Die Attacken gegen das Patriarchat werden von Frauen geführt, Feministinnen bilden die Front gegen die dominierenden Männer. In dieser Diskussion bleiben die auf der Strecke, die in unserer Gesellschaft ohnehin kaum öffentlich gehört werden und sich nicht artikulieren dürfen: die Kinder. Geschwiegen wird über die ihnen angetane sexualisierte Gewalt. Die einzige öffentliche Diskussion findet zum Missbrauch der katholischen Kleriker statt. Auch wenn das berechtigt ist, kann die zahlenmäßig den Missbrauch der Kleriker weit überschreitende sexualisierte Gewalt in den Familien dadurch natürlich nicht »erledigt« werden. Vor allem gibt es keine Hinweise, dass es den in normalen Familien misshandelten Kindern helfen würde, wenn die katholische Kirche einen Weg gefunden hätte, künftigen Missbrauch zu verhindern.
Kindesmissbrauch ist durch alle Medien gegangen, oder besser gesagt, er geht ständig durch alle Medien. Fragen wir also zunächst versuchsweise nüchtern: Was ist mit Kindesmissbrauch gemeint? Wie häufig kommt er vor? Wie kommt es dazu?
Fangen wir bei der Begrifflichkeit an. Der Begriff »Missbrauch« ist irreführend, denn wie der Frankfurter Sexualmediziner Volkmar Sigusch betonte, setzt er die Annahme eines »normalen Gebrauchs« voraus.1 Doch schon unser Verständnis von einvernehmlicher Sexualität zwischen Erwachsenen lässt sich nur schwer mit der Formulierung »normaler Gebrauch« in Einklang bringen, obwohl das in manchen Ehen vielleicht so läuft. Und definitiv widerspricht es unserem normalen gesellschaftlichen Konsens, Kinder »normal sexuell zu gebrauchen«. So wie es auch keinen normalen Gebrauch von Sexualität zwischen Patientinnen und Therapeuten geben dürfte. Doch all diese »Dinge« gibt es, und ich verwende den Begriff Missbrauch, weil er die heutige Diskussion geprägt hat und prägt. Der Begriff umfasst sexuelle Handlungen mit Kindern, den Zwang, Kinder sexuelle Handlungen miterleben zu lassen, physische Gewalt, also Schläge gegen Kinder, mit oder ohne Sexualität und die seelische Überforderung von Kindern, indem sie in schwere seelische Auseinandersetzungen von Erwachsenen hineingezogen werden, denen sie nicht gewachsen sind. Auch schwere Vernachlässigung gehört dazu
Missbrauch geschieht zwischen Vätern oder Vaterfiguren und Kindern, häufig, aber nicht immer, unter Mithilfe der Mütter. Aufgrund ihrer reichhaltigen Erfahrungen mit Kindern, die von ihren Eltern traumatisiert werden, formuliert die Hamburger Gerichtsmedizinerin Dragana Seifert: »Die Hölle, das sind Mama und Papa.«2
Missbrauch geschieht also in Familien3 durch Väter, Stiefväter, Großväter, Onkels. Als mir die erste Patientin erzählte, sie sei im Alter von vier Jahren von ihrem ansonsten sehr liebevollen Großvater vergewaltigt worden, wollte ich es nicht glauben: Mit einem so kleinen Kind kann man doch keinen Sex haben! Doch, Mann kann. Es gibt alles, jede Art von Sex mit kleinen, kleinsten Kindern, aber natürlich auch mit größeren. Ihre persönlichen Vorstellungen von Geschmack und Anstand und erst recht Ihre moralischen Regeln beeinflussen lediglich Ihren Blick auf die Wirklichkeit, nicht diese Wirklichkeit selbst. Der erste Schritt auf dem Weg zum Besseren wäre es, wenn wir alle unsere Sicht von der positiven Beschaffenheit unserer Gesellschaft wenigstens gelegentlich kritisch hinterfragen würden. Auch wenn es eigentlich zum Kotzen ist. Gehen Sie davon aus, dass Erbrechen für diese Kinder noch die harmloseste Reaktion wäre.
Das Folgende werden Sie wohl nicht verstehen: Sehr oft lieben die Opfer ihre Täter. Doch die Erklärung ist eigentlich ganz einfach. Weil sie in einem grenzüberschreitenden, verletzenden Umfeld aufwachsen, kennen diese Kinder nichts anderes. Da aber niemand, und schon gar nicht ein Kind, ohne Nähe auskommt, sucht es die zum Täter. Nähe zwischen Eltern und Kindern ist normal, Nähe und Wärme sind Ausdruck von Zuneigung und werden als Grundlage normaler Entwicklung angesehen. Nähe ist in erster Linie körperlich, umarmen, knuddeln. Bis sie zu weit geht:
»Wie fing es an? […] Wie rutscht einer über die Grenzen des Erlaubten? Wie zerstört einer ein Tabu, das im Kern unserer kollektiven DNA codiert ist? Die Antwort ist: langsam, Schritt für Schritt. […] Ich war stolz, ein sehr moralischer Mann zu sein. Ich erzog alle meine Kinder streng, damit sie großzügig und respektvoll zu anderen sind. Man könnte sagen, zwischen dem, zu dem ich mit Dir wurde und meinem Selbstbild, da war ein tiefer Abgrund.
Es fing einfach an, eingebettet in die Normalität. Wir hatten ein Spiel. ›Wo hat sich meine Evi versteckt?‹ […] ›Oh da ist sie ja! Da ist mein Schätzchen. Aber ich weiß gar nicht, ob sie ihren Papa noch liebhat.‹ Und Du hieltest mein Gesicht in Deinen Händen, küsstest mich über und über auf Wangen und Stirn. ›Ich habe Dich lieb, Papa‹ Und Du hast Deinen ganzen Körper um meinen geschlungen, hast Deine Wangen an meinen gerieben, wie ein heißes, wildes Kätzchen […]
Doch eines Tages ging ich zu weit und wartete zu lange und Du wurdest ganz verzweifelt, warst untröstlich, spürtest eine tiefe Ur-Angst […] und ich weiß nicht, was dann geschah. Vielleicht war ich erschüttert, wie tief Deine Bindung an mich war […] Nie hatte jemand vorher um meine Aufmerksamkeit gebettelt […] Da war der Schatten-Mann plötzlich da. Und überschritt da und damals die Schwelle der Sünde.
Die Hände streichelten langsam und liebkosend über Deine Brust, es war so leicht, Deine kleinen Brustwarzen zu erregen […] er wollte es, dann langsam, und zielgerichtet nach unten […] Ich weiß, ich hätte aufhören sollen. Ich weiß, das war schrecklich falsch, aber ich machte weiter. Ich war ein zweiundfünfzigjähriger Mann mit einem fünf Jahre alten Kind […] Du hörtest auf zu weinen. Meine Berührung war vergiftete Medizin […] Ich hielt Dich auf meinen Schoß und alle Grenzen schmolzen weg.«4
Sie denken vielleicht: schrecklich, aber endlich bekennt sich ein Mann! Sie denken falsch. Dieser zutiefst irritierende Text stammt aus The Apology. Da »Männer sich nicht entschuldigen«5, hat die Autorin Eve Ensler getan, was sie sich immer von ihrem Vater gewünscht hat, aber nie bekam: Sie hat ihm die Entschuldigung in den Mund gelegt, die ihr Vater vor seinem Tod hätte schreiben sollen, aber nie geschrieben hat.
Sie versetzt sich in ihn hinein. Unmöglich? Keineswegs! Wahrscheinlich kennt niemand die Täter so genau wie ihre einstmals kindlichen Opfer.
The Apology ist Fiktion. Aber eine absolut realistische, die ein Leid beschreibt, das Millionen von Kindern auf der Welt zugefügt wird. Viele Details habe ich in der Schilderung ihrer Kindheit von Frauen gehört, die mit der Diagnose »Persönlichkeitsstörung« zu mir kamen. Diagnosen sind prinzipiell neutral, beschreibend. Diese Diagnose ist aber trotz ihrer wissenschaftlichen Grundlage häufig stigmatisierend, weil sie den Opfern – auch dieser Begriff ist stigmatisierend – die Störung der Täter anhängt. Enslers Kunstgriff, die Entschuldigung eines Täters zu schreiben, verhindert die übliche männliche Abwehr und lässt uns in Abgründe sehen, von denen wir nie etwas wissen wollten.
Wie geht es Ihnen als Mann mit diesem Text?
Mich hat er verunsichert. Die detaillierte Beschreibung, wie dieser Vater sich Schritt für Schritt der Grenze näherte, die er schließlich überschritt, lässt eine Distanzierung kaum zu. Am Ende steht unabweisbar die Frage: Hätte mir das auch passieren können? Mir, der ich ein so gutes, inniges Verhältnis zu meinen Kindern habe? Und wie sieht es bei Ihnen aus? Und wenn Sie das als Ehefrau lesen? Ein wesentlicher Teil der Irritation liegt in der sich auflösenden Sicherheit: Wenn es um männliche, um sexualisierte Gewalt geht, gibt es keine Sicherheit mehr. Und gilt das potenziell auch für mich, für Sie?
Ja, und wo war die Mutter? Wie geht es in diesen Familien zu?
Zeit für ein paar Einsichten6:
Der geliebte und allzu liebevolle Vater/Opa/Onkel macht mit dem Kind in trauter Zweisamkeit etwas, das es nicht versteht, das in ihm seltsame unbekannte Gefühle erweckt. Was kann ein kleines Kind in so einer Situation machen? Es könnte sich vertrauensvoll an seine Mutter wenden.
Doch die ist nicht die Selbstbewussteste, hatte auch eine schwere Kindheit und reagiert anders, als Sie sich das vorstellen: »Was? Mein Mann/Vater/Bruder? Du spinnst ja, sag so etwas nicht noch mal!« Sie verleugnet die erlebte Realität des Kindes und schützt dadurch den Täter. Manche Mütter sind auch noch eifersüchtig, was sie am Kind auslassen. Andere schauen und hören einfach weg. Die Rolle der Mütter in Missbrauchskonstellationen ist nur selten unterstützend.
Wenn der Täter davon Wind bekommt, dass das Kind redet, hat es sich mit liebevoll; jetzt droht auch er: »Wenn du darüber redest, muss ich ins Gefängnis, wir verlieren unser Haus« oder gleich die aggressive Variante: »Ich schneide dir die Zunge raus« (wenn sie oder er7 viele Jahre später in Therapie darüber redet, tut die Zunge weh, als wenn sie rausgeschnitten würde) oder: »Ich zünde das Haus an, ich bring dich um!«.
Nur eine kleine Auswahl wohlgemerkt. Das so behandelte Kind bekommt furchtbare Angst, die in Beziehungssituationen für viele Jahre immer wieder auftaucht, und entwickelt intensive Schamgefühle: »An mir muss etwas so Übles sein, dass mein Vater so etwas mit mir macht, mich vergewaltigt, schlägt, misshandelt – ich bringe Unglück über unsere Familie, ich bin falsch.« Wenn sie/er später tatsächlich einen Therapieplatz bekommen sollte – niedergelassene Therapeuten sind von diesem schwierigen Klientel oft alles andere als begeistert –, wird sie/er sagen: »Wenn ich mich anders verhalten hätte, hätte ich eine schöne Kindheit gehabt.« Therapeuten nennen das »traumatische Invalidierung«, zu Deutsch: ein tiefes, kaum korrigierbares Entwertungsgefühl.
Natürlich gibt es auch Mütter, die beim ersten Hinweis für einen Missbrauch ihres Kindes durch einen Mann in der Familie Kinder und ihre Habe zusammenpacken, ins Frauenhaus ziehen und den Täter anzeigen. Vorausgesetzt, im Frauenhaus ist Platz. Mir geht es nicht darum, Mütter zu diffamieren. Sie sind nicht die Ursache des Übels.
Und natürlich gibt es auch Frauen, die Kinder missbrauchen.
Als ich dieses Kapitel schrieb, war die Welt gerade fest im Griff der zweiten Welle von Covid-19. Schon beim Ausbruch der Pandemie im Februar 2020 wurde in der Presse Erstaunliches berichtet, was eigentlich niemanden überraschen konnte: In der Corona-Krise zeigen Berichte, »dass in […] Ländern, in denen solche Maßnahmen schon ergriffen wurden, die Fälle häuslicher Gewalt gegen Frauen gestiegen sind. Allein in Wuhan […] hat es dreimal mehr Anfragen gegeben im Vergleich zu der Zeit vor Beginn der Isolationsmaßnahmen in China. […] In den vergangenen Tagen ist es auch in Spanien […] zu versuchten Tötungen zwischen Partnern, die sich in der Quarantäne befinden, gekommen. Daher gehen auch wir davon aus, dass in Deutschland die häusliche Gewalt gegen Frauen ebenfalls zunehmen wird«8.
Wo kann sich die männliche Stärke auch heute in unserer weitgehend befriedeten Gesellschaft ungehindert entfalten? In der geschützten Beziehung zwischen Liebenden und Partnern, in der Familie. Auch wenn dieser Aspekt vermutlich nicht Ihrer Vorstellung von Liebe in der Familie entspricht. Doch genau das ist das Problem. Wir blenden aus oder halten es für pathologische Sonderfälle, wenn sich Gewalt in Beziehungen und Familien manifestiert, und wir »erblinden« lieber, als dass wir aus dem Offensichtlichen Handlungskonsequenzen ableiten.
Handlungskonsequenzen? Ach ja, die Frauenhäuser! Die Journalistin Antje Joel fragt nachvollziehbar wütend: »Warum tun Politiker auch hierzulande so, als sei häusliche Gewalt in erster Linie ein privates Problem? […] Die Fallzahlen sind nahezu unverändert, seit 40 Jahren […] An dem akuten Anstieg sei die Corona-Krise schuld. Als sei es das Virus, das zuschlägt. Als seien es nicht Männer […] Laut Istanbuler Konvention muss die Bundesregierung 21 400 Plätze in Frauenhäusern anbieten. Es gibt gerade mal 6800 Plätze.«9
Ich, Mann, hatte noch nichts von der Istanbuler Konvention10 gehört, immerhin eine völkerrechtliche Konvention des Europarats, aus der übrigens die Türkei zum 1. Juli 2021 wieder ausgestiegen ist. Inzwischen habe ich gelernt, dass sich die Zahl der Europa-Abgeordneten, die gegen eine so selbstverständliche und offensichtlich nötige Konvention sind, bei der Wahl 2019 verdoppelt hatte. Diese waren vorwiegend Männer, die beispielsweise der Lega von Matteo Salvini angehörten. Aber dahinter steht ein wesentlich größeres internationales Netzwerk mit prominenten Akteuren.11
Zuständig für die Frauenhäuser wären die Familienministerin und – wegen des Geldes – natürlich der Finanzminister. Als ich das schrieb, waren das Franziska Giffey und Olaf Scholz, beide SPD. Letzterer mobilisierte enorme Summen, um die zweifellos dramatischen Folgen der Pandemie abzuschwächen. Die Lufthansa, ein, wie man googeln kann12, weit überwiegend männergeführtes Unternehmen, bekam 9 Milliarden Euro. Was das Unternehmen in der Folge nicht hinderte, im großen Stil Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu entlassen. In diesem Zusammenhang sollte man nicht vergessen, dass die Lufthansa börsennotiert ist und ihre finanziellen Gewinne den Aktionären zugutekommen, nicht etwa den deutschen Steuerzahlern. Unsachlich? Zugegeben. Aber diese unangebrachte Unsachlichkeit drückt vielleicht meine Fassungslosigkeit aus, dass man das Geld der Aktionäre rettet und für die »Kleinen«, unter die ich hier mal die Frauen subsummiere – so sorry, nichts ausgeben will.
Da nimmt es sich doch geradezu rührend aus, dass das Frauenhaus Singen von privater Hand drei Fahrräder geschenkt bekam.13 Mit denen können Singener Frauen ihren Peinigern wenigstens davonradeln.
Wir sehen jetzt, was wir längst gewusst haben könnten: Gewalt durch Männer gegen Frauen und Kinder ist ein internationales Phänomen. Selbst wenn den meisten Westlern Wuhan erst seit Corona ein Begriff ist, gilt auch an diesem und vielen anderen fernen Orten, dass Frauen und Kinder durch den pandemiebedingten Einschluss in eine kritische, lebensvergiftende und lebensbedrohliche Situation kommen können, schlicht deswegen, weil sie ihren Männern und Vätern nicht ausweichen oder weglaufen können.
Wir sehen weiter: Die sogenannte »Privatsphäre«, also geschützte Räume, die wir für Zweierbeziehung und Familie geschaffen haben, lässt Intimität zu, ermöglicht aber eben auch intime Gewalt. Diese in unserer Gesellschaft von allen immer und fast zu jedem Preis für schützenswert gehaltene Privatsphäre – denken Sie nur an den Datenschutz – verhindert Hilfe, wenn Männer ihr schlagkräftigstes Argument, die größere körperliche Stärke, hervorholen.
18 Prozent der Frauen und 7,6 Prozent der Männer sind weltweit als Kinder missbraucht worden.15 Vielleicht geht es Ihnen wie mir: Als ich die Zahlen zum ersten Mal las, wollte ich sie nicht glauben, obwohl ich durch die Probleme von Patientinnen und Patienten doch vorgewarnt war. Nein, die Daten sind nicht fake, und news sind sie schon gleich gar nicht: Das alles ist schon lange bekannt. Diese Meta-Analyse wurde 2011 veröffentlicht; sie basiert auf 217 Veröffentlichungen zwischen 1980 und 2008, untersucht wurden 331 unabhängige Gruppen, die Studie umfasste insgesamt 9 911 748 Probanden. Eine solch solide Zahlenbasis finden Sie nur selten!
Das Fazit: Rund um die Welt, in allen Erdteilen werden Kinder und Jugendliche aller Hautfarben Opfer sexuellen Missbrauchs. Es gibt Unterschiede: In Afrika, Australien und Nordamerika sind die Zahlen für Mädchen besonders hoch, in Asien sind sie am niedrigsten, Jungen werden in Afrika und Südamerika am häufigsten missbraucht, und Europa liegt irgendwie dazwischen.
Missbrauch ist globalisiertes Männerverhalten.
Hierzulande sind mehr als jedes fünfte Mädchen, fast jeder dreizehnte Junge betroffen. Haben Sie Kinder? Gehen Sie im Geiste mal die Klassenkameraden durch: 35 Kinder, von denen sieben Mädchen und drei Jungen eine Missbrauchsgeschichte haben oder haben werden! So häufig!
Aber das Wichtigste kommt erst noch: Niemand kann sich selbst sexuell missbrauchen. Diese Zahlen reflektieren also die Menge der Täter. Die werden aber gar nicht identifiziert, sondern leben namenlos und unerkannt unter uns. Und begehen weiter ihre Taten. Warum auch nicht? Es zieht sie ja niemand zur Rechenschaft.
Sie verbergen sich in der Menge der unbescholtenen Bürger, jedenfalls in der Regel, denn eine Verurteilung wegen einer der Varianten von kindlichem Missbrauch ist sehr, sehr selten. In einer Zeit, in der wissenschaftliche Daten nicht selbstverständlich akzeptiert werden, weil man sich die Wirklichkeit lieber nach dem Gusto des eigenen Ego zurechtbiegt, kommt gerne der Einwand, diese Zahlen müssten doch wohl viel zu hoch sein, alles werde maßlos übertrieben etc. Obwohl vielleicht die Frage angebracht wäre, wer denn bitte ein Interesse an Übertreibung haben sollte, gehe ich im Folgenden von den niedrigsten Zahlen aus:
13,5 Prozent Mädchen, 5,6 Prozent Jungen, gesamt 19,1 Prozent, in Europa. Da es sich um ein globales Phänomen handelt, sollten Sie vielleicht doch nicht ganz ausblenden, dass die Zahlen für die im Allgemeinen durchaus mit uns für vergleichbar gehaltenen Gesellschaften der USA bei 20,1 bzw. 8,0 Prozent oder Australiens bei 21,5 bzw. 7,5 Prozent liegen.16 Wie komme ich von diesen Zahlen der Opfer zu denen der Täter?
Aus der bundesdeutschen Bevölkerungsstatistik ergibt sich Folgendes: 2019 waren von den rund 83 Millionen Einwohnern 41 038 000 Männer17. Männer unter 20 (7,89 Millionen) und über 80 (2,16 Millionen)18 habe ich als potenzielle Missbrauchstäter ausgeschlossen; das ist nicht korrekt, soll aber dem Einwand begegnen, dass alles maßlos übertrieben werde. Als solide Schätzung bleiben 30 988 000 Männer als potenzielle Täter übrig.
Die nächste Annahme, dass zu jedem Täter nur ein Opfer gehöre, ist nicht korrekt, lässt sich aber nicht korrigieren, weil für den familiären Bereich exakte Zahlen fehlen; bei den Klerikern hat ein Täter zwischen 2,5 und 4,7 Opfer19, aber diese Zahlen lassen sich kaum auf die Situation in Familien beziehen.
Mit diesen Einschränkungen ergibt sich: Wenn 30 988 000 potenzielle Täter in 19,1 Prozent Opfer generieren20, müssen hier unter uns mindestens 5 918 708 Täter leben, in Hamburg 129 667. Berlin oder München können Sie entsprechend berechnen. Oder anders ausgedrückt: Jeder siebte männliche Bundesbürger zwischen 20 und 80 ist ein Täter.
Wahrscheinlich sind diese Männer über alle Schichten verteilt, es sind äußerlich normal erscheinende Männer, jedenfalls gibt es keinerlei Hinweise, dass alle missbrauchenden Männer etwa nur aus der sogenannten Unterschicht kämen oder beispielsweise schwere Alkoholiker wären. Missbrauch kommt in guten wie in benachteiligten Familien vor.
Wie geht es Ihnen mit diesen Zahlen?
Vielleicht sind Sie ein Mann und denken jetzt, das könne doch gar nicht sein. So ging es mir auch. Warum eigentlich? Weil wir, Sie und ich, von Männern ein im Grunde positives Bild haben. Wir und durchaus auch viele Frauen sehen uns positiver. Wir hätten die Welt gerne heil.
Deshalb habe ich wieder und wieder nachgerechnet. Die Zahlen sind abstrakt. Aber wenn Sie sich vorstellen, jeder siebte, der Ihnen beim Spaziergang um die Alster oder im Englischen Garten begegnet, jeder siebte in der U-Bahn, beim Elternabend, in der Elbphilharmonie oder in der Allianz-Arena – wie heil kann die Welt dann noch sein? Kein Wunder, dass es für Opfer überhaupt keine vertraute Welt gibt.
Vielleicht sind Sie ja selbst ein Täter? Nein! Da könne ich ganz sicher sein? Eher nicht. Diesen Zahlen schließen Sicherheit aus.
Auch wenn es Ihnen schon reicht, ist das noch nicht alles.
Die 18 Prozent der Frauen und die 7,6 Prozent der Männer wurden als Kinder nicht nur in der Familie missbraucht. Das wissen wir, weil der sexuelle Missbrauch in den Familien zwar weiterhin unter dem Lichtkegel politischer Aufmerksamkeit bleibt, aber das, was man »Kinderpornografie« nennt, inzwischen viel öffentliche Aufmerksamkeit bekommen hat.
Eine kurze Darstellung der Geschichte von Lügde: 21, 22, 23, 24, 25
»Mama, Penislecken schmeckt nicht!« Was würden Sie machen, wenn Ihre Tochter so etwas sagt? Sie finden das widerwärtig? Ja, ich auch! Aber ein Grund, dass die Dinge so laufen, wie sie in Lügde gelaufen sind, liegt in unserem Unwillen, uns mit Widerwärtigem auseinanderzusetzen, in unserer Unfähigkeit, Kindern zuzuhören und sie ernst zu nehmen.
Warum suchte das Mädchen bei ihrer Mutter Hilfe, übrigens 18 Jahre, bevor ein Urteil gesprochen wurde? Die Tochter hatte Ende der 1990er-Jahre auf dem Campingplatz von Lügde Kontakt zu einem »netten Mann«. Andreas V. scharte Kinder um sich, versprach ihnen Freizeitaktivitäten, Süßigkeiten und Reiten auf seinem Pony. Als sie ihrer Mutter berichtete, was sie quasi als Gegenleistung machen sollte, war die alarmiert und verbot ihrer Tochter, dort wieder hinzugehen. Und sie fragte beim Leiter des Campingplatzes nach. Doch der wollte für »Addi« seine Hand ins Feuer legen: Der war ein gern gesehener Bewohner auf dem Campingplatz »Eichwald« in Lügde/Nordrhein-Westfalen.
Anscheinend ist es so: Wenn ich einen Mann für einen netten Kerl halte, für einen Kumpel, wenn er zu meinem Rudel, meiner Gruppe, meiner Gang gehört, dann ist er in Ordnung, unbesehen. Da ist die düstere Seite wieder einer männlichen Spezialität, des »Netzwerkens«. Meinen Kumpanen vertraue ich so, dass ich sogar eine verkohlte Hand in Kauf nehme. Deswegen konnte der Dauercamper Andreas V. Kinder in seine Behausung auf den Campingplatz locken und dort sexuell missbrauchen. Zwei Jahre später beschrieb die Mutter die Situation auf dem Campingplatz aus einem anderen Anlass auch der Polizei, die der Staatsanwaltschaft die Informationen weiterleitete. Doch der zuständige Staatsanwalt entschied sich, dieser Spur nicht zu folgen. Dazu erklärte ein Oberstaatsanwalt Ulrich Bremer von der Staatsanwaltschaft Köln: »Die vagen Vermutungen, die die Mutter zunächst mal in Richtung des Unbekannten vom Campingplatz geschildert hat, haben eben aus Sicht der Staatsanwaltschaft nicht ausgereicht, um eben [einen] Anfangsverdacht zu begründen.«26
Unter Justiz.nrw.de findet sich die Erklärung, was ein Anfangsverdacht ist: »Anfangsverdacht liegt vor, wenn sich zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für eine Straftat ergeben (§ 152 Abs. 2 StPO).«27 Er ist erforderlich, damit die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren einleitet. Nach Auffassung des Oberstaatsanwalts war also der Satz »Mama, Penislecken schmeckt nicht« eine vage Vermutung, die keinen Anfangsverdacht begründete.
Ist es »vage«, wenn ein kleines Mädchen, das keinerlei Erfahrung mit erigierten Männerschwänzen haben sollte, so einen Satz sagt? Es geht ja nicht um Puppen, Stofftiere, Prinzessin Lillifee, die bevorzugten Süßigkeiten. Vielleicht hat der Staatsanwalt von der Ausdruckweise kleiner Kinder keine Ahnung? Hier beginnt man zu verstehen, warum der Berliner Fachstaatsanwalt Sebastian Büchner »eine Reihe von Verbesserungsmaßnahmen auf Ermittlerseite an[regt]: Polizisten, Staatsanwälte und Richter sollten besser aus- und regelmäßig fortgebildet werden. Die Staatsanwaltschaft sollte die Möglichkeit bekommen, Betroffenen eine psychosoziale Prozessbegleitung beizuordnen. Richterliche Videovernehmungen, die Mehrfachbefragungen und damit Retraumatisierungen verhindern, sollten regelmäßiger durchgeführt werden – gesetzlich verankert ist dieses Instrument bereits«28.
Tja. Warum auch immer, die schweren Delikte in Lügde wurden über 18 Jahre nicht aufgeklärt. Deswegen ging die Geschichte leider noch weiter.
2008 soll ein (anderer) 46-jähriger Arbeitsloser in seiner Behausung auf dem Campingplatz in Lügde ein achtjähriges Mädchen missbraucht haben.
Keine Konsequenz.
Im Laufe der nächsten zehn Jahre sollen mindestens 31 Mädchen und Jungen missbraucht worden sein.
Keine Konsequenz.
Anscheinend ist niemandem aufgefallen, dass sich 31 Kinder anschließend merkwürdig verhielten. Noch 2016 überträgt das Jugendamt Andreas V. die Betreuung eines damals fünfjährigen Mädchens. Der Mann habe alle Kriterien als Pflegevater erfüllt, wird eine Sprecherin des Landkreises später sagen. Sogar bei einem Hausbesuch im Januar 2017 habe es keine Anhaltspunkte gegeben, die gegen ihn gesprochen hätten.
Doch tatsächlich gab es die schon im Jahr 2016: Eine Mitarbeiterin des Jobcenters äußert den Verdacht, dass der oben genannte Mann sein Pflegekind sexuell missbrauche. Sie informiert das Jugendamt Lippe. Von dort geht die Meldung an das Jugendamt Hameln-Pyrmont.
Keine Konsequenz.
Noch am 30. Januar 2019 leugnet das Jugendamt Lippe, dass es diesen Verdacht gegeben habe. Einen Tag später gibt der Amtsleiter zu, ihm sei damals zugetragen (!) worden, dass das Mädchen gesagt habe, es könne »Männer nicht riechen«. Doch daraus sei kein sexueller Missbrauch abgeleitet worden. Wahrscheinlich sollte man das Kind ermahnen, sich beim nächsten Mal nicht so flapsig auszudrücken.
Zwei Zeugen melden im August 2016 ihren Verdacht, dass auf dem Campingplatz mutmaßlich Kinder sexuell missbraucht werden. Ein Hinweis geht telefonisch an Polizei, Jugendamt und Kinderschutzbund. Die Polizei leitet ihn an das Jugendamt weiter und verzichtet auf weitere Ermittlungen.
Also: Keine Konsequenz.
Beim Kinderschutzbund Hameln-Pyrmont meldet sich der Vater eines Mädchens mit dem Verdacht, seine Tochter sei auf dem Campingplatz missbraucht worden.
Keine Konsequenz.
Im November 2016 bekommen Polizei und Jugendamt Lippe eine weitere Meldung aus dem Jobcenter Blomberg zu Äußerungen des Pflegevaters, die auf sexuellen Missbrauch von Kindern hindeuten könnten. Eine Mitarbeiterin des Jobcenters Blomberg, die für den arbeitslosen Andreas V. zuständig ist, äußert gegenüber dem Jugendamt Hameln und der Polizei Lippe den Verdacht, dass V. seine Pflegetochter verwahrlosen lasse. In ihrem Gedächtnisprotokoll gibt sie an, dass er über das Mädchen verdächtige Dinge gesagt habe:
Sie »will kuscheln und dann doch nicht […] Frauen sind echt komisch.« Für Süßigkeiten würde das Kind »alles machen«.
Konsequenz unbekannt.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber mir stellt sich allmählich immer dringender die Frage: Was machen Jugendämter eigentlich?
Ich kann eine Erfahrung mit einem Jugendamt beitragen: Ein Bekannter von mir ist Hautarzt in einer großen norddeutschen Stadt. Ihm wird ein dreizehnjähriges Mädchen mit Hautveränderungen im Genital- und Analbereich vorgestellt, die hochgradig auffällig und verdächtig im Sinne von durch sexuelle Manipulationen verursachten Veränderungen sind. Der Kollege erklärt der besorgt wirkenden Mutter, dass eine Untersuchung in Narkose in einer Fachklinik nötig sei. Darauf reagiert die Mutter sehr zurückhaltend, will sich mit der Tochter wieder melden, was nicht geschieht.
Der beunruhigte Hautarzt wendet sich an das zuständige Jugendamt. Dort erreicht er telefonisch eine verunsicherte, offensichtlich erst neu im Beruf befindliche Mitarbeiterin, die überhaupt nicht weiß, wie sie mit der Situation umgehen soll. Sie fragt nach der Wohnadresse, und als sie die erfährt, reagiert sie sehr erleichtert: Sie ist nicht zuständig. Ihr nach längerem Suchen ausfindig gemachter zuständiger und offenbar erfahrener Kollege wiegelt souverän ab: Das sei alles viel zu vage, daraus ließe sich nichts machen, außerdem sei bei der Adresse (gute Wohngegend!) erheblicher juristischer Ärger zu erwarten, mein Freund wolle doch durch einen Bruch der Schweigepflicht nicht seine Approbation gefährden.
Nach dieser Abfuhr sucht der Kollege Unterstützung bei einem bekannten gerichtsmedizinischen Institut. Dort teilt man ihm mit, dass er mit seiner Einschätzung höchstwahrscheinlich richtig liege, zuständig sei aber nun mal das entsprechende Jugendamt. Und von dem sei wenig Hilfreiches zu erwarten.
Vermutlich gibt es auch andere Jugendämter, aber ich finde solche Geschichten schon sehr bemerkenswert.
Sextourismus finden Sie nicht so schlimm? In einer aufgeklärten Gesellschaft müsse es doch möglich sein, dass sich erwachsene Menschen im Rahmen eines allgemeinen Entspannungsprogramms Partner für sexuellen Austausch suchen?
Na ja, die Realität, zum Beispiel in Hamburg, sieht so aus:
Ein Hautarzt erzählte mir von dem vermögenden Familienvater, der dreimal im Jahr nach Thailand reist und jedes Mal mit einer Geschlechtskrankheit wiederkommt. Als der Arzt ihn mit der Intention anspricht, sich in seinem, aber vor allem im Interesse der Kinder über Verhütung zu informieren, wird er pampig. Er ist keineswegs ein Einzelfall: 0,4 Prozent von 8718 deutschen Männern antworteten in einer anonymen Internetstudie, dass sie ins Ausland reisen, um dort Sex mit Kindern zu haben.29
Wieder mal rechnen: Wenn ich mich auf die gleiche Zahlenbasis wie oben beziehe, komme ich für die Bundesrepublik auf 124 000 Reisende in Sachen Kindersex, für Hamburg auf 2714. Da die Herren in die Länder ihrer Sehnsucht fliegen, ergibt das 354-mal eine Boeing 747-400 aus Deutschland, achtmal aus Hamburg. Ein extra Gate würde sich wohl lohnen. Wäre auch für die Diskretion gut.
Pädophilie ist auch hierzulande ein Geschäft, wie wir am Beispiel von Lügde gesehen haben, aber anderswo haben es Pädophile leichter. An leider etwas plastikverschmutzten, aber ansonsten paradiesischen Stränden in fernen, vor allem fernöstlichen Ländern gedeiht eine finstere Industrie, die aus dem Sex mit Kindern ein äußerst lukratives Geschäftsmodell gemacht hat.
Die nüchternen Zahlen haben durchaus ihre irdischen Hintergründe, denn den Kitzel des Risikos gibt man sich, indem man die Kinder ohne Kondome vögelt. Dabei übersehen diese Herren, dass zum Beispiel die Gonorrhoe weltweit nahezu behandlungsresistent geworden ist, das heißt, man kann daran sterben, die Kinder und ja, auch die Täter selbst.
Schätzungen besagen, dass international im Jahr 2000 1,8 Millionen Kinder weltweit zu Prostitution und Pornografie gezwungen wurden. Andere Schätzungen kommen auf 10 Millionen. Typisch Dunkelziffer, nichts Genaues, aber auf jeden Fall viele – viel zu viele. In diesem Bereich werden mehr als 5 Billionen US-$ pro Jahr verdient. Haben Sie eine Vorstellung, wie viel eine Billion ist?
Ach ja, noch etwas: Ich hatte Kontakt zu einem der Autoren der oben zitierten Studie aufgenommen und gefragt, wie hoch der Frauenanteil an den Tätern sei. Er meinte, der Frauenanteil sei so gering, dass man damit keine Statistik rechnen könne.
Mein Gott! Genau. Als Atheist wird Ihnen dieses Thema vielleicht nur ein zynisches Lächeln entlocken. Wenn Sie religiös aufgewachsen sind, haben Sie es nicht so leicht. Alles ist schmerzhaft: Opfer zu sein sowieso, aber auch wenn dieser Kelch an Ihnen vorbeigegangen sein sollte, ist es nur schwer auszuhalten, wenn im Zentrum aller Werte, der Moral, des Heiligen, plötzlich das Böse auftaucht. Der Begriff ist ziemlich aus der Mode gekommen. Gibt es einen besseren? Zuerst die Gerüchte, das Geraune, die Witze, später immer wieder der Versuch der Abwehr, so schlimm könne das doch nicht sein, bis dann, endlich, die Wahrheit ans Licht kommt, die man längst vermutet hat. Jede Leserin, jeder Leser, egal ob von Zeitungen oder Romanen, jeder Kinogänger, jede Kinogängerin kann es wissen, denn solche Geschichten werden oft erzählt. Ein sehr sichtbarer Elefant.
Josef Haslinger, ein österreichischer Autor von Bestsellern, Professor für literarische Ästhetik, Empfänger zahlreicher Preise, beschreibt, was er mit »Pater G.« erlebt hat und mit der sogenannten Aufarbeitung seines »Falles« durch die Gremien der katholischen Kirche, die sich mehr oder eher weniger für ihn zuständig fühlten. Es begann mit der Beichte, zu der er nach der Erstkommunion regelmäßig gehen musste: »Zur gründlichen Gewissenserforschung diente mir ein sogenannter Beichtspiegel, in dem die Zehn Gebote Gottes in eine Vielzahl von Untergeboten zergliedert wurden, von denen eine erstaunliche Zahl für mein junges Leben Bedeutung hatte. Jedes Mal fand sich auf meinem Beichtzettel auch die Formulierung ›Ich habe Unkeuschheit getrieben‹. Und meist wollte der Beichtvater wissen, was genau vorgefallen war […]. Ich hätte neugierig auf das Geschlecht anderer Menschen geblickt, mein Glied unnötig berührt und im Beisein anderer Kinder unkeusche Worte verwendet […] Mit meinen permanenten Sünden gegen das sechste Gebot gab ich ihm einen guten Anknüpfungspunkt für spätere vertiefende Gespräche […] Von meiner Seite gab es […] lange Zeit keinen Widerstand. Später allerdings entwickelte ich, wenn sich bestimmte physische Handlungen anbahnten, deren Vorstellungen bei mir mit Gefühlen des Ekels verbunden waren, erkennbaren Widerstand, sodass es zu diesen Handlungen nur andeutungsweise kam.«30
»Unser« deutscher Papst Benedikt XVI. mochte mit dem Thema wenig anfangen, auch sein Bruder Georg Ratzinger, der Leiter der »Regensburger Domspatzen«, hatte angeblich nichts mitbekommen. Sogar der charismatische und menschlich beeindruckende Johannes Paul II., der eine klare Sprache liebte, hat dieses Problem ignoriert.31 Wahrscheinlich hat er abgewogen und entschieden, dass die Kenntnis solcher verbrecherischer Handlungen von Priestern die Position der Kirche im Kampf gegen den Kommunismus empfindlich geschwächt hätte. Eine Güterabwägung eben.
Erst Jorge Mario Bergoglio, Papst Franziskus, schrieb: »Angesichts des Übels des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen war es mein Wunsch, dass wir alle gemeinsam auf den Heiligen Geist hören und uns folgsam von ihm leiten lassen, um dem Schrei der Kleinen Gehör zu schenken, die Gerechtigkeit verlangen.«32
Den »Schrei der Kleinen« mithilfe des Heiligen Geistes hörbar zu machen – klingt gut. Ein Satz, der über den Missbrauch der Kleriker weit hinausgeht. Der Papst hat den Satz endlich ausgesprochen. Aber auch bei einem »Heiligen Vater« reicht sprechen eben doch nicht aus. Die »Kleinen«, kleinere, sehr junge, schwächere und ihnen körperlich unterlegene Menschen, die von geweihten Männern, denen sie vertrauen, sagen wir es mal so, misshandelt werden, bräuchten dringend mehr als Worte.
So gab die deutsche katholische Bischofskonferenz eine Studie in Auftrag, die 2019 unter der Überschrift »Sexueller Missbrauch durch katholische Kleriker. Retrospektive Kohortenstudie zum Ausmaß und zu den gesundheitlichen Folgen der betroffenen Minderjährigen«33 veröffentlicht wurde und auch im Internet frei zugänglich ist. An dieser Studie sieht man, was Wissenschaft kann. Es ist eine ebenso solide wie hochrangige Studie. Die Autoren sind renommierte Wissenschaftler aus verschiedenen Zentren, sie benennen sehr genau, was sie untersucht haben und was nicht, zeigen also auch die Begrenzungen ihrer Arbeit. Wenn es überhaupt so etwas gibt, ist diese Studie über jeden Zweifel erhaben. Und deswegen kommen dabei Ergebnisse heraus, die eine klare Vorlage für Kirche wie Politik wären, in Zukunft einiges anders zu machen.
Aus 38 156 Personalakten von Klerikern zwischen 1946 und 2014 wurden 1670 Kleriker anonym identifiziert, die »des sexuellen Missbrauchs an Jugendlichen beschuldigt waren«, eine Quote von 4,4 Prozent. Ganz nebenbei: Das Datum 1946 macht klar, dass Benedikt XVI. irrte, wenn er »als zentrale Ursache für Missbrauch ... Gottlosigkeit und eine Entfremdung vom Glauben [nennt], die sich seit den 1960er-Jahren auch in einer Abkehr von der katholischen Sexualmoral breitgemacht habe«34.
3677 Betroffene wurden ermittelt, zu 62,8 Prozent männlich und in 66,7 Prozent unter 14 Jahren alt. In über 80 Prozent lagen Handlungen mit Körperkontakt vor. Auch Kleriker beschränken sich also nicht auf geistige Werte.
Falls Ihnen diese Zahlen wieder mal zu hoch vorkommen, müssen Sie Ihre Meinung anhand folgender Bemerkung der Autoren korrigieren: »Die ermittelten Zahlen sind als untere Schätzgröße des tatsächlich geschehenen Missbrauchs anzusehen.«35 Aufschlussreich ist auch Folgendes: Die Quote von 4,4 Prozent ändert sich, wenn man die Untergruppen der Kleriker anschaut: Bei Diözesanpriestern beträgt sie 5,1 Prozent und bei Diakonen 1,0 Prozent. Warum das interessant ist? Diakone müssen nicht im Zölibat leben. Die Autoren erläutern: »Neben allgemeinen Mechanismen, die den sexuellen Missbrauch in Institutionen begünstigen (zum Beispiel asymmetrische Machtverhältnisse oder ein geschlossenes System), sind bei der katholischen Kirche auch spezifische risikoreiche Konstellationen zu bedenken. Dazu gehören der Missbrauch klerikaler Macht, eine restriktive katholische Sexualmoral, eine problematische Einstellung zur Homosexualität sowie ein problematischer Umgang mit dem Zölibat und dem Beichtgeheimnis.« Letzteres sieht Herr Haslinger sicher auch so.
Was hat diese Studie gebracht?
Mit hoher Konstanz wurden über einen Zeitraum von fast siebzig Jahren mit einer Mindestzuverlässigkeit – dafür sprechen die Angaben in Personalakten – fast 5 Prozent der Kleriker als Täter identifiziert, die über 3600 zu über 60 Prozent männliche Jugendliche, die zu über 65 Prozent unter 14 Jahren alt waren, in 80 Prozent der Fälle körperlich misshandelten. Dabei tragen die im Zölibat lebenden Kleriker ein höheres Täterrisiko. Kleriker werden also etwas seltener zu Tätern, als »normale« Männer, ein »Vorteil«, den man nicht recht würdigen mag, weil die katholischen Priestern durch die Gesellschaft entgegengebrachte Verehrung davon ausgehen dürfte, dass sie überhaupt nicht zu Sexualstraftätern werden.
Diese Befunde würden also ausreichen, um etwas zu unternehmen, zum Beispiel ein System von unabhängigen Überprüfungen zum Verhalten jedes einzelnen Priesters zu etablieren, eine Grundsatzdiskussion über Sinn und Unsinn des Zölibats zu führen oder Hilfestellungen für Priester zu etablieren, die mit ihrer Sexualität unter den besonderen Anforderungen ihres geistlichen Amtes nicht zurechtkommen. Ebenso hätte natürlich auch ein retro- und durchaus auch prospektives Entschädigungsverfahren etabliert werden können: Das Vorliegen solcher Studienergebnisse schließt ja keineswegs aus, dass es künftig weiter zu Missbrauchshandlungen kommen wird; sie bedeuten lediglich, dass Kirche und Gesellschaft jetzt von soliden Zahlen ausgehen können, in welchem Ausmaß es künftig dazu kommen und wie hoch die Zahl der zu Entschädigenden sein wird.
Was wird daraus?
Sagen wir es mal so: Kirche und Politik, also wir alle, waren dieser wissenschaftlichen Vorgabe offensichtlich nicht gewachsen. Die MHG-Studie beruht auf anonymen Daten. Entgegen einem immer wieder vorgebrachten Vorwurf sollte diese Anonymität nicht dem Schutz der Täter dienen, war auch nicht nur der Wunsch der Bischofskonferenz, sie war die schlichte Voraussetzung, um nach wissenschaftlichen Kriterien vorgehen zu können: Die Autoren konnten Phänomene beschreiben, die bei personalisierter juristischer Aufarbeitung wegen der infrage stehenden »Äußerungsrechte«, also der Veröffentlichung von Namen der Täter, wahrscheinlich nie veröffentlicht worden wären. Schon der Einspruch auch nur eines Beschuldigten hätte das verhindert. Das erstaunt Sie? Pardon, eigentlich sollten Sie wissen, wie die Persönlichkeitsrechte in der BRD geregelt sind.
Um nun das eigentlich für jeden Naheliegende zu tun, nämlich Konsequenzen aus der MHG-Studie auf der nächsten, der persönlichen Ebene zu ziehen, hätte die Politik den rechtlichen Rahmen schaffen müssen36, also eine gesetzliche Grundlage, die aus den erhobenen Daten den hinreichenden Anfangsverdacht – Sie erinnern sich? – macht. Doch das hat sie bisher nicht getan.
Überhaupt verhält sich die Politik, der Staat, wir alle, merkwürdig distanziert gegenüber diesen Verbrechen, überlässt jede Art der Aufklärung der Kirche selbst, mischt sich nicht ein. Dabei erscheint es nicht nur durchaus möglich, sondern eher wahrscheinlich, dass der Grund für diese Verfehlungen nicht in den einzelnen Priestern, sondern auch im System Kirche liegt. Denken Sie an die Unterschiede in der Missbrauchshäufigkeit zwischen den Diakonen, die relativ »weltlich« leben, zum Beispiel verheiratet sein können, und den Diözesanpriestern, die zölibatär leben müssen: Letztere werden fünfmal so häufig zu Tätern.
Wäre die Ursache des Missbrauchs durch Kleriker ein Virus, das als möglicher pathogener Faktor das Missbrauchsverhalten fünfmal so häufig vorkommen lässt, würde man doch alles tun, um genau diesen Faktor zu reduzieren. Beim klerikalen Missbrauch spricht alles dafür, dass dieser pathogene Faktor der Zölibat ist.
Natürlich gibt es die Forderung nach seiner Abschaffung schon lange – von kirchlichen Randgruppen. Die Zentrale der sogenannten heiligen Römisch-katholischen Kirche aber fasst das Thema nicht an. Und wir, die Gesellschaft der Bundesrepublik, wundern uns nicht weiter und lassen die Kirche machen.
Die Aufgeregtheiten, zum Beispiel um irgendwelche Ungereimtheiten im Erzbistum Köln, die Absage einer Pressekonferenz im Herbst 2020 wegen »gravierender äußerungsrechtlicher Bedenken«37, die Beschäftigung unterschiedlicher Anwaltskanzleien – das alles ist Theaterdonner, der die Vertuschung des Missbrauchs von Einzeltätern trotz der zweifelsfrei vorliegenden Daten weiter begünstigt, aber vor allem den Zweck hat, an der unheiligen, unsinnigen, weil unmenschlichen Erfindung des Zölibats nichts ändern zu müssen. So erscheint der Zölibat als eines dieser Ideale, das ungeachtet des Schicksals einzelner Leidtragender hochgehalten wird.
Die Reaktionen der hohen katholischen Kirchenmänner auf die sehr deutlichen Ergebnisse sind desillusionierend, besonders für alle, die der Kirche nahestehen oder standen. Damit meine ich nicht nur das – man kann es wirklich nicht anders bezeichnen – würdelose Feilschen um Entschädigungen: 50 000 Euro für ein zerstörtes Leben?38 Schlimmer aber sind wir und unsere Gleichgültigkeit gegenüber dem kirchlichen Missbrauch.
Sind die Protestanten besser? Als evangelischer Christ wüsste ich das schon gerne. Was man derzeit über Zahlen mutmaßen kann, sieht nicht viel besser aus als in der katholischen Kirche. Wie steht es bei uns mit der Aufarbeitung? Im Dezember 2020 hat das »ForuM – Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland« seine Arbeit aufgenommen. Die EKD sah rund 3,6 Millionen Euro für die Studie vor.39 Lag die Verspätung daran, dass die evangelische Kirche deutlich jünger als die katholische Schwester ist?
Doch dann kam es schlimmer: »Der Vertrauensverlust ist enorm, nachdem die evangelische Kirche in Deutschland (EKD) mitgeteilt hat, nach nur sieben Monaten die Arbeit des Betroffenenbeirats bis auf Weiteres auszusetzen.«40 Die Beteiligung Betroffener war wesentlicher Teil eines ehrgeizigen Elf-Punkte-Plans aus dem November 2018, der den Skandal des Missbrauchs in den Gemeinden und Einrichtungen konsequent aufarbeiten sollte. Doch fünf der Beteiligten haben sich inzwischen wieder zurückgezogen. Der Schwarze Peter für das Scheitern wurde den Betroffenen zugeschoben. Und in der Pressemitteilung der EKD41 heißt es: Der Antrag auf Auflösung sei »aus dem Gremium heraus« gestellt worden. Eine Darstellung, der die verbliebenen Mitglieder im Beirat widersprechen. Ihre Botschaft: Wir würden gern weiterarbeiten, die EKD lässt uns nicht. Welch ein Desaster!
Schon beim Erscheinen der ersten Studie zum Missbrauch in der katholischen Kirche versuchten Wissenschaftler, auch die Dunkelziffer genauer zu erfassen:42 »Bezogen auf die Gesamtbevölkerung ab 14 Jahren kann schätzungsweise von ca. 114 Tausend Betroffenen ausgegangen werden.« Schätzungen zufolge »zwischen 28 592 und 228 736 Personen«.
Hier bekommen Sie einen Eindruck, was es mit »Dunkelziffern« auf sich hat: Ungenauigkeit mit dem Faktor zehn. Aber die entscheidende Information kommt erst jetzt: Im Vergleich mit Fällen sexuellen Missbrauchs im Freizeitbereich sei die geschätzte Zahl der Betroffenen von sexuellem Missbrauch durch einen Priester in einer katholischen Einrichtung etwas höher als die geschätzte Zahl der Betroffenen sexuellen Missbrauch durch Musiklehrer (ca. 85 800 Personen) und etwas geringer als die geschätzte Anzahl der Betroffenen sexuellen Missbrauchs im sportlichen Kontext (ca. 200 000 Personen), hieß es in der Studie weiter. Im Vergleich zur geschätzten Anzahl Betroffener im schulischen Kontext (ca. 1 000 000 Personen) seien die Zahlen deutlich geringer.
Musiklehrer, der »sportliche« und der »schulische« Kontext – hätten Sie das gedacht, oder sind jetzt zur Abwechslung einmal Sie »fassungslos«?
Das Thema, das die Medien beschäftigte und das zu Recht Empörung auslöste, der klerikale Missbrauch, bleibt hinter dem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in Sport und Schule deutlich zurück. Aber darüber wird kaum geredet. Oder haben Sie etwas von Studien gehört, die Sportvereine und Schulträger in Auftrag gegeben hätten?
Apropos: Pfadfinder! Die Tagesschau berichtete:43 »Mehr als 82 000 mutmaßliche Opfer sexueller Gewalt haben Klagen gegen die Pfadfinderorganisation Boy Scouts of America eingereicht. […] Die Dachorganisation Boy Scouts of America wusste schon früh, dass viele ihrer Schutzbefohlenen […] durch die Hölle gehen mussten: Allein die internen Unterlagen der Organisation aus der Zeitspanne 1965 bis 1985 dokumentieren 12 000 Pfadfinderführer, die sich an unzähligen kleinen Jungen vergangen haben sollen. Die Männer wurden ausgeschlossen, aber nie vor Gericht gebracht […] Die mutmaßlichen Täter zogen in vielen Fällen um in andere Landesteile – und sollen dort weiter vergewaltigt haben.« Allerdings ist die US-amerikanische Organisation in finanzieller Hinsicht offenbar cleverer als die Kirchen in Deutschland und hat angesichts der anstehenden Entschädigungsklagen vorsorglich Insolvenz angemeldet.
Die Tagesschau meldete das zur besten Sendezeit. Haben Sie es wahrgenommen? Wie sieht es bei den deutschen Pfadfindern aus? Das könnten Sie dank Internet schnell herausfinden. Zum Beispiel bei Schwarzzeltvolk.de.44
Die vorerst letzte aus der Reihe der traurigen Nachrichten heißt »Missbrauch in SOS-Kinderdörfern«45. Die von Herman Gmeiner 1949 gegründete Organisation zur besseren Betreuung von Waisenkindern hatte ein hohes Renommee, bis sie im Frühjahr 2021 wegen Korruption und Missbrauch von Schutzbefohlenen ins Gerede gekommen ist. Die Täter entsprächen einer kleinen Zahl von Mitarbeitern, während der Großteil großartige Arbeit leiste. »Der vorliegende Untersuchungsreport legt nahe, dass Berichte über Missbrauch nicht ausreichend ernst genommen wurden, Kindern und Zeugen nicht geglaubt wurde und Täter nicht zur Rechenschaft gezogen wurden.«46 Kommt Ihnen bekannt vor?
Die Idee, etwas über Sexualität zu schreiben, kommt mir etwas merkwürdig vor, da heute wirklich jeder alles über Sex zu wissen scheint. Doch offensichtlich gibt es viele Unklarheiten und auch sehr merkwürdige Theorien, sodass es allein um einer eindeutigen Kommunikation willen gut wäre, ein paar Punkte festzuhalten.
Sexualität beeinflusst das Leben stark, bei Tieren sowieso und auch bei vielen Menschen stärker als alles andere. Sinnvoll wäre es, sich diese Tatsache bewusst zu machen, sie ernst zu nehmen und zu respektieren. Die meisten Probleme im Zusammenhang mit Sexualität kommen daher, dass sie nicht ernst genommen, verharmlost wird oder dass man glaubt, Sexualität ließe sich ohne Probleme kontrollieren. Das aber ist ein Irrtum.
Wie schwer ein rationaler Umgang mit Sexualität ist, könnte man eigentlich allein an der enormen Vermehrung von Menschen erkennen, die heute schon übersteigt, was die Erde noch verkraften könnte. Daran könnten wir etwas Grundlegendes erkennen, das aber gerne verdrängt wird: unsere »Natur«, unser biologischer Anteil, der von manchen Interessensgruppen noch dadurch überhöht wird, indem sie ihn als »gottgewollt« bezeichnen, ist weder »natürlich« noch positiv, sondern er bedroht das Überleben aller Lebewesen auf dieser Erde zunehmend und bald final. Viel sinnvoller, als diese angeblich »natürliche« Seite zu verherrlichen, wäre es, sie in ihren Auswirkungen ernst zu nehmen und Energie auf die Überlegung zu verwenden, wie man ihnen begegnen könnte. Das hat mehr mit Sexualität zu tun, als Sie auf den ersten Blick erkennen.
Manche Menschen erleben Sexualität als eine sehr starke, ihr Verhalten beeinflussende Kraft, andere verstehen das nicht, weil sie sich für bestimmte Lebensperioden oder generell als asexuell erleben.
Unterschiedliche Menschen erleben sich in unterschiedlichen sexuellen Identitäten, und das weitgehend unabhängig von ihrer biologischen Identität: Männer können sich als männlich, Frauen als weiblich erleben, aber auch umgekehrt oder in offener, nicht festgelegter Identität.
Außerdem fühlen sich Menschen mit unterschiedlicher sexueller Identität sexuell zu anderen Menschen mit wiederum unterschiedlicher Identität hingezogen: Männer zu Frauen, zu Männern oder zu beiden, Frauen und anders orientierte Menschen ebenso. Eine Gesellschaft, die diese Vielfalt menschlicher sexueller Orientierungen zur Kenntnis nimmt und akzeptiert, wird versuchen, ihr gerecht zu werden und entsprechende Regelungen des Zusammenlebens zu finden. Historisch generierten menschliche Gesellschaften jedoch leider großes individuelles Leid, weil sie illusionäre Vorstellungen über die Natur der menschlichen Sexualität pflegten.
Obwohl Sexualität offensichtlich eine ziemlich private Angelegenheit zu sein scheint, also einem oder zwei Individuen zugehörig, mischen sich immer wieder Männer mit Interesse an Macht, Diktatoren, offen oder unausgesprochen, Kirchen und Religionen mit angeblich gottgewollten Moralgesetzen in das sexuelle Verhalten Einzelner ein. Diese gehen eine folgenschwere Verbindung mit dem religionstypischen Wahrheitsanspruch ein. Der Versuch dieser Religionen, menschliche Interessen als göttliche Wahrheiten darzustellen, entlarvt sich allein schon dadurch als allzu menschlich und machtversessen, dass er vor dem Anspruch versagt, das Göttliche durch die Akzeptanz der Schöpfung zu würdigen.
In einer liberalen, offenen Gesellschaft könnte jede Art von sexueller Identität und Attraktivität als gleichberechtigt in ihrer Verwirklichung angesehen werden. Bei aller Liberalität steht der Verzicht auf Sexualität mit Kindern jedoch nicht zur Diskussion. Das hat folgende Gründe:
Kinder erleben in ihren unterschiedlichen Entwicklungsphasen durchaus Sexualität. Doch das ist nicht die Sexualität von Erwachsenen. Sexualität von Erwachsenen mit Kindern wird immer durch das erhebliche Machtgefälle geprägt sein, was dazu führt, dass Erwachsene ihre meist sehr dezidierten Wünsche zur Erfüllung ihrer Sexualität gegenüber den Bedürfnissen der Kinder durchsetzen werden. Und das ist der wichtigste Punkt: Nach allem, was wir wissen, schädigt Sexualität mit Erwachsenen Kinder und Jugendliche in schwerer, teilweise nicht therapierbarer Weise.
Ein wesentlicher Teil dieses Buches beruht darauf, dass menschliche Zivilisationen der Gegenwart mit dieser Problematik nicht klar umgehen, zur Sexualität der Kinder keine eindeutige Meinung generieren und sich nicht zu klaren gesetzlichen Regelungen bzw. zu einer eindeutigen Durchsetzung dieser Regelungen durchringen können. Dies mag damit zusammenhängen, dass Sexualität für manche Menschen besonders attraktiv wird, indem sie die für Sexualität typische Lust durch die Kombination mit Macht zu steigern versuchen. Das gilt besonders für Männer, wirkt sich aber vor allem auf Frauen und Kinder aus, die das ganz anders sehen. (Im weiten Kosmos menschlicher Sexualitäten gibt es Menschen, die aus der Polarität von Macht und Unterwerfung Lust gewinnen, etwa im Bereich sadistisch-masochistischer Praktiken. Wer solche Formen der Sexualität bevorzugt, weiß, dass sie nur funktionieren, wenn sich alle Beteiligten freiwillig darauf einigen und sehr eindeutige Regeln zur Kommunikation respektieren.)
Ein besonderes Problem haben Menschen mit sogenannter Kern-Pädophilie, da sie tatsächlich nur durch Kinder vor dem Eintritt in die Pubertät sexuell erregt werden. Wenn sie sich verantwortungsvoll verhalten wollen, bleibt ihnen kein anderer Weg, als der dauernde Verzicht auf sexuelle Erfüllung. Auch wenn es Therapieprogramme gibt, die sie dabei unterstützen können, ist dies eine harte Lebensentscheidung, die allen Respekt verdient. Die andere Alternative ist eine kriminelle Karriere, die sich Lust über das Leid von Kindern verschafft.
Pädophilie ist eine eigenständige, relativ seltene Form der sexuellen Orientierung. Anders als dies gelegentlich von interessierter Seite dargestellt wird, hat sie nichts mit Homosexualität zu tun, die, was ohnehin klar sein sollte, eine normale Form sexueller Orientierung ist und wie Heterosexualität unter Erwachsenen ausgeübt wird.
Erfüllte Sexualität hängt stark von unserer Fähigkeit ab, Gefühle wahrzunehmen – unsere eigenen und die unserer Sexualpartner. Und natürlich auch davon, dass wir darauf eingehen. Diese Fähigkeit ist zum großen Teil erlernt. Je geringer sie ausgeprägt ist, desto stärker wird ein Mensch, der sein Bedürfnis nach sexueller Lust wahrnimmt, nur auf eigene Fantasievorstellungen abheben und die Bedürfnisse seiner Gegenüber ignorieren. Sexualität wird dann als ein Trieb wahrgenommen, der unbedingt zu befriedigen ist, unter Nichtachtung des Sexualpartners oder der Sexualpartnerin und auch unter Nichtachtung des Verbots von Sexualität mit Kindern. So ist es wahrscheinlich zu erklären, wieso Männer mit erwachsener Sexualität – und seltener Frauen – sich ebenfalls an Kindern vergreifen, obwohl sie nicht pädophil sind. Sexualität ist eben polyvalenter und doch nicht so fest verdrahtet, wie uns das insbesondere religiös dominierte Theorien glauben machen wollen.
Pornografie beruht auf der Tatsache, dass die schriftliche, akustische oder filmische Darstellung von Sexualität eine erregende Wirkung auf uns hat, nicht nur, aber gelegentlich auch besonders, wenn Menschen keinen oder seltenen Zugang zur Sexualität haben. Pornografische Darstellungen regen unsere Fantasie an, was manchmal attraktiver sein kann als die Realität selbst, vor allem, wenn ich aufgrund innerer oder äußerer Hemmungen Schwierigkeiten habe, diese Realität zu leben. Erwachsene Menschen mögen sich zu so etwas entscheiden. Die heute zu beobachtende Tendenz, dass Kinder und Jugendliche ihren Zugang zur Sexualität vor allem über pornografisches Material finden, scheint für ihr späteres Leben mit realen Partnern nicht immer förderlich zu sein.
Der Ausweg, sich mit pornografischem Material zu erregen, erscheint besonders für Pädophile attraktiv, die ihre sexuellen Neigungen gar nicht oder nur mit dem Risiko von Freiheitsstrafen ausleben können. Das entscheidende Problem, das Kinderpornografie zu Recht strafbar und verfolgungswert macht, liegt darin, dass das pornografische Material nur durch Sex mit kleinen Kindern gewonnen werden kann. Da das eine Branche mit hohen Gewinnspannen ist, hat sich daraus eine verbrecherische Industrie entwickelt.
Im Vergleich zu den anderen Primaten sind Menschenkinder bei der Geburt ziemlich unfertig. Um sich gut – »normal« finde ich in diesem Kontext schwierig – entwickeln zu können, brauchen Kinder eine Person, die sich ganz und gar auf sie einlässt und ihre Bedürfnisse in körperlicher und seelischer Hinsicht befriedigt, die sich später mit ihnen auseinandersetzt und ihnen dabei hilft, wie sie die Diskrepanzen zwischen ihren Wünschen und dem, was ihnen die Welt geben will, bewältigen können. (Über diesen komplexen Prozess schreibe ich in Kapitel Seelenkunde 1).
Wenn diese Person fehlt, die meistens, aber nicht notwendigerweise immer, die Mutter ist – Menschenkinder sind in dieser Hinsicht flexibler als zum Beispiel Schimpansen –, oder wenn diese Person wegen eigener Probleme in ihrer Kindheit oder weil sie ständig von einem Partner fertiggemacht wird oder weil Krieg herrscht ihrem Kind nicht die volle Zuwendung geben kann, können sich Kinder nicht so gut wie möglich entwickeln. Auch dann muss nicht alles verloren sein, aber in diesen Fällen kommt es sehr darauf an, wie viel Widerstandsfähigkeit gegen alle Arten von Stress ein konkretes Kind genetisch mitbekommen hat.
Kinder können sehr genau zeigen, was sie nicht wollen, aber sie können es nicht verhindern: Babys können den Oralverkehr nicht verhindern, Kinder auch nicht, Jugendliche den brutalen Sex nicht. Kinder wollen so etwas nicht, weil es ihnen schadet, eigentlich sehr basal. Missbrauch schadet ihnen zum Beispiel, weil es sie daran hindert, normale Gefühle zu entwickeln. Die entstehen wahrscheinlich auf der Grundlage, dass ein Baby seine Bedürfnisse zeigt und die Bezugsperson darauf eingeht. Die Bezugsperson behebt also einen Mangel, ein Unbehagen. Das Kind bringt das daraus entstehende Wohlgefühl mit dieser Person in Zusammenhang, freut sich, wenn es sie sieht – so ungefähr. Wenn die Beziehung zu einer Bezugsperson fehlt, kann ein Kind keine differenzierten Gefühle entwickeln. Es spürt was, kann es aber nicht deuten. Wenn ihm von einer ihm eigentlich nahestehenden Person Schaden, Schmerz zugefügt wird, assoziiert es Nähe mit Schmerz. Wenn es gezwungen wird, Dinge zu schmecken, die für Kinder widerlich schmecken – sie haben einen anderen und viel differenzierteren Geschmacks- und Geruchssinn als Erwachsene, weil sie vieles nicht vertragen –, entsteht ein Gefühlswirrwarr, das nicht auflösbar ist. Kinder versuchen das auszuhalten, aber spätestens nach Einsetzen der Pubertät ist Schluss mit Aushalten, weil die Gefühle dann in einer Intensität anfluten, die schon Jugendliche ohne Missbrauchserfahrungen kaum managen können. Missbrauchskinder werden auffällig, fallen aus der Gruppe heraus und erfüllen zu allem Übel in der Gruppe ihrer Altersgenossen alle Zielscheibenkriterien für Bullying, der jugendlichen Version des Mobbing. Müssen sie auch das eben aushalten? Jugendliche mit Bullying-Erfahrungen bringen sich signifikant häufiger um, schädigen sich selbst oder entwickeln massives Übergewicht.47
Sie fragen sich, was Sie das angeht?
Auch wenn Ihre Empathie auf Dauerurlaub ist und Sie das Leiden anderer nicht berührt, sollten Sie nicht vergessen, dass auch schwer geschädigte Menschen selber Kinder bekommen werden, die sie infolge ihrer Schädigung in vielen Fällen nicht adäquat erziehen können, dass die als Kinder missbrauchten Männer eine hohe Neigung zu soziopathischem und aggressivem Verhalten haben, während die als Kinder missbrauchten Frauen eine enorm hohe Quote an seelischen, psychosomatischen und körperlichen Krankheiten bekommen und das Gesundheitssystem in einer Weise belasten, dass Corona dagegen Pillepalle ist, dass eine derart hohe Quote an missbrauchten Kindern für eine angeblich zivilisierte Gesellschaft eine Schande ist. Noch mal und unmissverständlich: Eine Gesellschaft, die Kindesmissbrauch in einem Ausmaß wie die unsere toleriert, ist eine Schande.
In solcher Deutlichkeit prangerte dankenswerterweise Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Sommer 2021 das dauerhafte Wegsehen bei Kindesmissbrauch an und sprach von einem »gewaltigen Abgrund, der sich durch die gesamte Gesellschaft zieht … nicht irgendwo fernab, sondern in nächster Nähe, mitten unter uns«48.
Vielleicht erstaunt Sie, wie umfangreich die dunkle Seite von Männern ist. Würden Sie sich auch auf einen »von uns« Männern einlassen? Das wollen Sie nicht, Sie glauben, dass Sie zu den netten Männern gehören? Zu denen komme ich später noch ausführlicher (siehe Seite 233 ff.), aber hier und jetzt haben wir noch ein zweites Problem, das zur »dunklen Seite« hinzukommt: Wir wollen einfach nicht wahrnehmen, was doch vor aller Augen ist.
Sehr deutlich lässt sich das an unserem Umgang mit der Kinderpornografie zeigen: Lügde wurde nicht nur wegen des Ausmaßes der Kinderpornografie zum Skandal, sondern auch deshalb, weil bei den Ermittlungen, vorsichtig ausgedrückt, Pannen auftraten. »Die Missbrauchsfälle von Lügde, Bergisch Gladbach und Münster haben für Entsetzen gesorgt. Doch nun kommen weitere Details ans Licht, die zeigen, wie viel größer das Problem tatsächlich ist. Den Ermittlern in NRW liegen neue Hinweise auf 30 000 mögliche Tatverdächtige vor. Das hat NRW-Justizminister Peter Biesenbach (CDU) […] bekannt gegeben […] Es handele sich um internationale Netzwerke mit Schwerpunkt im deutschsprachigen Raum […] ›Ich habe nicht damit gerechnet, nicht im Entferntesten, welches Ausmaß Kindesmissbrauch im Netz hat.‹ Es handele sich um eine ›neue Dimension des Tatgeschehens‹, ihm sei ›speiübel geworden‹.«49 Das sagte wohlgemerkt der Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen. Speiübel. Ist das so ähnlich wie fassungslos?
Ich komme ins Grübeln. Sollte sich ein Justizminister nicht mit Verbrechensstatistiken auskennen? Dann wüsste er doch, dass es in seinem Bundesland über eine Million Täter aus dem Bereich familiären Missbrauchs geben muss. Die bei ihm Übelkeit auslösenden Zahlen der Kinderpornografie liegen also in der Größenordnung von einem Vierzigstel des geschätzten familiären Missbrauchs. Warum erwähnte er das nicht?
In der Satzung seiner Partei findet sich unter »Aufgaben und Zuständigkeit« der Satz, dass »die Mitglieder der Christlich Demokratischen Union Deutschlands (CDU) in Nordrhein- Westfalen […] das öffentliche Leben im Dienste des deutschen Volkes und des deutschen Vaterlandes aus christlicher Verantwortung und nach dem christlichen Sittengesetz auf der Grundlage der persönlichen Freiheit demokratisch [gestalten]«50.
Das klingt ja durchaus akzeptabel. Und das Folgende auch: »Familienpolitik ist für die CDU ein Herzensanliegen. In unserer Familienpolitik setzen wir auf Respekt anstatt Bevormundung. Familien sollen selbst entscheiden können, wie sie ihr Leben gestalten. Dafür haben sie unsere volle Unterstützung verdient. Und wir haben noch viel vor, um Familien den Alltag zu erleichtern.«
Mit diesem Herzensanliegen kollidiert nicht nur die Kinderpornografie, sondern auch die Realität des Missbrauchs.
Man muss nichts gegen Herrn Biesenbach haben, im Fernsehen wirkt er wie ein netter Mann. Und das »Netz« ist sicher noch mal ein ganz spezielles Problem. Es ist auch nicht unsympathisch, dass er empathisch auf das Schicksal der pornografisch misshandelten Kinder reagiert. Aber wäre nicht wenigstens eine nüchterne Einschätzung des Gesamtproblems »Missbrauch in NRW« angebracht gewesen? Und wäre es nicht angebracht, wenn die CDU mit ihrem starken Focus auf die Familie auch mal an die vielen Kinder denken würde, die in den Familien der Bundesrepublik Deutschland missbraucht werden? Sie erinnern sich an die Gerichtsmedizinerin Dragana Seifert?51
Um nicht missverstanden zu werden: Das ist keineswegs nur ein Problem der sogenannten christlichen Parteien. Oder kennen Sie eine Partei, die sich der missbrauchten Kinder annimmt? Wie sagte der Bundespräsident im oben genannten Zusammenhang: Trotz aller Anstrengungen in Politik und Gesellschaft sei es bisher noch nicht gelungen, das »unvorstellbare Ausmaß sexuellen Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen« zu verringern. Vielleicht sind die Anstrengungen nicht groß genug und die Bereitschaft, das Grauen durch Hinschauen zu ertragen, um dann schnell und ohne Anfangsverdacht einzugreifen, viel zu klein. Und vielleicht sollte man jedem Justizminister, jeder Justizministerin empfehlen, die Arbeit ihrer Beamten in den Missbrauchsabteilungen, die tagtäglich das »Material« von Lügde und Co. anschauen, real zur Kenntnis zu nehmen und ein paar Stunden neben ihnen zu sitzen.
Am Ende des Prozesses um die Verbrechen von Lügde schrieb die erfahrene Gerichtsjournalistin Annette Ramelsberger: »Im größten Fall von Kindesmissbrauch in Deutschland, […] begangen unter den Augen von Jugendamt, Familienhelfern und Polizei […], soll niemand, wirklich niemand, außer den Tätern verantwortlich sein. Die Staatsanwaltschaft Detmold hat die Verfahren gegen einen Polizisten, Familienberaterinnen, sogar gegen die Mitarbeiterin und den Leiter des Jugendamts, die Akten gefälscht haben, eingestellt – mit zum Teil haarsträubenden formalistischen Begründungen. Keiner ist an irgendetwas schuld, nirgends. Niemand muss sich nun vor Gericht verantworten. Dabei wäre genau das notwendig gewesen. Ein öffentlicher Prozess hätte ein Beitrag sein können zur Fehlerkultur in den Behörden, ein Warnschuss für jene, die Dienst nach Vorschrift machen, ein Aufruf zur Verantwortlichkeit. Doch nun soll alles im Sande verlaufen. Wer aber nicht aus Fehlern lernt, begünstigt die nächsten Taten.«52
Und so ist zu vermuten, dass wir demnächst wieder über irgendwelche Taten und Täter lesen werden, die irgendwelche Minister fassungslos machen. Noch gar nicht dabei war die Geschichte von Bergisch-Gladbach. Lügde und ähnliche Hotspots der Kinderpornografie zeigen, dass die von uns gewählten Politiker nicht wahrhaben wollen, was beim Thema sexualisierter Gewalt abgeht. Sie unterscheiden sich darin nicht von uns selbst. Mit der zelebrierten Fassungslosigkeit folgen sie dem Verhalten ihrer Wähler, also von uns.
1 Volkmar Sigusch: Sexualitäten. Frankfurt a. M., 2013.
2 Fiona Weber-Steinhaus interviewt die Rechtsmedizinerin Dragana Seifert: ZEIT-MAGAZIN 01.04.2021
3 Harald Dressing/Dieter Dölling/Dieter Hermann: »Sexueller Missbrauch von Kindern.« PSYCHup2date 12, 79–94, 2018
4 Eve Ensler: The Apology, New York 2019, S. 33–37
5 Johanna Adorjan: »Im Namen des Vaters ...«, Die Seite Drei, SZ Nr. 230, Samstag/Sonntag 05./06.10.2019
6 Die ebenso detaillierte wie prägnante Darstellung verdanke ich Prof. Martin Bohus’ Vortrag auf dem DGPPN-Kongress 2019
7 Die Opfer aus kindlichem Missbrauch sind mehr als doppelt so häufig Mädchen, aber auch Jungen werden missbraucht.
8 »Die Situation verschärft sich.« tagesschau.de am 23.03.2020, abgerufen am 25.07.2021.
9 Antje Joel: »Eingeschlossen mit dem Peiniger.« DIE ZEIT Nr. 15, 02.04.2020, S. 11.
10 Die Konvention des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt trat 2014 als völkerrechtlicher Vertrag in Kraft. unwomen.de
11 Susanne Kaiser: Politische Männlichkeit. Berlin 2020, S. 179
12 Der Vorstand der Deutschen Lufthansa Aktiengesellschaft besteht aus 4 Männern und einer Frau, Letztere für Ressort Customer, IT & Corporate Responsibility zuständig, der Aufsichtsrat aus 14 Männern und 6 Frauen.
13 Gudrun Trautmann: Trügerische Ruhe bei den Frauenhäusern. Im Corona-Lockdown waren viele Frauen in häuslicher Gewalt gefangen. suedkurier.de, Kreis Konstanz, 21. September 2020
14 Warum will ich von den Zahlen der Menschen, die angeben, missbraucht worden zu sein, auf die Zahlen der Täter schließen? Weil sie das Problem sind. Die Betroffenen leiden zwar, sind krank, verursachen enorme Kosten nicht nur im Gesundheitssystem, aber es gäbe sie gar nicht, wenn nicht die Täter wären. Der Versuch, das zu ändern, zum Beispiel Prävention zu betreiben, muss an ihnen, den Tätern, ansetzen und nicht an den Betroffenen. Doch es ist nicht so einfach, von Zahlen der Betroffenen zu Täterzahlen zu kommen. Vergegenwärtigt man sich die Schwierigkeiten, so lernt man einiges über Missbrauch, was man eigentlich nicht wissen wollte. Folgende Erschwernisse gibt es:
1. Das Zahlenverhältnis zwischen Tätern und Betroffenen steht nicht fest: Ein Kind kann im Verlauf seiner Kindheit, die über zehn Jahre dauert, von einem Täter, zum Beispiel dem Vater, missbraucht werden, aber auch von mehreren, Onkel, Großväter, ältere Brüder.
2. Während auf Seite der Betroffenen die Kindheit der kritische Zeitraum ist, in dem sie ihr Trauma erleiden, können Täter ihre Neigung über Jahrzehnte in die Tat umsetzen. Was dazu führt, dass sie sich an mehreren Betroffenen, Geschwistern oder auch gar nicht zur Familie gehörenden Kindern ausleben. Allerdings scheint die gegen kontrollierende Einblicke von außen optimal geschützte Familie wohl der bevorzugte Ort für Missbrauch zu sein.
3. Die Angaben der unterschiedlich alten Betroffenen umfassen einen weiten, schwer zu definierenden Zeitraum von mehreren Jahrzehnten. Denkbar ist, dass sich über solche langen Zeiträume die gesellschaftlichen Einstellungen zur Sexualität verändert haben, was wiederum Auswirkungen auf das Missbrauchsverhalten haben könnte. So etwas vermutete Benedikt XVI., der die gesellschaftlichen Veränderungen seit den 1960er-Jahren als eine Ursache auch des klerikalen Missbrauchs sah. Wahrscheinlich irrt er, was den klerikalen Missbrauch angeht, weil die entsprechende Studie Akten seit den 1940er-Jahren erfasste, aber generell lässt sich so etwas nicht ausschließen. Kinderpornografie gibt es wahrscheinlich schon sehr lange, ihre enorme Verbreitung im »Netz« kann es natürlich erst geben, seit es ein Internet, also 1969, bzw. seine kommerzielle Nutzung in den 1990er-Jahren gibt.
4. Frauen kommen als Täterinnen ebenfalls infrage, obwohl dieses Thema im weiten Feld eines Tabuthemas offenbar noch mehr tabuisiert zu sein scheint – nach der Einschätzung des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs in 10 bis 20 Prozent (beauftragter-missbrauch.de), nach einer 2014 veröffentlichten EU-Studie war in 97 Prozent der Fälle von sexueller Gewalt in der Kindheit der Täter männlich (Gewalt gegen Frauen – eine EU-weite Erhebung. (FRA.Europa.EU, abgerufen am 5. Juli 2021). Angesichts einer derartigen Schwankungsbreite erlaube ich mir, die Möglichkeit weiblicher Täterinnen zwar im Blick zu behalten, aber sie für eine zahlenmäßige Einschätzung nicht zu berücksichtigen – zumal es mir ohnehin um die Rolle der Männer geht.
All das führt dazu, dass jede Schätzung ungenau sein wird. Welche Voraussetzungen habe ich gemacht?
• Ich gehe von der Annahme aus, dass das Verhältnis zwischen Tätern und Betroffenen 1:1 ist. Das kann eine Überschätzung sein, wenn ein Täter mehrere Kinder missbraucht hatte, oder eine Unterschätzung, wenn ein Kind von mehreren Tätern missbraucht wurde. Beides kommt vor, aber es ist unklar, in welchem Ausmaß.
• Männer unter 20 und über 80 habe ich als Täter ausgeschlossen; das ist mit Sicherheit eine Unterschätzung, begegnet aber dem Einwand, dass Missbrauch ein »maßlos übertriebenes« Phänomen sei.
• Ich sehe die Angaben der Betroffenen als reliabel an; eine Diskussion darüber ist berechtigt, weil gerade früher Missbrauch oft »vergessen«, also wegen einer Amnesie nicht erwähnt wird. Diese Amnesie nimmt zwar mit zunehmendem Alter oft ab, aber das Argument bleibt. Die durch dieses Phänomen bedingte Ungenauigkeit der Zahlen kann aber nur i. S. einer Unterschätzung interpretiert werden, die Zahlen müssten also noch viel höher sein.
15 Marije Stoltenborgh/Marinus von Ijzendoorn/Eveline M. Euser/Marian J. Bakermans-Kranenburg: »A global perspektive on child sexual abuse. Meta-Analysis of Prevalence around the World.« Child Maltreatment 16 (2), 79–101 (2011)
16 Ebd.
17 de.statista.com: Bevölkerung – Einwohnerzahl in Deutschland von 1990–2019
18 de.statista.com: Bevölkerung – Zahl der männlichen Einwohner in Deutschland nach Altersgruppen am 31. Dezember 2019
19 Harald Dreßing/Dieter Dölling/Dieter Hermann/Andreas Kruse/Eric Schmitt/Britta Bannenberg/Andreas Hoell/Elke Voss/Hans-Joachim Salize: »Sexueller Missbrauch durch katholische Kleriker.«, Dtsch. Ärztebl. Int. 2019, 116: 389–96
20 903 974 Männer, davon 678 685 in dem Alter, dass sie potenziell Missbrauchstaten begehen könnten; ergeben 19,1 Prozent
21 Ich fasse im Folgenden die Berichte aus den nachfolgend aufgeführten Pressemitteilungen zusammen:
22 Britta von der Heide/Arne Hell: »Konkrete Spur schon vor 17 Jahren.« tagesschau.de 26.06.2019
23 Kerstin Lottritz: »Wie konnte das passieren?« SZ-online 05.09.2019, abgerufen am 12.03.2020
24 Daten aus tagesschau.de 09.03.2019
25 Ebd.
26 Denis Huber: »Missbrauch auf Campingplatz Lügde: Hauptverdächtiger schon vor 20 Jahren aktenkundig.« web.de aktualisiert am 26.06.2019
27 justiz.nrw.de: Anfangsverdacht, abgerufen am 25.04.2021
28 Tina Friedrich/Torsten Mandalka/Marcus Weller: »Sexualdelikte – Taten mit geringem Risiko.« tagesschau.de vom 29.10.2020, abgerufen am 03.07.2021
29 Thula Koops/Daniel Turner/Janina Neutze/Peer Briken: »Child sex tourism – prevalence of and risk factors for its use in a German community sample.« BMC Public Health (2017) 17:344
30 Josef Haslinger: Mein Fall. Frankfurt am Main 2020
31 Matthias Drobinski/Thomas Urban: Johannes Paul II. Der Papst, der aus dem Osten kam. München 2020
32 Papst Franziskus zum Auftakt des Gipfels über die Missbrauchsskandale im Vatikan, SZ Nr. 45, Freitag, 22.02.2019, S. 1
33 Harald Dreßing et al., a. a. O., S. 389–396
34 Benedikt XVII: »Klima der 68er mitverantwortlich für Missbrauchsskandal.« katholisch.de 11.04.2019, abgerufen 06.01.2021
35 Dreßing et al. a. a. O., S. 270
36 Harald Dreßing im Gespräch mit Christiane Florin: »Forensiker Dreßing: Ich nenne keine Namen.« deutschlandfunk.de 12.03.2020, gelesen am 21.11.2020
37 Ebd.
38 »Bis zu 50 000 Euro. Entschädigung für Opfer katholischer Kleriker.« n-tv.de vom Donnerstag, 24.09.2020
39 »Studie untersucht Missbrauch in der evangelischen Kirche.« ndr.de 04.12.2020, abgerufen am 06.01.2021
40 Kommentar von Tilman Kleinjung: »Zurück auf Null – Missbrauch und evangelische Kirche.« br.de 13.05.2021
41 »Betroffenenpartizipation in der EKD wird neu aufgestellt.« ekd.de 10.05.2021, abgerufen 24.07.2021
42 J. Fegert: Institutionelle Interventionen bei Verdachtsfällen und therapeutische Interventionen bei Betroffenen. In: K. Hilpert/St. Leimgruber/J. Sautermeister/G. Werner: Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen im Raum von Kirche. Freiburg 2020. S. 330–339
43 Sebastian Hesse: »Missbrauchsskandal bei US-Pfadfindern. Mehr als 82 000 Klagen.« tagesschau.de am 17.11.2020, abgerufen am 17.11.2020
45 Jana Stegemann: Missbrauch in SOS-Kinderdörfern. Süddeutsche Zeitung Nr. 104, Freitag 7. Mail 2021, S. 7
46 Ebd.
47 Jay Belsky/Avshalom Caspi/ Terrie E. Moffiti/Richie Poulton: The Origins of you. How childhood shapes later life. Cambridge 2020
48 Peter Fahrenholz: »Wir müssen einschreiten« – Steinmeier mahnt zum Kampf gegen Kindesmissbrauch. In: SZ 1. Juli 2021, S. 5
49 Christian Wolf: »Hinweise auf 30.000 Tatverdächtige.« tagesschau.de 29.06.2020
50 archiv.cdu.de: »Mehr Respekt vor Familien.« #deutschland 2030
51 Fiona Weber-Steinhaus interviewt die Rechtsmedizinerin Dragana Seifert: »Die Hölle, das sind Mama und Papa.« ZEIT-MAGAZIN 01.04.2021
52 Annette Ramelsberger: »Nirgends ein Schuldiger.« sueddeutsche.de 11.03.2020, abgerufen am 12.03.2020