Das wäre es jetzt erst mal mit dem Missbrauch der Kinder.
Schrecklich, unfassbar, ekelhaft, zum Kotzen, traurig – war es das, was Sie dazu meinen? Leider reicht das nicht. Etwas »Nachhaltiges« wäre vielleicht nicht schlecht, damit diese Geschichten ein Ende finden. Unser Bundespräsident schlug dazu kürzlich eine »Haltung des Hinschauens«1 vor. Doch ich vermute, Sie glauben nicht an die Idee, dass sich was ändern könnte. Sie denken wie die Mehrheit und auch wie die meisten Politiker, dass solche Verhaltensweisen eben die unabänderlich finstere Seite der Menschen sei, unsere Natur. Es sei gut, über diese harten Schicksale nachzudenken, aber das richtige, wichtige Leben muss weitergehen.
Ich verstehe Sie. Damit sich was ändert, müssten wir betroffen sein, mitleiden, die Geschichten müssten uns unter die Haut gehen. Und Sie haben Angst, dass Sie nicht mehr wie gewohnt weiterleben könnten, wenn Sie das zulassen würden.
Haut steht für Grenze – des Körpers und der Seele –, sie hat direkte und symbolische Funktionen, wobei diese Symbolik einen besonderen Zauber hat. Die meisten kriegen das gar nicht mit. Medizinstudenten merken es, die zum allerersten Mal in den OP dürfen, den ersten Hautschnitt sehen und sich plötzlich auf dem Kachelfußboden wiederfinden. Weil sie ohnmächtig geworden sind. Ohn-mächtig. Das ist natürlich peinlich, es fließt ja kaum Blut beim Hautschnitt. Die Studierenden spüren aber genau, dass im Moment des Hautschnitts die Unversehrtheit der anderen Person verletzt wird. Unversehrtheit ist ein ziemlich starkes Tabu unter Menschen! Auch wenn sie mit Einverständnis und juristisch genau eingegrenzt verletzt wird, verlässt uns die Macht. Das Tabu signalisiert, dass das Eindringen in eine andere Person eine Grenzüberschreitung ist, der Hautschnitt, aber auch anderes Eindringen. Beim Missbrauch der Kinder kommt es zu Grenzüberschreitungen und Tabuverletzungen en masse, und wer wenn nicht ein Psychiater könnte verstehen, dass Sie sich dem nicht aussetzen wollen. Deswegen schalten Sie Ihre Empathie ab.
Total verständlich. Aber Ihrer Seele tun Sie damit keinen Gefallen. Männer haben mit diesem ruppigen Umgang mit ihrer Seele mehr Erfahrung als Frauen. Bei Männern gehörte das lange Zeit zur Sozialisation, und erstaunlicherweise hat sich das offenbar bis heute gehalten.
Wenn Sie also mutig sein und sich ansehen wollen, was Grenzüberschreitung tatsächlich bedeutet, haben Sie drei Blickwinkel zur Auswahl: den des »Zeugen«, den des »Täters« und den des »Opfers«.
Schon wenn Sie die Position des Zeugen einnähmen, wäre das ein Fortschritt gegenüber der Attitüde des Gemütlich-auf-dem- Sofa-Sitzens, des Weiterblätterns, wenn Ihnen dieser Text gerade auf die Nerven geht. Zeuge sein bedeutet, wahrnehmen und das Wahrgenommene bezeugen. Zeugen sollten unparteiisch, sachlich sein. Schaffen Sie das beim Missbrauch?
Vielleicht glauben Sie, da wäre klare Parteinahme angesagt, es geht schließlich um die Misshandlung von Kindern! Sicher wäre das auch nicht schlecht, aber ich glaube, da überspringen Sie etwas. Denn wir reden über eine zwielichtige Welt, über Dunkelziffern, über Taten, die eigentlich bemerkt worden sein müssten, aber »übersehen« wurden, teilweise jahrzehntelang. Deswegen wird oft gesagt, das stimme alles gar nicht, sei eine Übertreibung, zum Beispiel, um Männer zu diffamieren. Witze werden gemacht, ja, über die Neigung bestimmter Priester oder anderer Berühmtheiten zu »kleinen Jungens«. Und von einer endgültigen Aufarbeitung sind wir nach wie vor weit entfernt.
Anderes spielt sich in Familien ab, in der Privatsphäre, die bekanntlich zu schützen ist. Und sehr kräftig geschützt wird: Jede Ärztin, jeder Arzt, der in seiner Praxis bei der Untersuchung von Kindern ziemlich eindeutige Misshandlungszeichen entdeckt, muss sich genau überlegen, ob sie oder er etwas bezeugt. Hilfreich wäre ein guter Anwalt in Standby-Funktion, denn jede Meldung an Jugendamt, Polizei, Staatsanwaltschaft ist rechtlich gesehen ein Bruch der Schweigepflicht, die bei Kindern die Eltern mit einbezieht. Und wenn nicht sehr sicher ist, dass die engen Kriterien für den Bruch der Schweigepflicht gegeben sind, kommt schnell die Approbation der Ärztin, des Arztes in Gefahr, was vor allem fraglich missbrauchende Eltern mit viel Geld zum Prozessieren genau wissen. Auch eine Schulung von Polizisten für diese Besonderheiten der Privatsphäre wäre nicht schlecht.
Im Nachhinein wird immer wieder von Familien von Schulkameraden, Freundinnen in der Nachbarschaft erzählt, man habe ja nichts »mitbekommen«. Nichts mitbekommen zu wollen, hat eine beachtliche Tradition in diesem Land. Sie müssen gar nicht bis in die Nazizeit zurückgehen; nehmen wir noch mal Lügde: mehr als 18 Jahre, so viele Beobachtungen, die nicht ins Bewusstsein gelangten, dass da etwas zu tun gewesen wäre, oder sogar Anzeigen, die angeblich zu »vage« blieben, um zu Konsequenzen zu führen.
Wir brauchen eine andere Zeugenkultur, die Zeugen in der Ermittlungsphase schützt, die ernste Hinweise auch ernst nimmt und die Privatsphäre nicht ernster nimmt als die Schicksale der Kinder. Bemühen wir nochmals den Bundespräsidenten als Fürsprecher: »Wir müssen einschreiten und helfen, sobald es kleinste Hinweise und Vorkommnisse gibt.«2 Das klingt einerseits höchst selbstverständlich, andererseits geradezu utopisch angesichts einer Wirklichkeit, die Lügde möglich machte.
Was bringt es, wenn wir uns in die Täter hineinversetzen?
Ein paar Gründe: Nur wenn wir »Täter« verstehen, besteht eine Chance auf Veränderung. Abscheu, Entsetzen, Wut sind zwar verständliche Regungen, tragen aber zum Verstehen nichts bei und verhindern gar nichts. Wir sehen das bei den Gräueltaten des Nationalsozialismus: Hannah Arendt hat den Begriff von der »Banalität des Bösen« geprägt. In ihrem Buch über den deutschen Massenmörder Adolf Eichmann3 hat sie ihr Erstaunen darüber ausgedrückt, wie banal diese Ungeheuerlichkeit, die Ermordung von 6 000 000 Juden organisiert war. Banal, das durfte vor den Ohren der Überlebenden nicht gesagt werden. Banal hat mit Fassungslosigkeit wenig zu tun. Wenn Sie sich mal Tondokumente von Eichmanns Verteidigung anhören, werden Sie vermutlich den gleichen Eindruck haben: ein zutiefst gewöhnlicher, banaler Mann. Die ihn verhörenden Polizisten und Staatsanwälte hatten eine Bestie erwartet und fanden nur Banalität.
Ahrendt hatte auch überlegt, ob die mit den Nazis notgedrungen kooperierenden Judenräte nicht ebenfalls einen Anteil an der Umsetzung des Judenmordes haben. Das wollte die Welt noch weniger wissen. Und doch wäre dieses Wissen so wichtig für die Zukunft: Wo mindert Kooperation das Böse, wo hilft sie und wo leistet sie dem Verbrechen Vorschub? Chamberlain hätte das auch interessieren sollen. In einer Diskussionsrunde mit jungen Männern mit Migrationshintergrund fragte neulich einer, ob wir unsere wirtschaftlichen Kooperationen mit China nicht angesichts der Behandlung der Uiguren überdenken sollten.
Banal sind auch die Situationen, aus denen heraus in Familien misshandelt wird. Oder wenn kleine Kinder auf dem Campingplatz über Jahre entsetzlich gequält werden. War es das Banale, das Jugendämter, Polizei und Staatsanwälte jahrelang davon abhielt, etwas zu tun, was die Kinder von Lügde gerettet hätte?
Das Nächste wird Ihnen gar nicht gefallen: Vieles spricht dafür, dass auch wir, jeder von uns, das Potenzial zum Täter in uns tragen. Wir könnten das erkennen, wenn wir uns auf die Täter einließen. Nette Menschen haben in guter Absicht immer wieder ziemlich fürchterliche Dinge getan, und auch wir, Sie und ich, wären dazu in der Lage. Horchen wir in uns hinein und nutzen wir unser Insiderwissen, damit das Furchtbare ein Ende findet. Beim Thema »Gewalt« werden wir noch mal darauf kommen.
Der Schaden ist erheblich. Schaden, ganz nüchtern: finanzieller Schaden. Ich traue Ihnen zu, dass Sie auch versuchen würden, seelischen Schaden zu ermessen, aber ökonomische Statistiken sind doch etwas handfester und passen besser in eine so durch und durch ökonomisierte Gesellschaft wie die unsere.
Lassen wir also nur die Zahlen sprechen: »Häusliche Gewalt [ist] mit Abstand am teuersten, pro Jahr verursacht sie weltweit Kosten von rund 6,1 Billionen Euro […] Die wirtschaftlichen Schäden durch häusliche Gewalt sind damit 6,5 Mal größer als die durch Tötungsdelikte und mehr als 50 Mal größer als die durch Bürgerkrieg verursachten Verluste. Auf jeden toten Zivilisten in Kriegsgebieten kommen ungefähr neun Menschen, die in zwischenmenschlichen Streitigkeiten getötet werden, schreiben Anke Hoeffler von der Universität Oxford und James Fearon von der Universität Stanford. [Ihnen] zufolge haben die rund 30 Bürgerkriege der vergangenen Jahre im Schnitt 167 Milliarden Dollar, umgerechnet 129,2 Milliarden Euro, pro Jahr gekostet. Tötungsdelikte dagegen verursachten rund 700 Milliarden Dollar Kosten pro Jahr, etwa 541 Milliarden Euro – eine verschwindend geringe Zahl, verglichen mit den Kosten häuslicher Gewalt, die die Forscher mit rund acht Billionen Dollar, etwa 6,1 Billionen Euro, ansetzen.«4
Das ist doch schon mal was, klare Zahlen, klarer Handlungsauftrag, klare Prioritäten. Oder?
Um den seelischen Schaden der »Opfer« ermessen zu können, müssten wir sie verstehen. Fassungslos sein reicht auch hier nicht. Die zum Oralverkehr gezwungenen Babys, die zur Fellatio oder zum Analverkehr oder zu »normalem Sex« gezwungen Jugendlichen, die zur Zielerreichung häufig auch noch geschlagen werden – wie sollen wir die verstehen?
Das berührt eine Diskussion, mit der ich mich schwertue: Dürfen nur die über Verletzungen sprechen, die selbst verletzt wurden? Können also allein Frauen etwas über ihre Vergewaltigungen sagen, nur rassistisch Diskriminierte über den Rassismus, nur Juden über den Holocaust? Und die Frage betrifft natürlich auch dieses Buch: Darf ein alter weißer Mann über die Verletzungen von Kindern, Frauen und anderen schreiben, ist es ihm überhaupt möglich?
Zum Dürfen habe ich eine klare Meinung: Ich komme aus einer Generation, in der Maulkörbe eine zentrale Rolle spielten, und ich glaube, dass es nicht sinnvoll, sondern verhängnisvoll ist, jemandem den Mund zu verbieten. Das Problem liegt im Können. Wenn wir nicht auf der Stufe des oberflächlichen Laberns bleiben wollen, müssen wir zugeben, dass die Annäherung an von uns selbst nie erlittene, sondern allenfalls verursachte Opfergeschichten ans Unmögliche grenzt. Das lässt sich für alle genannten Beispiele zeigen. Hier geht es um die missbrauchten Kinder, und wenn Sie zu verstehen versuchen, was das ihnen Angetane bei ihnen angerichtet hat, kommen Sie schnell an Grenzen, die Sie nicht überschreiten können: Das Verstehen funktioniert miserabel, und Sie laufen Gefahr, den »Opfern« Ihre Vorstellungen von der Realität überzustülpen und ihnen damit wieder nicht gerecht zu werden.
Trotzdem. Wenn wir nicht wenigstens versuchen, anderen empathisch zu begegnen, verstummen wir, und unsere Gesellschaft zerfällt. Für dieses »trotzdem« gibt es zwei Argumente:
Das erste liegt in dem, was wir Empathie nennen. Wenn wir sie nicht unterdrücken, stellen wir fest, dass sie einfach passiert, unabhängig von unseren Intentionen. Ein Neonazischläger kann Empathie entdecken, wenn ihn sein schwarzes Opfer, das er gerade schlägt, einfach nur anschaut.5
Das zweite stammt aus den Gelöbnissen eines Bodhisattva im Buddhismus, der alle Wesen erlösen will, obwohl ihre Zahl unendlich ist, der seine üblen Seiten überwinden will, obwohl sie unendlich sind, der den Lehren folgen will, obwohl sie zahllos sind, und der dem Weg des Buddha folgen will, obwohl das unmöglich ist.6
Vielleicht ist es immer noch besser, Unmögliches zu versuchen, als denen das Feld zu überlassen, die andere nicht nur nicht verstehen, sondern sie wieder und wieder verletzen wollen.
Jeder Versuch des Verstehens, ob im therapeutischen, zwischenmenschlichen oder politischen Rahmen, ist nur sinnvoll, wenn wir die »Opfer«, so wie sie sind, respektieren. Der erste Schritt in den Respekt bedeutet, sie nicht mehr »Opfer« zu nennen.
1 Peter Fahrenholz: »Wir müssen einschreiten«. In: SZ 01.07.2021, S. 5
2 Ebd.
3 Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. New York 1963
4 Nina Trentmann: »Häusliche Gewalt kostet 8 Billionen Dollar.« WELT online 15.09.2014
5 Michael Kimmel: Healing from Hate. Oakland 2018
6 Vier buddhistische Gelöbnisse. Zit. bei Shunryu Suzuki, Zen Mind, Beginner’s Mind. New York 1970