungsfähigkeit, während Letztere ‹nur› die Legitimation des Regimes zu befördern hatten. In der Summe blieb allerdings die Lage der Naturwissenschaften ebenfalls unsicher. Nicht nur galt die neue Freiheit auf Abruf. Darüber hinaus erwiesen sich auch die meisten organisatorischen Reformen als unwirksam oder kurzlebig. Sie erzeugten sektoral eine Scheinblüte, die ebenso schnell verlosch, wie sie entstanden war.[9]

In den Naturwissenschaften wurden neue Töne schon ein halbes Jahr nach Stalins Tod laut. Sie galten vor allem jener Disziplin, die ideologischer Oktroi auf einen besonders abseitigen Weg geführt hatte. Lysenkos ‹agrobiologischer› Trivialbehaviorismus war auch nach seinem politischen Sieg von ernsthaften Wissenschaftlern abgelehnt worden. Aber erst das Ende der terroristischen Diktatur gab den Kritikern die Möglichkeit, sich ohne Lebensgefahr öffentlich zu äußern. Dabei traten Gelehrte benachbarter Disziplinen, vom Chemiker N. N. Semenov bis zum Physiker Tamm, in die vorderste Reihe, da der Angegriffene seine Gegner im eigenen Haus erfolgreich ausgemerzt hatte. Es gelang ihnen recht schnell, Lysenkos Lehre vom Sockel zu stoßen. Molekularbiologie, Biophysik und -chemie sowie die moderne Genetik wurden nicht nur studiert, sondern auch institutionell verankert. N. I. Vavilov, der ein so tragisches Ende in den Kerkern des NKVD gefunden hatte, kam endlich zu Ehren. Allerdings konnte die Erblast der Vergangenheit nicht ganz aus dem Weg geräumt werden. Lysenko lud Chruščev 1954 auf seine Versuchsfarm ein und gewann dessen Vertrauen. Hochstaplerischer Zuchtexperte der eine, ehrgeiziger Agrarreformer der andere, hatten beide ein Interesse daran, die baldige Verfügbarkeit umweltresistenter Pflanzen zu behaupten. Chruščev ließ sich nasführen und verlängerte Lysenkos Wirken bis zu seinem eigenen Sturz. Auch wenn diese Fortsetzung eines offenkundigen Holzwegs singulär war, warf sie ein bezeichnendes Licht auf das Verhältnis zwischen Politik und Wissenschaft. Sie hilft verstehen, warum sich der neue Geist im intellektuellen Leben der Fachdisziplinen, bei Licht besehen, doch nur auf zwei Äußerungsformen beschränkte: die Rehabilitierung bereits bekannter, aber verbotener Hypothesen und die Rezeption der westlichen, gerade in den Nachkriegsjahren überaus innovativen Forschung. Man konnte zur Kenntnis nehmen und erproben – aber in den ideologischen und finanziellen Grenzen, die Partei und Staat nach wie vor setzten.[10]

Weniger spektakulär, aber nicht unbedingt wirkungsloser vollzog sich die Öffnung in anderen Zweigen der Naturwissenschaft. Chemiker konnten es endlich wagen, die international längst anerkannte Resonanztheorie offensiv zu vertreten. In der theoretischen Physik setzten sich die Quantenmechanik und andere Theorien über die Struktur der kleinsten Bausteine der Materie als Grundlage eines neuen Weltbildes durch. Der Vorwurf des Idealismus wurde schon im ersten Jahr der Diadochenkämpfe aus dem Verkehr gezogen. Nach dem 20. Parteitag wagten sich die Kritiker weiter vor. Sie wiesen nicht nur angeblich materialistische Vorwürfe gegen den Einsteinschen ‹Relativismus› zurück, sondern verbaten sich darüber hinaus weitere Empfehlungen von philosophischer Seite. Eine hochrangige Konferenz der Akademie der Wissenschaften erhob 1958 vor allem die Forderung, dass die wissenschaftliche Theoriebildung nur den Ergebnissen ihrer Experimente und eigenen Überlegungen folgen dürfe. Ideologisch-politische Auflagen, in welcher Verkleidung auch immer, würden nur in neue Sackgassen von der Art der Lysenkoschen Lehre führen. Die Gedanken Plancks, Einsteins, Heisenbergs, Bohrs, Borns, de Broglies und anderer wurden in diesem Geiste erstmals breiter diskutiert. Herausragende Forscher beteiligten sich mit eigenen Ideen an einschlägigen Debatten. Sinnbild dieser neuen Haltung war die Veröffentlichung einer vierbändigen Ausgabe der Einsteinschen Werke (1966–67). Darüber hinaus wurden auch völlig neue Gedanken und Verfahren aufgegriffen. So bemühten sich Mathematiker um das Verständnis der neuartigen Disziplin der Kybernetik. Früh erkannten sie deren enormes Potential für die Automatisierung und die Steuerung gleichartiger Abläufe verschiedenster Art. Desgleichen leisteten sowjetische Wissenschaftler wesentliche Beiträge zur Erforschung thermonuklearer Prozesse und der weiteren Geheimnisse der Materie in ihren kleinsten Elementen. In beiden Bereichen zeigten sich allerdings auch die Grenzen des Aufschwungs: Er war nicht von Dauer und hatte keine nennenswerten, längerfristigen Auswirkungen auf die sowjetische Wirtschaft und Technik.[11]

Die Vermutung liegt nahe, dass diese Beschränkung mit einem anderen auffallenden Umstand zusammenhing. Naturwissenschaft und Technik blieben in der Sowjetunion gleichsam zweigeteilt. Der Staat förderte Nützliches, technisch-militärische Errungenschaften ebenso wie primär prestigeträchtige. Solche Prioritäten waren sicher nicht spezifisch sozialistisch. In allen Ländern, nicht zuletzt den Vereinigten Staaten, galt die politische Unterstützung in erster Linie verwertbaren Vorhaben. Im sowjetischen Fall zog die Knappheit der finanziellen und technischen Ressourcen aber eine besonders große Diskrepanz zwischen theoretischen und praktischen Disziplinen nach sich. Atomindustrie und Raumfahrt kamen in den Genuss privilegierter Zuweisungen einer zentralen Kommandowirtschaft. Andere Bereiche mussten mit dem vorlieb nehmen, was übrig blieb. Um Gerätschaften war es traditionell schlecht bestellt. Praktische Fächer, die nicht unmittelbar Gewinn (auch immaterieller Art) abzuwerfen versprachen, wie die experimentelle Physik oder die Chemie, konnten mit der internationalen Entwicklung am wenigsten Schritt halten. Auch darin lag ein wichtiges Stück Kontinuität: So wie Chruščev manche wissenschaftlich-technischen Erfolge einheimsen konnte, deren Grundlagen Stalin gelegt hatte; so wie die Entfaltung der Forschung auf dem Fundament eines Bildungswesens ruhte, das ebenfalls in der Stalin-Ära entstanden war – so setzte sich die starke Förderung ‹nützlicher› Schlüsselbereiche samt des Entwicklungsgefälles zwischen den Disziplinen fort, das dadurch entstand. Wie für Chruščevs Politik galt für die Wissenschaft, dass sich alte Zustände mit neuen, ererbte Praktiken der umfassenden Parteidiktatur mit neuer Bewegungsfreiheit verbanden.

Im Zeichen gefeierter Erfolge und wachsender wirtschaftlich-technischer Bedeutung konnte es kaum ausbleiben, dass die Wissenschaft auch an Selbstbewusstsein gewann. Zum Artikulationsforum avancierte dabei die Akademie als Dachorganisation der bedeutendsten Forschungszentren und Vereinigung der führenden Gelehrten. So kann es kaum als Zufall gelten, dass der Atomphysiker Kapica 1965 eine Mitgliederversammlung nutzte, um vor einer allzu engen Bindung der Wissenschaft an staatliche Interessen zu warnen. Es liegt nahe, solche Äußerungen mit der Kritik an Chruščevs polytechnischer Bildungskonzeption in Verbindung zu bringen. Der international angesehene Wissenschaftler – ein unabhängiger, oppositionsgeneigter Mann, der (anders als Sacharov) seine Mitarbeit im hochgeheimen Projekt zum Bau der Atombombe verweigert hatte, weil es unter Berijas Oberaufsicht stehen sollte – mahnte genau besehen dasselbe ureigene Anliegen aller ernsthaften Forschung an: eine solide Fachausbildung und die Möglichkeit zu deren Entfaltung nach autonomen Präferenzen. Im Übrigen wirft es ein bezeichnendes Licht auf den Spielraum selbst öffentlicher Äußerung, über den couragierte Amtsträger verfügen konnten, wenn Kapica seine Bemerkungen mit moralisch-ethischen Beiklängen versah. Er sprach auch als Wissenschaftler, der sich angesichts entgleitender Kontrolle über die Verwertung einmal gewonnener Erkenntnisse um die Verantwortbarkeit seines Tuns sorgte.[12]

Es ist angemessen, solche selbstbewussten Töne vor dem Hintergrund des weiteren, stark beschleunigten institutionellen Wachstums der Akademie zu sehen. Angeregt vor allem durch die Öffnung zum Westen wurden zahlreiche neue Forschungseinrichtungen geschaffen. Neben der Kernphysik mit ihren großen Synchrotronen erhielten so aktuelle Arbeitsfelder wie die Molekularbiologie, Biochemie, Kybernetik, Quantenchemie und Wirtschaftsmathematik eigene Heimstätten. Sie erforderten nicht nur wachsende Finanzmittel, sondern gaben auch immer mehr hochqualifizierten Spezialisten Arbeit und Brot. So stieg die Zahl der «wissenschaftlichen Mitarbeiter» der Akademie (sonstiges Personal und Familienangehörige also nicht eingerechnet) von 4200 im Vorkriegsjahr 1940 auf 35.000.1970. Auf ihre Weise vollzog auch die Sowjetunion nach Stalins Tod eine tiefgreifende wissenschaftlich-technische Umwälzung. Nichts machte diesen Elan sinnfälliger als die umfangreichste Erweiterung in Gestalt einer völlig neuen ‹Wissenschaftsstadt› in Westsibirien. Nahe Novosibirsk entstand seit 1958, am Reißbrett entworfen und mit programmatischem Namen versehen, Akademgorodok, das «Akademiestädtchen». Nicht nur seine Retorten-Genese gab den innovativen Charakter des Unternehmens zu erkennen. Auch die dort angesiedelten Forschungszentren machten deutlich, dass sie nicht einfach Altes fortsetzen, sondern dem Pulsschlag des internationalen wissenschaftlichen Lebens folgen sollten. Unterstützend wirkte dabei der Umstand, dass die sibirische Akademie eine eigene Generalversammlung und ein eigenes (von ihr gewähltes) Präsidium erhielt. Sie genoss auf diese Weise eine weit größere Unabhängigkeit als die Leningrader Abteilung oder untergeordnete Institute. Darin kam auch ein Unterschied der Ressortzugehörigkeit zum Ausdruck: Die ‹große› Akademie war eine Einrichtung der Union, die sibirische eine der RSFSR.[13]

Aber auch die Gesamtakademie bewahrte eine bemerkenswerte Unabhängigkeit. Was für die Stalinzeit galt, traf erst recht für die Chruščev-Ära zu: Die altehrwürdige Institution ließ sich nicht vereinnahmen. Ihr politisch-administrativer Charakter blieb eigentümlich. Auf der einen Seite deutet alles darauf hin, dass der Anteil registrierter Kommunisten am wissenschaftlichen Personal kontinuierlich zunahm. Von ca. 40 % 1950 wuchs er auf etwa die Hälfte Mitte der sechziger Jahre. Unter den Institutsleitern lag er etwas, bei den rangniedrigeren, oft jüngeren Mitarbeitern deutlich über dem jeweiligen Durchschnitt. Im Kern war diese Entwicklung zwangsläufig: In der dritten oder schon vierten nachrevolutionären Generation rückte die eigene, die «sowjetische Intelligenz» endgültig in die freigewordenen Positionen ein. Auf der anderen Seite blieb die Quote eingeschriebener Kommunisten erheblich unter dem ‹Sättigungsgrad› vergleichbarer Einrichtungen. ‹Gegen den Strich› gelesen, nahm fast jeder zweite Wissenschaftler allgemein und fast jedes zweite Vollmitglied der Akademie den Nachteil in Kauf, außerhalb der Partei zu stehen. Nach wie vor bündelte sich diese Distanz in der verbrieften Praxis der Kooptation auf der höchsten Ebene. Die Versammlung der Akademiemitglieder im engeren Sinn ergänzte sich selbst. Partei und Regierung konnten drängen, aber nicht befehlen. Besonders klar trat dies zutage, als sich der Staat und bestimmte Bereiche der Wissenschaft nach Chruščevs Sturz wieder stärker voneinander entfernten. Die Akademie weigerte sich bis zuletzt, den Bürgerrechtler Sacharov, der längst unter Hausarrest stand, auszuschließen. Man sollte vorsichtig damit sein, die Unbotmäßigkeit als Solidarisierung zu werten. Aber eine Demonstration traditions- und selbstbewusster Eigenständigkeit war sie allemal.[14]

Die Geistes- und Kulturwissenschaften hatten es auch unter Chruščev schwerer. Nach wie vor standen sie unter der Fuchtel des allumfassenden Monopolanspruchs der marxistischen Weltanschauung und sahen sich mit dem Schicksal konfrontiert, entweder für falsch erklärt zu werden oder in den Dienst der offiziellen Weltanschauung zu treten. Zwar ließ der Konformitätsdruck seit Stalins Tod nach; aber die neue Großzügigkeit ging nicht so weit, dass sie ihnen wirkliche Freiheit beschert hätte. So färbte die Halbherzigkeit der Chruščevschen Reformen in besonderem Maße auf die Geisteswissenschaften ab: Einerseits durften sie Dogmen in Frage stellen, die der Staat zuvor mit Gewaltandrohung geschützt hatte, andererseits marxistischen Boden nicht verlassen. Ob diese Verbindung von Toleranz und Vorschrift überhaupt dauerhaft hätte verankert werden können, erscheint ebenso fraglich wie die Möglichkeit der ‹Dosierung› von Gewalt. Chruščevs Sturz nur wenige Jahre nach der Verbannung des schrecklichen Vorgängers aus dem Mausoleum, die viele als eigentlichen Beginn der Entstalinisierung werteten, ersparte allen Beteiligten die Nagelprobe.

Bezeichnend für den transitorischen und – retrospektiv gesehen – zaghaften Charakter der ideologischen Lockerung unter Chruščev war zum einen die Duldung neuer Wissenschaften. Der universalistische Anspruch der marxistisch-leninistischen Lehre hatte letztlich alle wichtigen Disziplinen im Keim erstickt, die in der produktiven ‹Sattelzeit› der Jahrhundertwende entstanden waren. Von der Soziologie über die Psychologie bis zur Politologie und Ökonomie hatten die neuen Kultur- und Sozialwissenschaften im ausgehenden Zarenreich bestenfalls die ersten Entwicklungsetappen mitvollzogen. In den zwanziger Jahren hatte das Regime zum Teil noch von ihnen profitiert, etwa in den Wirtschaftswissenschaften bei der Aufstellung von volkswirtschaftlichen Gesamtplänen oder in der Pädagogik bei den Überlegungen zur Erziehung des «neuen Menschen». Danach trockneten die neuen Ideen mehr und mehr aus. Das Ende der Tyrannei änderte auch dies. In der Sozialpsychologie legte man Werke aus der NĖP-Zeit wieder auf, die im Westen längst zur Pflichtlektüre gehörten (z.B. L. S. Vygockij). Sozialwissenschaftliche Fragestellungen wurden für sinnvoll befunden, die in die Begründung der Soziologie als Wissenschaft mündeten. Zugleich blieb dieser Prozess aber auch sehr begrenzt. Erst 1963 wurde ein eigenes Soziologisches Institut (an der Leningrader Universität) errichtet, und die Akademie der Wissenschaften dachte bis 1968 nach, ehe sie den gleichen Schritt vollzog. Für beide Zentren galt, dass sie ausschließlich empirisch orientiert waren. Man sammelte Daten über Kriminalität, Urbanisierung, Zeitbudgets, Heiratsgewohnheiten und demographische Veränderungen allgemein – Interpretationen aber sollten nach wie vor nicht sein, da die einzig richtigen schon befolgt wurden. Es liegt daher nahe, diese selektive Toleranz in dem Gedanken zusammenzufassen, dass erlaubt wurde, was der Sowjetstaat zur Steuerung der tiefgreifend veränderten Gesellschaft brauchte, aber nicht mehr. Sozialtechnologie war gefragt, keine Sozialtheorie.[15]

Nicht nur eine déformation professionelle gibt zu der Auffassung Anlass, dass die Behandlung der Geschichtswissenschaft in vieler Hinsicht typisch war für das Schicksal der mit kulturellen und sozialen Fragen befassten Disziplinen. Geschichte war und ist für die marxistische Weltanschauung kein Bestandteil unter anderen, sondern ihr unverzichtbares Fundament. Von Anfang an stand sie an der legitimatorischen Front, mit der durchaus ambivalenten Folge, dass ihr einerseits besondere Aufmerksamkeit, andererseits besonderer Argwohn zuteil wurde. Der geistige Aufbruch unter Chruščev veränderte weder diese exponierte Gesamtlage noch deren zwiespältiges Resultat. Auch deshalb erfuhr sie in bemerkenswert kurzer Zeit, was ihr erlaubt war und was nicht. Nach der Distanzierung vom «Persönlichkeitskult» verschaffte sich tiefergehende Kritik an der stalinistischen Vergangenheitsbetrachtung im Laufe des Jahres 1955 Gehör. Im Herbst erschien ein Sammelband, der nicht nur die Isolation der sowjetischen Historiker vom Rest der Welt beklagte, sondern auch davor warnte, vorrevolutionäre Leistungen pauschal als pseudowissenschaftlich abzutun. Eine Konferenz der offiziösen Zeitschrift Voprosy istorii (Fragen der Geschichte) verstärkte am Vorabend des 20. Parteitages die Signale, die von solchen Äußerungen ausgingen. Der Kongress selbst erlebte eine programmatische Rede von A. M. Pankratova, der anerkannten ‹ersten› Historikerin im Lande und Chefredakteurin des Fachorgans. Unterstützt von Mikojan, erklärte sie die Hinwendung zum Pioniergeist der frühen Jahre zur vordringlichen Aufgabe der Historiker. Nicht zufällig kamen damit die Revolution und revolutionäre Bewegung, Arbeiterstreiks und Bauernunruhen (denen massige Dokumentionsserien gewidmet wurden) samt der Vorgeschichte radikaler Opposition im Zarenreich zu neuen Ehren, während die glorreichen Helden der vaterländischen Vergangenheit ins Glied zurücktraten.

Zugleich forderte der Aufruf zu größerer Eigenständigkeit nachgerade dazu auf, neue Wege der Interpretation zu gehen. Dabei konnte es nicht überraschen, dass die Frage der Synchronie zwischen der russischen und der ‹westeuropäischen› historischen Entwicklung einen prominenten Platz einnahm. Zu einem Periodisierungsproblem verharmlost, lag ihr das prinzipielle Dilemma zugrunde, das sich aus der schematischen Übertragung der marxistischen, tief in westeuropäischem Denken verwurzelten Weltanschauung auf Russland ergab. Eine ganze Plejade talentierter Nachwuchshistoriker (K. N. Tarnovskij, P. V. Volobuev, I. F. Gindin, M. Ja. Gefter, L. M. Ivanov u.a.) fand sich in der 1957 begründeten Abteilung zur Erforschung der Voraussetzungen der «Großen Sozialistischen Oktoberrevolution» zusammen und bemühte sich um eine neue Lösung, die den unleugbaren sozioökonomischen Rückstand Russlands gegenüber den fortgeschrittenen kapitalistisch-imperialistischen Mächten (vor allem Großbritannien und Deutschland) in Rechnung stellte. Es entstand die gedankliche Grundlage für das Modell der «Vielschichtigkeit» oder «strukturellen Heterogenität» (mnogoukladnost’). Statt die Zählebigkeit traditionaler sozioökonomischer Formen zu leugnen, um die Legitimität der sozialistischen Revolution begründen zu können (die der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft gemäß der Marxschen Stufentheorie erst folgen sollte), hob man die Ungleichmäßigkeit der Entwicklung hervor. Darauf gestützt konnte man argumentieren, dass der historische Prozess in den fortgeschrittenen Sektoren tatsächlich für den Übergang zum Sozialismus reif gewesen sei. Das Rückständige musste gleichsam mitgerissen und im Rahmen der neuen Globalbedingungen auf den ansonsten erreichten Stand gebracht werden.

Aber nicht nur das legitimatorisch brisante Problem der unmittelbaren Vorgeschichte der Revolution erschien in neuem Licht. Ähnliche Zweifel an der behaupteten universalen Gültigkeit historischer Gesetzmäßigkeiten stellten sich bei anderen großen Fragen der makrohistorischen Deutung ein. Man debattierte zum wiederholten Male über die Anwendbarkeit des Feudalismusbegriffs und seine zeitliche Eingrenzung; man betrachtete den ‹Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus› neu und verschob seinen Beginn in Russland im Vergleich zu ‹Westeuropa› um gut hundert Jahre zur Gegenwart; man überprüfte den Sinngehalt der Engelsschen Interpretation des Absolutismus als Verselbständigung des Herrschaftsapparates angesichts eines Kräftegleichgewichts von Adel und Bourgeoisie und fand, dass zur Blütezeit des russischen Absolutismus von nennenswerter Stärke des Bürgertums nicht die Rede sein konnte. Die meisten dieser großen, über mehrere Jahre auf landesweiten Konferenzen ausgetragenen Diskussionen drangen erst später an die Öffentlichkeit. Wie inzwischen verbürgt ist (und aufmerksame Beobachter seinerzeit schon vermuteten), wurden sie auf Anweisung des ZK zu Beginn der siebziger Jahre abgebrochen; die führenden Neuerer verloren ihre einflussreichen Posten im geschichtswissenschaftlichen Betrieb. Damit ging an der Wende zur zweiten, deutlich restaurativen Hälfte der Brežnev-Ära zu Ende, was seine geistigen Wurzeln zweifellos unter Chruščev hatte. Aber auch weit radikalere und gegenwartsnähere Korrekturen des Geschichtsbildes hatten hier ihren Ursprung: Nach dem 22. Parteitag begann R. Medvedev mit der Materialsammlung für die erste fachwissenschaftlichen Ansprüchen genügende ‹Abrechnung› mit den Verbrechen Stalins. So ist die Schlüsselstellung dieser Jahre auch für eine neue – gleich ob moderate oder radikale, im Selbstverständnis sozialistische, liberal-westliche oder slavophile – Denkungsart in der Geschichts- und in anderen Kulturwissenschaften nicht zu übersehen. Manche Gedanken mussten aber bis zur Phase der Glasnost’ warten, ehe sie offen geäußert werden konnten.[16]

Auf diese Weise regte Chruščev mehr an, als er eigentlich wollte. Man darf davon ausgehen, dass er die Grenzen der neuen Freiheit vor allem in den ersten Jahren seiner Parteiherrschaft recht eng zog. Dies hilft die Kurzlebigkeit des Kurses zu verstehen, den Pankratova auf dem 20. Parteitag begründete. Zur Zielscheibe wurde dabei vor allem ihr Kompagnon als Herausgeber der Voprosy istorii E. N. Burdžalov. Als früherer Stalinist und Renegat im Wortsinn mochte er eine besondere Verpflichtung zur Wahrheit empfinden. Überdies lud sein langjähriges Arbeitsgebiet, die Geschichte des Revolutionsjahrs zwischen Februar und Herbst, nachgerade zur Revision ein, da die Auffassung zur verbindlichen Lebenslüge des Regimes erhoben worden war, der «Triumphzug der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution» – so der Titel eines späteren panegyrischen Monumentalwerks – habe unmittelbar nach dem Untergang des Zarenreichs begonnen. Was Burdžalov in zwei Beiträgen zu ‹seiner› Zeitschrift dem Publikum vorlegte, brachte nicht nur Stalinisten in Harnisch. Er zeichnete den Februaraufstand – zutreffend – als parteilich nicht gelenkten Protest, der anfangs durchaus maßvolle Ziele verfolgte, und die Bolschewiki als orientierungslosen Haufen, der nach Maßgabe des gültigen Parteiprogramms von 1903 im Kern der menschewistischen Politik folgte. Orthodoxe Geister empörten sich über die klägliche Rolle, die Stalin in diesem Szenario spielte; andere nahmen daran Anstoß, dass die Bolschewiki generell von Helden zu Statisten herabsanken. Anfang März 1957 griff das ZK selber mit einem förmlichen Beschluss ein. Die Redaktion der Voprosy istorii wurde getadelt; Burdžalov fiel der gleichzeitigen Umbildung zum Opfer, während Pankratova Selbstkritik übte und bis zu ihrem baldigen Tod im Amt blieb. Gewiss darf man unterstellen, dass die Altstalinisten im ZK diese Maßregelung mit Nachdruck forderten. Mit Blick auf das weitere Schicksal der Geschichtswissenschaft verdient aber der Umstand größere Beachtung, dass die programmatische Erklärung der neuen Redaktion nach dem ‹Juni-Putsch› erschien und spätere Verlautbarungen (1960) ihr im Kern folgten. Die offiziöse Linie warnte nun einerseits vor «Vereinfachungen, Pedanterie und Dogmatismus», andererseits aber auch vor der Herabsetzung der Rolle der Bolschewiki und der Überschätzung von «Menschewiki, Trotzkisten, Bucharinisten, bürgerlichen Nationalisten» und anderen Gegnern. Dazwischen lag als goldene Mitte der richtig verstandene Leninismus. Da dies eine Leerformel war, floss alter Wein in neuen Schläuchen: Auch unter Chruščev hatte die Geschichtswissenschaft den Leninschen Parteigeist zu stärken – nur im zeitgemäßen, vom ZK approbierten Verständnis.[17]

Ähnlichen Schwankungen unterlag die Literaturpolitik unter Chruščev. Vor dem Hintergrund besonders strenger Denkverbote während der Nachkriegsjahre lag die Versuchung nahe, allen gegenläufigen Tendenzen das Gütesiegel der Freiheitlichkeit zu verleihen. In der Tat ließen sich obrigkeitliche Kontrolle und Zensur kaum noch über das von Ždanov verfügte Maß hinaus steigern, ohne die Auslassungen offizieller Ideologiewächter selbst zur Kunst zu erheben. Der Tod Stalins beseitigte diesen Zustand. Wenn Literatur und Kunst in besonderem Maße der Autonomie und Freiheit bedürfen, wenn ihren bedeutenden Schöpfungen eo ipso nicht nur ein mimetisches Moment, sondern auch ein kritisches Potential (welcher Gestalt und Art auch immer) innewohnt, dann hatten gerade ihre Produzenten Ursache zur Erleichterung. Dies sollte aber weder über grundsätzliche Kontinuitäten hinwegtäuschen noch die zahlreichen Rückschläge aus dem Blickfeld verdrängen, die das schöngeistige Leben auch zu Zeiten unbedrängter Herrschaft Chruščevs hinnehmen musste. Ob vom «Zickzackkurs» die Rede ist oder von «Spätfrösten», gemeint ist derselbe Tatbestand: dass es dem Regime auf literarisch-künstlerischem Gebiet besonders schwer fiel, aus dem Schatten der Vergangenheit zu treten. Eine Ursache für diese Zählebigkeit lag sicher in der gleichsam kompensatorischen Aufgabe von Literatur und Kunst: Deren richtungweisende und disziplinierende Funktion schien den Staatslenkern in Zeiten tiefgreifender wirtschaftlicher und politischer Reformen am wenigsten entbehrlich. Umstritten war nur, mit welcher Strenge und welchen Methoden sie durchgesetzt werden sollte.[18]

Zur Substanz des Neuen gehörte bereits die Vorsicht, mit der es sich durchsetzte. Immerhin dauerte es bis zum Ende des Stalinschen Todesjahres, bevor der Ruf nach dem Ende der Bevormundung hörbar wurde. Erst im Dezember 1953 forderte ein junger Kritiker namens V. M. Pomerancev mit großer Resonanz bei allen, die zu lesen verstanden, «Aufrichtigkeit in der Literatur». Die Parallele zu den politischen Machtkämpfen fällt ins Auge. Als Chruščev im Sattel saß (wenn auch noch nicht fest), konnte der Protest gegen die Auswüchse der jüngsten Vergangenheit lauter werden. Zugleich galt aber auch: So wie der neue Parteichef ein Stück vom Alten war, so schloss der Kritiker an Unzufriedenheit mit der «Konfliktlosigkeit» in zeitgenössischen Romanen an, die bereits unter Stalin geäußert worden war. Man kann darüber streiten, ob der Kurzroman «Tauwetter», der im Mai 1954 erschien, tatsächlich darüber hinausging. Sein Verfasser gehörte zu den etablierten, zugleich schillernden Literaten der Sowjetunion. In den zwanziger Jahren aus Unzufriedenheit mit dem neuen Regime nach Paris emigriert, vermochte Ehrenburg den Ruch des Unzuverlässigen in den Augen der Parteiführung trotz des Übersolls an antideutschen Tiraden während des Krieges nicht wirklich abzustreifen. Nach dem Friedensschluss wurde er nicht mehr gebraucht und musste das Rampenlicht verlassen. Hinzu kam die obrigkeitlich gesteuerte antisemitische Kampagne, die ihm als Juden nicht entgehen konnte. So profitierte er von zwei Voraussetzungen, als er nach Stalins Tod vor einer unbesehenen Übernahme des Vermächtnisses warnte: Er gehörte zur approbierten «Sowjetintelligenz», und stand doch am Rande. Sein Kurzroman spiegelte dies. Ästhetisch konventionell, artikulierte er ein neues Lebensgefühl. «Tauwetter» gehörte zu jenen literarischen Produkten, die weniger dank ihrer Qualität als dank der ‹Korrespondenz› zur Zeitstimmung große Wirksamkeit entfalteten. Die ‹Moral› einer mittelmäßigen Geschichte traf die Sehnsüchte einer von Stalinismus und Krieg um einen Großteil ihres Lebens betrogenen Generation: «… denn der Winter, die Kälte weichen bereits, das Tauwetter ist da, das Eis schmilzt, der Atem des Frühlings liegt in der Luft und bringt neue Hoffnung, Auftrieb, Freude, Liebe …». Die griffige Metapher tat ein Übriges: Die neue Zeit hatte ihr Etikett.[19]

Allerdings gaben sich die Anhänger der überkommenen Dogmen noch lange nicht geschlagen. Schon im Herbst 1953 hatte das Präsidium des Schriftstellerverbandes beschlossen, nach langer Pause einen zweiten Deputiertenkongress einzuberufen. Was Auftakt eines neuen Anfangs hätte sein können, nahm den Charakter einer Heerschau der Gestrigen an. Schon im Vorfeld wurden programmatische Zeichen gesetzt. Die Verbandsleitung verurteilte den Lyriker und Chefredakteur der Zeitschrift Novyj mir (Neue Welt) A. T. Tvardovskij, die sich als Forum nonkonformistischen Denkens zu profilieren begann. Noch im selben Monat (August 1954) gelang es ihr, sogar seine Ablösung durch den prominenten und seinerzeit linientreuen Romancier Konstantin Simonov zu erwirken. So konnte es nicht überraschen, dass der zweite Kongress des sowjetischen Schriftstellerverbandes im Dezember 1954 die Chance der Reorientierung ungenutzt ließ. Unter den 734 Delegierten, die recht genau zwanzig lange Jahre nach der Gründungsversammlung zusammenkamen, fanden sich noch 123 Veteranen der ersten Stunde. Sie mochten noch Erinnerungen an die Reste avantgardistischer Experimentierfreude gehabt haben, die sich trotz aller Gegensteuerung des Regimes bis zum großen Umbruch erhalten hatten. Alle übrigen waren Kreaturen der Stalin-Ära, aufgewachsen unter der unumschränkten Vorherrschaft des «sozialistischen Realismus» und mit seltener Effizienz von auswärtigen Einflüssen abgeschirmt. Von ihnen war wenig anderes zu erwarten, als sie taten: den Niveauverlust der vergangenen Dekaden zu dokumentieren und die geltende ästhetische Doktrin in ihrer leeren Formelhaftigkeit zu bestätigen. Der Tribut an den Wandel der Zeit erschöpfte sich in vorsichtigen Rehabilitierungen (etwa von Bulgakov, des Formalisten Ju. N. Tynjanov und der Satiriker I. A. Il’f und E. P. Petrov) und der Zulassung neuer Zeitschriften, u.a. von Junost’ (Jugend), Neva (Neva) und Inostrannaja literatura (Ausländische Literatur). Obwohl diese ein pluralistisches Element in die literarische Öffentlichkeit brachten, war der zweite Schriftstellerkongress im Wesentlichen eine konservative Veranstaltung.[20]

Indes legte sich die Unzufriedenheit nicht. Weiterhin verliefen die politische und die ästhetische Debatte ungefähr im Gleichklang: Als die Abkehr vom Stalinismus auf einen ersten Höhepunkt zusteuerte, wurde die Kritik an der kanonisierten Trias von Parteilichkeit (partijnost’), ideeller Vorbildlichkeit (idejnost’) und Volksverbundenheit (narodnost’) wieder deutlicher. Auch sie fand auf dem 20. Parteitag Mitte Februar 1956 eine wirkungsvolle Tribüne. Kein Geringerer als der gefeierte Meister des «sozialistischen Realismus» Michail Šolochov nutzte die Gelegenheit, um den Anhängern des Alten die Leviten zu lesen. 3773 Menschen, rechnete er vor, seien in der Sowjetunion hauptberuflich mit Federn bewaffnet, um die «Wahrheit» zu sagen, auch wenn sie «bitter» schmecke. Dennoch habe er in den letzten zwanzig Jahren nur wenige «kluge und gute Bücher» zu entdecken vermocht. Das Mitgliederverzeichnis des Schriftstellerverbandes enthalte zu einem erheblichen Teil ‹tote Seelen›. Sicher hat nicht erst diese Schelte jene Blüte an kritischer Literatur hervorgebracht, die zum Kennzeichen des Jahres 1956 wurde. Aber sie mag den Ausbruch des ‹zweiten Tauwetters›, wie man es genannt hat, beschleunigt haben. Paradigmatisch für die neue Offenheit wurde der Roman von V. M. Dudincev «Nicht von Brot allein», der im Augustheft von Novyj Mir zu erscheinen begann. Seine ‹Lehre› ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Der hartnäckige, erst nach großem Kräfteverschleiß erfolgreiche Kampf des Erfinders Lopatkin gegen die geballte Ignoranz von Funktionären klagte einen Missstand an, der allgemein Unmut erregte und sich mit dem stalinistischen Erbe verband. Dass die Mühe schließlich doch belohnt wird, musste als Ermunterung zum Reformdenken verstanden werden. Nur wenige Leser mochten unter der Oberfläche dieses Schlüsselromans noch eine tiefere Ebene verborgen sehen, die dem Widerstand eine abstraktere Bedeutung gab: als Symbol für die Unbeugsamkeit des Geistes und jene Unauslöschbarkeit der Individualität, die selbst den stalinistischen Kasernensozialismus überstanden hatte. Ähnliches Aufsehen erregte die Erzählung «Die eigene Meinung» von D. A. Granin, die im selben Spätsommer in derselben Zeitschrift veröffentlicht wurde. Bei auffallender thematischer Ähnlichkeit legte sie zum Teil radikalere, in jedem Falle pessimistischere Schlussfolgerungen nahe als der Roman Dudincevs. Der negative Held Minaev, der durch Opportunismus, Lüge und Skrupellosigkeit eine führende Position erklommen hatte, wurde gleichsam noch entlastet – nicht seine Verfehlungen standen am Pranger, sondern das ‹System›, das sie nicht nur duldete, sondern geradezu provozierte.[21]

Die Zeit für solch weitgehende Toleranz der Zensur war allerdings knapp bemessen. Schon im Herbst 1956 zeichnete sich ihr abermaliges Ende ab. Als Begründung werden üblicherweise äußere Ereignisse angeführt. In der Tat konnte man den ungarischen Aufstand als Warnung vor ähnlichen Unruhen im eigenen Lande werten. Vor diesem Hintergrund fand die konservative Diagnose Gehör, dass die größte Gefahr von der unbotmäßigen Intelligenz ausgehe und ihre Kritik im Keime zu ersticken sei. Der Umschlag von Lob zu Tadel für die genannten Autoren machte die Kurskorrektur publik. Nach der Jahreswende folgte eine regelrechte Kampagne in Gestalt regionaler, vom Schriftstellerverband organisierter Konferenzen, die den Mitgliedern einzubläuen versuchten, was in der neuen-alten Lesart gut und was böse sei. Die Literaten hatten allerdings schon so viel von der lange vorenthaltenen ‹Speise› gekostet, dass sie nicht ohne Widerstand davon lassen wollten. Schließlich sah sich Chruščev persönlich zur Intervention veranlasst. Was er der schriftstellerischen Prominenz zu sagen hatte, wurde nicht nur von den Gemaßregelten als Rückfall in alten Stumpfsinn empfunden, zumal er sich sogar auf den einstigen Präzeptor Ždanov berief. Der misslungene Putsch vom Juni änderte nichts daran. Der bestätigte Parteivorsitzende meinte, was er sagte. Organisatorische Schritte untermauerten dies. So wurde die Gründung eines eigenen Schriftstellerverbandes der RSFSR mit einer eigenen Zeitung (Literatura i žizn’, Literatur und Leben), die dem Unionsorgan Literaturnaja gazeta (Literaturzeitung) Konkurrenz machen durfte, Ende August 1957 allgemein als gezielter Affront gegen den sperrigen Gesamtverband gewertet.[22]

Wer noch an der Ernsthaftigkeit der Renaissance stalinistischen Geistes zweifelte, wurde spätestens im folgenden Jahr durch eine Affäre belehrt, die internationales Aufsehen erregte und dem Ansehen der neuen Sowjetunion schweren Schaden zufügte. Sicher gehörte der Lyriker B. L. Pasternak in vieler Hinsicht zu den einst von Trotzki geschmähten ‹Leuten von gestern›. In einem kunstbeflissenen Moskauer Hause aufgewachsen, wo Berühmtheiten ein- und ausgingen, und noch im Zarenreich großgeworden, bewegte er sich im Gravitationsfeld verschiedener Strömungen der russischen Moderne. Zwar nahm er in den späten zwanziger Jahren auch zur politischen Wirklichkeit Stellung; dennoch fand er mehr und mehr zu der Überzeugung, dass echte Kunst einer anderen Welt angehöre und eigenen Gesetzen zu gehorchen habe. Außer Zweifel stand dabei für Freund und Feind sein außergewöhnliches Talent, das ihn schon zu dieser Zeit bekannt machte. Trotz einer vorübergehenden (vielleicht komplementären) Bewunderung für den ‹Tatmenschen› Stalin zog er sich daher nach der ‹Revolution von oben› aus der literarischen Öffentlichkeit zurück, lebte mehr schlecht als recht von Übersetzungen und überstand mit Glück und der Hilfe seines Ansehens auch gefährliche Berührungen mit dem NKVD. Nach dem Krieg begann er mit der Arbeit an jenem Roman, der die gleichsam aufgeschobene Konfrontation mit der Staatsmacht doch noch herbeiführte: Dr. Živago. Eine provozierende (und neue) Form der Veröffentlichung kam dabei mit einer entschieden antisozialistischen Aussage zusammen. Welche Bedeutungsdimensionen man diesem Spätwerk auch immer zusprechen mag, man wird es stets auch als Apotheose der autonomen Kunst, der freien, nur sich selbst verantwortlichen Schöpfung, der reinen Poesie und des singulären, prinzipiell individualistischen Genies zu lesen haben. Schon in diesem Sinne – von der Schilderung des Bürgerkriegs nicht zu reden – warf es der offiziellen Literaturdoktrin zweifellos den Fehdehandschuh hin. Pasternak mochte das vorausgesehen haben, als er das Manuskript nach der Ablehnung durch Novyj Mir einem Mailänder Verleger übergab. Die Moskauer Zensoren haben die Herausgabe einer redigierten Fassung wohl ernsthaft erwogen, wollten sich aber dem Vergleich mit der Originalversion nicht aussetzen. Rückforderungen blieben ebenso ergebnislos wie offizieller Druck. Dr. Živago erschien im November 1957 in Mailand, erwarb sich binnen kurzem den Ruf eines Jahrhundertbuchs und trug seinem Verfasser im folgenden Jahr den Nobelpreis ein. Eben dies brachte das Fass zum Überlaufen: Ein gegen den Willen der Behörden im Ausland erschienenes Werk, das implizit allen «sozialistischen Realismus» als Todsünde wider den Geist wahrer Kunst brandmarkte, wurde mit der höchsten Auszeichnung geehrt, die der kapitalistische Erzfeind zu vergeben hatte.

Die Reaktion kam prompt und in dieser Form selbst angesichts der neuen Eiszeit unerwartet. Zwei Tage nach der Stockholmer Verlautbarung gab die Literaturnaja gazeta das Signal für eine Kampagne, die seit dem Ende der Ždanovščina nicht mehr möglich schien. Pasternak wurde nicht nur vorgehalten – was in der Sache nicht falsch war –, eine «Schmähschrift» gegen den gesamten Marxismus verfasst zu haben. Er musste auch ertragen, dass Kübel von Schmutz über ihn ausgegossen wurden. Die Invektiven reichten vom «räudigen Schaf» bis zum «Schwein» mit der besonderen Pointe, dass die letztgenannte Titulierung des «Schmöker»-Autors als «Verleumdung des Schweins» zu gelten habe. Vor so viel Hass kapitulierte der alternde Dichter (geb. 1890), der keine Kämpfernatur und nicht zufällig den Weg der ‹inneren Emigration› gegangen war. Als ihm die Regierung mit drohendem Unterton mitteilte, seiner Ausreise keinen Stein in den Weg legen zu wollen, schrieb er Chruščev persönlich, dass er in der Emigration nicht leben könne und auf die Entgegennahme des Nobelpreises verzichte. Seine Anhänger blieben ihm dennoch treu. Sie machten Pasternaks Begräbnis am 2. Juni 1960 zur «ersten politischen Demonstration im nachstalinschen Russland».[23]

Auch die Parteiführung mochte eingesehen haben, dass allzu heftiger Druck den Widerstand nur stärken konnte. Mit Pasternaks Unterwerfung endete die öffentliche Denunziation. Bereits auf dem 21. Parteitag Ende Januar 1959 wurden versöhnlichere Töne angeschlagen. Die Kulturpolitiker des Politbüros räumten Fehler ein, die Literaten, darunter der 1958 auf seinen Chefsessel zurückgekehrte Tvardovskij, versprachen größere Wachsamkeit gegenüber «schlechten Büchern». Was damit auf den Weg gebracht worden war, besiegelte der dritte Kongress des Schriftstellerverbandes im Mai desselben Jahres: eine Art Kompromiss, der den Primat der Politik über individuelle Wahrnehmungsmuster und Gestaltungspräferenzen festschrieb, aber innerhalb dieser Loyalität einen gewissen Spielraum ließ. Chruščev selber erlaubte sich in seiner improvisierten Ansprache Formulierungen, die sogar als Rehabilitierung von Dudincev verstanden werden konnten.

Diese Toleranz hielt während der nächsten Jahre nicht nur an, sondern erweiterte sich noch. An der politischen Brisanz der Veröffentlichungen gemessen, die (zufällig?) mit ästhetischem Niveau zusammenfiel, markierten die anderthalb Jahre nach dem 22. Parteitag vom Oktober 1961 bis zum Frühsommer 1963 den Höhepunkt der künstlerischen Freiheit. Man sollte dabei aber nicht übersehen, dass sich die Duldung im Wesentlichen auf ein Thema beschränkte: die Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit, genauer noch – von deren terroristischen Exzessen. So gesehen relativiert sich die bald verklärte Liberalität selbst dieser Zeit zu einer Interessenkongruenz von Partei und engagierter Öffentlichkeit. Auch wenn die Endphase der Chruščev-Ära zur Wiege unterschiedlichster Kunst- und Denkströmungen wurde, die oft erst unter Gorbačev an die Oberfläche treten konnten: tiefgreifende formale und ästhetische Innovationen wird man darunter bestenfalls am Rande finden.

Für die Annahme eines temporären Zweckbündnisses als Motiv der Zensurlockerung spricht nicht zuletzt die Vorgeschichte jener Veröffentlichung, die der gesamten Zeit das Signum gab: Alexander I. Solženicyns Ein Tag im Leben des Ivan Denisovič. Auch dieses erste Beispiel der ‹Lagerprosa›, das sowjetischen Lesern legal zugänglich gemacht wurde, erschien in Novyj mir. Ungeachtet aller literarischen Qualitäten hielt Tvardovskij den Inhalt für so brisant, dass er an der Publikationsmöglichkeit zweifelte. Um dennoch zum Ziel zu gelangen, schickte er das Manuskript an einen liberal denkenden persönlichen Assistenten Chruščevs mit der Bitte, sich beim Parteichef dafür zu verwenden. In der Tat gab dieser sein Plazet, so dass die fast naturalistisch anmutende Chronik namenlosen, stumm und dumpf ertragenen, durch die beiläufige Normalität umso schlimmeren, weil hoffnungslosen Leids unter der Knute des NKVD im November 1962 gedruckt werden konnte. Die Sensation, die das Ereignis im In- und Ausland hervorrief, war absehbar. Mit ähnlicher Hilfe erreichte um dieselbe Zeit auch die dichterische Warnung des Lyrikers Evgenij A. Evtušenko vor «Stalins Erben» ein größeres Publikum. Beides hält die Frage weiterhin offen, ob Chruščevs Entscheidung wirklich seiner Impulsivität oder nicht doch einem taktischen Kalkül im innenpolitischen Machtkampf zu verdanken war. Zumindest für bewusste Grenzen der Toleranz spricht der Umstand, dass Novyj Mir um dieselbe Zeit noch weitere Produkte literarischer Vergangenheitsbewältigung vorlagen wie die Erzählungen über die berüchtigten ostsibirischen Arbeitslager an der Kolyma von V. T. Šalamov, ein autobiographischer Kurzroman (später als «Das leere Haus» im Ausland veröffentlicht) von L. K. Čukovskaja und die Enthüllungen von Žores Medvedev über Lysenko. Diese Werke durften nicht erscheinen und kursierten bald in jenem Untergrund, der sich als Mischung aus politischer Gesinnungsgemeinschaft, künstlerischer Gegenöffentlichkeit und Subkultur in den letzten Jahren der Chruščev-Ära herausbildete.

Darin kam ein Dilemma zum Ausdruck, das sich in mancher Hinsicht in der Person Tvardovskijs verkörperte: Was er nach Maßgabe literarisch-ästhetischer Qualität hätte akzeptieren wollen, erschien politisch nicht hinnehmbar. Auch der Chefredakteur jener Zeitschrift, die sich am weitesten vorwagte, war im zentral gelenkten Kulturbetrieb der Sowjetunion zugleich ein hoher Parteifunktionär (Kandidat des ZK). Ihm durfte nicht gleichgültig sein, was politisch auf dem Spiel stand: die Herrschaft der Partei über die Köpfe als Resultat einer prekären Balance zwischen Meinungsmanipulation und Glaubwürdigkeit. Um sie zu wahren, mussten Wahrheit und Ästhetik zurückstehen. Es war und blieb das Menetekel aller ideologischen Lockerungen in der Sowjetunion, dass sich geistige Freiheit nicht dosieren ließ. Chruščev förderte die Aufdeckung der stalinistischen Verbrechen, um den Beginn einer neuen Epoche zu unterstreichen. Aber er tat dies auf dem Boden der bestehenden Ordnung. Daher konnte er kein Interesse an jener Radikalisierung haben, die den angeprangerten Terror, wenn auch nicht im Ausmaß, so doch in der Substanz, dem 1917 begründeten System als solchem anlastete. In dieser Perspektive scheint es überaus fraglich, ob der Parteichef und seine Gesinnungsfreunde die Entstalinisierungsliteratur (etwa durch die bereits vereinbarte, aber nach Chruščevs Absetzung unterbliebene Veröffentlichung von Solženicyns großem Roman Der erste Kreis der Hölle) wirklich hätten gewähren lassen können – es sei denn, sie hätten Fundamentalkritik zumindest an der Stalinschen Version der sozialistischen Gesellschaft in Kauf genommen.[24]

In dieser Perspektive war eine neuerliche Kehrtwende Chruščevs nur eine Frage der Zeit, nicht des Prinzips. Wenn die Toleranz nicht zum unberechenbaren Risiko werden sollte, schien es unvermeidbar, sie in die Schranken zu weisen. Dieser Korrekturversuch begann mit abfälligen Bemerkungen Chruščevs beim Besuch einer großen Ausstellung Moskauer Künstler am 1. Dezember 1962. Der Partei- und Regierungschef, der wohl von konservativer Seite mit eben diesem Hintergedanken in die «Manege» geladen worden war, empörte sich besonders über die abstrakte Malerei. «Gekleckse», das nicht erkennen lasse, ob es «von Menschenhand gemalt oder mit dem Schwanz eines Esels draufgeschmiert» sei und von Leuten stamme, deren «Gehirnkasten … schief» sitze, habe mit Sozialismus nichts gemein. Es lag auf der Hand, was demgegenüber wieder zu neuen Ehren kommen sollte: die Verpflichtung auf ‹konstruktive› Werte, deren offiziöse Billigung sich von selbst verstand. Die Rückbesinnung auf den «sozialistischen Realismus» schien plötzlich derart zu drängen, dass der zuständige ZK-Sekretär die künstlerischen Meinungsführer schon Mitte Dezember zu einem Treffen beorderte, auf dem Chruščev selbst auftrat. Sein Einsatz lohnte sich; die obrigkeitliche Intervention zeigte Wirkung. Evtušenko gestand öffentlich Fehler ein. Der Schriftstellerverband verpflichtete sich, «wahrhaftig … über das Volksleben zu schreiben» und die Werke dabei «sowohl mit Politik als auch mit der Poesie friedlicher Schöpfungsarbeit, hoher staatsbürgerlicher Leidenschaft und ins Herz gehender Lyrik» zu füllen. Zugleich machte sich aber auch Widerspruch bemerkbar. Die meisten prominenten Autoren hielten sich auffällig bedeckt. Tvardovskij wagte sich sogar mit einem deutlich kritischen Poem an die Öffentlichkeit. Und Evtušenko sah sich nach einer heftigen Zeitungsattacke von einer eindrucksvollen Sympathiewelle gestärkt. Auch der erste, aufsehenerregende Literatenprozess, der dem Leningrader Lyriker I. A. Brodskij im Frühjahr 1964 fünf Jahre Zwangsarbeit eintrug, zeitigte nicht die gewünschte disziplinierende Wirkung. So drängt sich trotz der Unterwürfigkeit des Schriftstellerverbandes und mancher literarischer Kleinproduzenten der Gesamteindruck auf, dass die Bemühungen der Parteispitze um die Wiedergewinnung ästhetischer und thematischer Kontrolle über die Literatur in deutlichem Kontrast zu ihrem Erfolg standen. Die erneute geistig-kulturelle Wende aber hatte bereits stattgefunden. Das Tauwetter war im Begriff, neuem Frost zu weichen.[25]