Diagramm 6: Regionalorganisation der Räte
Quelle: Hazard, Soviet System, 217
Ihrer abnehmenden territorialen Zuständigkeit und Bedeutung gemäß verringerte sich auch die personelle Stärke der lokalen Sowjets mit ihrem hierarchischen Rang. Im Durchschnitt gehörten 1977 einem oblast’-Sowjet 218, einem Stadtsowjet 134, einem Rajon-Sowjet 78 und einem Dorfsowjet 33 gewählte Mitglieder an, so dass sich deren Gesamtzahl angesichts der Größe des Landes auf etwa 2,2 Mio. addierte. Wie im Obersten Unionssowjet beteiligten sich die meisten (1975 80,8 %) an einem der ständigen Ausschüsse, die neben dem Exekutivkomitee die eigentliche Arbeit leisteten. Auf Dorfebene genügten 3–5 solcher Ausschüsse, um für die fundamentalen Bedürfnisse der Einwohner Sorge zu tragen; auf regionaler Ebene richtete man bis zu siebzehn ein. Da in diesen Gremien Fachkompetenz gebraucht wurde, zog man neben den Deputierten vor allem in den unteren Organen ‹Freiwillige› heran, deren Gesamtzahl mit 2,6 Mio. bei 328.765 Ausschüssen (1975) die der Deputierten noch überschritt.
Was über das Sozialprofil der Ratsmitglieder bekannt ist, zeigt an, dass der Anteil der Arbeiter vom Beginn der Chruščev-Ära bis zur zweiten Hälfte der Regentschaft Brežnevs (1975) auf das Vierfache (von 10,7 % auf 40,5 %) stieg. Im selben Zeitraum sank der Anteil der kolchozniki von 54 % auf 27,2 % drastisch, während das relative Gewicht der «Anderen», darunter auch (aber nicht nur) Angehörige der technisch-administrativen Intelligenz, langsamer fiel (von 45,3 % auf 32,3 %). Demgegenüber deutet ein Vergleich des Bildungsniveaus zwischen Beginn und Ende der sechziger Jahre (1959–1970) erwartungsgemäß auf die wachsende Verbreitung der Hoch- und Fachhochschulqualifikation hin (4,2 % gegenüber 16,7 %), während der Anteil derer, die nur die Elementarschule durchlaufen hatten, stark zurückging (von 51,7 % auf 13,5 %). Beachtung verdient, dass die Quote der registrierten Kommunisten unter allen Sowjetmitgliedern in diesen Jahren trotz des enormen Anstiegs ihrer absoluten Zahl ungefähr gleich blieb und weniger als die Hälfte betrug (1961 45,4 %, 1975 43,8 %). Dies galt allerdings nicht für die Leitungsfunktionen: Die Exekutivkomitees waren Domänen sowohl der eingeschriebenen Bolschewiki als auch von Fachleuten mit Hochschulabschluss. Zugleich nahm das Ausmaß der Rotation ab. Bei den Wahlen von 1975 wurden zwischen 44 % und 54 % der Mitglieder – mit steigender Tendenz bei abnehmender Bedeutung der Sowjets – wiedergewählt. Der typische lokale Ratsdeputierte stammte in den siebziger Jahren mithin aus der städtischen oder ländlichen Unterschicht, hatte aber einen «mittleren» Bildungsgrad im sowjetischen Sinne erworben und gehörte statistisch nur zu weniger als der Hälfte der Partei an. Erst die Mitglieder von Exekutivkomitees oder Vorsitzenden eines ständigen Komitees zeigten ein anderes Profil; sie konnten auf einen (Fach-)Hochschulabschluss verweisen und hatten sich in die Reihen der KPdSU eingeschrieben.
Auch die örtlichen Sowjets hatten Apparate unter sich, die ihre Entscheidungen umsetzten. Eine Großstadt verfügte über etwa ein Dutzend solcher Ämter, von der Finanzverwaltung über die Kultur und das Wohnungswesen bis zur lokalen Wirtschaft. Ein obkom mochte sogar vierzig und mehr benötigen, um die Fülle an Aufgaben wahrzunehmen, die in seinem an die Größe eines mitteleuropäischen Staates heranreichenden Zuständigkeitsbereich anfielen. Diese Apparate bildeten die eigentliche Kommunal- und Regionalverwaltung. Dass sie effizient arbeiteten, darf man bezweifeln. Als sicher kann gelten, dass sie überbesetzt waren. Aber das optimale Verhältnis zwischen Größe und Leistung ist ein Maßstab, der sich nicht nur schwer festlegen lässt, sondern dem auch Verwaltungen anderer politischer Systeme nicht immer standhalten.[30]
Die genannten Charakteristika der örtlichen Sowjets haben Anlass gegeben, vor allem in ihnen Organe echter Teilhabe der Bevölkerung zu sehen. Wie begrenzt die Kompetenzen auch immer gewesen sein mochten, vor Ort habe sich ein ferner Abglanz der basisdemokratischen Uridee der Rätestruktur darin erhalten, dass die «Masse» selber in die Lenkung ihrer Angelegenheiten einbezogen worden sei. Im Vergleich zu den höheren Sowjets, deren Sitzungen seit Langem zu bloßen Akklamationsveranstaltungen verkommen waren, traf dies vermutlich zu. Schon die häufigere Zusammenkunft verschaffte den Deputierten in Verbindung mit ihrer Tätigkeit in den ständigen Ausschüssen mehr Einflussmöglichkeiten. Andererseits sollte man das Ausmaß solcher Mitwirkung nicht überschätzen. Auf die Gesamtzahl der erwachsenen Einwohner der Sowjetunion (über 20 Jahre) bezogen, belief sich der Anteil aller Deputierten zu Beginn der siebziger Jahre auf bloße 1,4 %. Selbst unter Berücksichtigung der ‹freiwilligen Aktivisten› ergeben sich höchstens 3 %. Wenn man ferner bedenkt, dass die Kandidaten – parteilose eingeschlossen – handverlesen, die Exekutivkomitees von der parteilich organisierten Elite beherrscht wurden und auf den unteren Ebenen, wo einfache Leute am ehesten mitreden konnten, angesichts einer strengen Kompetenzhierarchie wenig Wichtiges zu entscheiden war, muss die Bilanz negativer ausfallen. Was als Mitbestimmung erscheinen mag, verwandelt sich in eine konzessionierte Ersatztätigkeit auf unbedeutenden Politikfeldern unter den wachsamen Augen der Partei.[31]
Bewaffnete Stützen: Armee und KGB Über die Rolle der Armee in Staat und Politik der nachstalinistischen Sowjetunion herrscht Übereinstimmung und Dissens zugleich. Niemand bestreitet, dass ihr Gewicht aufgrund der fundamental veränderten außen- und innenpolitischen Lage erheblich zunahm. Dem großen Sieg über Deutschland folgte der Aufstieg zur zweiten Welt- und militärischen Supermacht, deren Präsenz zunächst in Osteuropa, zunehmend aber auch in der dekolonialisierten «Dritten Welt» eine enorme Truppenstärke und hohe Rüstungsausgaben notwendig machte. Gerade im «entwickelten Sozialismus» zog die äußere Machtentfaltung schwerwiegende innere Konsequenzen nach sich. Zum einen wuchs der Einfluss des Militärs und der mit ihnen verbundenen Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft. Zum anderen machten sich die Kosten der neuen Position – auch wenn die osteuropäischen Zwangsverbündeten kräftig zur Kasse gebeten wurden – mit wachsendem Nachdruck bemerkbar. Ohnehin durch Systemfehler, Erblasten und natürliche Hemmnisse stark beeinträchtigt, zeigte sich die Sowjetwirtschaft immer weniger in der Lage, den zivilen und militärischen Anforderungen zugleich gerecht zu werden. Eben die Alternativität beider Optionen und der Zwang zur Prioritätensetzung, der sich daraus ergab, stärkten die innere Stellung der Generäle. Denn wer immer den Vorrang erhielt – Außenpolitik und Weltmachtrang wogen so schwer, dass sie mindestens als ‹zweite Sieger› und in der Summe der Jahre wohl als hauptsächliche Profiteure aus der Konkurrenz hervorgingen. Hinzu kam die schiere Größe: Weil die internationale Präsenz nicht auf sozioökonomischer oder politischer Attraktivität, sondern auf militärischer Beherrschung beruhte, bedurfte sie einer millionenstarken Armee (5,8 Mio. «regulärer Truppen» 1955, 2,4 Mio. 1960 – als Tiefststand der Nachkriegszeit –, 3,3 Mio. 1970, 3,6 Mio. 1980 und erneut 5,3 Mio. 1985) und eines inneren Verwaltungsapparates samt rüstungswirtschaftlichem Annex, der zu den größten im Staat zählte.[32]
Offen bleibt dabei allerdings, wie groß das innere politisch-administrative Kapital war, das den Militärs auf diese Weise zuwuchs, und welchen Gebrauch sie davon machten. Sehen die einen klare Beweise für die zunehmende Dominanz des ‹militärisch-industriellen Komplexes›, so halten die anderen an der Überordnung der Partei fest. Wiederum andere meinen, ein permanentes Ringen um die Durchsetzung der jeweiligen Prioritäten erkennen zu können. Auf der Hand liegt deshalb, dass auch eine Bilanz der Rolle der Armee nicht ohne Bezugnahme auf ein Modell zur Interpretation des politischen Prozesses in der nachterroristischen Sowjetunion auskommt. Wer am unbeschränkten, wenn auch äußerlich retouchierten Verfügungsmonopol der Parteiführung festhält, wird zu anderen Ergebnissen kommen als ein Anhänger konflikt- oder interessentheoretischer Überlegungen. Schon deshalb (vom unzulänglichen historischen Forschungsstand ganz abgesehen) ist kaum mehr möglich, als nach Maßgabe unterschiedlicher theoretischer Perspektiven die wenigen fragmentarischen Informationen zusammenzustellen, die nach außen gedrungen sind.[33]
Als ein erster Indikator gilt die Verankerung der Partei in der Armee. Dabei tritt schon auf der untersten Ebene der bemerkenswerte Tatbestand zutage, dass Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg in einem prozentualen Maße eingeschriebene Kommunisten waren, das mit der starken Vergrößerung des Militärapparates Schritt hielt. Nach dem Höhepunkt von 26,2 % im Juli 1945 sank ihr Anteil bis zum Oktober 1967 nur auf 22 % und bis zum Februar 1974 auf 20 %. Unter Einbeziehung des Komsomol betrug er im Juli 1972 sogar 60 %. Angesichts des Übergangs zu einem dauerhaften, wenn auch angespannten Frieden verdient nicht das Anfangs-, sondern das Schlussniveau Beachtung. Immerhin jeder fünfte Militärangehörige hielt es um die Mitte der Brežnev-Ära für angezeigt, der Partei beizutreten. Dieser Anteil übertraf die entsprechende Quote in der Gesamtbevölkerung erheblich. Daraus kann entnommen werden, dass auch die unteren permanenten Ränge (Wehrpflichtige sind in diesen Angaben nicht berücksichtigt) entweder ungewöhnlich regimetreu oder aufstiegsorientiert waren, in jedem Falle eine besondere Auswahl bildeten. Zugleich kam eine solche Präsenz der Partei zugute, die ihre Vorstellungen in der Armee in einem Maße verbreiten konnte wie in keiner anderen vergleichbaren Organisation. Ein Blick auf die höheren Ränge der Armee macht dies noch deutlicher. Er zeigt, dass die formelle Zugehörigkeit zur KPdSU nicht nur über die Jahre, sondern auch mit wachsender Bedeutung der Funktionen zunahm. Schon Ende 1959 verfügten drei von vier Offizieren über ein Parteibuch. Unter Berücksichtigung der Ausweise des Komsomol erhöhte sich dieser Anteil bis Oktober 1977 auf über 90 %. Die umgekehrte Aufschlüsselung ist weniger lehrreich. Von 4998 Delegierten des 25. Parteitages der KPdSU im März 1976 standen 314 auf den Soldlisten einer Armeeorganisation (Flotte, Luftwaffe und andere bewaffnete Verbände eingeschlossen). Zwanzig Offiziere hielten Sitz und Stimme im ZK. Relativ fiel diese Repräsentanz mit weniger als 7 % kaum ins Gewicht. Absolut verschaffte sie der Armee aber auch in den beiden verfassungsmäßigen Grundorganisationen der Partei Einfluss.[34]
Solch tiefe Verwurzelung der Partei in der Armee hätte Anlass geben können, auf die überkommenen Instrumente politischer Kontrolle zu verzichten. Was in den zwanziger und dreißiger Jahren aus der Sicht der Machthaber nachvollziehbar war, büßte seine Begründung genau besehen ein. Bloße unpolitische Kriegshandwerker, die man überwachen zu müssen glaubte, hatten höchstens vereinzelt überlebt. Wer auf der militärischen Karriereleiter avancierte, kam nicht nur in den Zwangsgenuss weltanschaulicher Unterweisung, sondern musste sich auch als Parteigenosse bewähren. Den zivilen obersten Kommunisten scheint dies aber nicht ausgereicht zu haben. Im Kern überdauerte die alte Organisation die Herrschaft sowohl Stalins als auch Chruščevs. Weder die politische Hauptverwaltung auf höchster Ebene noch die heftig umstrittenen politischen Instruktoren in den unteren Einheiten wurden abgeschafft. Im Gegenteil, auf Bataillons- und Kompanieebene führte man Letztere im August 1955 und im Januar 1967 wieder ein. Allerdings kann man mit guten Gründen der Meinung sein, dass diese ‹Fürsorge› eher den Mannschaften als den Befehlshabern galt. Auf den oberen Ebenen hatte die Auseinandersetzung längst ihre Form geändert: Aus dem möglichen temporären Konflikt war das permanente Ringen in – zumindest teilweise – repräsentativen Führungsgremien geworden. Die wachsende Integration im Zeichen gemeinsamer Herrschaft senkte die Wahrscheinlichkeit, dass Ressortdenken und eine separate Identität überhandnahmen. Nicht zuletzt der Zusammenbruch der Sowjetunion zeigte, dass Partei und Armee um den Preis des Untergangs aufeinander angewiesen waren.[35]
Diese Symbiose trat in der ersten Hälfte der Brežnev-Ära besonders augenfällig zutage. Verschiedene Umstände trugen dazu bei, dass sie wohl am ehesten das Etikett eines ‹goldenen Zeitalters› der Beziehungen zwischen Partei und Armee verdient. Zum einen wirkten die Folgen des Zweiten Weltkriegs nach. Das Militär konnte aus dem schwer erkämpften Sieg enormen Gewinn an Prestige und politisch-administrativem Gewicht ziehen. Diese neue Macht ging im Zuge der Transformation des Systems zur ‹bürokratischen› Herrschaft gleichgeschalteter Apparate nicht verloren. Im Gegenteil, unterstützt vom Kalten Krieg erwiesen sich Größe und funktionale Unverzichtbarkeit zur Herrschaftssicherung nach innen und außen als äußerst ertragreiches Kapital. Schon der Aufstieg Chruščevs lehrte, dass ohne Zustimmung der Armee nicht mehr zu regieren war. Zum anderen pflegte der neue erste Mann alte persönliche Beziehungen zur Militärführung und ihren Verbündeten. Dabei half ihm der Umstand, dass er in den späten fünfziger Jahren als Sekretär des ZK für die Rüstungsindustrie zuständig gewesen war. Er kannte nicht nur die Wünsche und Sorgen dieser Branche, sondern auch ihre zentralen Akteure, allen voran den Rüstungsmanager Ustinov. Ob Brežnev dieser Lobby sogar das Amt des Parteichefs verdankte, mag offen bleiben. Unbestritten sind seine Verbindungen zu ihr samt einer bemerkenswerten «Stabilität und Geschlossenheit» der Funktionärselite jenes Bereichs, der von westlichen Beobachtern nun immer häufiger mit dem Sammelbegriff des ‹militärisch-industriellen Komplexes› bezeichnet wurde. Insofern wird die Zugehörigkeit zur selben Generation auch hier zum Argument.[36]
Gewiss wäre es falsch, Brežnev nach Art einer groben ‹Agententheorie› zum Handlanger solcher Interessen zu erklären. Vielmehr gehörte es zu den Verpflichtungen seines Amtes, auszugleichen und in diesem Sinne über den Parteien zu stehen. Hinzu kam, dass auch er die Notwendigkeit wirtschaftlicher Reformen akzeptierte und durchaus wusste, dass die dafür nötigen Finanzmittel nur einmal verteilt werden konnten. Vor allem in den ersten Jahren musste er außerdem auf Kosygin und Podgornyj Rücksicht nehmen, die sich den Wünschen der Militärs am deutlichsten widersetzten. Dessen ungeachtet spricht alles dafür, dass er die (nach Maßgabe der Selbsteinschätzung) vitalen Bedürfnisse von Armee und Rüstungswirtschaft nicht verletzte: hohe Investionen in die Schwerindustrie, einen großen Anteil an den Staatsausgaben zum Unterhalt einer kopfstarken Armee, die Anerkennung einer gewissen professionellen Autonomie und ein Mindestmaß an internationaler Konfrontation zwecks Absicherung von Ansprüchen und Aufrechterhaltung des Feindbildes. Als ‹Meister des Ausgleichs› verstand es Brežnev allem Anschein nach, die Befürwortung teurer agrarisch-leichtindustrieller Programme mit glaubwürdigem Einsatz für die Belange des Militärs zu verbinden. Dabei scheint er die Generäle sogar von der Notwendigkeit eines gewissen Maßes an äußerer Entspannung und Abrüstung überzeugt oder ihre Zustimmung durch die Beförderung ihrer höchsten Repräsentanten erkauft zu haben: In jedem Fall verdient es Beachtung, dass dem ersten Abkommen mit den USA über die Reduzierung der nuklearen Interkontinentalraketen vom Oktober 1972 (SALT I) im April 1973 die Aufnahme des Verteidigungsministers Grečko ins Politbüro folgte. Nach dessen Tod drei Jahre später rückte sein Stellvertreter Ustinov, schon vorher der wichtigste Akteur hinter den Kulissen, nach. So war es kein Zufall, dass die UdSSR in diesen Jahren nicht nur den Zenit ihrer internationalen Geltung, sondern auch ihrer rüstungstechnischen Leistungskraft erreichte.[37]
Doch spätestens mit der Ernennung Ustinovs kam auch der Wendepunkt. Als Brežnev wenig später (im Mai 1976) zum Marschall der Sowjetunion befördert wurde und im folgenden Jahr zusätzlich das Amt des Vorsitzenden des Obersten Sowjets übernahm, signalisierte dies nicht nur die Anerkennung seiner Führerschaft durch alle Fraktionen der herrschenden Elite, sondern auch deren Kapitulation. Endgültig unanfechtbar geworden, öffnete sich dem alternden Partei- und Staatschef neuer Spielraum, um sich den Forderungen der Militärs zu entziehen. Dazu zwang vor allem die wirtschaftliche Entwicklung. Statt der erneut versprochenen Fortschritte hatte der neunte Fünfjahresplan einen Rekord an Untererfüllung gebracht. Dabei ließ sich die Schuld nicht allein auf die schlimme Dürre in seinem letzten Jahr abwälzen; die Naturkatastrophe verschärfte den Misserfolg, verursachte ihn aber nicht. Dass er tiefer wurzelte, konnten die Verantwortlichen an der Tatsache ablesen, dass der Zuwachs des Bruttosozialprodukts von ca. 5 % jährlich in den sechziger Jahren auf 2 % in der zweiten Hälfte der siebziger sank. Die enormen Rüstungs- und sonstigen Militärausgaben trugen maßgeblich dazu bei. Gegen Ende der Brežnev-Ära musste jedem annähernd vorurteilsfreien Entscheidungsträger klar sein, dass «blinde Unterstützung der militärischen Wünsche der Tötung jener Gans gleichkam, die goldene Eier legte.» So zerfiel, als die letzte stalinistische Politikergeneration abtrat, auch das Fundament für das relativ konfliktfreie Zusammenwirken von Partei und Armee. Die mangelnde Leistungsfähigkeit der sozialistischen Wirtschaft vernichtete die Möglichkeit, die Wünsche beider zugleich zu befriedigen.[38]
Auch die Geschichte des KGB als Nachfolger des NKVD in der nachstalinistischen Sowjetunion liegt noch weitgehend im Dunkeln. Die Archive sind kaum und nur für die Chruščev-Ära geöffnet und im letzten Jahrzehnt faktisch wieder ganz verschlossen worden. Interna drangen kaum nach außen und waren vermutlich nur einigen Eingeweihten bekannt. Was publik wurde, beruht entweder auf der peniblen Lektüre offiziöser – und nicht immer einheitlich zensierter – Verlautbarungen oder auf Erinnerungen von Überläufern. Dennoch dürfen die grundlegenden Informationen als plausibel gelten. Außer Frage steht, dass der Geheimdienst neben Partei und Armee als dritte Säule der Sowjetmacht zu gelten hat. Für die Anhänger einer totalitaristischen Deutung lag und liegt dies auf der Hand, da die Ausübung extralegaler oder juristisch nicht genau umgrenzter Zwangsgewalt durch eigens dafür geschaffene Organisationen zu den zentralen Aspekten der behaupteten Gemeinsamkeiten zwischen ‹braunen› und ‹roten› Diktaturen zählt. Aber auch ihre Kritiker haben keine systematische Ursache, sein Gewicht zu unterschätzen: Eine zahlenmäßig große und politisch mächtige, dabei relativ geschlossene und schwer kontrollierbare Institution mit entsprechender Durchsetzungskraft war und blieb der KGB allemal. Insofern verdiente er mehr Raum, als er nach Maßgabe der verfügbaren Informationen in den meisten Darstellungen tatsächlich erhält.[39]
Bedeutung und Einfluss des Komitees ergaben sich schon aus den großzügigen Kompetenzen, die ihm trotz aller Beschneidungen im Gefolge von Berijas Sturz Mitte 1953 blieben. Nach wie vor sammelte der KGB Informationen über die Stimmung im Lande, sorgte für den Schutz des Kreml samt der führenden Politiker, sicherte geheime Anlagen – von Nuklearfabriken in ‹verbotenen›, auf keiner Landkarte zu findenden Städten bis zu Staudämmen und wichtigen Betrieben –, beschattete oppositionelle Gruppen, bewachte die Grenzen und betrieb Auslandsspionage. Sowohl für die innere Disziplinierung als auch für die Fluchtverhinderung – wie man Grenzkontrolle lesen sollte – standen ihm eigene Truppen zur Verfügung. Die sowjetische «Staatssicherheit» war nicht nur Auge und Ohr, sondern auch Arm und Hand der Partei. Von den ersten Stunden der VČK bis in die letzten Tage des KGB bewahrten ‹die Organe›, wie man zu Stalins Zeiten in ängstlicher Umschreibung sagte, das einzigartige Vorrecht, reguläre bewaffnete Einheiten zu unterhalten. Anders als in Demokratien gab es in der Sowjetunion zeit ihrer Existenz zwei Organisationen, auf die das vielzitierte staatliche Monopol der legitimen und gesetzeskonformen Zwangsgewalt verteilt war: neben der Armee (wie überall) für die äußere Verteidigung den KGB mit der Aufgabe, Proteste zu unterdrücken und innergesellschaftlichen Gehorsam zu erzwingen. Dabei veränderten sich die Formen der inneren Repression grundlegend. Während VČK und NKVD vor Exekutionen und Massenterror nicht haltmachten, wurde der KGB an die Leine gelegt. Blutvergießen war seine Sache auch vor der Selbstverpflichtung der Sowjetunion auf die Wahrung der Menschenrechte in der Schlussakte der KSZE in Helsinki («Korb drei») im August 1975 nicht. Aber die permanente Androhung von Gewalt und deren eventueller Vollzug in Gestalt fabrizierter Prozesse, der Einweisung in eine psychiatrische Klinik bei voller geistig-nervlicher Gesundheit oder sogar in Gestalt tatsächlicher Mordanschläge blieben bestehen. So betrachtet, vermochten die Bolschewiki jene mentale Mixtur aus ideologisch begründetem Machtanspruch, Bedrohtheitsgefühl und Minderheitenkomplex, dem die VČK (unter anderem) ihre Existenz verdankte, nie abzuschütteln. Die Angst auch vor belanglosen Widersetzlichkeiten und der Argwohn gegenüber ‹den Massen› bestanden fort. In dieser Funktion, als sozusagen institutionalisierte ‹Vorsorge›, war der KGB zweifellos politischer als seine Konkurrentin, die Armee. Zugleich lag darin der Keim seiner Doppelrolle: Weil zwangsläufig auch die Partei ins Beobachtungsfeld geriet, sammelte er Herrschaftswissen und Macht. Bei aller Fesselung im Vergleich zum NKVD blieb er eine ebenso unberechenbare wie bedeutende Potenz im inneren Fraktionskampf.[40]
Dabei markierte der Staatsstreich vom Oktober 1964 auch für den Geheimdienst eine merkliche Wende zum Besseren. Chruščevs Vergangenheitsbewältigung und der Versuch, Begeisterung auf der Grundlage ‹sozialistischer Gesetzlichkeit› an die Stelle von Zwang zu setzen, hatten ihn bei aller Anerkennung seiner Unentbehrlichkeit um den alten Rang gebracht. Der KGB war in den Hintergrund getreten und musste sich darauf beschränken, die Aufdeckung der eigenen Verbrechen mit stiller Wut zu begleiten. Aus welchen Motiven auch immer: Die Vermutung hat sich erhärtet, dass derselbe Šelepin, der den Dichterfürsten Boris Pasternak als «Schwein» bezeichnet hatte und sich auf dem 22. Parteitag 1961 durch eine Rede von ‹meisterhafter Heuchelei› an die Spitze der Entstalinisierer setzte, zu den Stützen und Handlangern des Komplotts gegen Chruščev gehörte. Wahrscheinlich ließ er danach weiteren machtpolitischen Ehrgeiz erkennen. Beide Tatbestände helfen, das Verhalten Brežnevs ihm und dem KGB gegenüber zu erklären. Der neue Erste bzw. Generalsekretär trennte klug zwischen dem Rivalen und der Institution. Šelepin wurde mit der Vollmitgliedschaft im Politbüro (anstelle des Kandidatenstatus) belohnt, sein Nachfolger im Amt des KGB-Chefs V. E. Semičastnyj (seit November 1961) mit der analogen Aufwertung im ZK. Beide konnten sich aber nicht lange im Glanz ihrer neuen Rolle sonnen. Wohl aus Argwohn vor zu großer Macht lobte Brežnev den Mitverschwörer 1967 auf den ehrenvollen Posten des Gewerkschaftsvorsitzenden fort. Zugleich ersetzte er Semičastnyj durch den Kompromisskandidaten Andropov. Letzteres bedeutete aber auch, dass nicht der KGB, sondern seine Führung gemaßregelt wurde. Das Komitee selber erhielt im Gegenteil die Belohnung, die es für seine tätige Beihilfe zum Putsch erwartete. Sichtbar an Andropovs Rang eines Kandidaten des Politbüros, erfreute es sich auch weiterhin der Wertschätzung des Parteichefs. Als Andropov 1973 zum Vollmitglied aufstieg und damit erstmals seit Berija wieder ein Vorsitzender ‹der Organe› zum engsten Kreis der Machthaber gehörte, wurde die Verständigung auch äußerlich sichtbar.
Es widerspräche aller Erfahrung, wenn diese Eintracht nicht auf sachlichen Gemeinsamkeiten beruht hätte. Dabei liegt es nahe, ein wichtiges Unterpfand in der Abwehr wachsender Kritik zu sehen. Die neue Führung betrieb keine programmatische und institutionelle Restauration des Stalinismus, aber sie gab umgehend Order, weitere Enthüllungen zu unterbinden. Dabei konnte sie keinen besseren Partner gewinnen als den KGB, der nicht nur über die nötigen Instrumente verfügte, sondern auch ‹Leidtragender› der Chruščevschen Glasnost’ gewesen war. In vieler Hinsicht verkörperten die Dissidenten in beider Augen die verderblichen Folgen der vorangegangenen Liberalisierung. Der ostentative Aufwand, mit dem 1966 der Prozess gegen Ju. M. Daniėl’ (N. Aršak) und A. D. Sinjavskij (A. Terc) inszeniert wurde, darf daher im Rückblick als Signal für die neue Freiheit des KGB gelten. Hinzu kamen personelle Veränderungen. Andropov war ein Mann der Partei, kein gelernter Geheimdienstler, überdies ein Funktionär von Format, der zwischen beiden Apparaten zu vermitteln wusste. Dieselbe Aufgabe erfüllten mehrere Vertraute des Generalsekretärs, die dieser in wichtigen Positionen – wie S. K. Cvigun als Ersten Stellvertretenden Vorsitzenden oder V. M. Čebrikov als einen der weiteren Stellvertretenden Vorsitzenden – unterbrachte. Sie sorgten dafür, dass auch der modus vivendi mit dem internationalen Klassenfeind um den Preis verbaler Anerkennung der Menschenrechte und größerer Vorsicht im Umgang mit den Dissidenten das Einvernehmen mit dem KGB nicht zerstörte. Brežnev konnte sich auf seine Schützlinge verlassen. Solange er die Zügel in der Hand hielt, blieb der KGB bei der Stange.
Erst nach dem Tode des Generalsekretärs wurde deutlich, dass sich der Geheimdienst schon auf das Ende der entente cordiale vorbereitet hatte. In welchem Maße er tatsächlich besser über die Lebensfähigkeit des Imperiums informiert war als andere, muss offen bleiben. Eigentlich konnte ihm der wirtschaftliche Stillstand ebenso wenig entgehen wie die wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung und sogar in der Partei. In jedem Fall zeigte sich der KGB über einen Aspekt dieser unheilvollen Entwicklung nach Brežnevs Ableben bestens informiert: über die Korruption und Schiebereien unter den Herrschenden, die nicht nur die Glaubwürdigkeit, sondern die schiere Funktionsfähigkeit der sozialistischen Ordnung untergruben. In der einschlägigen Kampagne zugunsten Andropovs trat zutage, dass sich der Geheimdienst bei aller Loyalität und Interessengleichheit nicht auf Gedeih und Verderb an die Partei ausgeliefert hatte. Als diese mit der Wirtschaft und der gesamten Staatsordnung in eine tiefe Krise stürzte, stand er bereit und bot sowohl ein Rezept als auch einen neuen Führer in der Person seines Vorsitzenden an.[41]
‹Real existierender› Föderalismus Auch unter Brežnev wurde hochgehalten, was Lenin mit letzter Kraft als Unterpfand der Dauerhaftigkeit ‹seiner› Revolution gesichert hatte: der föderale Staatsaufbau. Die neue Verfassung von 1977 folgte ihren Vorgängerinnen von 1936 und 1924 in diesem Punkte ohne nennenswerte Änderungen. Um die Freiwilligkeit des Zusammenschlusses zu unterstreichen, garantierte auch das novellierte Grundgesetz das Recht auf ungehinderten Austritt (Art. 72). Und die Nationalitätenkammer des Obersten Sowjets blieb nicht nur erhalten, sondern wurde durch die Herstellung numerischer Parität zur Unionskammer sogar sichtbar aufgewertet. Zugleich machte die Verfassung allerdings mehrfach deutlich, dass sie das Austrittsrecht für formal hielt. Der Bundesstaat habe in dem halben Jahrhundert seiner Existenz nicht nur die «Annäherung aller Klassen und sozialen Schichten» weit vorangetrieben, sondern auch die «juristische und tatsächliche Gleichheit aller Nationen und Völkerschaften». Die Präambel gipfelte in der Behauptung, dass eine «neue historische Gemeinschaft von Menschen – das Sowjetvolk – entstanden» sei. Damit wurde das alte Wunschziel kommunistischer Ideokratie zum Tatbestand erklärt: Der homo sovieticus habe seine nationale Identität abgestreift und kenne, wie die Verfassung es gebot, nur noch ein ‹Vaterland›: den ‹sozialistischen›, supranationalen Gesamtstaat.[42]
Solcher Selbstgewissheit entsprach es, dass die Politik noch stärker in den Dienst zentraler Identitätsbildung trat. Was schon Chruščev begonnen hatte, wurde nach seiner Absetzung fortgesetzt. In kaum einem anderen Politikbereich brauchten die Putschisten so wenig zu ändern. Gerade in dieser Hinsicht hatten sie es nicht nötig, zur stalinistischen Praxis zurückzukehren. Vermutlich wäre dies auch kaum möglich gewesen, da sich zu viel verändert hatte. Auch die Nationalitätenpolitik, die von Regionalpolitik nicht zu trennen war, unterlag dem Zwang zum gesamtstaatlichen Ausgleich. In einem zunehmend komplexen System konnte die Zentrale nicht mehr völlig nach eigenem Gutdünken, geschweige denn willkürlich schalten und walten. Sie hatte jeweilige Gegebenheiten in Rechnung zu stellen und bis zu einem gewissen Grade, schon mit Blick auf die eigenen Ziele, auszugleichen. Auf der anderen Seite spricht alles dafür, sie nicht zur bloßen Vollzugsagentur von Kompromissen zu degradieren. Ihr stand die bewaffnete Macht der Armee ebenso zu Gebote wie die verdeckt-repressive des KGB, die bürokratische der Verwaltung und die manipulative des Parteiapparates. Insofern konnte sie kraft eigener Kompetenz und Durchsetzungsfähigkeit anordnen. Man wird dem Wesen nachstalinistischer Nationalitätenpolitik am nächsten kommen, wenn man nicht in Extremen denkt und keinen Gegensatz zwischen zentraler Dominanz und regionaler Mitwirkung unterstellt. Entscheidend war das Verhältnis zwischen beiden und die Dosierung der Letzteren. Dabei schlugen allerdings die bestehenden Strukturen, ideologische Grundannahmen und sicher auch Ängste nachhaltig zu Buche. Angesichts des tradierten Zentralismus, angesichts ständiger Furcht vor sezessionistischen Tendenzen in einem Vielvölkerreich, um dessen außerordentliche Verschiedenartigkeit die Führung nur allzu genau wusste, hatte der Föderalismus keine Chance. In mancher Hinsicht drängt sich der Eindruck eines unter den gegebenen Bedingungen unauflösbaren Zirkels auf: Ohne ein erhebliches Maß an Unabhängigkeit und Freiheit konnte es keine wirkliche regionale Selbstverwaltung geben; ohne regionale Eigenständigkeit fehlte aber die lebendige Initiative, auf die der Gesamtstaat bei Strafe von Legitimations- und Leistungsschwund angewiesen war.
Es liegt nahe, nicht nur die wachsende Unbeweglichkeit, sondern auch den erstarkenden russischen Zentralismus des Brežnev-Regimes als Antwort auf dieses Dilemma zu verstehen. Die praktizierte Nationalitätenpolitik des «entwickelten Sozialismus» lief auf ein Lippenbekenntnis zum Föderalismus bei paralleler Sicherung unangefochtener Dominanz der Unionsgremien hinaus. Man kooptierte einige Repräsentanten der Republiksparteien, gab ihnen Sitz und Stimme im ZK, ganz wenigen auch im Politbüro und Ministerrat; man reservierte ihnen weiterhin die zweite Kammer des Obersten Sowjets – sorgte aber (neben der Auswahl genehmer Personen) zugleich dafür, dass regionale oder fremdethnische Interessen auf keinen Fall Oberhand gewannen. Insofern galt nach wie vor, dass in Moskau entschieden wurde, was im Baltikum oder im Kaukasus geschah. Dieses Verfahren symbolischer Teilhabe lässt sich in aller Deutlichkeit an der ethnisch-nationalen Zusammensetzung der zentralen Gremien ablesen. Für das Politbüro wurde errechnet, dass der Anteil der slavischen (als Sammelbezeichnung für die russischen, ukrainischen und weißrussischen) Mitglieder 1965–1990 zwischen 78 % und 89 % schwankte. Der Tiefpunkt lag dabei 1980, der Höhepunkt im letzten Jahr. Mithin stammten in der Brežnev-Ära vier von fünf der mächtigsten Politiker des Landes aus den genannten drei Kerngebieten nicht nur des alten Zarenreichs, sondern auch der Sowjetunion. Eine weitere Aufschlüsselung zeigt, dass unter den slavischen Nationalitäten die russische mit erheblichem Abstand dominierte. Ihr folgte die ukrainische, dieser wiederum mit einiger Distanz die weißrussische. Zwar wurde es seit Chruščev üblich, «ein bis zwei Transkaukasier und ein bis zwei Asiaten (in der Regel einen Kazachen und einen Uzbeken)» zu kooptieren. Aber deren Anwesenheit war nicht mit Einfluss zu verwechseln. Anders als es dem Zusammenwachsen der Völker entsprochen hätte, verringerte sich das russische Übergewicht nicht, sondern wuchs (bemerkenswerterweise nach Brežnevs Tod noch stärker) weiter. In diesem Sinne fand sogar eine «Re-Russifizierung» statt.[43]