Eine ähnliche Entwicklung durchlief das ZK (vgl. Tabelle A–7/1 im Anhang). Dabei zeigt der Vergleich, dass die eigentlichen Sprünge nach dem 21. Parteitag 1959 bzw. dem 23. Parteitag 1966 stattfanden. Auch dieser Unterschied verlangt geradezu nach einer erklärenden Korrelation mit der Gesamtpolitik: Unter Chruščev vergrößerte sich die Zahl der Parteitagsdelegierten auffallend, unter Brežnev die der ZK-Mitglieder. Sicher wird man die bloße Kopfstärke nicht allein dafür verantwortlich machen können, dass sich beide Organe nach dem Oktoberumsturz von 1964 wieder zu willfährigen Instrumenten der obersten Führungsspitze degradieren ließen. Entscheidend war und blieb der monokratische Charakter der Gesamtordnung. Dennoch scheint die schiere Größe der Versammlung zu diesem Ergebnis beigetragen zu haben. Die alte Strategie der Erweiterung als Mittel der Entmachtung bewährte sich noch in den letzten Jahrzehnten der Sowjetunion.[15]

Umso eher gingen die laufenden Geschäfte in die Hände anderer Gremien über. Was sich zur Politik summierte, wurde vom Sekretariat des ZK vorbereitet. Unbeschadet der endgültigen Entscheidung durch das Politbüro fiel ihm daher eine Schlüsselrolle zu. Ständige und geregelte Mithilfe bei der Machtausübung verwandelte sich in Teilhabe an der Macht selber. Dieser (historisch häufige) Vorgang hatte auch personelle Folgen: Einige Mitglieder des Politbüro gehörten zugleich dem Sekretariat des ZK an. Dabei wird man es nicht als ornamentale Addition werten wollen, dass vor allem diejenigen eine Doppelfunktion innehatten, denen der größte Einfluss zugeschrieben wurde – unter anderem dem Generalsekretär Brežnev, seinem Gehilfen Kirilenko und dem Chefideologen Suslov. Auch dies war nicht neu im Einparteienstaat: Maßnahmen vorzubereiten und über sie mitzuentscheiden garantierte von Anfang an ein Maximum an Macht – angesichts fehlender Kontrollen auch in der Partei (von den Sowjets nicht zu reden) faktisch eine Position nahe der personalen Diktatur.

Sicher konnte das Sekretariat des ZK auf Unionsebene am ehesten den Anspruch erheben, die eigentliche Zentralregierung zu sein. Seine in der Regel elf Mitglieder übernahmen bestimmte sachliche Zuständigkeiten, innerhalb deren ihnen faktisch die oberste Anweisungskompetenz zukam. Auch wenn sie formal bloße Parteiangestellte blieben, übten sie hoheitliche Funktionen aus, da der Ministerrat ihren Wünschen folgte. Auch die Aufsicht des Politbüros dürfte nur in Ausnahmefällen den Charakter einer Kontrolle angenommen haben. Von Grundsatzentscheidungen abgesehen, bestimmten die Sekretäre in ihren ‹Ressorts›, wohin das Land steuerte. Deshalb spricht in der Tat vieles dafür, die Mitgliedschaft in ihrem Kreise ebenso genau zu beobachten wie die im Politbüro. Im Vergleich zwischen den Anfangs- und den Schlussjahren der Brežnev-Ära zeigen sich dabei einige Unterschiede. Zunächst fällt auf, dass Brežnev in diesem Gremium zügiger daranging, Gegner zu entfernen oder natürliche Vakanzen zu nutzen, um Personen seines Vertrauens einzuschleusen. Nach der Abdrängung Šelepins und der Besetzung zweier weiterer freigewordener Posten verfügte er spätestens 1968 über einen Stab, der seinen Vorstellungen folgte. Zum anderen verdient Beachtung, dass auch Jüngere eine Chance erhielten. So durfte im April 1968 mit dem damals 41-jährigen K. F. Katušev zum ersten Mal ein Mann diese unmittelbare Vorhalle der höchsten Macht betreten, der den Zweiten Weltkrieg in seiner Jugend kaum mehr als entscheidende Prägung erlebt hatte. Ähnliches wiederholte sich während einer umfassenden Rochade im September 1978, als der 47-jährige Gorbačev zum ZK-Sekretär ernannt wurde. Auch wenn Brežnev weiterhin – und in mancher Hinsicht zäher denn je – an Helfern aus alter Zeit festhielt (so rückte Černenko z.B. zum Vollmitglied des Politbüros auf), verwiesen nicht nur diese Ernennungen auf den bevorstehenden Generationswechsel. Die Annahme drängt sich auf, dass ‹neue Leute›, deren Erscheinen überfällig war, zunächst im Sekretariat eine Wirkungsstätte fanden.[16]

Natürlich bedurften die ZK-Sekretäre ihrerseits der Zuarbeit. In dem Maße wie Umfang und Reichweite der Entscheidungen des Politbüros zunahmen, entstand ein eigener, mächtiger Apparat. Seine Struktur spiegelte nicht nur die klassischen Aufgaben der Politik, sondern auch die zusätzlichen, die sich aus der Verstaatlichung von Industrie und Landwirtschaft ergaben. Dementsprechend nahm sie nach Kriegsende eine reguläre, trotz starker personeller Ausweitung während der folgenden Jahrzehnte im Kern unveränderte Gestalt an. Allem Anschein nach gliederte sich dieser Apparat Ende der siebziger Jahre in mindestens 21 Abteilungen, die für Allgemeines, die Staatsverwaltung, Parteiorganisation und -arbeit, Landwirtschaft, chemische Industrie, Rüstungsindustrie, Schwerindustrie, Leicht- und Nahrungsmittelindustrie, den Maschinenbau, das Bauwesen, Wirtschafts- und Finanzpläne, Handel und Konsum, Transport und Verkehr, das diplomatische Personal, internationale Angelegenheiten, die politische Verwaltung des Verteidigungsministeriums (und der Armee), Kultur, Bildung und Wissenschaft, die übrigen sozialistischen Länder sowie das Informationswesen zuständig waren. Die meisten dieser Abteilungen betreuten somit ähnliche Sachbereiche wie die jeweiligen Ministerien. Diese Parallelität war beabsichtigt. Sie schloss eine faktische Anweisungsbefugnis gegenüber den staatlichen Behörden ein und konkretisierte die allgemeine Hegemonie der Partei über den Staat für die einzelnen Politikfelder. Die weitere Binnenstruktur des ZK-Apparates bleibt unklar. Sicher ist, dass die einzelnen Abteilungen nach sachlicher Zuständigkeit in unterschiedlich viele Sektionen untergliedert waren. An ihrer Spitze standen ein Leiter sowie je nach Größe ein bis fünf Stellvertreter, denen eine ebenfalls divergierende Zahl von Referenten und Instruktoren zuarbeitete. Bei 3–15 Sektionen pro Abteilung hat man insgesamt etwa 150–175 Sektionen angenommen. Dementsprechend weichen auch die Schätzungen der personellen Gesamtstärke des ZK-Apparats stark voneinander ab. Ein zurückhaltender Überschlag der höheren Mitarbeiter – unter Abzug also vor allem des reinen Dienstpersonals – kommt auf etwa 1500.[17]

Die skizzierte Organisation wiederholte sich auf den verschiedenen Ebenen der administrativen Hierarchie (vgl. Diagramm 5). In den Republiken gab es – mit der bezeichnenden Ausnahme der RSFSR – eigene Kommunistische Parteiorganisationen, die auf Parteitagen eigene Zentralkomitees mit einem Politbüro und einem Sekretariat an der Spitze wählten. Darunter folgten Gebietsorganisationen (oblast’), denen Gebietskomitees (obkom) vorstanden. Wie in der Union wurden alle wichtigen Fragen im Politbüro oder den Exekutivkomitees der insgesamt 139 Gebiete entschieden, an deren Spitze jeweils ein Erster Sekretär stand. Diese 139 «Sowjetpräfekten», wie man sie genannt hat (Stalin sprach sogar von «Generälen»), waren die starken Männer ihrer Regionen. Sie gaben den Ministerpräsidenten der Republiken oder den Vorsitzenden der Gebietssowjets ebenso Anweisungen wie den untergebenen Parteisekretären und Sowjetvorsitzenden. Sie gehörten überwiegend dem Unions-ZK an, die einflussreichsten von ihnen sogar dem Unions-Politbüro. Alle Generalsekretäre der Gesamtpartei nach Stalin und die meisten Mitglieder der engsten Führungsspitze hatten dieses Amt irgendwann und meist nicht zum unwichtigsten Zeitpunkt ihrer Karriere inne. Von Chruščev über Brežnev bis Gorbačev bezeugt ihr Aufstieg, dass die Republiks- und Gebietssekretäre das wichtigste Reservoir für die Auslese der allerersten Führungsgarnitur bildeten. In der Provinz genossen sie eine ähnliche Stellung wie einige von ihnen prospektiv im Gesamtstaat; hier mussten sie ihre politischen wie organisatorischen Fähigkeiten unter Beweis stellen.