In unserer Gesellschaft spielen Männer eine wichtige Rolle, sie beherrschen das Leben, dominieren. Männermacht prägt unsere Welt. Ein paar Frauen, die bei allem, was sie äußern oder tun, unter kritischer Beobachtung stehen, ändern daran nichts. Man könnte wohl sagen: Männer verdunkeln quasi die Sonne.
Haben Sie schon mal eine Sonnenfinsternis erlebt? Man sieht nicht richtig klar, die Stimmung verändert sich, irgendwie wird man fast schwermütig. Was auch den Umgang mit dominierenden Männern beschreibt, denen eine seltsame Düsternis anhaftet. Bei vielen weiß man nicht, woran man mit ihnen ist. Auf den folgenden Seiten stehen nur Männernamen, völlig willkürlich ausgewählt, von allem etwas. Machen wir einen kleinen Psychotest: Schauen wir die Namen vorsichtig an und überlegen wir, was wir über jeden dieser Männer wissen. Sie werden sehen: Es gibt fraglos gute, genauso fraglos schlechte und dann gibt es jede Menge, bei denen die Zuordnung schwerfällt oder bei denen sich unsere Einschätzung im Lauf der Jahre vollkommen geändert hat.
Adam, Josef Ackermann, Konrad Adenauer, Alfred Adler, Theodor W. Adorno, Woody Allen, Salvador Allende, Idi Amin, Jassir Arafat, Arminius, Baschar al-Assad, Marc Aurel, Oliver Bäte, Claudio Baglioni, Steve Bannon, Daniel Barenboim, Baudouin I., Franz Beckenbauer, Gerold Becker, Bertold Beitz, Walter Benjamin, Gottfried Benn, Jeff Bezos, Otto von Bismarck, Ernst Bloch, Norbert Blüm, Jan Böhmermann, Heinrich Böll, Nils Bohr, Jair Bolsonaro, Usain Bolt, Karl Bonhoeffer, Willy Brandt, Richard Branson, Bernard große Broermann, Ignaz Bubis, Michelangelo Buonarroti, Gerd Bucerius, Gautama Buddha, George Bush, Julius Caesar, Enrico Caruso, Sergiu Celibidache, Theodore McCarrick, El Chapo, Richard Cheney, Alain Chouraqui, Nikita Chruschtschow, Winston Churchill, Bill Clinton, Michael Cohen, Bill Cosby, Jeff Corbyn, Kay Diekmann, Hermann Dietzfelbinger, Charles Dickens, Mathias Döpfner, Placido Domingo, Karlfried Graf Dürkheim, Olivier Duhamel, Rodrigo Duterte, Friedrich Ebert, Ludwig Ehrhard, Adolf Eichmann, Dwight D. Eisenhower, Kurt Eisner, Friedrich Engels, Recep Tayyib Erdoğan, Pablo Escobar, A. von Finck, Joschka Fischer, F. Scott Fitzgerald, Friedrich Flick, Friedrich II., Max Frisch, Henry Ford, Michel Foucault, Sigmund Freud, Jakob Fugger, Muammer al-Gaddafi, Bill Gates, Alexander Gauland, Charles de Gaulle, Kurt Gödel, Johann Wolfgang von Goethe, Gott, Hermann Göring, Günther Grass, Alan Greenspan, David Ben-Gurion, Jürgen Habermas, Peter Handke, Robert Habek, Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Werner Heisenberg, Hartmut von Hentig, Ernest Hemingway, Sepp Herberger, Rudolf Hess, Theodor Heuss, Dieter Hildebrand, Heinrich Himmler, Min Aung Hlaing, Uli Hoeneß, Erich Honecker, Robin Hood, Alexander von Humboldt, Innozenz IV., Michael Jackson, Xi Jingping, Emil Jannings, Steve Jobs, Carl Gustav Jung, Ernst Jünger, Lech Kaczinsky, Herbert von Karajan, Karl der Große, John Fitzgerald Kennedy, Imran Kahn, Immanuel Kant, Kurt Georg Kiesinger, Steven King, Henry Kissinger, Kurt Kistner, Franz Klammer, Fritz Kortner, Harald Krüger, Helmuth Kohl, Emil Kraepelin, Bruno Kreisky, Osama Bin Laden, Dalai Lama, John Lasseter, Bernard Francis Law, Heinrich Maria Ledig-Rowohlt, James Levine, Abraham Lincoln, Erich Ludendorff, Alexander Lukaschenko, Patrice Lumumba, Martin Luther, Heiko Maas, Emmanuel Macron, Nicolas Maduro, Harold Macmillan, Luigi di Maio, Sigfried Mauser, Mitch McConnell, Robert McNamara, Mischa Maisky, Nelson Mandela, Lee Marvin, Karl Marx, Gabriel Matzneff, Friedrich Merz, Reinhold Messner, Slobodan Milošević, François Mitterand, Narendra Modi, Michel de Montaigne, Moses, Wolfgang Amadeus Mozart, Matthias Müller, Elon Musk, Benito Mussolini, Satya Nadella, Benjamin Netanjahu, Richard Nixon, Trevor Noah, Barack Obama, Christian Olearius, Yat-Sen Chang Oiva, Victor Orban, Franz von Papen, der Papst, Luciano Pavarotti, George Pell, Ferdinand Pietsch, Deng Xiaoping, Augusto Pinochet, Platon, Roman Polanski, Karl Popper, Pol Pot, Giacomo Puccini, Wladimir Putin, Walter Rathenau, Josef Ratzinger, Richard III., Maximilien de Robespierre, Auguste Rodin, Ernst Röhm, Theodore Roosevelt, Ernst Rüdin, Mohammed bin Salman, Matteo Salvini, Robert Sarah, Friedrich von Schiller, Frank Schirrmacher, Harald Schmidt, Helmut Schmidt, Arnold Schönberg, Olaf Scholz, Arthur Schopenhauer, Gerhard Schröder, Franz Schubert, Horst Seehofer, William Shakespeare, Alexander Solschenitsyn, George Soros, Kevin Spacey, Albert Speer, Carsten Spohr, Axel Springer, Josef Stalin, Franz Josef Strauss, Julius Streicher, Alfredo Stroessner, Shunryū Suzuki, Nassim Nicholas Taleb, der Teufel, Christian Thielemann, Peter Thiel, Josip Broz Tito, Arturo Toscanini, François Truffaut, Donald Trump, Peter Tschentscher, Mao Tse-tung, Desmond Tutu, Giuseppe Verdi, Hendrik Verwoerd, Leonardo da Vinci, Rudolf Virchow, Swami Vishnu, Hans-Jochen Vogel, Richard Wagner, George Wallace, Andy Warhol, George Washington, Dieter Wedel, Harvey Weinstein, Kayne West, Oscar Wilde, Wilhelm II., Rainer Maria Woelki, Irvin Yalom, Dieter Zetzsche, Martin Zielke, Marc Zuckerberg, Carl Zuckmayer.
Wie geht es Ihnen mit diesen Namen? Einige Lichtgestalten, einige Finsterlinge. Und dann gibt es viele, über die Sie nichts Genaues wissen, die Sie immer gut fanden, die aber heute im Zwielicht stehen, weil sie ins Gerede kamen. Berechtigt oder unberechtigt, schwer zu sagen. Mir ging es nicht anders. Oft haben Sie – und ich – Zwielichtigen die Treue gehalten, manchmal haben wir uns enttäuscht zurückgezogen – wir werden es gleich sehen. Gelegentlich sind Sie durch die Beschädigung Ihres Idols selbst in Mitleidenschaft gezogen worden. Mitleidenschaft hat mit Empathie zu tun und ob Sie es glauben oder nicht: Versucht man Männer zu verstehen, ist das ein zentraler Begriff.
Schauen wir uns ein paar von denen an, die mal als gut galten, ins Gerede kamen und jetzt als düster erscheinen.
Die Reformpädagogik des Hartmut von Hentig galt in den 1960er-Jahren als Leuchtturm in der Bildungslandschaft der Bundesrepublik. Bis heraus kam, dass sein Lebenspartner Gerold Becker, Direktor der den Idealen der Reformpädagogik verpflichteten Odenwaldschule, seine Pädophilie auslebte und nächtlich Internatsschüler »liebte«. Er hinterließ viele noch als Erwachsene schwer traumatisierte Schüler, aber sein Verhalten führte nie zu einem Strafverfahren.
Obwohl Becker die Ideale einer liberalen Pädagogik beschädigte und die Menschen enttäuschte, die nach der Nazizeit von besseren Erziehungszielen träumten, konnte Hartmut von Hentig in seinem Nachruf »unter ungebrochenem Schutzschweigen der liberalen Öffentlichkeit den Lebensgefährten Becker allenfalls als Opfer vorstellen, aber nie und nimmer als aggressiven Missbraucher«1.
Da wären wir schon beim ersten zentralen Thema in fast allen Bereichen von Männerverfehlungen: Das Bewahren von Idealen durch Ausblenden störender Realität werden wir beim Missbrauch in Familien, von Klerikern, in Schulen, Internaten oder bei den Pfadfindern finden. Schon hier, ganz am Anfang, stellt sich die Frage, was Ideale wert sind, die auf dem Rücken anderer Menschen bewahrt werden.
John Lasseter, der Gründer des Trickfilmstudios PIXAR, aus dem diese tollen Filme kamen, die meine Kinder so liebten – »Toy Story«, »Findet Nemo«, »Cars«, »WALL-E« –, musste gehen, wegen »Übergriffigkeiten«. Er fand einen neuen Arbeitgeber, die Produktionsfirma Skydance, der ihm einige Millionen bot, damit er dort Chef werden wollte. Dafür ist dann Emma Thompson gegangen und erklärte ihren Abschied von Skydance mit einigen bemerkenswerten Sätzen: »Mir ist sehr bewusst, dass der über Jahrhunderte bestehende Anspruch auf die Körper von Frauen nicht über Nacht verschwinden wird, ob es ihnen nun gefällt oder nicht. Auch nicht in einem Jahr. Aber mir ist ebenfalls bewusst, dass Menschen, die sich wie ich klar positioniert haben, dazu stehen sollten. Sonst ist es sehr unwahrscheinlich, dass sich die Dinge in einem Tempo ändern, das geeignet wäre, die Generation meiner Töchter zu schützen.«2
Sollen meine Kinder seine Filme nun nicht mehr gut finden?
Damit sind wir beim nächsten wiederkehrenden Thema im Zusammenhang mit kreativen und dominanten Männern: Dürfen wir ein Werk nicht mehr gut finden, weil sein Schöpfer menschlich fies ist?
Richard Wagner war ein Prototyp dieser männergenerierten Ambivalenz: illoyal zu seinen treuesten Mitstreitern – seinem Stardirigenten Hans von Bülow spannte er die Frau aus, widerlich antisemitisch in seinen Schriften, obwohl Hermann Levi seine wichtigste Oper, den »Parsifal«, zur Uraufführung brachte –, undankbar gegen seinen Lebensretter und Wohltäter Ludwig II. von Bayern, gegen den er hinter seinem Rücken mit Bismarck intrigierte.3 Schließlich wurde er von allen möglichen zwielichtigen Gestalten, mit denen Sie kein Bier trinken würden, als Vorbild propagiert, vor allem von den Nazis. Trotzdem finden viele integre Menschen seine Opern unglaublich gut. Was verkörpert Wagner, dass er von so verschiedenen Menschen und Denkrichtungen für sich reklamiert wird?
Wie Alexander Ross zeigt, der eines der besten Bücher über Wagner geschrieben hat, ist dieser in vielen entscheidenden Fragen so unbestimmt und ambivalent, dass fast jeder daran andocken kann. Man kann sich mit dem machtgeilen Wotan wegen der ihn begleitenden fantastischen Musik identifizieren und eine reine Seele behalten, immerhin macht Wagner doch klar, dass Macht ein böses Ende nimmt. Seine »Helden« leben immer wieder das Drama des grenzüberschreitenden Mannes vor, das heute wirklich niemanden mehr interessieren müsste, aber er lässt diese Männer untergehen, die Natur (!) wird in ihre alten Rechte eingesetzt, und Wagner bleibt der Revolutionär, der er schon in seiner Jugend war.
Dieses Unbestimmte, Offene, das im Fall von Wagner Adolf Hitler begeisterte und gleichzeitig ermöglicht, dass Daniel Barenboim immer wieder faszinierende Interpretationen Wagnerscher Musik entwickelt, in Bayreuth und in Israel, dieses Unbestimmte ist geradezu idealtypisch für viele Männerrollen. Und es ist ihr Problem, denn in der realen Welt müssen wir uns festlegen. Schillernd dahinzuwabern, das ist nur geeignet für die Oper.
Einer, der vor allem mit Wagner viel Geld verdient hat, war James Levine: Gänzlich unsatirisch beschreibt Harald Martenstein4, wie er als Journalist in einer Münchner Kulturredaktion mitbekam, dass der Dirigent auf eine wichtige Position im Musikleben Münchens berufen werden sollte. Gesprächsstoff war die offensichtlich bekannte Gier des international berühmten, aber noch nicht berüchtigten Musikers nach »kleinen Jungs«. Doch außer dem Stoßseufzer »Hoffentlich geht das gut!« zeigte niemand dem damals im Zenit seines Ruhms stehenden Stardirigenten die Grenzen, die in der bayerischen Metropole um die Jahrtausendwende eigentlich doch hätten vorhanden sein sollen. Ein ziemlich schwächliches »irgendwie«, wie wir wissen – spätestens seit dem Hochschwappen des Missbrauchsskandals in der Katholischen Kirche. Martenstein benennt einen wesentlichen Punkt, der die Zurückhaltung der Verwaltung gegenüber dem langjährigen Chefdirigenten erklärt: »Ich vermute, dass jeder, der damals ernsthaft dieser Spur nachgegangen wäre, in der Branche als Nestbeschmutzer dagestanden hätte.«5
Er vermutet wohl richtig und gibt gleich einen Hinweis zum Verständnis solcher Ungeheuerlichkeiten: Netzwerke von Männern setzen das Interesse des »Netzes« über die Moralvorstellungen der Gesellschaft und ermöglichen so das Ungeheuerliche. Ein ziemlich verbreitetes Phänomen. So garantierte etwa der Zusammenhalt seines Netzwerks aus guten Freunden dem Direktor der Münchner Musikhochschule Sigi Mauser auch dann noch seine »Festschrift«, als er wegen sexueller Nötigung zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde.6 Die betroffenen Frauen wurden in dieser Festschrift erwartungsgemäß totgeschwiegen.
Die Realität des Worts »totschweigen« (übrigens in unserem Zusammenhang ein Wort mit gefährlicher Doppeldeutigkeit, wie wir noch sehen werden) zelebrierten Netzwerke aus hochrangigen, vorwiegend evangelischen Geistlichen, Nazis, amerikanischen und britischen Geheimdiensten, die nach dem Zweiten Weltkrieg Naziverbrecher retteten und über die Toten schwiegen: Otto Ohlendorf, Leiter einer »Einsatzgruppe D«, »operierte« hinter der Front im Kaukasus und der Ukraine und wurde in einem der Nürnberger Prozesse wegen der Ermordung von 90 000 Menschen zum Tod verurteilt. Doch seine Hinrichtung verzögerte sich, weil hohe, vor allem evangelische Geistliche dagegen protestierten. Ein unheiliges Netzwerk, an dem der Vatikan eifrig mit gesponnen hat, ermöglichte es Naziverbrechern wie Josef Mengele, Adolf Eichmann oder Klaus Barbie, dem Schlächter von Lyon, über die »Rattenlinie« nach Südamerika7 zu fliehen. Erstaunlich, wie Männernetzwerke unter der Beteiligung der Kirchen Ethik und Moral als irrelevant abtun! Auch die Aufarbeitung des Missbrauchs durch Kleriker in unserer Zeit scheint diesem Prinzip zu folgen.
Fast schon trivial ist die Verbindung der Männer zur Macht. Ständig, täglich, überall werden »Dinge« getan, die nicht getan werden dürften. Aber wir lassen sie geschehen, denn die Täter sind mächtig: Cosby war mächtig, Weinstein war mächtiger, Levine war »ein kulturelles Großunternehmen, viele verdienten viel Geld mit ihm«8.
Die Macht entfaltet ihre eigene Dynamik, indem sie Privilegien schafft, die dem Mächtigen eine Sonderstellung geben. Im Umgang mit diesen Privilegien zeigt sich unsere eigene Verstrickung: Weil wir gerne unseren Anteil an den Berühmten und Dominierenden hätten, vielleicht ein wenig an ihrem Glanz teilhaben wollen, räumen wir ihnen Sonderrechte ein, die im Widerspruch zur Grundannahme der Gleichheit aller Menschen stehen. Und so kommt es, dass diese Privilegien demokratische Prinzipien außer Kraft setzen. Denn keineswegs nur die sexuellen Verfehlungen glamouröser Künstler, sondern auch Privilegien hervorragender Bürger entfalten gewaltige Wirksamkeit.
In der schönen Stadt Hamburg stellte sich kurz vor der Bürgerschaftswahl 2020 die Frage: »Warum ließ die Finanzbehörde der Hansestadt Millionenbeträge an Steuerrückzahlungen verjähren? Warum bot sie Warburg […] sogar einen Deal an, bei dem die Bank nur einen Bruchteil der wohl zu Unrecht ausgezahlten Steuern hätte zurückzahlen müssen?« 9 Na ja, es ist die Warburg Bank, der Inbegriff hanseatischer Würde, Tafelsilber vom Feinsten! Diese Bank hat der häufig klammen Hansestadt oft hilfreich unter die Arme gegriffen. Deswegen identifizieren sich zumindest viele der oberen Zehntausend der Hamburger Bürger mit ihr. Und ihre Oberen genießen Privilegien, an die ein Normalbürger nicht zu denken braucht, zum Beispiel, dass die Finanzbehörde eben mal die Rückzahlung von 47 Millionen Euro irgendwie »vergisst«.
Irgendwann halten wir es für ganz normal, einem besonderen Menschen auch besondere Vorrechte zuzugestehen. Mensch? Sagen wir Mann, denn privilegiert sind Männer. Und wenn wir einen Menschen/Mann erst mal über die anderen, über die Masse herausgehoben haben, klingelt unser inneres Alarmsystem nicht mehr, das Grenzüberschreitungen in freie, verdächtige Räume sonst seismografisch registriert. Uns fällt nicht mehr auf, dass uns niemals Steuern erlassen wurden, wir lassen geschehen, was wir jeder oder jedem Nichtprivilegierten mit Nachdruck verbieten würden. Nur weil der vermeintlich Besondere den Saum der Macht einmal berührt hat. Natürlich können in diesen Sphären von Genialität, Geld und Macht auch politische Repräsentanten, Beamte, selbst die Strafverfolger nicht einfach so tun, als stünden dieser Person nicht doch etwas andere Vorteile zu als Otto Normalbezahler. Gleichbehandlung käme in den Netzwerken dominierender Männer nicht gut an.
Sehen Sie das nicht so? Sie meinen, um diesen ollen Kram wollen Sie sich nicht kümmern? Viele dieser Geschichten sind ja schon so lange her. Stimmt! Bei der Arbeit an diesem Buch fiel mir auf, wie schnell wir vergessen! All diese Skandale haben einmal erhebliche Aufmerksamkeit erregt, beherrschten die Tages- und Wochenpresse. Dann werden sie vergessen. Viele der Namen auf der Seite der sonnenverdunkelnden Männer hatten es mal in die Schlagzeilen geschafft, und heute können wir uns kaum noch besinnen, was da war. Und mit unserer Erinnerung schwindet der Zweifel an der männlichen Dominanz und ihren offensichtlichen Schattenseiten, die wie ein roter Faden Geschichte und Gegenwart durchziehen.
Und doch gibt es einen Grund, nicht einfach zu vergessen. Die hier beschriebenen Männer, über deren Verhalten Sie die Nase gerümpft oder einfach nur die Achseln gezuckt haben, das sind nicht die »Bösen«, die durch einen tiefen Abgrund von uns »Guten« getrennt wären. Nein? Nein!
Wir wären gut beraten, unsere Fassung schnell wiederzugewinnen. Denn auch in uns steckt all das: das Böse, die Gewalt, die Faszination der Korruption, die immer als eine Option im Raum steht, wenn es um unsere Kumpel geht, unser Netzwerk, unser Geld. Dass unsere Weste – noch – weiß erscheint, verdanken wir oft den fehlenden Gelegenheiten. Ich finde das irritierend. Wie finden Sie es?
Das alles ist Deutschland, Europa, 21. Jahrhundert.
Auch wenn Sie vieles davon furchtbar empörend, widerwärtig finden. Es geht noch ganz anders.
Ich habe kürzlich mit Menschen gesprochen, die sich um Flüchtlinge kümmern. Was sie erzählen, wollen Sie nicht hören. In jener Welt muss man es fast noch als Gnade bezeichnen, wenn eine Frau nur von einem Mann vergewaltigt worden ist. Diese Welt ist nicht weit weg, manchmal fliegen wir im Urlaub dorthin oder zumindest darüber hinweg. Ich sag es mal direkt: An vielen Orten unserer Welt findet ein Krieg gegen Frauen statt. Religion mildert diesen Krieg nicht, sondern macht ihn schlimmer.
1 Gerhard Amendt: »Der unfassbare Nachruf auf Gerold Becker.« welt.de vom 19.07.2010, abgerufen am 18.03.2020
2 Catherine Shoard: »‚Centuries of entitlement’: Emma Thompson on why she quit Lasseter film«, 26.02.2019, theguardian.com
3 Alex Ross: Die Welt nach Wagner. New York 2020
4 »Über die Unschuld der Kunst« Aus der Serie: Martenstein ZEIT-Magazin Nr. 52/2017 13.12.2017
5 Ebd.
6 Bernhard Neuhoff: »Ich bekenne mich natürlich dazu.« br-klassik.de 08.11.2019, abgerufen am 02.04.2020
7 Christoph Gunkel: »Exodus der Massenmörder.« spiegel.de 09.08.2017, abgerufen am 24.04.2021
8 Martenstein, a. a. O.
9 Oliver Hollenstein/Christian Salewski/Oliver Schröm: »Das Millionengeschenk.« DIE ZEIT Nr. 8/2020, 13.02.2020, abgerufen am 16.02.2020