Tabelle 48:  Mitglieder des Politbüros der KPdSU im Januar 1978

Mitglied

Geburtsjahr

Parteieintritt

Position

L. I. Brežnev

1906

1931

Generalsekretär des Zentralkomitees und Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets

Ju. V. Andropov

1914

1939

Vorsitzender des KGB

V. V. Grišin

1914

1939

Erster Sekretär des Moskauer Stadtparteikomitees

A. A. Gromyko

1909

1931

Außenminister

A. P. Kirilenko

1906

1931

Sekretär des Zentralkomitees

A. N. Kosygin

1904

1927

Vorsitzender des Ministerrats

F. D. Kulakov1

1918

1940

Sekretär des Zentralkomitees

D. A. Kunaev

1912

1939

Erster Sekretär des kazachischen ZK

K. T. Mazurov

1914

1940

Erster stellvertretender Vorsitzender des Ministerrats

A. Ja. Pel’še

1899

1915

Vorsitzender der Parteikontrollkommission

G. V. Romanov

1923

1944

Erster Sekretär des Leningrader Parteikomitees

V. V. Ščerbickij

1918

1941

Erster Sekretär des ukrainischen Parteikomitees

M. A. Suslov

1902

1921

Sekretär des Zentralkomitees

D. F. Ustinov

1908

1927

Verteidigungsminister

DURCHSCHNITT

1911

1933

Kandidaten

G. A. Aliev

1923

1945

Erster Sekretär des azerbajdžanischen Parteikomitees

K. U. Černenko

1911

1931

Sekretär des Zentralkomitees

P. N. Demičev

1918

1939

Kultusminister

V. V. Kuznecov

1901

1927

Erster stellvertretender Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets

P. M. Mašerov

1918

1943

Erster Sekretär des weißrussischen Parteikomitees

B. N. Ponomarev

1905

1919

Sekretär des Zentralkomitees

Š. R. Rašidov

1917

1939

Erster Sekretär des uzbekischen Parteikomitees

M. S. Solomencev

1913

1940

Vorsitzender des Ministerrats der RSFSR

1 gestorben Juli 1978

Quelle: Fainsod, Hough, Soviet Union, 270f.

Das auffallendste Merkmal dieser Liste ist unbestritten: die erstaunliche Kontinuität. Sie betraf zunächst und in erster Linie – mit der Ausnahme Podgornyjs, der im Zuge seiner Ablösung als ‹Staatschef› auch aus dem Politbüro ausschied – die hauptsächlichen Profiteure des Umsturzes vom Oktober 1964. Brežnev, Kosygin, Suslov und Kirilenko behaupteten nicht nur ihren Sitz im höchsten Parteigremium, sondern bildeten darüber hinaus eine Art ‹Ältestenrat›, dem besondere Autorität zukam. Doch auch die meisten ihrer Kollegen hatten ihren Platz bewahrt. So ergab sich das erstaunliche Faktum, dass Mitte der achtziger Jahre, zu Beginn der Perestrojka, noch zwölf der neunzehn Mitglieder dem Politbüro angehörten, die 1966 vom ersten Parteitag der neuen Ära bestellt worden waren. Ein solches «Übermaß an Stabilität» hatte es bis dahin nur von 1941 bis 1953, mithin zu einer Zeit gegeben, als das Politbüro nichts zu sagen hatte und vor Stalin zitterte.[8]

Zwangsläufig verwandelte sich eine solche Oligarchie mit der Zeit in eine Gerontokratie. In den zwei Dekaden zwischen 1965 und 1985 erhöhte sich das Durchschnittsalter der Politbüromitglieder von 56 auf 67 Jahre (vgl. Tabelle 49). Dazu trug nicht nur die ungewöhnliche Kontinuität bei, sondern auch der Umstand, dass die Neulinge immer älter wurden. Gromyko war 64, Grečko70, Andropov 59, Černenko 66, Ponomarev 67 und V. V. Kuznecov sogar 76 Jahre alt, als sie zwischen 1971 und 1977 ins Zentrum der Macht aufstiegen. Der einzig jüngere unter den Novizen dieser Zeit war mit 53 Jahren der Leningrader Parteichef Romanov. Weil er eine Ausnahme blieb, erhöhte sich das durchschnittliche Geburtsjahr von 1911 nicht nennenswert. Es war die vor dem Ersten Weltkrieg geborene und in den dreißiger Jahren politisch erzogene Generation, die unter Brežnev bis in die späten siebziger und frühen achtziger Jahre hinein den Ton angab. Was sich damit verändert hatte, verdeutlicht der Rückblick auf frühere Zustände. Im Januar 1920 befanden sich vier von acht Politbüroangehörigen in ihren Dreißigern, das Durchschnittsalter betrug 39 Jahre; 1939 waren ihre Nachfolger im Durchschnitt gut 50 Jahre alt, die nachrückenden Kandidaten 46. Seit der ‹heroischen› Frühzeit der Sowjetunion waren bei Brežnevs Tod fast siebzig Jahre vergangen, aber die führenden Männer in Partei und Staat im Durchschnitt nur dreißig Jahre älter geworden. Allerdings darf man, um kein schiefes Bild zu erzeugen, einen Tatbestand nicht außer Acht lassen: Die Langzeitanalyse zeigt auch, dass die Alterung schon mit der Geburt des Staates begann und trotz der Liquidierung vieler ‹alten Kämpfer› im Zuge des Stalinschen Terrors selbst in den letzten Zwischenkriegsjahren andauerte. Es gab nur unterschiedliche Geschwindigkeiten des Vorgangs, keine Sistierung oder gar Korrektur. Mithin trat in den 1970er Jahren nur deutlicher zutage, was sich von Anfang an vollzog: einerseits eine Normalisierung der Elitenrekrutierung aus der Gesamtgesellschaft (anstelle eines Segments mit besonderen Merkmalen, wie nach der Revolution und der Stalinschen ‹Wende›), andererseits eine unaufhaltsame Petrifizierung an ihrer Spitze als Folge der weitgehenden Ausschaltung autochthoner, konkurrenzgesteuerter Aufwärtsmobilität und ihrer Ersetzung durch Kooptation.[9]

Tabelle 49 

Kontinuität und Alterung setzten eine Erscheinung voraus, die zur Veranschaulichung eigens Erwähnung verdient: die Wiederwahl. Da sie in einem System ohne Parteienkonkurrenz von vornherein wahrscheinlicher ist als in einer politischen Ordnung mit institutionalisiertem Wettbewerb, kommt den entsprechenden Daten für das gesamte ZK – immerhin ein Gremium von 125 Mitgliedern 1952 und 319.1981 – besondere Bedeutung zu. Die Berechnungen ergeben ein deutliches Bild: Auf allen Parteitagen der Brežnev-Ära wurden 72–80 % der ZK-Angehörigen bestätigt. Bemerkenswert ist aber auch, dass sich eine fast so hohe Quote von 59,4 % für das ZK des Jahres 1956 ergibt. Tiefere personelle Zäsuren mit einer Aufnahme von mehr als 50 % Neulingen lassen sich lediglich 1961 sowie 1939 und 1952 feststellen. Diese Ergebnisse legen den Schluss nahe, dass (1) Terror und Krieg zwischen dem 17. und 19. Parteitag (1934 und 1952) mit Wiederwahlquoten von 23 % und ca. 28 % zu einem umfassenden (und blutigen) Elitentausch in der KPdSU führten; dass (2) die Entstalinisierung unter Chruščev erst 1961 deutliche personelle Auswirkungen mit einer Nichtbestätigung von 60 % zeitigte; und dass (3) Brežnev 1971 nur in geringem Umfang Neubesetzungen vornahm, das ZK ansonsten aber in Ruhe ließ. Da Letzteres für die nomenklatura insgesamt stand, entsprach dies nicht nur dem Charakter, sondern der Existenzgrundlage ‹seines› Regimes insgesamt (vgl. oben Diagramm 4 S. 815).[10]

Für den Historiker verdichten sich die meisten der vorgenannten Daten zu der Frage nach gemeinsamen Erfahrungen, aus denen Ähnlichkeiten der politischen Weltsicht abzuleiten wären. Unter diesem Aspekt ergibt sich zuallererst ein Befund, den kein ernsthafter Beobachter bestreitet: dass es die Nutznießer des Stalinschen Terrors waren, die unter Chruščev groß wurden, nach ihm die Zügel übernahmen und sie bis zur ‹Auskehr› unter Gorbačev nicht wieder losließen. Sie stolperten gleichsam die Karriereleiter hinauf, da die exzessive Gewalt der Vorjahre die alten Amtsinhaber beseitigt hatte. Unter den vom 18. Parteitag 1939 gewählten ZK-Mitgliedern fand sich buchstäblich niemand mehr, der vor der Jahrhundertwende geboren worden war. Den Jungen eröffneten sich Aufstiegschancen, wie sie seit 1917 nicht mehr bestanden hatten. Viele nutzten sie und sorgten für eine ungewöhnliche generationsmäßige Geschlossenheit, die sich gleichsam wellenförmig von Ebene zu Ebene (bemerkenswerterweise ohne wirklich schwere Rückschläge) fortsetzte. Als «Klasse der ’38er» teilten sie eine Reihe typischer Merkmale: Sie kamen aus kleinen Verhältnissen, besuchten in der ersten oder zweiten Fünfjahresplanperiode die neuen technischen Fachschulen des Arbeiter- und Bauernstaates, traten in dieser Zeit der Partei bei und erwarben sich erste Sporen in einem der staatlichen und quasistaatlichen Apparate; sie waren unter dem neuen Regime erwachsen geworden, verdankten ihm eine Qualifikation und Zukunftsperspektiven, um die ihre Väter sie beneiden konnten; sie teilten den Enthusiasmus des sozialistischen Aufbaus, verehrten Stalin, kannten nur den autoritären Einparteienstaat, hatten keine Fremdsprache erlernt und Russland nie verlassen, nahmen die Welt in technischen Kategorien wahr, maßen in Tonnen, dachten antiintellektuell und latent antisemitisch – kurz: sie waren vydvižency par excellence und Prototypen der «Sowjetintelligenz». Am Maßstab des Parteieintritts gemessen, belief sich der Anteil solcher ZK-Mitglieder, deren politisches Weltbild sich in den dreißiger und vierziger Jahren geformt hatte, sowohl 1966–71 als auch 1976–81 bei natürlichem Rückgang der erstgenannten Kategorie auf ca. 70 %. Erst 1986 – auch dies ein Faktum, das geradezu nach interpretatorischem Bezug auf den synchronen politischen Neubeginn verlangt – erreichte die Chruščev-Generation den Anteil der Neulinge der vierziger Jahre und bildete zusammen mit diesen die große Mehrheit. Erst in diesem Jahr sank der Prozentsatz derer, die den «Großen Terror» und das Kriegsende als Erwachsene erlebt hatten, unter die Hälfte.[11]

So klar die Führungsrolle der sowjetischen Vorkriegsgeneration in der Nachkriegsgeschichte zutage liegt, so offen bleibt die Frage nach ihrer Prägekraft für das gesamte politische System. Dass die vydvižency die politische Mentalität ihrer frühen Erwachsenenjahre konservierten, ist eine naheliegende, aber nicht die einzige Deutung. Sie hat den Einwand hervorgerufen, dass eben diese Generation sich anders verhielt als ihre Vorgängerin, weil sie aus der stalinistischen Erfahrung gelernt hatte. Immerhin waren es Stalins Zöglinge, die Chruščevs Abrechnung mit der Vergangenheit unterstützten und nach 1964 das Prinzip der kollektiven Führung in nie dagewesenem Maße verwirklichten. Sie schafften die Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung – zumindest unter ihresgleichen – ab und erlaubten Stalins Nachfolger einen friedlichen Ruhestand. Fraglos begründeten sie eine Art von ‹institutionellem Pluralismus› und taten dies in Kooperation sowohl mit den älteren Genossen der zwanziger Jahre als auch mit den jüngeren der vierziger. Eine so ausgeprägte Homogenität, wie ihn das generationssoziologische Totalitarismusmodell unterstellt, hat es in dieser Sicht nie gegeben. Stets teilten sich mehrere Generationen den großen Kuchen der Macht – bis hin zu dynamischen Jungfunktionären wie Gorbačev oder Ševardnadze, die Ende der siebziger Jahre aufstiegen. Zu diesem differenzierteren Bild passt die Beobachtung durchaus, dass die regionale Entwicklung anders verlief. In den oblasti und krai gaben gegen Ende der Brežnev-Ära die 1915–1925 Geborenen, deren Karriere überwiegend erst nach dem Krieg begonnen hatte, den Ton an. Man hat daher in dieser Hinsicht von einer doppelten Kluft gesprochen: Die Distanz zwischen Zentrum und Peripherie war zugleich eine zwischen den Generationen. Freilich räumt auch diese Auffassung ein, dass die Grobstruktur der Macht im Staat spätestens seit der Stalinschen «Revolution von oben» weitgehend unverändert blieb. Zwar verschwand die personale Diktatur; zugleich trat aber eine oligarchische an ihre Stelle. Diese vertrug sich nicht nur mit generationsmäßiger Homogenität der Elite, sondern erforderte sie nachgerade. Zugleich erlaubte sie eine Veränderung der Form politischer Entscheidungen ebenso wie das Heranwachsen einer jüngeren Regionalelite anderer Prägung. «Wandel in einer breiteren Kontinuität» scheint daher in der Tat eine angemessene Formulierung für diese Mixtur zu sein, zumal sie den Anpassungsdruck einschließt, der sich im Maße der fortschreitenden Sklerose an der Spitze von Partei und Staat aufbaute.[12]

Der Befund überrascht nicht, dass der Ministerrat der UdSSR eine ähnliche Generationsstruktur aufwies. Detaillierte Daten liegen für das Ende der Brežnev-Ära vor. Wer der Spitze der Staatsverwaltung im Juni 1981 angehörte – insgesamt 116 Personen –, war im Durchschnitt 64 Jahre alt und 1918 geboren worden. Er hatte in der Regel (95 %) ein Studium, typischerweise der Ingenieurwissenschaften (2/3) mit besonderer Bevorzugung der Schwerindustrie, absolviert, diese Ausbildung 1938 begonnen und vor Ende des Zweiten Weltkriegs abgeschlossen. Siebzehn Personen (etwa ein Fünftel) holten den Studienabschluss im späten Stalinismus nach, nur 13 (= 14,9 %) unter Chruščev. Zumeist waren die Mitglieder des letzten Brežnevschen Ministerrats 1943, gegen Ende ihres Studiums, zu 16,8 % nach dem Zweiten Weltkrieg und in gleicher Anzahl nach 1953 in die KPdSU eingetreten. Nur vier, zweifellos die Inhaber der wichtigsten Ämter, gehörten zugleich (überwiegend aber erst seit 1973) dem Politbüro an: der Vorsitzende (bis 1980 Kosygin, danach N. A. Tichonov), der Verteidigungsminister (bis 1976 Grečko, danach D. F. Ustinov), der Außenminister (Gromyko) und der Chef des KGB (Andropov). Zwei Drittel aber waren Vollmitglieder, weitere 22,3 % Kandidaten des ZK, so dass fast alle Mitglieder des Ministerrates über einen Sitz im nominell höchsten Parteigremium verfügten. Die durchschnittliche Amtszeit eines Ministers oder Staatskomiteeleiters betrug gut zehn Jahre; schon zu Beginn der zweiten Hälfte der Brežnev-Ära bestand die Spitze der staatlichen Administration aus Personen, die ihre Berufung dem Generalsekretär verdankten. Mithin bestätigen diese Daten vor allem zwei Hypothesen: (1) dass der Ministerrat, obwohl etwas jünger als das Politbüro, ebenfalls ganz überwiegend der stalinistischen Vorkriegsgeneration angehörte und (2) dass er in der Machthierarchie unterhalb des Politbüros stand und von diesem schon aufgrund der geringeren Anciennität seiner Mitglieder installiert wurde. Auch die Zusammensetzung der obersten staatlichen Exekutive kann daher als Beleg für die These gelten, dass die neue, technisch-administrative Elite des frühen Stalinismus die Sowjetunion bis in die letzten Jahre der Brežnev-Periode trug und prägte. Daraus ergibt sich als Umkehrschluss: Erst das Abtreten dieser Generation bewirkte eine tatsächliche Zäsur, wie tief sie immer sein mochte.[13]

Die Partei: Organisation und Mitglieder Es versteht sich, dass die Gerontokratie vor allem deshalb so lähmend wirkte, weil die Partei ihre überkommene Machtstellung weiter festigen konnte. In dem Maße wie der Umsturz vom Oktober 1964 den Chruščevschen Populismus korrigierte, war er geeignet, ihre Kontrollfunktionen zu stärken. Der neuen Oligarchie an ihrer Spitze entsprach eine Bekräftigung ihres Monopols an faktischer Verfügungsgewalt in allen Bereichen des öffentlichen Lebens einschließlich der Wirtschaft. Die Partei war, wie die neue (Brežnevsche) Verfassung vom 7. Oktober 1977 erstmals offen und korrekt formulierte, die «führende und lenkende Kraft der sowjetischen Gesellschaft, der Kern ihres politischen Systems, der staatlichen Organe und gesellschaftlichen Organisationen». Sie traf die Entscheidungen, die der Staat ausführte. Sie wählte die Personen aus, die alle wichtigen Staatsämter übernahmen. Sie gab die Entwicklungsziele vor und bestimmte die Wege, auf denen sie anzusteuern waren – während die staatlichen Instanzen immer weiter zu abhängigen Organen herabsanken. Zugleich wuchs den Parteikomitees auf allen Verwaltungsebenen die Funktion von Führungsorganen zu. Als Folge der Aufgabenfülle, die sich daraus ergab, stiegen sowohl der Bedarf an neuen Mitgliedern als auch die Anforderung an ihre Qualifikation weiter. Beides stellte die Partei vor erhebliche Probleme und veränderte ihren Charakter nach Meinung einiger Interpreten sogar grundsätzlich. Zum einen stärkten die zunehmenden Kompetenzen die jeweiligen faktischen ‹Parteiregierungen› zwar, stützten jedoch auch deren Stellung in der Gesamtpartei und vergrößerten ihre Handlungsmöglichkeiten. Zum anderen erhöhte das quantitative Wachstum wohl die Wahrscheinlichkeit, genügend fähiges Personal zu rekrutieren; aber es modifizierte auch die soziale Struktur der Mitgliederschaft in einer Richtung, die mit dem traditionellen Selbstverständnis der Kommunisten kaum vereinbar war. Beide Tendenzen waren nicht neu; beide gewannen jedoch in dem Maße an Schärfe, in dem Brežnev der Maxime folgte, dass möglichst viel von der Partei und möglichst wenig vom Volk durchzuführen sei. Zugespitzt gesagt, stand die Option tatsächlicher Oligarchie gegen eine Politik als Interessenmanagement und die herkömmliche Klassenpartei gegen eine Volkspartei, die mehr und mehr von der Bildungselite dominiert wurde.[14]

Weil moderne Herrschaft nicht ohne Verwaltung denkbar ist, entwickelte die KPdSU immer größere Apparate. Ihr Machtanspruch rächte sich. Wer über alles bestimmen wollte, musste die reklamierten Zuständigkeiten auch wahrnehmen und sich die nötige Kompetenz aneignen. Faktisch bildete sich auf jeder Ebene eine informelle zweite ‹Regierung› der Partei, die alle wesentlichen Entscheidungen traf. Dabei wirft ihre neutrale Bezeichnung als «Apparat» ein bezeichnendes Licht auf ihre ‹uneigentliche› Stellung: In der Verfassung nicht vorgesehen, durfte sie im Namen nicht preisgeben, was sie eigentlich war. Neben dem Ministerrat und dem Obersten Sowjet, der außer legislativen Befugnissen eigentlich auch ausführende besaß, entstand eine Art dritter Exekutive. Da die Macht aber nicht wirklich geteilt werden sollte, wurden die beiden konkurrierenden Organe auf andere Felder abgedrängt. Der Ministerrat übernahm die Ausführung der Beschlüsse im administrativen Sinne, der Oberste Sowjet ihre Umgießung in Gesetze. Diese Verdreifachung fand sich auch auf Republikebene; neben dem jeweiligen ZK der Partei und seinem Apparat gab es eine eigene Regierung samt Ministerrat und einen Obersten Sowjet. Dagegen verringerte sie sich auf den unteren Ebenen zu einem Nebeneinander der Exekutivgremien von Partei und Sowjet. Gerade hier kann man allerdings nicht von Konkurrenz sprechen. Bei allen Einflussmöglichkeiten, die sich aus der Mitwirkung als solcher ergaben, lag allzu deutlich zutage, wer Herr und wer Knecht war.

Ebenso wenig sammelte sich in der Partei selber die Macht bei den Organen, denen sie satzungsgemäß zukam. Wohl gehörte es zur Politik des Ausgleichs mit den Funktionären, dass ihre formal demokratischen Repräsentativversammlungen ernst genommen wurden. Auch in dieser Hinsicht fand keine Rückkehr zu Stalin statt. Vielmehr kamen die Parteitage regelmäßig alle fünf Jahre zusammen. Der 23. bestätigte 1966 den Machtwechsel und weitere personelle Umbesetzungen in dessen Nachfolge. Der 24. brachte 1971 im Wesentlichen den neuen (9.) Fünfjahresplan (1971–75) auf den Weg. Gleiches galt für den 25. Parteitag 1976, dem Brežnev aber das Erntedesaster erläutern und Besserung zusagen musste. Der 26. Parteitag 1981 legte dem Parteiführer im siebzehnten Jahr seiner Amtsführung keine Steine mehr in den Weg, obwohl vor allem die Agrarkrise die Leistungsfähigkeit der Gesamtwirtschaft aufs Ernsteste gefährdete. Ähnlich tagte das ZK in recht genauer Erfüllung der Vorschriften. Die Sammlung seiner Beschlüsse weist aus, dass es, wie vorgesehen, in der Regel zweimal pro Jahr zusammentrat. Im Vergleich zur Chruščev-Ära zeigt sich auch hier eine Art von Mittellinie: Die neuen Regenten vermieden gehäufte Appelle, zollten ihm aber als ständige Vertretung der Gesamtpartei den statutengemäßen Respekt. Man kann diesen Umgang als bloß formale Korrektheit deuten. Vieles spricht aber dafür, in ihm zugleich die Anerkennung der grundlegenden Rolle zu sehen, die der Partei in der Herrschaftspraxis zukam.

Auch die letztgenannte Deutung schließt im Übrigen nicht aus, dass beide Organe, der Parteitag ebenso wie das ZK, von Entscheidungen über fundamentale Fragen ausgeschlossen blieben. Dazu trug schon ihre schlichte Kopfzahl bei. Die seit der Revolution zu beobachtende Tendenz zur Vergrößerung setzte sich fort; in gleichem Maße nahm ihre Handlungsfähigkeit ab. Die Angaben sprechen für sich (vgl. Tabelle 50).