Ähnlich klare Verhältnisse zeigen die Angaben über die nationale Zugehörigkeit der ZK-Mitglieder. Seit 1952 lag der Anteil der Großrussen über 60 %, der ‹slavische› unter Einschluss der Ukrainer und Weißrussen über 80 %. Dabei war noch eine steigende Tendenz zu beobachten: Die großrussische Repräsentanz überschritt 1986 sogar die 70 %-Marke, die ‹slavische› erreichte im selben Jahr 90 %. Wie Tabelle 51 illustriert, wurde die großrussische Vorherrschaft nur von der ukrainischen tangiert (wenn auch keinesfalls gefährdet). Chruščev und Brežnev hatten beide lange Jahre ihrer Karriere in der Ukraine verbracht und holten Zöglinge aus dieser Zeit nach Moskau. Als die Ära Brežnev zu Ende ging (und seine ukrainischen Gefolgsleute um dieselbe Zeit ins Pensionsalter kamen), verringerte sich das relative Gewicht ukrainischer Politiker wieder. Noch stärker fällt allerdings der Tatbestand ins Auge, dass der Anteil nichtslavischer Nationalitäten, die schon 1959 (vgl. die rechte Spalte des Diagramms und Tabelle A–4 im Anhang) mehr als 20 % der Gesamtbevölkerung ausmachten und den größten natürlichen Zuwachs verzeichneten, nicht stieg. Zwölf von fünfzehn Unionsrepubliken, die große Masse der 26 «autonomen» Republiken bzw. Gebiete sowie der siebzig größeren Völkerschaften, die noch der Zensus von 1979 verzeichnete, blieben im ZK, vom Politbüro nicht zu reden, ohne Sitz und Stimme.[44]

Auch unter den einfachen Parteimitgliedern lässt sich noch ein ähnliches Bild erkennen. Im letzten Amts- und Lebensjahr Brežnevs (1982) wurden 59,8 % der 17,8 Mio. registrierten Angehörigen der KPdSU als Russen geführt; 16,0 % bezeichneten sich als Ukrainer, 3,8 % als Weißrussen, 2,3 % als Uzbeken, 1,9 % als Kazachen, 1,7 % als Georgier, 1,6 % als Azerbajdžaner und 1,5 % als Armenier (um nur die größten Nationalitäten, denen weitere 37 folgen, zu nennen). Dabei lag der Prozentsatz der Russen deutlich über dem entsprechenden Resultat der Volkszählung von 1979 (52,4 %), der der Weißrussen und Georgier leicht darüber (3,6 %, 1,4 %), der der Ukrainer, Kazachen und Azerbajdžaner leicht darunter (16,2 %, 2,5 %, 2,1 %) und der der Uzbeken – nicht zufällig – deutlich darunter (4,7 %). Andererseits kann man auf dieser Ebene nicht mehr von einer Hegemonie der Großrussen über den Rest der Sowjetbürger sprechen. Vielmehr achteten Chruščev und Brežnev darauf, die sogenannten Titularnationen in der Führung der jeweiligen Republiken oder autonomen Gebiete (verschiedenen administrativen Ranges) nicht zu kurz kommen zu lassen. Mit Ausnahme von Moldawien und Weißrussland waren sie überall proportional zu ihrem jeweiligen Bevölkerungsanteil vertreten und häufig sogar darüber hinaus. Auch wenn es große russische Minderheiten gab, wurden die Republiken gleichsam als national annähernd homogene Territorien behandelt. So fanden sich unter den Mitgliedern des ukrainischen Politbüros 1955–1972 93 % Ukrainer, in Tadžikistan 72 % Tadžiken, in Azerbajdžan 87 % Azerbajdžaner und in Lettland 80 % Letten.[45]

Allerdings darf aus dieser Repräsentation oder gar Überrepräsentation nicht geschlossen werden, dass auch die Macht in den Händen der ‹Landespolitiker› gelegen hätte. Vieles spricht im Gegenteil dafür, dass sich die Zentralgewalt die Besetzung der herrschaftsrelevanten Positionen vorbehielt. So gehörte der Erste Parteisekretär in den Unionsrepubliken und autonomen Regionen zwar üblicherweise der jeweils mehrheitlichen Nationalität an. Aber häufig hielten Großrussen zwei Schlüsselämter in der Provinz, die den Zugriff der Obrigkeit sicherten und Unbotmäßigkeit am ehesten unterbinden konnten: das Amt des Zweiten Parteivorsitzenden, der für die Auswahl der ‹Kader› zuständig war, sowie das Amt des Oberkommandierenden des entsprechenden Militärbezirks. Hinzu kam der Vorsitz des regionalen KGB, den zwischen 1955 und 1972 nur 26 % Einheimische ausübten; erst Brežnev lockerte hier die Zügel, so dass sich die letztgenannte Quote bis 1979 auf die Hälfte erhöhte. Dennoch liegt die Folgerung nahe, dass die weitgehende Freihaltung dieser Funktionen vom ‹Indigenat› Methode hatte. Sie bestätigt eine politische Strategie, die letztlich auf Irreführung berechnet war. Die Zentralgewalt täuschte eine Selbständigkeit der Republiken vor, die in Wirklichkeit nicht bestand. Sie tolerierte den Föderalismus in dem Maße, wie er nötig schien, um ein Mindestmaß an Aktivität auf regional-lokaler Ebene zu gewährleisten. Aber sie setzte ihm dort klare Grenzen, wo die Macht auf dem Spiele stand. Auch in dieser Hinsicht herrschte eine Kluft zwischen Schein und Sein, die – wie sich zeigen sollte – eine enorme Sprengkraft enthielt.[46]

Chruščev stürzte auch über ökonomische Probleme. Wenngleich die Verschwörer vor allem den Unmut der Parteioberen zum Ausdruck brachten, handelten sie zugleich im Namen vieler Wirtschaftsplaner und -verwalter. Die Meinung hatte Oberhand gewonnen, dass nicht zuletzt die Wirtschaftsreformen des Staats- und Parteichefs gründlich gescheitert waren. Zwar stand ihre prinzipielle Notwendigkeit außer Frage, aber ihre konkrete Gestalt verfiel dem mehrheitlichen Verdikt zumindest der durchsetzungsfähigen Akteure. Beim Versuch, einen anderen Weg zu gehen, markierte die ungefähre Mitte der Brežnevschen Regentschaft, wie in der inneren Politik generell, eine deutliche Zäsur: Erfolge, die bis dahin durchaus zu verzeichnen waren, verkehrten sich – nach deutlichen Anzeichen schon seit Beginn der siebziger Jahre – endgültig in ihr Gegenteil. Das wirtschaftliche Wachstum versiegte, während die Militärkosten stiegen und die Konsumansprüche der Bevölkerung zumindest nicht fielen. Eine Schere tat sich auf, die das Ende der Brežnev-Ära wirtschaftlich nicht nur als «Stagnation» erscheinen lässt, sondern als rapiden Niedergang. Sicher war dieser Verfall nicht unaufhaltsam. In der Retrospektive spricht aber vieles dafür, dass die Gegenmittel außerhalb des Systems lagen.

Die Industrie  Es war in doppelter Hinsicht kein Zufall, dass die neue, vorletzte Epoche der sowjetischen Industriegeschichte mit einer Reform begann. Zum einen unterstreicht dieser Umstand die Berechtigung des Urteils, die Verschwörer hätten wirtschaftlich zunächst einen ‹Chruščevismus ohne Chruščev› angestrebt und keine völlige Kehrtwende. Zum anderen belegt er, wie unabweisbar durchgreifende Änderungen geworden waren. Mehrere Faktoren trugen zu dieser Einsicht bei. Der größte Handlungszwang ging von den sinkenden Wachstumsraten der industriellen Produktion und des gesamten Nationaleinkommens aus. Dabei war die Tendenz selbst im Grunde nicht verwunderlich. Angesichts des niedrigen Ausgangsniveaus und der enormen, physischen Zwang einschließenden Mobilisierung aller Ressourcen waren in den ersten Planjahrfünften hohe Zuwächse (1928–40 14,6 % p. a.) erzielt worden. Nach dem Krieg schufen die ungeheuren Verwüstungen bei Fortbestand der stalinistischen Diktatur vergleichbare Voraussetzungen, die zumindest die statistischen Ergebnisse schnell in die Höhe trieben (1946–50 14,5 % p. a.). Dies änderte sich mit dem Ende des unmittelbaren Wiederaufbaus. Langsam, aber merklich ließ die industrielle Dynamik – von der landwirtschaftlichen nicht zu reden – nach. In der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre (1956–60) sank die entsprechende Rate auf jährlich 8,8 %. Und nach dem Abbruch des sechsten Fünfjahresplans konnte auch der Siebenjahresplan von 1959 die Ermüdung nicht anhalten: Gegen Ende der Chruščev-Ära wurde nur noch eine Steigerung des Nationaleinkommens von jährlich 5,7 % gemessen. Ein solches Wachstum brauchte sich im internationalen und langfristigen Vergleich zwar nicht zu verstecken, auch wenn es vom bundesrepublikanischen und japanischen ‹Wirtschaftswunder› übertroffen wurde. Aber es verbarg erhebliche sektorale Unterschiede, die umso stärker ins Gewicht fielen, als das absolute Niveau aller Produktionsbereiche nach wie vor kläglich war. So gab es gute Gründe zur Besorgnis, wenn der Privatkonsum während des Siebenjahresplans nur um 3,8 % wuchs und die entsprechenden Werte für die Landwirtschaft sogar auf 2,3 % fielen. Nach der Proklamation des Kommunismus und der Ankündigung, die Vereinigten Staaten nicht nur im Weltraum, sondern bald auch in der Milchproduktion übertreffen zu wollen, war eine solche Schrumpfung besonders peinlich: Sie entzog den vollmundigen Versprechungen gleich zu Beginn die Glaubwürdigkeit.[1]

Was sich in unvermindert langen Schlangen vor den Geschäften ebenso wie in messbaren Produktionsvolumina niederschlug, ließ sich leicht als Symptom durchschauen. Die eigentlichen Ursachen waren schwerer zu ermitteln. Im Rückblick kommen vor allem folgende in Betracht. Bei aller Langsamkeit des Vorgangs machte sich schon um diese Zeit die Verknappung der Arbeitskräfte bemerkbar. Ein großer Teil der dörflichen Reserve an ‹überflüssigen Menschen› war bereits in den dreißiger Jahren abgezogen worden. Die entbehrlichen Hände, die der Vernichtungskrieg übrig ließ, wurden für den Wiederaufbau gebraucht. Zugleich machten sich die enormen Menschenverluste bemerkbar. Die wichtigste Ressource des industriellen Produktionsprozesses stand nicht mehr in jener Fülle zur Verfügung, die jede Sorge um ihre effektive Nutzung überflüssig machte. Dem Rückständigkeitstrauma und einem schematischen, davon zutiefst geprägten ideologischen Selbstverständnis entsprechend, hatten die Wirtschaftsplaner gut drei Jahrzehnte lang infrastrukturellen Investitionen und der Grundlegung einer Schwerindustrie den Vorrang eingeräumt. Landwirtschaft und Konsumgüterproduktion hatten demgegenüber zurückstehen müssen. Daraus war ein Ungleichgewicht entstanden, das sich zunehmend dysfunktional auswirkte und in wachsenden Gegensatz zu steigenden Verbraucheransprüchen geriet. Beim Ausbau der Schwerindustrie hatte man Bodenschätze in relativer Nähe zu Kernrussland nutzen und dort neue Industriereviere gründen können, die nach vergleichsweise geringen Investitionen Ertrag abwarfen. Je weiter man sich vom Zentrum entfernte und in unwirtlichere Regionen vorrückte, desto größer wurde der vorzufinanzierende, kurzfristig nicht profitable Erschließungsaufwand.

Nicht zuletzt wuchs die Komplexität der Wirtschaftsstruktur und mit ihr die Schwierigkeit der Planung. Die Hypothese hat manches für sich, dass die zentrale Festsetzung und Koordinierung der Produktionsabläufe einfache Systeme und klare Ziele voraussetzt. In dem Maße, wie die Erzeugnisse zahlreicher und anspruchsvoller wurden und sich das Beziehungsgeflecht zwischen einer wachsenden Zahl von Branchen und Unternehmen verdichtete, stiegen die Anforderungen an die behördliche Planung und Koordination. Schon weil die Informationen zu langsam flossen, verringerte sich fernab vom Ort des Geschehens die Fähigkeit, angemessen zu reagieren. Man hat geschätzt, dass sich die ‹Gleichungen›, die zur Abstimmung aller Allokations- und Produktionsprozesse einschließlich von Kapital und Arbeitskraft erforderlich waren, gegen Ende der Chruščev-Ära auf «mehrere Trillionen» summierten. Hinzu kam, dass die Meinungen über die Rangfolge der Entwicklungsziele seit Stalins Tod immer weiter auseinandergingen. Je mehr Institutionen und Gruppen ihre Wünsche wirkungsvoll äußern konnten, desto mühevoller wurde die Entscheidung und desto labiler ihr Ergebnis. So unterminierten die Eigenlogik zunehmender Komplexität der Gesamtwirtschaft und der analoge Vorgang wachsender Pluralität politisch-ökonomischer Interessen die Funktionsfähigkeit des überkommenen zentralen Plansystems. Was nottat, ergab sich von selbst: größere Selbständigkeit und Eigenverantwortung der Betriebe. Umso schwerer fiel die Antwort auf die im Rahmen der bestehenden Ordnung entscheidende Frage – wie diese Bewegungsfreiheit mit zentraler Kontrolle und gesamtstaatlichen Entwicklungszielen zu vereinbaren war.[2]

Überlegungen zur Beseitigung dieser und anderer Schwächen sind fast so alt wie die zentrale Kommandowirtschaft selbst. Während Stalin sie noch ahndete (die Erschießung Voznesenkijs 1949 gilt dafür ebenso als Beleg wie die Absetzung Kosygins drei Jahre zuvor), wurden sie unter Chruščev zum Programm erhoben. Aber der Gewaltstreich von 1957 schuf mehr Probleme, als er löste. Die schon bald beginnende Rezentralisierung ließ erkennen, dass nach anderen, eher systematischen als administrativen Wegen der Abhilfe zu suchen war. So lag es sachlich durchaus nahe, dass die Meinungsbildung im September 1962 durch einen Pravda-Artikel in die Öffentlichkeit getragen wurde. Was sein Verfasser, der Ökonom E. G. Liberman, vorzuschlagen hatte, blieb zwar weitgehend graue Theorie, aber er beschrieb die Kardinalfehler des Systems ohne Schönfärberei und scheute vor einschneidenden Therapievorschlägen nicht zurück. Liberman erkannte, dass der Kern des Übels in der strukturellen Vernachlässigung der Rentabilität als Folge starrer Vorgaben und zu geringer Bewegungsmöglichkeiten der Betriebe lag. Deshalb versprach er sich vor allem von zwei Neuerungen Abhilfe: der Verringerung der ‹Kontrollziffern› und der Berücksichtigung des Gewinns. Die Plandaten sollten sich im Wesentlichen auf Produktionsvolumina und Preise beschränken, um die Unternehmen von ‹kleinlicher Bevormundung› zu befreien. Diesen selber blieb es überlassen, ihre Rohstoffe so einzukaufen und ihre Löhne unter Berücksichtigung der sonstigen Kosten so zu bemessen, dass sie einen Rest für Prämien und kleinere Investitionen einbehielten. Libermans Anregungen bedeuteten im Gegensatz zur eigenverantwortlichen «wirtschaftlichen Rechnungsführung» durch die Betriebe, die in der anschließenden Diskussion vorgeschlagen wurde (V. S. Nemčinov), keinen Übergang zur «sozialistischen Marktwirtschaft», wenn der Begriff die Wirksamkeit von Marktmechanismen unter Beibehaltung staatlichen Eigentums meint. Bei vorgegebenem Ausstoß spielte die Nachfrage in seinen Vorstellungen keine ausschlaggebende Rolle. Erstmals aber betonten sie die Notwendigkeit der Belohnung von Effizienz und Ertragskraft, verbunden mit einer Preisreform, die es den Unternehmen ermöglichen sollte, kostendeckend zu produzieren.[3]

Es mag offenbleiben, ob die breite, zum Teil unerwartet kühne publizistische Reaktion auf die Libermanschen Vorschläge dazu beitrug, dass die konkreten Reformen letztlich bescheiden blieben. In jedem Falle entsprachen auch sie dem Stil der neuen Machthaber: Die Leistung sollte erhöht werden, aber nicht um den Preis systemverändernder Eingriffe einschließlich der Rückkehr zur NĖP. Was Kosygin dem ZK Ende September 1965 vorlegte, kam einer tiefen Zäsur in der Industrieverwaltung gleich, ließ jedoch ansonsten deutliche Behutsamkeit erkennen. Parallel zur Wiederherstellung der Branchenministerien und zur Bestätigung des Planprinzips in Fünfjahresperioden, also innerhalb der restituierten alten Ordnung, beschloss man im Wesentlichen zwei Änderungen: Zum einen sollte die Vielzahl der ‹Ziele› (etwa 20 bis 30) auf acht unter dem Primat des Absatzvolumens anstelle der bisherigen Bruttoproduktion verringert werden. Zum anderen eröffnete das «neue System» (wie es hieß), da zwar Warensortiment und Lohnsumme vorgegeben wurden, nicht aber Maßzahlen der Beschäftigtenproduktivität, größere Möglichkeiten für finanzielle Anreize. Wo effektiver gearbeitet wurde und höherer Gewinn anfiel, konnte ein Prämienfond angelegt werden, der den materiellen Stimulus zu einem Wirtschaftsfaktor neuen Ranges zu erheben versprach. Zugleich brachte man eine Preisreform auf den Weg, die allerdings – in unterschiedlichen Stufen für die Konsum-, Schwer- und Bauindustrie – auf einen längeren Zeitraum (bis 1969) berechnet war. Von einem Aufbruch zu neuen Ufern zeugten solche Maßnahmen nicht; aber sie zogen immerhin Konsequenzen aus einer Kette fruchtloser Experimente.

Der Gedanke liegt nahe, dass schon die Vorsicht der Reformen eine gewisse Wahrscheinlichkeit geringer Durchschlagskraft mit sich brachte. In der Tat blieben ihre Ergebnisse bescheiden. Zwar wurden die Anordnungen der Parteispitze formal befolgt. Wenn auch langsam, stellte sich die Mehrheit der Unternehmen im Laufe der ersten Planperiode der neuen Ära (bis 1970 immerhin 41.000) um. Allerdings gab es schon dabei wichtige Ausnahmen; einige Schlüsselsektoren, darunter die Baubranche, hielten ganz überwiegend (zu ca. 90 %) am hergebrachten Verfahren fest. Wichtiger aber war, dass die funktionale Absicht der Neuerung ebenfalls weitgehend ins Leere ging. Die Orientierung der Produktionsplanung an der Bruttoerzeugung ohne Rücksicht auf Qualität und Nachfrage bewies eine Zählebigkeit, die den Profitgesichtspunkt nicht gedeihen ließ. Gewinnkriterien rückten nur in den allerersten Jahren nach der Ankündigung Kosygins in den Vordergrund. Danach verfielen sie auch ideologisch wieder dem Verdikt. Weil sich die Fixierung auf Tonnen und Meter behauptete, gingen auch nur geringe Wachstumsimpulse von den Reformen aus. Wenn man die üblichen statistischen Größen, vom Nationaleinkommen bis zur Bruttoproduktion und Effizienzsteigerung der wichtigsten Branchen zum Maßstab nimmt, lassen sich keine ‹deutlichen Spuren› der Reformen erkennen. Temporäre und partielle Verbesserungen waren oft eher als Ergebnis der Mobilisierung von Reserven oder als sonstige «Struktureffekte» zu verstehen. Hinzu kam, dass auch die Preisreform verpuffte. Zur Kostendeckung oder einem ausgewogenen Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage führten die neuen monetären Bewertungen nicht.

So machten alle Reformen vor wirklichen Einschnitten in das System halt. Mehr noch, je weiter sich das neue Regime festigte, desto offener kehrte es auch in seiner Wirtschaftspolitik zu den alten Zuständen zurück. Evidente Gegenmaßnahmen zwischen Juni 1971 und April 1973 kamen daher nicht mehr aus heiterem Himmel. Die Ministerien erhielten wieder uneingeschränkte Verfügung über Umfang und Verwendung des Prämienfonds. Der Spielraum der Manager bei der Festlegung der Produktionshöhe wurde eingeschränkt und die Anzahl der vorgegebenen Kontrollziffern (um sechs) heraufgesetzt. Worauf solche und andere Vorschriften hinausliefen, war unschwer zu erkennen: auf eine Annullierung der Kosyginschen Reformen und eine deutliche Absage sowohl an größere Selbständigkeit der Betriebe als auch an materielle Anreize zur Steigerung der Produktivität. Damit siegte nicht nur die Trägheit des Apparats über die Innovation, sondern auch ideologische Konformität über Pragmatismus und die politisch erwünschte Konzentration der Entscheidungen in den obersten Lenkungsbehörden über die überfällige Flexibilisierung des im Kern stalinistischen Systems.[4]

Ohne gründliche Korrektur bestand aber wenig Aussicht, die Defekte der zentralen Planwirtschaft dauerhaft zu beheben. Der Mangel an Produktivität sowohl der Arbeit als auch des Kapitals hielt an und mit ihm die Unfähigkeit, beiden Aufgaben, der Fortentwicklung der Grundindustrien und der Verbesserung des Angebots an Gebrauchsgütern und Lebensmitteln, gerecht zu werden. Daraus ergab sich nicht nur eine wachsende Kluft zwischen Erwartung und Wirklichkeit, sondern auch der fortgesetzte Zwang zur Prioritätensetzung. Den Vorrang aber erhielt immer deutlicher der alte Favorit – bis der Spielraum schließlich so weit schrumpfte, dass weder der eine noch der andere Sektor merklich vorankam.

Anfangs lag der Akzent klar auf der Versorgungsseite. Brežnev widmete sich besonders der Landwirtschaft und mahnte ein umfassendes Programm zur Steigerung der agrarischen Erzeugung an. Kosygin assistierte mit der Betonung der Notwendigkeit, «die Wachstumsraten der Konsumgüterproduktion stärker an die Wachstumsraten der Herstellung von Produktionsgütern anzunähern». Damit knüpften beide zunächst an die Chruščevsche Politik an. Wer genau hinsah, konnte allerdings schon früh Unterschiede erkennen. Unter Hinweis auf den beginnenden Vietnamkrieg plädierte Brežnev dafür, den Rüstungsbereich nicht zur Finanzierung der Umschichtung zugunsten der Landwirtschaft heranzuziehen. Daraus ergab sich, dass die Leicht- und Konsumgüterindustrie als Opfer ausersehen war. Aber auch eine weitere Konsequenz lag nahe: Wenn die Schwerindustrie geschont werden sollte, musste es schwerfallen, vorrangig die Bedürfnisse der Bevölkerung zu erfüllen. Tatsächlich wurde, wie die verfügbaren Daten zeigen (vgl. Tabelle 52), der angekündigte Gleichschritt der Wachstumsraten fast erreicht. Im Gesamtzeitraum des achten Fünfjahresplanes stieg die Produktion in beiden Bereichen ungefähr im selben Tempo (um 51 % bzw. 49 %). Man kann dieses Ergebnis aber mit gleichem Recht negativ werten: bedeutete es doch auch, dass der über Jahrzehnte hinweg geschaffene Unterschied zwischen den Sektoren erhalten blieb. Um die Masse der Sowjetbürger dem näherzubringen, was sie unter dem versprochenen Kommunismus verstand, bedurfte es überproportionaler Investitionen in die Konsumgüterproduktion und dies sicher über mehr als eine Planperiode hinweg. Wenn Brežnev die schwerindustriellen und militärischen Interessen schonte, konnte er zwar immer noch den Lebensstandard heben, aber nur langsam. In dieser Form wurden auch tatsächliche Fortschritte erzielt. Während die industrielle Produktion im achten Planjahrfünft um etwa die Hälfte zunahm, erhöhten sich der Durchschnittslohn nur um 26 % und das reale Pro-Kopf-Einkommen um 33 %. Allerdings übertraf ein solcher Anstieg nicht nur die vorangegangene, sondern auch die nachfolgende Planperiode deutlich. Insofern bestätigt er die häufig zu hörende Aussage, die materielle Versorgung des durchschnittlichen Sowjetbürgers habe zu Beginn der Brežnev-Kosygin-Ära ihren Höhepunkt erreicht. In der Retrospektive betrachtet, erlebte die Nachkriegssowjetunion in diesen Jahren sogar ihre «goldene Zeit».[5]