Über meine Schattenseiten zu schreiben ist schwer. Andererseits: Würde ich an dieser Stelle nicht auch offen darüber berichten, wäre dieses Buch nicht vollständig und vermutlich auch nicht ehrlich. Gut, Mensch zu sein, heißt konsequenterweise auch, die eigenen Stärken und Schwächen zu kennen, die eigenen Widersprüche auszuhalten und sich selbst immer wieder kritisch zu hinterfragen – zu wissen, dass das Match Gut gegen Böse zuallererst nicht irgendwo dort draußen stattfindet, sondern immer auch in mir selbst entschieden wird.
Wir tragen stets beides in uns – die Liebe und den Hass. Die Angst und den Mut. Den Zweifel und die Hoffnung. Das Licht und den Schatten. Und diese Gleichzeitigkeit gilt vermutlich auch, wenn es um das In-Beziehung-Sein mit anderen geht: den Wunsch, altruistisch zu helfen, und die Sehnsucht, auch in diesem Moment der Zuwendung gesehen und geliebt zu werden.
Die anderen sind nie nur böse, ich nie nur gut. Meine Motive sind nie nur edel, meine Ziele nie nur hehr. Auch ein barmherziger Samariter kann in eigener Sache für das Gute im Einsatz sein. Und selbst im Moment des Helfens kann man sein Ego streicheln.
In der Vergangenheit habe ich oft mit mir gerungen, weil es mir ehrlicherweise nicht genügt, still zu helfen – zum einen, weil ich mich überspitzt formuliert nicht damit begnügen kann, einen Menschen zu retten – in meiner Vorstellung muss es quasi immer gleich die ganze Welt sein. Zum anderen weiß ich aber auch, dass ein Teil meiner Persönlichkeit auch als Gutmensch gesehen werden will. Weil ich das Licht der Öffentlichkeit immer wieder suche, für die Anliegen und Menschen, für die wir uns einsetzen, aber vermutlich auch für mich selbst. Und zwar nicht nur, um mit dem Rückenwind der Öffentlichkeit das möglichst gut zu tun, was ich tue – gemeinsam mit unzähligen anderen Menschen Hilfe möglich machen und Veränderungen zum Positiven vorantreiben –, sondern eben auch deshalb, weil es mir ein gutes Gefühl gibt. Weil ich den Kick brauche, die Konfrontation, das Adrenalin, das Gefühl, das Gute zu stärken. Der Punkt ist also: Es geht bei allen meinen „guten Taten“ nie nur ausschließlich um die anderen, sondern auch immer um mich selbst.
Ich glaube, daran schließt ja eine Erfahrung an, die wir alle immer wieder machen: Es fühlt sich einfach besser an, gut und im besseren Fall kein Arsch zu sein (Pardon my French). Uns alle, die wir das Glück haben, etwa als Freiwilliger für Menschen in Not im Einsatz sein zu können, sich für andere einzusetzen, füreinander da zu sein, trifft irgendwann die Erkenntnis, dass der Schlüssel zu einem glücklichen und erfüllenden Leben eben nicht nur darin liegt, sich ausschließlich um das eigene Glück, sondern eben auch um das Glück der anderen zu kümmern. Es gibt im Grunde wenig Schöneres als die Gewissheit, dass das eigene Tun und Lassen für andere einen positiven und entscheidenden Unterschied gemacht hat. Diese Erfahrung teile ich mit allen Menschen, die in einer geglückten Beziehung sind. Mit Menschen, die Kinder haben oder sich – bei allem, was dabei auch schwierig ist – um die eigenen Eltern kümmern, wenn sie im Alter Unterstützung brauchen. Mit Krankenschwestern und Krankenpflegern. Mit allen, die einem bettelnden Menschen Geld spenden. Oder mit hunderttausenden Freiwilligen, die dort draußen engagiert sind. Was mich von ihnen unterscheidet: Die meisten leisten diese Hilfe im Stillen – abseits der Bühnen und des Scheinwerferlichts. Bei mir ist das ein wenig anders und es gibt tatsächlich Momente, in denen ich diese Bühnen und dieses Gesehen-Werden nicht nur suche, sondern trotz der Not, von der ich umgeben bin, auch genieße oder wie eine Droge brauche.
Das zu akzeptieren fiel mir lange schwer. Mehr noch: Ich fühlte mich oft schlecht wegen dieser widersprüchlichen Gefühle. Worum geht’s mir jetzt: darum, für andere da zu sein, oder darum, dass ich mir selbst und dass andere mir auf meine Schultern klopfen? Um möglichst viele Likes und Reichweite? Oder um möglichst viel Hilfe und Wirkung? Was überwiegt? Das Du oder das Ich? In den mehr als zehn Jahren, seit ich für die Caritas im Einsatz bin, gab es diesen einen Moment, in dem ich diesen Fragen nicht mehr ausweichen konnte. Ein Moment, in dem ich wusste, ich muss Antworten liefern und mit mir selbst ins Kreuzverhör gehen.
Es liegt schon eine Zeit zurück und vielleicht fällt es mir mit diesem Abstand etwas leichter, darüber zu schreiben. Es war im Frühjahr 2015, Lifeball in Wien: ein Medienspektakel mit großen Bühnen, Laufstegen, Scheinwerferlicht, Stars und Sternchen. Nie zuvor und nie wieder danach habe ich den Lifeball besucht. Doch im Jahr 2015 suchte ich im Rahmen der Initiative „Gegen Unrecht“ nach jeder Möglichkeit, um auf das Massensterben im Mittelmeer, auf das Ertrinken von tausenden Menschen aufmerksam zu machen. Auch aufgrund fehlender Budgets für große Kampagnen fahndeten wir damals akribisch nach Flächen, Bühnen und Möglichkeiten, um unserem Anliegen Gehör zu verschaffen. Unser Ziel: möglichst viel Aufmerksamkeit für die Sache und ein Ende des Sterbens vor unserer Haustür. Ich war wenige Tage vor dem Lifeball von einer Reise aus Sizilien zurückgekehrt. Überlebende hatten mir davon berichtet, dass sich eine Überfahrt in einem klapprigen Flüchtlingsboot „wie der Ritt mit dem Teufel“ angefühlt hatte. Ich hatte gestrandete Flüchtlingsboote gesehen, die Gräber der Namenlosen, die Verzweiflung und Angst der Betroffenen inhaliert. Und letztlich habe ich das Mittelmeer, an dem ich seit so vielen Jahren Urlaub machte, plötzlich mit anderen Augen wahrgenommen. Ich erinnere mich, wie ich am Ende dieser Reise, am Tag unserer Heimkehr, plötzlich ins Meer gelaufen bin, um darin zu schwimmen. Als wollte ich den Tod der vielen Menschen nicht akzeptieren.
Ich entschied mich damals also, den Massenauflauf beim Lifeball zu nutzen, um auf das Massensterben aufmerksam zu machen. Das für sich genommen war nicht das Problem. Das Problem war das Mittel, zu dem ich gegriffen habe. Am Tag der Veranstaltung suchte ich kurzerhand einen Bodypainter auf. Mehrere Stunden lang wurde ich zum „Flüchtling“ geschminkt. Der Körper von oben bis unten voll Dreck, mit dunkler Farbe beschmiert, die Haare ungewaschen, das Gesicht gezeichnet von einer Odyssee über das Mittelmeer. Um den Oberkörper eine viel zu kleine Rettungsweste, in der Hand einen Rettungsring, im Mund eine Pfeife, um auf meinen bevorstehenden „Tod“ aufmerksam zu machen. Ich wollte den Menschen auf dem glamourösen Ball und uns allen vor Augen führen: Während das Rathaus und seine Gäste in diesem Jahr unter dem Motto „Gold und Glamour“ erstrahlten, sollten wir nicht vergessen, dass im selben Augenblick Menschen vor den Toren Europas ertrinken. Ich wollte dem stillen Tod von tausenden Namenlosen Gehör verschaffen.
Als Flüchtling verkleidet stand ich nun am Rande des roten Teppichs inmitten hunderter Schaulustiger. Kurz überlegte ich, beschämt umzukehren und nach Hause zu fahren. Doch als ich plötzlich den US-Schauspieler Sean Penn aus einer Limousine steigen sah, war meine Chance gekommen. Ich hatte Sean Penn einige Jahre zuvor nach dem fürchterlichen Erdbeben auf Haiti zufällig kennengelernt. Wild entschlossen ging ich auf ihn zu, vorbei an den Securitys, schüttelte ihm die Hand, registrierte einen etwas ratlosen Zug in seinem Gesicht und faselte irgendwas davon, dass wir uns kennen würden. Gemeinsam mit ihm schritt ich den roten Teppich entlang. Ich gab ein, zwei Interviews. Der Fotograf einer großen österreichischen Tageszeitung drückte als Erster ab, ein Blitzlichtgewitter folgte und das Foto war in der Welt. Ich postete selbst noch ein paar Fotos auf Facebook und hatte, was ich wollte. Zumindest glaubte ich das zunächst.
Meine Mission war damit erledigt. Was danach passierte, habe ich nie davor und nie danach erlebt. Spott, Häme und Hass brachen sich im Netz Bahn. Die Kritik wollte nicht enden. Ein Shitstorm brach über mich herein. Unkontrollierbar und mit voller Wucht. Meine Aufmachung? „Anmaßend und diskriminierend.“ Meine Motive? „Eitel und selbstverliebt.“ Meine Aktion? „Peinlich für mich und für andere.“ So lauteten die Urteile. Und sie prasselten von links und rechts, aus den eigenen Reihen und von unerwarteter Stelle auf mich ein. Die Wiener Wochenzeitung „Falter“ dolmte mich und verordnete mir ein mehrwöchiges Selfie-Verbot, andere Kritiker geißelten meinen Aktionismus. Ich las Stunde um Stunde die Kommentare auf Facebook und auf Twitter, verfolgte die Berichterstattung in den Medien, ehe ich mich entschloss, für einige Tage offline zu gehen, das Handy abzuschalten. Ich fühlte mich missverstanden und als Opfer, obwohl mich viele als Täter anprangerten. Seit diesen Tagen weiß ich – und das sage ich frei von Selbstmitleid –, wie es Menschen geht, die an den digitalen Pranger gestellt werden, wie schnell es gehen kann, dass sich Hass und Häme in einem Empörungstsunami entladen – ganz gleich, ob die Kritik nun berechtigt ist oder nicht.
Selten, aber doch werde ich heute noch mit diesem Auftritt und den Bildern konfrontiert – vor allem dann, wenn es darum geht, meine Argumente oder meine Anliegen zu schwächen, mich rundweg zu diskreditieren und auf meinen Aktionismus hinzuweisen. Selbst der Bundeskanzler konfrontierte mich Jahre später in einer Fernsehdiskussion mit dieser Szene, um seine vermeintlich humane und vernunftgeleitete Flüchtlingspolitik meinem Aktionismus gegenüberzustellen. Ihm und anderen mit meiner Aktion die Möglichkeit gegeben zu haben, ihren Umgang mit schutzsuchenden Menschen in ein angeblich vernünftiges Licht zu stellen, ist jedoch nicht der einzige Grund, weshalb ich meinen Auftritt am Lifeball heute kritisch sehe. So schmerzlich die Häme im Netz damals war, so sehr wusste ich auch: Die Kritik trifft auch einen wahren Kern. Bis heute stehe ich dazu, die Bühne des Lifeballs genutzt zu haben, um auf den Tod der Vielen im Mittelmeer aufmerksam zu machen – nicht, weil ich Sean Penn und den anderen die Party vermiesen wollte, sondern schlichtweg deshalb, weil ich bis heute eine humanitäre Lösung im Umgang mit schutzsuchenden Menschen an den EU-Außengrenzen brutal vermisse. Die Gleichgültigkeit und Empathielosigkeit angesichts der Toten. Das Schulterzucken, wenn kleine Kinder gezwungen werden, in Moria auf Lesbos im Dreck dahinzuvegetieren. Die bloß kurze Empörung, wenn 12.000 Menschen nach einem Brand eines Flüchtlingslagers obdachlos sind. Die Menschenrechtsverletzungen und die strukturelle Gewalt, die als politisches Mittel der Abschreckung in Kauf genommen werden.
Was ich heute aber bereue, sind die Mittel, zu denen ich damals gegriffen habe. Denn der Zweck heiligt bekanntlich nicht alle Mittel und gut gemeint ist oft alles andere als gut. Ich nehme für mich in Anspruch, jemand zu sein, der selten am Ziel vorbeischießt, dafür aber häufig über das Ziel hinaus. Zu laut, zu schrill, damit wohl auch zu anstrengend für andere, die die Not der Menschen nicht mit eigenen Augen gesehen haben. Doch ich weiß: Dieses eine Mal griff ich daneben. Ja, mein Auftritt war anmaßend, das Darstellen eines Flüchtlings verstärkte Stereotype und stellte diese Menschen in ein Licht, in das sie sich selbst niemals stellen wollen – hilflos und bemitleidenswert. Auch wenn mir das damals nicht bewusst war: Ich instrumentalisierte ihre Not und nahm ihnen so ihre Selbstbestimmtheit. Ich schadete dabei nicht nur mir selbst, sondern vor allem auch der Sache. Ich öffnete meinen Kritikern Tür und Tor, meinen Einsatz und den Einsatz anderer lächelnd vom Tisch wischen zu können – als ein angebliches Indiz für meine Unberechenbarkeit, für die angebliche Ahnungslosigkeit naiver Gutmenschen wie mir. Und das ärgert mich nicht nur. Es tut mir vor allem auch leid.
Ich glaube, dass mich diese Erfahrung in meinem Leben am Ende stärker gemacht hat. Und ich hoffe, dass ich meiner Verantwortung heute anders gerecht werde. Seit ich denken kann, wollte ich Verantwortung übernehmen, wollte an unmenschlichen Zuständen etwas verändern, Ungerechtigkeiten beseitigen, Dinge besser machen. Als Klassensprecher, als Sanitäter und Familienvater, bei der Caritas. Helfersyndrom? Möglich. Wahrscheinlich aber ging und geht es mir vor allem auch darum, gestalten zu können, und – ja! – in gewisser Weise auch darum, Macht zu haben. Macht, um eben nicht nur einen Menschen zu retten, sondern mit ihm alle anderen auch, die in einer ähnlichen Situation stecken. Ganz gleich, ob es nun um schutzsuchende Menschen geht, um obdachlose Menschen, die auf der Straße stehen, um Kinder in der Ukraine oder um von Armut betroffene Familien hier bei uns – ich halte es vermutlich einfach schlechter aus als andere, mich ohnmächtig zu fühlen, am Schicksal dieser Menschen nichts ändern zu können. Ich weiß: Diese Sensibilität für die Not in meiner Umgebung ist Stärke und Schwäche zugleich. Mir wird häufig gesagt – oft anerkennend, selten auch mit einem leisen Ton der Unterstellung –, dass ich die Geschichten anderer im Handumdrehen zu meinen eigenen Geschichten mache. Als durchlebte ich selbst deren Not und als würde ich sie kommunikativ verstärken. Als würde ich selbst auf der Straße leben, als wäre ich selbst auf der Flucht, als müsste ich all das Leid und die Not ein Stück weit auch immer selbst durchleben. Dahinter steckt kein Kalkül. Wenn ich mit Menschen rede, die bei uns in der Gruft ein und aus gehen, fällt es mir oft tatsächlich schwer, immer gleich die benötigte professionelle Distanz einzunehmen, die etwa unsere Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter für ihre Arbeit brauchen. Ich empfand das lange als Makel. Heute weiß ich, dass es auch eine Stärke sein kann. Ich kann meine bescheidene Macht, meinen Einfluss geltend machen, um anderen Gehör zu verschaffen. Ich kann mich zumindest vorübergehend an die Seite dieser Menschen stellen und den Leuten da draußen sagen: „Was hier passiert, ist nicht okay. Wir können das besser.“
Nach heftigen öffentlichen Auseinandersetzungen, zumal nach jenen, die sich über eine längere Zeit hinziehen, kann es mir passieren, dass ich vorübergehend in ein tiefes Loch falle. Das war so, nachdem die Räumung des Stadtparks von obdachlosen Menschen zu einem Runden Tisch von Politik, Polizei und NGOs und zu einem besseren Umgang mit obdachlosen Menschen geführt hat. Oder damals, als wir hunderttausende Österreicherinnen und Österreicher mobilisieren konnten, um für die Kinderrechte aller Kinder in unserem Land einzutreten. Auch als ich gegen kritische Stimmen aus den eigenen Reihen das Caritas-Kältetelefon erfunden habe, war da am Ende dieses Loch. Und in selbiges fiel ich auch während der ersten beiden Wellen der Corona-Pandemie, als wir in kurzer Zeit mit hohem Einsatz und viel Herzblut neue Hilfsangebote aus dem Boden gestampft haben. Nach all diesen Phasen des Rennens und Umsetzens kann es mir passieren, dass ich plötzlich leerlaufe und nicht mehr kann. Selbst wenn ich objektiv betrachtet erreiche, was ich mir vorgenommen habe, heißt das nicht automatisch, dass ich glücklich und zufrieden bin. Spenden mobilisiert, mehr Hilfe ermöglicht, Reform angeschoben. Oft bleibt diese große innere Unruhe zurück. Aufgrund von Erschöpfung. Aber vermutlich auch, weil mir plötzlich der Sinn für meinen täglichen Einsatz abhandenkommt. Wie dieser Duracell-Hase, der auch dann noch läuft, wenn alle anderen bereits zum nächsten Kapitel übergegangen sind. Übel ist das dann, wenn ich den „Erfolg“ selbst nicht oder nur als Etappensieg sehe. Ganz einfach, weil ich weiß, dass etwa mehr Spenden immer auch mehr Hilfe bedeuten.
Stark bin ich dann, wenn ich Anliegen, Projekte und Ziele trotz großer Widerstände in Angriff nehmen kann. Weil sie mich fordern, weil ich mir und anderen beweisen will, was alles möglich ist. Ich gehe mit meinem Kopf durch Wände. Ich kann mich verbeißen in Ungerechtigkeiten, die andere gar nicht sehen oder kampflos über sich ergehen lassen. Aber ich weiß auch, dass ich andere dabei irritiere und unterwegs verliere. Ganz einfach, weil ich oft auf Konventionen pfeife, weil ich Dinge, „die wir immer schon so gemacht haben“, grundsätzlich infrage stelle. Ich weiß, dass ich Menschen nicht nur für die gute Sache begeistern kann, sondern dass ich mit meinem Vorgehen andere auch an ihre Grenzen bringe – meine Familie, wenn ich wochenlang kaum Zeit für sie habe. Aber auch Mitstreiterinnen und Mitstreiter, weil ich wie ein Getriebener nicht einfach aufhören kann. Weil aufhören sich für mich oft wie aufgeben anfühlt. Weil ich immer weiter gehen muss bis zu dem Zeitpunkt, da mir meine innere Stimme sagt: Es ist gut.
Am tiefsten Punkt dieser Löcher lebt die Angst. Die Angst, am Ende als der Böse unter den Gutmenschen entlarvt zu werden. Die Angst, am Ende der Typ zu sein, der den Erwartungen, die er permanent an andere stellt, auf Dauer selbst nicht gerecht werden kann. Die Angst vor dem Versagen. Ein Blender und Trickser, dem das „Ich“ eben doch deutlich näher ist als das „Du“.
Doch ich habe gelernt, mit dieser Angst und mit diesen Selbstzweifeln meinen Frieden zu machen. Weil ich weiß, dass am Ende nicht die Erwartungen zählen, die andere an mich stellen, sondern jene, denen ich selbst gerecht werden will – als Vater und Ehemann und als Vertreter einer Hilfsorganisation, vielleicht auch als „cariklaus“, dieser Troll der Menschlichkeit. Und weil ich heute deutlich besser akzeptieren kann, dass es mir häufig um beides geht. Um andere und um mich. Weil ich weiß, dass es auch egoistische Gründe geben kann, um ein Altruist zu sein. Weil ich für mich zu der Überzeugung gelangt bin: Entscheidend ist nicht zuallererst, warum ich tue, was ich tue, sondern, dass ich etwas mache und dabei versuche, es gut zu tun. Ja, auch ein barmherziger Samariter kann in eigener Sache im Einsatz sein. Macht und Verantwortung zu haben ist meinem Gefühl nach nicht das Problem. Zumindest solange es mir gelingt, sie nicht missbräuchlich einzusetzen. Wer Verantwortung übernimmt, wird auch Fehler machen.
Gutmenschen müssen kritisch bleiben – gegenüber anderen, vor allem aber auch gegenüber sich selbst. Oder wie es der Mediziner Johannes Huber in seinem 2020 erschienenen Buch „Das Gesetz des Ausgleichs“* formuliert hat: „Wir sollten unsere guten, aber eben auch unsere schlechten Seiten kennen, um die Menschen werden zu können, von denen wir vielleicht glauben, sie bereits zu sein. Gutsein lässt sich üben und trainieren wie einen Muskel. Moral ist ein Muskel, der ermüden, aber auch gestärkt werden kann. Und gute Taten sind Taten, bei denen wir der Stimme unseres Gewissens folgen. Wenn wir diese Stimme trainieren, einfach indem wir auf sie hören, wird sie lauter.“ Und auch andere werden ihr folgen.
* Johannes Huber: Das Gesetz des Ausgleichs. Wien: Edition a, 2020