1. Annus horribilis

Besonders beliebt sind die in den hügeligen Wäldern des Brandywine Valley gelegenen Villenvororte Wilmingtons bei den Erben der Chemiefabrikanten-Dynastie der du Ponts. Ihre abgeschiedenen Herrenhäuser und Parks sind über eine Gegend verstreut, die auch als Chateau Country von Delaware bekannt ist. Gemessen daran nimmt sich das Anwesen von Joe Biden und seiner Frau Jill geradezu bescheiden aus: Sie leben auf einem anderthalb Hektar großen, leicht abschüssigen Grundstück an einem kleinen See.

Neunundneunzig Tage vor der Wahl biege ich in die Einfahrt der Bidens ein. Um eine Ansteckung zu vermeiden, hat mich sein Betreuerteam in einem Nebengebäude untergebracht, das knapp hundert Meter vom Haupthaus entfernt ist. »Willkommen im Haus meiner Mutter!«, ruft Joe Biden von der Treppe herauf, bevor im nächsten Augenblick sein weißer Schopf im Blickfeld auftaucht. Biden erreicht das Obergeschoss. Er trägt ein adrettes blaues Anzugshemd, dessen Ärmel er bis zu den Ellbogen hochgekrempelt hat, und eine blütenweiße N95-Maske. Zwischen den Hemdknöpfen steckt ein Kugelschreiber.

Drei Wochen vor dem Parteitag der Demokraten, auf dem Biden offiziell zum Präsidentschaftskandidaten gekürt werden wird, lautet die Schlagzeile der Washington Post: »Amerikas Stellung in der Welt auf einem Tiefpunkt.« Die Zahl der Todesopfer der Corona-Pandemie ist mittlerweile auf fast 150 ‌000 gestiegen, das Dreifache der amerikanischen Verluste im Vietnamkrieg. Die Wirtschaft ist schneller eingebrochen als je zuvor in der Geschichte der Vereinigten Staaten. In Portland, Oregon, beschießen Bundesbeamte in nicht gekennzeichneten Uniformen Demonstranten mit Tränengasgranaten, und Donald Trump bezeichnet die Teilnehmer an den Protestkundgebungen als »kranke und geistig verwirrte Anarchisten und Agitatoren«. Auf Twitter warnt der Präsident, die Demonstranten würden »unsere amerikanischen Städte zerstören und Schlimmeres anrichten«, sollte »Sleepy Joe Biden, die Marionette der Linken, jemals siegen. Die Märkte würden zusammenbrechen, und die Städte würden brennen.«

Der Mann, der zwischen den Amerikanern und vier weiteren Jahren Trump steht, scheint sich über meinen Besuch zu freuen. Im eigenartigen Sommer des Jahres 2020 wirkt Bidens Heim würdevoll und abgeschieden wie ein Kloster. Das mit keltischer Symbolik (grüne Fensterläden, Distelmuster auf den Dekokissen) übersäte Häuschen dient zugleich als Hauptquartier des Secret Service, und kräftige Männer mit Pistolenhalftern gehen möglichst unauffällig ein und aus. Biden lässt sich mir gegenüber auf einem Sessel nieder und breitet die Hände zu seinem sozial distanzierten Gruß aus. »Die Ärzte führen hier ein strenges Regiment«, erklärt er.

Später an diesem Tag wollen die Bidens im Kongress dem vor Kurzem verstorbenen John Lewis aus Georgia die letzte Ehre erweisen, einem Vorkämpfer der Bürgerrechtsbewegung, der seinerzeit beim Marsch in Selma, Alabama, von Polizisten attackiert worden war und einen Schädelbruch erlitten hatte und sich später den Beinamen »Gewissen des Kongresses« erwarb. Ein seltener Ausflug, denn seit dem Covid-19-Shutdown im März hat Biden sich überwiegend zwischen seiner gartenseitigen Veranda, wo er per Zoom an Spendenveranstaltungen teilnimmt, einem Fitnessraum im Obergeschoss und dem Freizeitzimmer im Keller bewegt, wo er vor einem Bücherregal und einer gefalteten Flagge Fernsehinterviews gibt. Seine Wahlkampforganisation ist auf die Privatwohnungen von rund 2300 Mitarbeitern verstreut.

Noch bevor ich eine Frage stellen kann, erzählt er mir die Geschichte des Gebäudes, in dem wir sitzen. Als sein Vater Joe im Jahr 2002 erkrankte, renovierte Biden das Souterrain des Haupthauses und brachte dort seine Eltern unter. »Gott hab ihn selig, er lebte nur noch etwa ein halbes Jahr«, sagt er. »Ich dachte, meine Mutter würde weiterhin bei uns im Haus wohnen.« Aber sie hatte andere Vorstellungen. (Bidens 2010 verstorbene Mutter, deren Mädchenname Jean Finnegan war, spielt eine herausragende Rolle in seiner Version der Familiengeschichte. Er erinnert sich noch an ihre Reaktion, als ihn in der Grammar School eine Nonne wegen seines Stotterns verspottete. Seine Mutter, eine gläubige Katholikin, stattete der Nonne einen Besuch ab und sagte zu ihr: »Wenn Sie noch einmal so mit meinem Sohn sprechen, komme ich wieder und reiße Ihnen das Häubchen vom Kopf.«)

Nachdem sein Vater gestorben war, machte seine Mutter Biden einen Vorschlag: »Sie sagte: ›Joey, wenn du mir ein Haus baust, werde ich hier bei euch bleiben.‹ Ich sagte: ›Schatz, ich habe nicht genug Geld, um dir ein Haus zu bauen.‹ Sie sagte: ›Das weiß ich. Aber ich habe mit deinen Brüdern und deiner Schwester gesprochen. Du kannst mein Haus verkaufen und mir hier etwas bauen.‹« Biden, dessen einzige Einkommensquelle sein Gehalt als Parlamentarier war, zählte jahrelang zu den Senatoren mit dem geringsten Vermögen. (In den zwei Jahren nach dem Ende seiner Amtszeit als Vizepräsident verdienten die Bidens mit Reden, Lehrtätigkeiten und Buchverträgen mehr als fünfzehn Millionen Dollar.) Biden baute eine alte Garage um, und seine Mutter zog dort ein. »Wenn ich sie besuchte, saß sie unten im Erdgeschoss vor dem Kamin und sah fern«, erzählt er. »Neben ihr saß immer eine Pflegerin, der sie die Beichte abnahm.«

Joe Biden ist seit fünfzig Jahren ein »öffentlicher Mann«, wie er es ausdrückt. Er bekleidet seit fünf Jahrzehnten politische Ämter, gibt Interviews und erzählt Anekdoten. Mein letztes Interview mit ihm, in dem es vor allem um außenpolitische Fragen ging, hatte ich im Jahr 2014 geführt, zu einer Zeit, als Biden im Weißen Haus war und Donald Trump die vierzehnte Staffel von The Apprentice präsentierte. Mit siebenundsiebzig wirkt Biden schlanker als vor sechs Jahren, obwohl er nicht auffällig dünner ist. Er hat sich widerwillig von seiner Jugend verabschiedet. Sein strahlendes Lächeln wurde immer wieder derart verjüngt, dass jemand ihm im Wahlkampf 2012 einen Tweet widmete, der sich rasch in ein geflügeltes Wort verwandelte: »Bidens Zähne sind so weiß, dass sie für Romney stimmen.« Sein Haaransatz wurde aufgeforstet, seine Stirn wirkt geglättet, und er strahlt wie ein Großvater, der gerade aus dem Fitnessstudio kommt – und tatsächlich kommt er oft von dort. Seine Ausdrucksweise ist so verschlungen wie eh und je. Der frühere FBI-Direktor James Comey schrieb einmal, das typische Gespräch mit Biden starte in »Richtung A«, biege dann aber irgendwann in »Richtung Z« ab. (Im Dezember 2019 gab Bidens Wahlkampforganisation eine Zusammenfassung seiner Krankengeschichte frei, in der er als für sein Alter »gesunder und kraftvoller« Mann bezeichnet wurde.)

Das Alter war in der einen oder anderen Form ein ständiges Thema im Präsidentschaftswahlkampf 2020. Trump war 2016 als ältester Präsident der Geschichte ins Weiße Haus eingezogen. Im Sommer 2020 war er vierundsiebzig Jahre alt. Um von den Zweifeln an seiner geistigen Leistungsfähigkeit abzulenken, stellten er und seine Verbündeten Biden als senil dar; diese Behauptung wurde zu einem wichtigen Thema in rechtsgerichteten Fernsehsendern und auf Twitter. Biden bemerkte wenig davon, denn er kümmerte sich kaum um die sozialen Medien. (Verglichen mit Trump nutzte Biden diese Medien praktisch nicht. Trump hat auf Twitter und Facebook zusammen mehr als 114 Millionen Follower, Biden weniger als 10 Millionen.)

Wenn etwas besonders Wichtiges geschah, nahmen seine Mitarbeiter einen Tweet in den morgendlichen Nachrichtenüberblick auf, den er auf seinem Smartphone las. Aber er sagt dazu: »Ich sehe mir nicht viele Kommentare an. Ich verbringe meine Zeit lieber damit, mich auf die Schwierigkeiten zu konzentrieren, mit denen die Menschen gerade zu kämpfen haben.«

Ende August, zehn Wochen vor der Wahl, hatte Biden in den Umfragen einen Vorsprung von mindestens acht Prozentpunkten auf Trump. Doch kein Erdenbewohner erwartete ein normales Ende des Wahlkampfs. Einige Umfragen zeigten, dass Bidens Vorsprung schmolz und dass eine unvorhergesehne Entwicklung in der Wirtschaft, im Kongress oder im Obersten Gerichtshof dem Rennen eine entscheidende Wendung geben könnte. »Ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg«, sagte Biden. »Aber ich weiß, dass es wirklich, wirklich hässlich werden wird.« Während Trump die Rechtmäßigkeit der Briefwahl infrage stellte, schränkte sein Postmaster General, der Leiter der Bundespost, unverfroren den Betrieb ein, was zur Folge haben konnte, dass Stimmen nicht gezählt wurden. Ruth Bader Ginsburg, die älteste Richterin am Supreme Court, musste sich einer Chemotherapie unterziehen; im Fall ihres Todes würde ein erbitterter Kampf um ihre Nachfolge ausbrechen. Vertreter der Republikaner halfen dem Rapper und Trump-Anhänger Kanye West bei der Registrierung seiner Kandidatur in mehreren Staaten, was Kritiker als einen Versuch deuteten, Biden afroamerikanische Wählerstimmen abzujagen. In der Zwischenzeit warnten die amerikanischen Geheimdienste, dass Russland wie im Jahr 2016 versuchte, Trumps Gegner Schaden zuzufügen; diesmal setzten die Russen manipulierte Aufzeichnungen von Telefongesprächen ein, welche die Falschmeldung untermauern sollten, Biden habe sein Amt als Vizepräsident missbraucht, um seinem Sohn Hunter bei seinen Geschäften in der Ukraine unter die Arme zu greifen.

Für einen Kandidaten, der die Nase vorn hat, wirkt Biden nicht sehr zuversichtlich. »Ich befürchte, dass sie am Wahlergebnis herumschrauben werden«, sagt er. »Hat man jemals zuvor einen Präsidenten sagen hören, er sei nicht sicher, ob er das Wahlergebnis akzeptieren werde?«

Die schweren Prüfungen des Jahres 2020 waren unvereinbar mit dem Selbstbild der Vereinigten Staaten: Das reichste und mächtigste Land der Welt war nicht in der Lage, auch nur rudimentäre Maßnahmen gegen die Pandemie zu ergreifen – Masken zu beschaffen, Tests durchzuführen –, und wie sich herausstellte, waren einige Behörden derart rückständig und schlecht ausgerüstet, dass sie für den Datenaustausch Faxgeräte nutzen mussten. Das Weiße Haus präsentierte Lösungen, die aus einer Kafka-Parodie hätten stammen können: Den Bürgern wurde von Restaurantbesuchen abgeraten, aber die Regierung bot die steuerliche Befreiung von Geschäftsessen an.

Anders als im Zweiten Weltkrieg, als die amerikanische Mittelschicht diszipliniert mit Grundnahrungsmitteln – Fleisch, Zucker, Kaffee – umging, ignorierten viele Amerikaner in der Covid-19-Ära die Appelle, zu Hause zu bleiben oder eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen. Junge Leute brachen zur großen Spring-Break-Fete auf, während Lagerarbeiter, Altenpflegerinnen und Lieferwagenfahrer an ihre Arbeitsplätze zurückkehrten, weil ihre Tätigkeiten »unverzichtbar« waren. Unterdessen wurden in Washington sogar die grundlegenden Normen des politischen Zusammenhalts missachtet. Als Larry Hogan, der republikanische Gouverneur von Maryland, der ein Gegner von Präsident Trump ist, Testmaterial in Südkorea beschaffte, hielt er es für nötig, die Polizei seines Bundesstaats und Nationalgardisten loszuschicken, um die Lieferung zu schützen. Er befürchtete, die Bundesbehörden könnten versuchen, das Material zu beschlagnahmen. Der Präsident aller Amerikaner seinerseits brüstete sich damit, von Demokraten regierten Bundesstaaten Hilfe und Ausrüstung vorenthalten zu haben. »Rufen Sie den Gouverneur von Washington nicht an«, hatte er laut eigener Aussage seinen Vizepräsidenten Mike Pence angewiesen, »und rufen Sie die Frau in Michigan nicht an.« Jared Kushner, Präsidentenschwiegersohn und einer der Verantwortlichen für die Bekämpfung der Pandemie, bezeichnete die Maßnahmen der Regierung im April im Gespräch mit Fox News als »großartige Erfolgsgeschichte«. In den folgenden vier Monaten starben mindestens weitere 110 ‌000 Menschen.

Und auf dem Höhepunkt der Pandemie löste George Floyds Erstickungstod unter dem Knie eines Polizisten eine zweite epochale Wende in der amerikanischen Geschichte aus: eine Abrechnung mit der verfestigten Machthierarchie, die Isabel Wilkerson in ihrem Buch Caste als »wortlosen Platzanweiser in einem abgedunkelten Theatersaal« beschreibt, »dessen Taschenlampe den Gang ausleuchtet, während er uns zu dem Platz führt, der uns zugeteilt wurde«.

Cornell William Brooks, ein Harvard-Professor, Aktivist und ehemaliger Vorsitzender der National Association for the Advancement of Colored People (NAACP), vergleicht die Tötung von George Floyd mit dem Mord an Emmett Till im Jahr 1955, der zusammen mit dem Busboykott von Montgomery den Beginn der Schwarzen[1]  Bürgerrechtsbewegung markierte. In der Größe und Wucht der Protestkundgebungen kam eine Wut zum Vorschein, die sich schon lange angestaut hatte und die nicht allein mit dem schrecklichen Ereignis zu erklären war, das sie schließlich ausgelöst hatte. »Die schärfste Zutat in diesem Kessel ist enttäuschte Hoffnung. Viele von uns erinnern sich an ›Hoffnung‹ und ›Wandel‹, aber stattdessen bekamen wir Wut und Furcht. Die Menschen haben einfach genug«, sagt Brooks.

Biden ist überzeugt, dass Trumps Mängel als Führungspersönlichkeit insbesondere in der Pandemie selbst für standhafte republikanische Fürsprecher des Präsidenten unübersehbar geworden seien. »Alle, selbst seine Anhänger, erkennen, dass es nur um seinen Eigennutz geht. Es geht nur um ihn«, erklärt er mir. »Das hat gravierende Auswirkungen darauf, ob die Menschen ihren Alltag meistern können.« Biden ist sich jedoch der Tatsache bewusst, dass das möglicherweise nicht genügen wird, um die Wähler dazu zu bewegen, ihre Meinung zu ändern. Er beschreibt Trumps Anhänger nicht als Tölpel, als böse oder erbärmlich: »Sie glauben, dass es ihnen unter diesem Präsidenten wirtschaftlich besser gehen wird«, sagt er. »Er hat etwa vierzig Prozent der Wähler bis zu einem gewissen Grad mit der Behauptung überzeugt, die Demokraten seien Sozialisten und würden den Menschen alles wegnehmen, was sie besitzen.«

Die Republikaner warfen den Demokraten seit Langem vor, sie wollten den Sozialismus in die Vereinigten Staaten einschmuggeln. Es war jedoch schwierig, diesen Vorwurf gegen Biden zu erheben, der sich in seiner ganzen Laufbahn vor allem durch einen umsichtigen Zentrismus ausgezeichnet hat. Um die demokratische Kandidatur bewarb sich Biden mit einem sehr eng definierten Ziel: Trumps Präsidentschaft zu beenden. Die meisten Amerikaner wollten seiner Meinung nach keine Revolution. Bei einem seiner ersten Fundraiser in New York versprach er, die Reichen nicht zu »dämonisieren« und »keine grundlegenden Veränderungen« anzustreben. (Im Internet tauchten fingierte Wahlplakate im Stil von Obamas »Hope«-Bild auf, versehen mit dem Slogan »Keine grundlegenden Veränderungen«.) Als sich Biden dann jedoch im März die demokratische Nominierung gesichert hatte, begann er, für seine Kandidatur das Versprechen einer Systemveränderung zu reklamieren, wie es sie seit Franklin D. Roosevelts New Deal nicht mehr gegeben habe. Nach Aussage eines hochrangigen Mitarbeiters von Bernie Sanders sagte Biden in einem Telefongespräch, in dem er seinen Konkurrenten um Unterstützung bat: »Ich will der progressivste Präsident seit FDR werden.«

Diese Wandlung verwirrte Bidens Kritiker auf beiden Seiten. Nun wurde er gleichzeitig beschuldigt, eine Marionette der Sozialisten und ein Lockvogel der Neoliberalen zu sein. In den Augen seiner linken Gegner – insbesondere der jüngeren, gut ausgebildeten, ideologisch leidenschaftlicheren Demokraten, die im Internet sehr aktiv waren – war Biden ein Geschöpf des Ancien Régime und ein Anhänger des nationalen Sicherheitsstaats, der so wenig Lust auf Veränderungen hatte, dass nach seinem Sieg am Super Tuesday tatsächlich die Kurse der Pharmaunternehmen und Krankenhausbetreiber stiegen. Die Linksliberalen waren enttäuscht darüber, dass aus dem vielfältigsten Kandidatenfeld in der Geschichte der Präsidentschaftsvorwahlen ein Weißer im achten Lebensjahrzehnt als Sieger hervorgegangen war. Es war, als wäre der Kellner mit der Nachricht aus der Küche zurückgekehrt, von den Spezialitäten des Tages sei nichts mehr übrig und er könne nur noch Haferbrei anbieten. (Natürlich stand es den Gästen frei, eine weitere Portion Rattengift zu bestellen.)

Maurice Mitchell, der Vorsitzende der Working Families Party, meinte dazu: »Die Leute sagen: ›Oh, dieser Mann ist ein Mitläufer.‹ Er hat keine Ideologie, und für uns hat die Ideologie große Bedeutung. In den Vorwahlen trat er mit einem rückwärtsgewandten Programm an. Er wollte zu dem Weg zurückkehren, den wir in den Obama-Jahren eingeschlagen hatten.« Mitchell, der auch zu den führenden Köpfen des Movement for Black Lives zählt, erklärte, Bidens neuer Tonfall habe die Aufmerksamkeit der Progressiven geweckt: »Er erkennt, dass dies möglicherweise ein Roosevelt-Moment ist. Er ist noch nicht so weit, niemand hält Joe Biden für einen Star der Progressiven. Aber man kann ihn sich sowohl in eine besonders zynische als auch in eine sehr optimistische Lesart einbauen.«

Als der Wahltag näher rückte, fragte ich Barack Obama, wie er Bidens Linksschwenk deute. »Wenn man sich die Ziele von Joe Biden und Bernie Sanders aus zehn Kilometern Höhe ansieht, unterscheiden sie sich nicht allzu sehr voneinander«, antwortete Obama. »Sie wollen beide dafür sorgen, dass jeder Mensch eine Krankenversicherung bekommt. Sie wollen, dass jeder Mensch eine Arbeit finden kann und einen menschenwürdigen Lohn bekommt. Sie wollen dafür sorgen, dass jedes Kind eine gute Bildung erhält.« Obama sah den Unterschied zwischen den beiden eher in der Taktik. »Oft geht es um die Frage: ›Wie nehmen wir eine Aufgabe in Angriff, und welche Koalitionen brauchen wir?‹ Ich denke, in der aktuellen Situation haben sich die Kalküle geändert – nicht unbedingt, weil sich Joes Vorstellungen geändert haben, sondern weil sich die Umstände geändert haben.«

Die Spannungen in der Demokratischen Partei haben einen Konflikt zwischen dem progressiven Meliorismus – der auf langfristige Verbesserungen ausgerichteten Politik Obamas und Bidens – und dem Wunsch nach raschen Veränderungen zum Vorschein gebracht, die Sanders als »Revolution« bezeichnet. Die beiden Fraktionen nehmen gegensätzliche Tugenden für sich in Anspruch: Eine Seite bemüht sich um Realismus, das Schmieden von Allianzen und praktische Maßnahmen, während die andere unübersehbare Belege dafür sieht, dass es mit normalen »Reformen« nicht gelungen ist, der allgegenwärtigen Ungleichheit, den grausamen Missständen im amerikanischen Gesundheitswesen und im Strafvollzug sowie der Klimakatastrophe entgegenzuwirken.

Es hat sich nicht nur ein ideologischer Graben aufgetan, sondern auch einer zwischen den Generationen: Die jungen Amerikaner sind mit Fehlschlägen aufgewachsen – mit der Invasion im Irak, der Reaktion auf den Hurrikan Katrina, der Finanzkrise von 2007/08 – und schreiben diese Fehlschläge teilweise der Gerontokratie zu. Das Medianalter der amerikanischen Bevölkerung liegt im Jahr 2020 bei 38 Jahren. Das Medianalter der Mitglieder des US-Senats liegt bei 65 Jahren. Es ist einer der ältesten Kongresse in der Geschichte. Mitch McConnell, der Mehrheitsführer im Senat, ist 78, Nancy Pelosi, die Sprecherin des Repräsentantenhauses, 80 Jahre alt. Der Altersunterschied zwischen den Wählern und ihren Repräsentanten geht mit einem grundverschiedenen Weltverständnis einher. Patrick Fisher, ein Professor in Seton Hall, der sich auf die politische Dynamik des Alters spezialisiert hat, erklärt: »Die Generationen unterscheiden sich heute demografisch, politisch, wirtschaftlich, sozial und technologisch mehr voneinander als zu jedem anderen Zeitpunkt in der Geschichte.«

Die Millennials stellen aktuell in den Vereinigten Staaten die größte Generation, und sie sind die vielfältigste in der Geschichte des Landes. Sie traten in der schlimmsten Rezession seit den dreißiger Jahren ins Erwerbsleben ein. Bei den unter Fünfundzwanzigjährigen ist die Arbeitslosenrate mehr als doppelt so hoch wie in anderen Altersgruppen. Im Jahr 2012 lebten mehr junge Erwachsene zwischen achtzehn und einunddreißig Jahren im elterlichen Haushalt als je zuvor. Anfang der zehner Jahre, als rechts der Mitte die Saat des Trumpismus ausgebracht wurde, wuchs im linken Lager eine von jungen Leuten getragene politische Gegenbewegung. In ihren Augen benutzen die älteren Amerikaner das politische System, um den jüngeren Generationen Ressourcen wegzunehmen. Im Jahr 2014 überstiegen die Pro-Kopf-Ausgaben der Bundesverwaltung für Programme für alte Menschen die Ausgaben für Kinder um das Sechsfache, wie Paul Taylor in The Next America schreibt, einer Studie über die demografische Zukunft des Landes.

Viele junge Amerikaner setzten große Hoffnungen in Obama; 2008 gaben ihm verblüffende zwei Drittel der Millennials ihre Stimme. Am Ende seiner Präsidentschaft waren sie jedoch zu der Überzeugung gelangt, dass niemand die politischen Parteien zum Handeln bewegen konnte, wenn das selbst Obama nicht gelungen war. Zwischen 2013 und 2017 sank das Medianalter der Mitglieder der Democratic Socialists of America von 68 auf 33 Jahre. Viele andere wünschten sich eine sozialdemokratische Politik ähnlich dem New Deal. Im Jahr 2019 erklärte Greta Thunberg vor den Vereinten Nationen: »Die Veränderung naht, ob es Ihnen gefällt oder nicht.«

Auf meine Frage nach den Spannungen in der Demokratischen Partei bezeichnete Obama sie als Merkmale der »traditionellen demokratischen Idee«: »Es ist eine Partei, unter deren Dach viele Strömungen Platz haben. Das bedeutet, dass man die Vorstellungen von Personen toleriert, anhört und annimmt, die sich von den eigenen unterscheiden, und dass man versucht, diese Leute zu integrieren. Man arbeitet nicht nur mit progressiven Demokraten zusammen, sondern auch mit konservativen – und man ist bereit, Kompromisse zu schließen.« Das war ein sanfter Seitenhieb gegen jene Demokraten, die Kompromissbereitschaft mit Versagen gleichsetzen. Im Jahr davor hatte Obama beklagt, dass sich in der Partei ein »kreisförmiges Erschießungskommando« gebildet habe. »Diese Vorstellung von der reinen Lehre, man lässt sich nie auf Kompromisse ein, man ist immer politisch bewusst und so weiter – darüber solltet ihr rasch hinwegkommen«, riet er seiner Partei.

Vor seiner Bewerbung um das Präsidentenamt machte Biden seiner Enttäuschung darüber Luft, dass die Jugend geringe Lust zum Wählen zeigte. Im Jahr 2019 nörgelte er, dass die jungen Wähler bei der Auseinandersetzung zwischen Trump und Hillary Clinton »zu Hause geblieben« seien und »sich rausgehalten« hätten. In unseren Unterhaltungen während des Wahlkampfs bemühte er sich jedoch, versöhnlicher zu klingen: »Diese Generation hat es wirklich schwer erwischt«, sagte er. »Sie hat die wenigsten Vorurteile und ist die offenste, intelligenteste, am besten ausgebildete Generation in der amerikanischen Geschichte. Und was geschieht? Sie muss 9/11 ertragen, ihr Land zieht in den Krieg, sie muss die Große Rezession überstehen und sie bekommt das hier. Diese Generation hat in dieser Krise Hilfe verdient.« Er konnte die Notlage der Jugend teilweise nachvollziehen: »Ich zahle immer noch Beau Bidens Studienkredite zurück«, sagte er in Bezug auf seinen im Jahr 2015 verstorbenen Erstgeborenen. »Er zahlte immer seine Raten, aber als er seinen Hochschulabschluss machte, hatte er 124 ‌000 Dollar Schulden.«

Im Frühjahr 2020 begann Biden, sich als »Übergangskandidaten« zu bezeichnen: »Wir haben den jüngeren Leuten keinen Platz in der Partei gegeben, keine Gelegenheit, im Zentrum der Aufmerksamkeit des Landes zu stehen. Dabei gibt es eine unglaubliche Gruppe talentierter, neuerer, jüngerer Leute.« Ben Rhodes, der unter Obama als Berater im Weißen Haus arbeitete, sagte mir: »Tatsächlich ist das eine sehr bedeutsame Idee. Biden sagt: ›Ich bin ein siebenundsiebzigjähriger Weißer, der dreißig Jahre lang im Senat saß, und ich kenne sowohl die Beschränkungen, die damit einhergehen, als auch das Wesen dieses Landes.‹ Egal, was er tut, er wird die Frustration des Manns auf der Straße nie vollkommen verstehen. Das ist keine Kritik. Es ist einfach die Realität.« Ein hochrangiges Mitglied der Regierung Obama erklärt, Bidens Eingeständnis enthalte auch eine subtilere Botschaft: »Dieses Land muss einfach zur Ruhe kommen und braucht einen langweiligen Präsidenten.«

Varshini Prakash, eine siebenundzwanzigjährige Mitgründerin des Sunrise Movement, einer von jungen Leuten beherrschten Organisation, die für entschlossene Maßnahmen gegen den Klimawandel kämpft, äußerte mir gegenüber die Überzeugung, Biden sei sich der Notwendigkeit bewusst, mehr als nur rhetorisches Interesse für die jungen Linken zu zeigen. »Du hast einen Präsidentschaftskandidaten, der in seiner gesamten Karriere im Wesentlichen auf inkrementelle Lösungen gesetzt hat«, erklärte sie. »Dann findet er sich in dieser Situation wieder, in der die Leute vieles von dem Status quo, den er repräsentiert, satthaben – ein seit vierzig Jahren unangefochtenes Wirtschaftssystem, dessen Teil er war und das er befürwortete, aber auch Gesundheit, Klima, Waffengewalt, Einwanderung. In all diesen Fragen ist ein kritischer Punkt erreicht. Ich denke, Covid-19 war der Knackpunkt, und er erkannte, dass er in große Schwierigkeiten geraten wird, sollte es ihm nicht gelingen, seine Politik der kleinen Schritte mit den umwälzenden Veränderungen zu verbinden, nach denen die Leute rufen.«

Für die Fahrt zur Gedenkfeier für John Lewis nimmt Biden in einem gepanzerten schwarzen SUV Platz. Er hat das Outfit für den Heim-Wahlkampf gegen Trauerkleidung getauscht – weißes Hemd, dunkler Anzug mit dunkler Krawatte und schwarze Maske. Bei der Rotunde vor dem Kapitol werden er und Jill von Nancy Pelosi begrüßt, die sie seit dem Beginn des Shutdown nicht gesehen haben. Sie stehen kurz zusammen und unterhalten sich, und dann treten die Bidens an den in die US-Flagge gehüllten Sarg, der an derselben Stelle steht, wo anderthalb Jahrhunderte früher Abraham Lincoln aufgebahrt war. Wie andere Demokraten hat Biden die Republikaner aufgefordert, Lewis zu ehren, indem sie den Voting Rights Act wieder in Kraft setzen und »das unantastbare Wahlrecht schützen, für das er zu sterben bereit war«, wie es Biden ausdrückt. Das 1965 verabschiedete Gesetz hatte dazu gedient, rassistische Diskriminierung an den Wahlurnen zu verhindern, aber im Jahr 2013 war der Oberste Gerichtshof zu der Überzeugung gelangt, diese Bestimmungen seien nicht länger notwendig. Seitdem versuchten die Republikaner in vielen Staaten, Wähler unter fadenscheinigen Vorwänden mit neuen Erfordernissen vom Urnengang abzuhalten, und im Senat blockierte Mitch McConnell Gesetzesvorlagen, mit denen die Bestimmungen des Voting Rights Act wiederhergestellt werden sollten.

Biden hatte wenige Tage vor Lewis' Tod ein letztes Telefongespräch mit ihm geführt. Als er die Nachricht vom Ableben des Bürgerrechtlers erhielt, schrieb er in einer Presseerklärung: »Eltern, die ihren Kindern helfen wollen, die Welt von heute zu verstehen, sollten ihnen von John Lewis erzählen.«

In den folgenden Tagen war Lewis' Sarg auf eine Abschiedstour geschickt worden. Sie begann in seiner Heimatstadt Troy in Alabama, folgte der Spur des Schwarzen Bürgerrechtskampfes und führte auch über die Edmund-Pettus-Brücke in Selma. In Washington hielt der Leichentross unweit des Weißen Hauses auf der neubenannten Black Lives Matter Plaza an. Im Kapitol legte Biden die Hand auf den Sarg und machte das Zeichen des Kreuzes.

Trump nahm nicht an der Ehrung teil. Lewis hatte einmal erklärt, er sei kein »legitimer Präsident«, worauf Trump mit der wenig subtilen Behauptung antwortete, Lewis' Kongressbezirk sei »von Kriminalität verseucht«. Gezwungen, ein Mindestmaß an Anstand zu zeigen, setzte Trump auf dem Heimweg vom Golfspielen einen Tweet ab, in dem er sein Bedauern äußerte und erklärte: »Melania und ich sind in unseren Gebeten bei ihm und seiner Familie.«

Im Präsidentschaftsrennen 2020 boten sich Trump dank der Unruhen zahlreiche Gelegenheiten, rassistisch und unfähig zu wirken, während dem für seine verbalen Ausrutscher berühmten Wahlkämpfer Biden das Risiko erspart blieb, durch einen vollen Terminkalender zu hasten. Seine Mitarbeiter wiesen die Vermutung zurück, sie hätten absichtlich zugelassen, dass Trump das Rampenlicht usurpierte, aber im Mai sagte es Biden ganz offen: »Je mehr er redet, desto besser stehe ich da.«

Zurückhaltung war nie Bidens Art. Sogar in Washington, dem Mekka der Schaumschläger, tat er sich hervor. Als Obama kurz nach seiner Wahl zum Senator 2005 in einer Sitzung des Außenpolitischen Ausschusses einen langatmigen Vortrag Bidens anhören musste, schob er einem Mitglied seines Teams eine Notiz mit drei Worten zu: »Erschieß. Mich. Sofort.« Ein früherer langjähriger Mitarbeiter Bidens erinnert sich, dass er sich angewöhnte, während der Vorträge seines Chefs die Knie durchzudrücken, um nicht einzuschlafen. Biden kennt seinen Ruf und scherzt hin und wieder darüber. Als während eines Fernsehinterviews sein Mikrofon ausfiel, sagte er: »Im Weißen Haus machen sie das andauernd mit mir.«

Bidens auffälliges Bedürfnis nach menschlicher Nähe trug vermutlich wesentlich zu seinem Sieg in den Vorwahlen bei. Pete Buttigieg, der ehemalige Bürgermeister von South Bend in Indiana, beobachtete seinen Rivalen vor einer Debatte hinter der Bühne. »Einige Kandidaten unterhielten sich miteinander«, erzählte mir Buttigieg. »Andere schienen Selbstgespräche zu führen.« Biden hingegen gab Mitgliedern der Bühnencrew unaufgeforderte Ratschläge oder versuchte, die Novizen unter den Kandidaten aufzumuntern. Er erklärte Bidens Verhalten so: »Ich glaube, er beschäftigt sich gerne mit jedem Menschen, der in seine Nähe kommt, und freut sich darüber, mit diesem Menschen zu sprechen und sich anzuhören, was er zu sagen hat.«

Als der Wahltag näher rückte, stellte Biden fest, dass er in eine unangenehme Lage geraten war: Seine politischen Erfolge verdankten sich nie mitreißenden Reden oder dem geschickten Einsatz der sozialen Medien, sondern eher seiner Fähigkeit, die Menschen zu erreichen – doch die Pandemie hatte die Menschen fast unerreichbar gemacht. Die Frage war, ob er eine Beziehung zu einer ausreichend großen Zahl von Wählern herstellen konnte, um Trump zu besiegen, obwohl viele Anhänger seiner Partei einen anderen demokratischen Kandidaten bevorzugt hätten.