Macht ist doch nichts Schlechtes. Das sagen viele, nicht nur Männer. Und natürlich ist da was dran: Mit Macht lässt sich Gutes realisieren, Böses verhindern.
Aber wir sollten es uns nicht zu einfach machen. Auffällig ist, dass es völlig unterschiedliche Gesellschaftsformen wie die Buschmänner der Kalahari oder die Plutokratie der Venezianer gab, die sehr, eigentlich extrem vorsichtig mit der Vergabe der Macht an ausgewählte Mitglieder ihrer Gesellschaft umgingen.
Und sehr viel banaler, um nicht zu sagen brutaler: Macht ist der Wirkfaktor ziemlich vieler Missbrauchsformen.
Missbraucht werden Menschen, obwohl sie einen Anspruch auf Schutz vor Gewalt und erzwungener Sexualität genießen. Das macht die bisher genannten Formen von Missbrauch moralisch so verwerflich. Im Grunde ist das nicht anders, wenn Therapeuten zu Tätern werden. Allerdings sind die Klienten oder Klientinnen meist Erwachsene (über die Missbrauchsquote bei Kinder- und Jugendtherapeuten liegen mir keine Zahlen vor), von denen man erwarten würde, dass sie in der Lage sind, sich gegen den Missbrauch zur Wehr zu setzen. Diese Erwartung wird der besonderen Beziehung zwischen Klient und Therapeut nicht gerecht. Ich bin Therapeut und habe gelernt, dass Psychotherapie Verständnis und Vertrauen in ganz besonders großem Ausmaß voraussetzt; diese Nähe ist die Grundlage von Therapie, ein kostbares Gut, das missbraucht werden kann. Gerade Klientinnen mit sexuellen Missbrauchserfahrungen aus der Kindheit, die sich schwer abgrenzen können, passiert es öfters, dass ihre Therapeuten genau diese schlecht gesicherte Grenze überschreiten und eine sexuelle Beziehung mit ihnen anfangen. Dadurch werden sie erneut schwer geschädigt, und ihre Chance auf Heilung verzögert sich oft über Jahre.
In der Therapieausbildung kommt das Thema vor. Aber wie so oft, beim »Missbrauch«, bei #metoo, liegt dieses Fehlverhalten in einem eigentümlichen Zwielicht: Natürlich ist es falsch, ja klar. Aber wenn es geschieht, glaubt man oft, die Voraussetzungen für eine konsequente Strafverfolgung seien irgendwie doch nicht gegeben. Was auch hier dadurch begünstigt wird, dass sich die »Opfer« schämen und die Schuld bei sich suchen. Business as usual – nur fatal, dass so etwas in Therapien passiert, die frühere Verletzungen heilen sollten. Eigentlich.
Dieses Zwielicht verbreitete sich schon in der Urzeit der Psychotherapie. War da nicht was zwischen C. G. Jung und Sabina Spielrein? C. G. Jung, auch heute noch als Koryphäe der Psychoanalyse angesehen, der die Schweizer Version von Sigmund Freuds Theorie gestaltet und etabliert hat, fing 1904 offenbar eine Beziehung zu einer 18-jährigen Frau an, die im Burghölzli, der psychiatrischen Universitätsklinik von Zürich, behandelt wurde, Sabina Spielrein. Er konnte diese hochintelligente Frau nicht abschieben oder diskreditieren, wie es heutige Therapeuten meist versuchen, wenn sie ihre Klientinnen missbrauchen; vielmehr hat sie es geschafft, selbst Analytikerin zu werden. Und was für eine! Sie promovierte als erste Frau in Psychoanalyse. Durch Vermittlung von Sigmund Freud gelang ihr der Zutritt zum engeren Kreis der Psychoanalytiker, und sie war Analytikerin von Jean Piaget, dem später berühmten Entwicklungspsychologen1. Ihre Auseinandersetzung mit dem großen Thema von Liebe und Tod gab Freuds Theorie vom »Todestrieb entscheidende Impulse […] Auf der Suche nach Beispielen in Literatur und Mythen bedient sich Spielrein großzügig bei Wagner […] Brünnhilde singt, bevor sie in die Flammen reitet, eine großartige Aria von Vernichtung und Wiedergeburt. Und natürlich zitiert Spielrein das Duett von Tristan und Isolde zum androgynen Verschmelzen […] Bei Wagner ist der Tod öfters nichts anderes als die destruierende Komponente des Werdeinstinktes […] Sie verleiht Wagners Frauen eine neue Form von Handlungsmacht, weil sie sich nicht länger nur opfern, um den Mann zu erlösen. Männliche und weibliche Identität verschmelzen zu einer vereinigten Subjektivität; das ›Ich‹ wird zum ›Wir‹«.2
Damals wie heute eine Rarität: eine Frau, die sich in einem Männerclub durchsetzt. Sie hat zumindest die Übergriffe einigermaßen gut überstanden, was allerdings auch C. G. Jung, ihrem analytischen Übervater und Täter, sehr souverän gelang.
Im Verlauf ihres bewegten Lebens, sie stammte aus Russland und ging mit ihrem Mann später auch wieder dorthin zurück, wurde sie 1942 von den Nazis, Einsatzgruppe D3, während des Russlandfeldzugs zusammen mit ihren zwei Töchtern umgebracht. Weil sie Jüdin war. Für die Täter war das ein hinreichender Grund. »Sie selbst konnte nicht glauben, dass Deutsche solche Gräueltaten begehen könnten, wie man sich erzählte. Sie versuchte nicht zu fliehen.«4 Auch hochbegabte Menschen können sich täuschen.
Dass das Zwielicht auch heute nicht ganz verschwunden ist, zeigt sich unter anderem daran, dass es keine halbwegs sicheren Zahlen zur Realität therapeutischen Missbrauchs gibt. Der viel zu früh verstorbene Psychotherapieforscher Harald Freyberger hat sich dazu sehr eindeutig geäußert:
»Prof. Freyberger: Wir haben Daten aus Befragungen von ärztlichen und psychologischen Psychotherapeuten in Kanada, England und Deutschland aus den 1990er-Jahren und um 2000. Auf dieser Basis schätzen Experten, dass etwa 8 Prozent aller niedergelassenen Psychotherapeuten einmal im Leben einen sexuellen Übergriff begehen. Männliche Therapeuten stellen die absolute Mehrheit der Täter, die meisten Opfer sind weiblich.
Gibt es Erkenntnisse zur Täterpsychologie?
Prof. Freyberger: Eine relativ kleine Gruppe von dissozialen Tätern sind im Grunde für den Beruf ungeeignete Wiederholungstäter. Als zweite Gruppe fallen eher narzisstisch gestörte Täter auf. Auch sie sind relativ oft Wiederholungstäter, sie nutzen die Grenzverletzungen zur Selbstwertregulation. Als weiteres Risikoprofil stellten sich persönliche Krisen von Psychotherapeuten heraus, zum Beispiel nach einer Trennung oder weil sie sich in ihrem Job ›ausgelutscht‹ fühlen. Diese größere Tätergruppe, vermutlich über 50 Prozent, neigt eher dazu, sich selbst anzuzeigen, Supervisionen zu suchen, Schuld und Scham zu entwickeln.«5
Interessant erscheint, dass ganz ähnliche Persönlichkeitsprofile bei den klerikalen Tätern gefunden wurden:6 Neben einem pädophil fixierten Typus fand sich ein narzisstisch-soziopathischer Typus und auch Stress- und Überforderungssituationen spielen eine Rolle. Im Interview mit Freyberger heißt es weiter:
»Gibt es Erkenntnisse zum ›Wie‹?
Prof. Freyberger: Besonders erschreckend ist, dass schätzungsweise 25 Prozent der sexuellen Übergriffe durch Gewalt gekennzeichnet sind, also mit Gewalt-, Druck- und Vergewaltigungsszenarien einhergehen.«
Bemerkenswert ist, dass sich Freyberger leider nur auf Zahlen beziehen kann, die mehr als 20 Jahre alt sind. In der sonstigen medizinischen Forschung haben so alte Daten allenfalls anekdotischen Wert. Das Thema scheint die Kammern der Ärzte und Psychotherapeuten nicht nachhaltig umzutreiben. Es sind Männer mit auffälligen Persönlichkeiten, die von den Ausbildungsinstituten eigentlich hätten entdeckt werden müssen, und Männer in Lebenskrisen: Wissen Therapeuten denn nicht, wie sie mit Krisen umgehen sollen? Wer, wenn nicht sie? Was bringen wir ihnen bei?
Ein Viertel der sexuellen Übergriffe wird durch Gewalt erzwungen; in der Psychotherapie! Wird Gewalt in Ausbildung und Supervision vielleicht verdrängt?
Sie sind wahrscheinlich kein Therapeut. Aber ich. Da Sie nie in dieser Situation gewesen sind, können Sie nicht wissen, wie nahe man sich in Therapie kommen kann! Diese Nähe ist manchmal unglaublich. Die meisten glauben, Missbrauch entstünde nur aus der Körperlichkeit, aus dem Druck der Hormone oder ähnlichen Männermythen. Kann passieren, okay, jeder ist anders. Doch die Versuchung sieht ganz anders aus: Wenn ein Mensch sich in seiner Not und Bedrängnis über die unbegreiflichen Vorgänge der eigenen Seele einem anderen öffnet und dieser andere mitfühlend empathisch ist, dann kommen sich beide näher, als das sonst zwischen Menschen passiert. Diese Erfahrung kann so überwältigend sein, dass der Rest der Welt in den Hintergrund tritt. Und mit dem Rest der Welt auch ihre Regeln. Dann haben Sie den Salat. Und deswegen ist es so absolut unverzichtbar, dass Therapeutinnen und Therapeuten in ihrer Ausbildung auf solche Möglichkeiten vorbereitet werden, damit ihnen in der Auflösung der Grenzen der rettende Gedanke kommen kann: Da war doch noch etwas.
Natürlich gibt es auch Therapeuten, bei denen es nicht zu so kostbaren Gedanken kommt, die einfach nur finden, dass sie in ihrem Leben bisher zu wenig Sex gehabt hätten und dass jüngere Frauen in Not leichte Beute sind. Man sollte sie rauswerfen, ihnen die Approbation entziehen. Es ist ein schweres Versäumnis, dass sich unsere berufsständischen Kammern darum nicht oder entschieden zu wenig kümmern.
Sollte ich als Mann über Vergewaltigung Bescheid wissen? Ich habe mich nie dafür interessiert, finde Vergewaltigung abartig. Punkt.
Wahrscheinlich trägt diese meine Haltung dazu bei, dass die Situation so ist, wie sie ist. Es gibt einiges zu wissen über Vergewaltigung. Zum Beispiel ist bei ihr die Geschlechtsaufteilung – wer ist Täter, wer ist Opfer? – eindeutig. Obwohl manche Männer sogar hier die Diskussion führen, schuld seien die Frauen. Schauen wir, wohin uns eine kleine Konfrontation mit dem Thema bringt.
So furchtbar weit ist diese Realität gar nicht von mir entfernt, denn die im Vorangehenden referierten Übergriffe der Therapeuten, von denen 25 Prozent durch Gewalt gekennzeichnet waren, fallen in die Oberkategorie Vergewaltigung. Vergewaltigung passiert keineswegs nur in dunklen Straßenecken, wenn nach dem Volksfest betrunkene (verminderte Schuldfähigkeit!) Männer über Frauen herfallen, wenn die Sieger eines (Bürger-)Kriegs die Frauen der Verlierer demütigen. Wenn ein Mann eine Frau intim berührt, ohne dass sie damit einverstanden ist, oder er sie gar vergewaltigt, dann kann das so zartbitter daherkommen, dass viele von uns Männern mit ihrer geschlechtstypisch reduzierten Sensibilität übersehen, wo das Problem ist. Vergewaltigung oder Nötigung bleibt es allemal: »Iris wurde von ihrem Mitbewohner, einem guten Freund, an den Brüsten angefasst. In ihrem Zimmer, ihrem Bett. Sie wollte das nicht. Er habe nicht gefragt […] Sie sagt, dass sie nicht schlecht über ihn sprechen wolle, dass sie nicht möchte, dass die anderen denken, er sei ein schlechter Mensch. Sie sagt, dass er nicht wisse, was er machen solle, und dass sie es auch nicht wisse […] ›Ich habe ihn geliebt. Er war der tollste Mensch auf der Welt. Ich wollte versinken in ihm. Ich wollte ihm nah sein, wollte geliebt sein. Ich wollte es so gerne wollen. Aber nicht so, noch nicht. Er hat mir das Gefühl gegeben, etwas stimmt nicht mit mir, dass ich komisch und verklemmt bin. Ein Teil von mir hat ihm geglaubt. Er war ja alles, er war jeder. Trotzdem. Ich habe Nein gesagt.‹«7
Seine Replik würden wieder die meisten Männer, zum Beispiel vergewaltigende Ehemänner, nicht über die Lippen bringen: »Ich hatte so meine Vorstellung, und ich wusste schon, dass ich dich gedrängt habe, und ich wusste auch, dass das irgendwie dumm war im Nachhinein, aber ich dachte nicht, dass dich das so trifft, so nachhaltig beeinflusst. Dass das so schlimm ist.«8
Ja, war dumm schon im Vorherein, und im Nachhinein war das Kind im Brunnen. Dieses »ich dachte nicht« macht den ego-zentrierten Irrtum deutlich, der einem immer wieder bei Entschuldigungen von Männern unterkommt. Wer hat uns auf die Idee gebracht, ich könne mit meinem Denken klären, wie die andere Person fühlt, was sie will, wie sie sehr sie getroffen wird? Ich könnte das schon herausfinden, sogar als Mann. Diese Empathie entsteht über anschauen, miteinander sprechen, zuhören, die andere respektieren. Keineswegs über egozentriertes Denken, bei dem ich um meine Wünsche und Ansprüche kreise, sie bei jeder Umdrehung immer mehr aufheize und sie zum Schluss nicht mehr steuern kann, womit sich Vergewaltiger dann auch noch entschuldigen zu können glauben. Der Druck der Hormone eben und ähnliche Männermythen.
Eine andere, ebenso abgestandene »Entschuldigung«: Frau habe ihn, Mann, durch ihre aufreizende Kleidung gereizt, und sie sei deswegen selbst schuld. Stammt aus dem internationalen Fundus von Männersprüchen, die von Kiel bis Nigeria9 immer wieder gerne gebracht werden. Wenn man sich dann anschaut, was an der Kleidung aufreizend gewesen sein soll, erfasst einen tiefe Ernüchterung: Allein dass eine Frau als weiblich erkennbar ist, reicht aus, um für Männer aufreizend zu sein.
Vergewaltigung ist häufig und wird in einem unfassbar niedrigen Prozentsatz verfolgt und bestraft. Der Kriminologe Christian Pfeiffer hat 1992 und 2011 zwei repräsentative Befragungen zum Thema Vergewaltigung gemacht.10 »Die Täter der Vergewaltigung stammten [1992] zu 71 Prozent aus der Familie bzw. dem Haushalt der Frau. Ganz überwiegend handelte es sich um ihre Ehemänner. Für die Frauen waren die Vergewaltigungen innerhalb eines Haushaltes besonders belastend, vor allem, weil sie sich meistens wiederholten. 2011 war die Quote der Frauen, die in einem Fünfjahreszeitraum Opfer sexualisierter Gewalt geworden waren, von 4,9 auf 2,5 Prozent gesunken, die Vergewaltigungen innerhalb eines Haushaltes waren von 3,3 auf 1,7 Prozent gesunken.« Eine positive Entwicklung, ganz klar. Auch eine stabile? Ich habe so meine Zweifel, dass diese schönen Zahlen die Pandemie überstanden haben.
Aber da war noch dieser andere, gar nicht selbstverständliche Begriff: der »Haushalt«, die Familie ist der Ort des Geschehens; nicht nur kindlicher Missbrauch, sondern auch Vergewaltigung spielt sich in der wohlgehüteten Privatsphäre ab. Deswegen bricht die Frau, die aus dieser Privatsphäre heraustritt und ihren Mann beschuldigt, ein Tabu, das natürlich nicht nur sie wahrnimmt, sondern auch die ermittelnden Polizisten, Staatsanwältinnen, Richter. Was die niedrige Aufklärung und Verurteilung wenigstens zum Teil erklären dürfte. Tabus bleiben so lange wirksam, bis sie immer wieder, jederzeit angesprochen, diskutiert, infrage gestellt werden.
Eine andere Geschichte: Eine gebildete, promovierte Frau aus heilem Elternhaus, sportlich, hervorragend verbalisiert, mit vier zum Teil schon erwachsenen Töchtern und Söhnen in Süddeutschland lebend, kommt zu mir wegen der Randerscheinungen einer schmutzigen Scheidung von einem Spitzenmanager. Nach einigem Nachfragen stellt sich heraus, dass das Sexualleben des Paares schon seit vielen Jahren durch seine ultimativen Ansprüche auf Sex, wann auch immer er ihn wollte und völlig unbeeindruckt von ihrem Widerstand, beeinträchtigt war. Meine Frage »Sind Sie vergewaltigt worden?« bejahte sie nach einigem Zögern mit den Worten »Ja, so muss man das wohl nennen«.
Die Möglichkeit, Anzeige zu erstatten, sei ihr nicht in den Sinn gekommen und kam ihr auch jetzt, nachdem sie sich das überlegen wollte, nicht in den Sinn. Und das im Jahr 2021, nach #metoo, nach »Nein ist Nein«. Vielleicht wollte sie sich dem nicht aussetzen, was auf sie zukommen würde.
Denn die Praxis der Strafverfolgung macht einen sprachlos: Mehrere Tausend Frauen werden pro Jahr in Deutschland vergewaltigt – die Täter jedoch selten verurteilt. »Von hundert Frauen, die vergewaltigt werden, erlebt nur etwa eine einzige eine Verurteilung des Täters […] das liegt daran, dass 85 Prozent der Frauen keine Anzeige machen, und dann gibt es folglich auch keine Verurteilungen. Und von den 15 Prozent, die übrig bleiben, werden letztendlich nur 7,5 Prozent der Täter verurteilt. Das ist indiskutabel.«11 Was den Rückschluss erlaubt, dass die 85 Prozent, die eine Vergewaltigung gar nicht erst zur Anzeige bringen, von einer Überlegung ausgehen dürften, gegen die es nicht viele gute Argumente gibt: Warum sollen sie sich dem demütigenden Vorgang eines Strafprozesses, den Fragen des gegnerischen Anwalts aussetzen, wenn trotzdem weniger als 10 Prozent der Täter verurteilt werden? Dass Frauen bewusst lügen oder die Unwahrheit sagen, komme immer wieder als Argument bei dem Thema, so Kriminologe Pfeiffer: »Nach unserem Kenntnisstand sagt die große Mehrheit der Frauen, rund 80 Prozent, die Wahrheit, und denen müssen wir gerecht werden.«12
Das Ganze ist noch viel absurder, denn auch der Wohnort spielt eine Rolle, ob der Täter letztendlich verurteilt wird. Laut Berechnungen von Pfeiffer schneiden die Bundesländer Berlin, Bremen und auch Niedersachsen schlecht ab. »Für mich gibt es mehrere denkbare Ursachen, angefangen von der unterschiedlichen Ausstattung der Polizei, der Arbeitsbelastung in Polizei und Justiz bis hin zur Ermittlungsarbeit selbst: Hier müssten zum Beispiel alle Vernehmungen auf Video aufgezeichnet werden.«13
So, da stehen oder sitzen wir nun. Sie und ich vergewaltigen nicht. Davon geh ich mal aus. Auch viele andere Männer tun das nicht, verabscheuen solche Taten ebenso sehr wie Sie und ich. Und trotzdem sind Frauen in aller Welt in ihren Lebensgewohnheiten davon beeinträchtigt, trotzdem findet die Verfolgung und Bestrafung dieses Delikts auf einem Niveau statt, dass ein Täter sich gute Chancen ausrechnen kann, ungeschoren damit durchzukommen. Und wie bei so vielen Männertypen gibt es einige wenige Nutznießer dieser hier durchaus als toxisch zu bezeichnenden männlichen Dominanz und viele, die ihre Hände in Unschuld waschen.
Ja, meine Herren, Sie ahnen es: Ich finde, dass Sie, die wichtigen Männer in Politik, Wirtschaft und sonstiger Gesellschaft, sich dieses Themas annehmen sollten, auch diejenigen von Ihnen, die in den Rotary- oder Lion-Clubs und anderswo wohlgefällige Dinge tun. Setzen Sie dieses Thema auf Ihre Agenda.
Warum sollten Sie so etwas tun? Weil Sie sich dann nicht mehr schämen müssten.
Das ist eine dieser grundlegenden Situationen, in der wir Männer uns entscheiden können und müssen. Wir müssen eine Antwort geben auf die Frage, welche Gesellschaft, welchen Umgang zwischen Männern, Frauen und anderen wir wollen: Vollverschleierung als der ultimative Schutz, um nicht als attraktive Frau erkennbar zu sein, oder eine Kleidung, die nach persönlichem Geschmack auch mal geschlechtsbetont sein kann, und bitte ohne mitgekaufte Garantie, demnächst vergewaltigt zu werden.
Wir sollten auch über ein paar grundlegende Ansichten ins Gespräch kommen. Zum Beispiel über die, dass Ansprüche ein unsinniges Konstrukt sind, obwohl wir uns mit ihnen so schön im Recht fühlen. Die Offenheit, dass niemand weiß und niemand bestimmen kann, wie der Abend mit dieser attraktiven (eigenen oder fremden) Frau endet, gibt dem Leben doch erst den Geschmack. Ansprüche produzieren ausschließlich Eintopf. Wer’s mag …
Weil dies so grundlegende Fragen im Umgang mit uns Männern sind – ja, bei dem Thema sind wir das Problem –, sollten wir uns zu einer öffentlichen Diskussion darüber bequemen, wie es denn überhaupt zur Vergewaltigung kommt und welche Möglichkeiten wir haben, das zu verhindern. Denn hinter den Geschichten von Vergewaltigungen zeigt sich das traurige Gesicht der Männerfantasien von Sexualität. Doch bevor wir uns dieses Gesicht im Spiegel anschauen, geht es erst mal um die tödliche Folge männlicher Übergriffe, um Mord.
Offensichtlich hat Mord eine andere Qualität als Vergewaltigung oder Missbrauch. Für die Opfer sowieso, aber vor allem, was die Reaktion der Gesellschaft angeht. Bei Mord hört der Spaß auf. Die Ignoranz gegenüber den Zahlen, die Nachlässigkeit bei der Strafverfolgung, die milden Urteile, all das ist bei Mord anders. Mord verjährt im Gegensatz zum sexuellen Missbrauch nicht, Mord wird zu fast 95 Prozent aufgeklärt. Mord führt oft zu sehr langen Freiheitsstrafen. Mord soll es in unserer Gesellschaft nicht geben. Auch wenn es nicht gelingt, ihn ganz zu verhindern, gehen wir dabei durchaus effektiv vor.
Vor diesem Hintergrund ist zweierlei bemerkenswert: Wie Frauenmörder ihre Taten begründen. Und dass es Aktivitäten im Internet gibt, die Gewalt gegen Frauen – inklusive Mord – propagieren und wie sie von ihren Anhängern verherrlicht werden.
Mord an Frauen aufgrund ihres Geschlechts wird »Femizid« genannt. »Die Zahlen sind schockierend«, so die damalige Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD): Im Jahr 2019 wurde statistisch betrachtet alle 45 Minuten eine Frau durch ihren Partner verletzt oder angegriffen, an fast jedem dritten Tag sei eine Frau durch die Tat ihres Partners oder Ex-Partners gestorben.14 Im Jahr 2018 mindestens 122.
Gegenwärtig gibt es im Internet unter change.org eine Initiative von Frau Prof. Dr. Kristina Wolf, die sich für die Umsetzung der Istanbul-Konvention durch die Bundeskanzlerin einsetzt und die in 2021 in Deutschland ermordeten Frauen auflistet: »1. MAI 2021 – In Deutschland haben (*) 63 Mädchen und Frauen die männlichen Gewaltexzesse mit ihrem Leben bezahlen müssen, drei weitere Frauen wurden von Männern totgerast und eine Frau wurde von einem deutschen Staatsbürger in der Schweiz umgebracht. DER 1. MAI 2021 IN ÖSTERREICH – Nach dem 9. #Femizid in Wien wird ein Sicherheitsgipfel anberaumt. DER 1. MAI 2021 IN DEUTSCHLAND – Selbst nach dem 67. #Femizid in Hamburg: NICHTS. Frau Giffey macht Wahlkampf, Frau Lambrecht duckt sich weg, Herr Spahn tut, als ginge ihn das alles nichts an, und Herr Seehofer ignoriert das innenpolitische Sicherheitsrisiko Misogynie komplett.«15
Zwei Journalisten der ZEIT haben versucht, die Einzelfälle im Jahr 2019 zu recherchieren. Ihr Text ist wegen der Mischung aus äußerster Brutalität der Taten und äußerster Banalität der Begründungen schwer zu lesen. »Sindelfingen: Er, ein Physiklehrer, lauert ihr auf einem Parkplatz auf, zieht sich eine Faschingsperücke über und sticht, mitten am Tag, vor den Augen zahlreicher Passanten mit einem 20 Zentimeter langen Messer minutenlang auf seine von ihm getrennt lebende Ehefrau ein. Lässt erst von ihr ab, als ein herbeigerufener Polizist mit einer Maschinenpistole im Anschlag ruft: Messer weg. Er sah nicht ein, ihr den Unterhalt zahlen zu müssen, den ein Gericht ihr zugesprochen hatte. ›Die Tat war geboten‹, sagt er vor Gericht. ›Das natürliche Recht ist auf meiner Seite‹. Sie wurde 57 Jahre alt und hinterlässt zwei Söhne.«16
Was fällt mir ein?
Das Physikstudium ist anspruchsvoll. Der Physiklehrer muss also intelligent sein. Trotzdem sagt er: »Das natürliche Recht ist auf meiner Seite.« Offenbar leben auch intelligente Männer in ihrem Privatkosmos, in dem nur sie wichtig sind und wo ausschließlich ihr privates Recht gilt, das Gewalt rechtfertigt. Dieser Mann ignoriert trotz seiner Intelligenz, dass Mord, hier wäre es wohl heimtückischer Mord, in dieser Gesellschaft sanktioniert wird. In ähnlicher Weise sind gewalttätige Rechte oder Linke, Incels und andere misogyne Männer17 von ihrem absoluten Recht, Frauen zu unterwerfen, zu quälen und zu töten, überzeugt. Eigentlich sind sie ja sicher, dass Frauen keine Rechte haben.
Weiter zählen die Autorinnen des ZEIT-Artikels als 21. Fall ihrer Recherche auf: »Amberg (Bayern): Sie erlitt zwei Hirninfarkte und wurde zum Pflegefall. Er kümmert sich um sie und den Haushalt. Man habe die Frau manchmal am Stock beim Spaziergang gesehen, sagen die Nachbarn. Und: Die Wohnung sei immer picobello gewesen. Doch er trinkt jeden Abend ein Sixpack Bier. Eines Nachts setzt er sich rittlings auf seine Frau, während sie schläft, und erwürgt sie. Er habe entschieden, dass ›für meine Frau […] jeder Sinn des Lebens verloren gegangen‹ sei, erklärt er vor Gericht.«
Eine Assoziation:
Während des Nationalsozialismus war Valentin Faltlhauser Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren. Er lebte eine krasse Diskrepanz: Obwohl er als »Reformpsychiater« galt, weil er glaubhaft versuchte, Erleichterungen in dem damals unvorstellbar schweren Leben psychiatrischer Anstaltspatienten durchzusetzen, bereitete er die »Kinder-Euthanasie« vor und war Gutachter der sogenannten Aktion T4, in deren Rahmen Menschen mit seelischen, körperlichen und geistigen Krankheiten und Behinderungen getötet wurden, insgesamt ungefähr 70 000. Unter seiner Leitung wurden zunächst über 600 Patienten in Gaskammern spezieller Tötungsanstalten ermordet, danach ließ er durch Injektionen mit dem Barbiturat Luminal oder Morphin-Scopolamin ca. 1600 Patienten, darunter über 200 Kinder, töten. Schließlich erfand er eine fettfreie »Sonderkost«, mit der man nicht mehr arbeitsfähige Patienten verhungern ließ. Weil sich Menschen ab Unterschreiten eines gewissen Gewichts nicht mehr erholen, starben viele dieser Patienten noch nach Ende des Krieges, also als sie eigentlich in Sicherheit waren. Valentin Faltlhauser wurde 1949 wegen Anstiftung zur Beihilfe zum Totschlag (!) zu einer Haftstrafe von drei Jahren (!) verurteilt, trat die Strafe aber aus Gesundheitsgründen nicht an und wurde 1954 begnadigt (!).
An dieser Geschichte fällt mir als Psychiater so einiges auf, nicht zuletzt das absurd niedrige Strafmaß angesichts der großen Zahl der unter seiner Leitung umgebrachten seelisch kranken und behinderten Menschen. Auch nach dem Ende der Nazis ging die Wertschätzung für die Menschen mit »unwertem« Leben nicht sprunghaft in die Höhe. Die Verbindung zu dem oben geschilderten Frauenmord ergibt sich aus Faltlhausers eigener Erklärung: »Mein Handeln geschah jedenfalls nicht in der Absicht eines Verbrechens, sondern im Gegenteil von dem Bewusstsein durchdrungen, barmherzig gegen die unglücklichen Geschöpfe zu handeln, in der Absicht, sie von einem Leiden zu befreien, für das es mit den heute bekannten Mitteln keine Rettung gibt, also als wahrhaft und gewissenhafter Arzt zu handeln.«18
Offenbar fand er damit ja auch Gehör. So hat es eine lange, düstere Tradition, wenn Männer glauben, über den Lebenssinn anderer entscheiden zu können. Wie die »unglücklichen Geschöpfe« es erleben, wenn sie erstickt, vergast, vergiftet oder verhungert werden, ist für auf diese Art mitfühlende Männer anscheinend irrelevant gewesen.19
Das Erleben der eigenen Sexualität kann eine wunderbare Erfahrung sein, ein Höhepunkt des Lebens! Eine völlig unerwartete Lebendigkeit, ganz unmittelbarer Kontakt zu Körper und Seele! All das zusammen mit dieser anderen Person, die ich begehre und die mich begehrt, was mich ganz besonders heiß macht, ein Einklang der Lust!
Schön. Viele Menschen kennen nichts Schöneres. Viele. Und weil es so toll ist, muss es unbedingt möglichst oft passieren und immer in gleicher Weise. Im Überschwang dieser am besten immer gleich reproduzierbaren Lust vergessen wir einiges: Auch wenn Sie so empfinden, müssen nicht alle so empfinden. Es gibt sogar Menschen, die ganz ohne Sex leben und völlig normal sind.
Der nächste Punkt ist vielleicht für Männer am schwersten zu begreifen: Selbst wenn viele Menschen Sex toll finden, findet jede und jeder Einzelne etwas anderes toll: Sie will dabei reden, er schweigen oder umgekehrt. Dirty talk turnt an oder ab. Sie will in einer bestimmten Weise gestreichelt werden, an bestimmten Stellen, aber nirgendwo anders, er will das gar nicht oder vielleicht ganz genauso. Der uralte Witz: mit Vorspiel, ohne Vorspiel. Wer ist oben, wer unten. Submissiv, dominant. Oral. Und so weiter. Jede und jeder mag es anders.
Warum ist es so kompliziert? Sexualität ist so umfassend individuell, dass man besser gleich von »Sexualitäten« spricht. Sex ist divers, so wie wir Menschen divers sind. Das ist unsere größte Gemeinsamkeit. Was Menschen sexuell gut finden, was sie erfüllt, befriedigt, lässt sich nicht normieren, es ist eine höchst individuelle Angelegenheit20 und natürlich ist es legitim, nicht nur beim Sex auf dieser Individualität zu bestehen.
Sie wollen das nicht glauben? Sie denken, weil etwas für Sie so spitzenmäßig toll ist, muss es doch auch für das Objekt Ihrer Begierde, Ihre Partnerin, Ihren Partner genauso sein? Der Funke, der ein so überwältigendes Feuerwerk zündet, muss doch überspringen?
Muss er nicht. Genau genommen springt er ziemlich selten über, und oft springt er am besten, wenn sich zwei gut kennen und sich trotzdem noch aufregend finden. Weswegen der hoch bewertete one-night-stand oft eine Enttäuschung ist. Das gilt leider auch für den Sex mit dem festen Partner, wenn die beiden nicht mehr neugierig sind, keine Lust mehr aufeinander haben.
Um es noch unübersichtlicher zu machen: Es kann sein, dass Sie heute mit dieser einen Partnerin zum absoluten Höhepunkt Ihres bisherigen Lebens kommen, und morgen – tja. Höhepunkte lassen sich nicht reproduzieren. Weil Sie aber die Erwartung haben, den Anspruch, heute müsse wie gestern sein, sind Sie enttäuscht, zweifeln an der Beziehung. Unsinn. Das Leben ist so. Es liegt weder an ihr noch an Ihnen, sondern erfreulicherweise lassen sich die wirklich wichtigen Dinge des Lebens nicht kontrollieren. Und nur weil wir Ansprüche haben, lassen sie sich schon lange nicht in den Griff kriegen. Es ist und bleibt komplex. Wie können Sie bei dieser ganzen Komplexität überhaupt zu einer erfüllenden Sexualität kommen? Indem Sie sie akzeptieren und dann vergessen.
Denn dass zwei Menschen aufeinandertreffen, Zuneigung entwickeln, immer mehr und vielleicht schließlich gemeinsam zu einer erfüllenden Sexualität kommen, das passiert zum Glück auch, ohne dass sie darüber nachdenken. Dieses »gemeinsam zu etwas zu kommen« ist ein Merkmal von uns Menschen. Der amerikanische Anthropologe Michael Tomasello hat gezeigt, dass schon zwei- bis dreijährige Menschen mit dem Ziel von Kooperation kommunizieren, und nennt dies »kommunikative Kooperation«.21 Eine Begabung nur von Menschen, die sich lange vorher zeigt, ehe wir überhaupt anfangen, an Sex zu denken.
Doch sie hört erfreulicherweise in diesem Alter nicht auf! Im Gegenteil. Wenn sich diese Fähigkeit aus Anlage und konkreten Erfahrungen unbehindert entfalten kann, wird sie im Lauf der Jahre zum Erfolgsmodell. Und eines Tages, während oder nach der Pubertät – auch hier ist alles divers –, entdecken zwei Menschen, homo-, hetero- oder irgendwie anders sexuell, dass ihre Fähigkeit, kooperativ zu kommunizieren, auch Liebe und Sex wunderbar bereichern kann. Die »kooperative Kommunikation« ist nicht nur etwas für Handwerksberufe! Dort hilft sie auch, aber beim Sex ist der Anreiz viel höher. Wenn etwas so vielfältig ist, erhöht es meine Chance auf Befriedigung beträchtlich, weil es mir hilft, herauszufinden, wie es die oder der andere gerne hätte, und klarzumachen, wie das bei mir so ist. So können Sie Vielfalt leben.
Nur eine Regel: kein Zwang, keine Gewalt. Vergewaltigung ist kein Sex, die Lust auf Macht bemächtigt sich einiger sehr reduzierter Aspekte der Sexualität, um die andere Person zu demütigen. Gewalt macht alles kaputt, auch die Sexualität, auch die Begabung der Menschen, etwas lieber zusammen als allein zu machen. Gewalt in jeder Form, seelische, körperliche. »Der typische Täter zeichnet sich nicht durch eine erhöhte sexuelle Potenz aus, sondern er ist so sozialisiert, dass es ihm etwas gibt, Frauen gegenüber […] brutale Macht zu inszenieren, sie in Panik zu versetzen, sie lustvoll zu beherrschen und zu erniedrigen […] er ist zudem in seiner Familie und seinem soziokulturellen Selbstverständnis von dominanter Männlichkeit geprägt, die Gewalt zur Durchsetzung von sexuellen Wünschen beinhaltet.«22 Aber gibt es nicht Menschen, die es gerne etwas härter oder submissiver mögen? Gibt es. Doch bei kaum etwas anderem sind so genaue Absprachen üblich wie bei Menschen, die auf Sadomaso stehen.
Wie funktioniert Sexualität, wenn man keinen Zugang zu den eigenen Gefühlen hat? Schlecht.
Wer in seiner Gefühlsentwicklung gestört oder – oft durch Erziehung – blockiert wurde, keinen oder nur einen gestörten Zugang zur eigenen Emotionalität hat, wird befriedigende Sexualität vermutlich nur in sehr reduzierter Form erleben. Bedenken Sie das, wenn Sie Ihre Kinder erziehen. Nicht zum Sex, das wissen die längst, sondern zur emotionalen Härte. Mit all ihren Folgen.
Befriedigend sind die Gefühle und nicht irgendwelche Muskelzuckungen. Sie sollten sich selbst und Ihre Emotionalität erfahren können beim Sex. Und nicht nur sich, sondern auch noch die andere Person. Etwas fühlen, spüren, und das wechselseitig. Merken, wie sich Ihr Gefühl verändert, wenn Sie das Gefühl der oder des anderen mitkriegen. Gefühle kommen lassen, gehen lassen, zulassen, dass sie durch andere ersetzt werden, immer mehr werden.
Wenn Sie nichts spüren, fühlen, merken können, geht das nicht: »I can’t get no satisfaction.« Kennen Sie vielleicht noch. Weltberühmter Stones-Song. Diese paar Worte bringen das Dilemma patriarchalischer Männer auf den Punkt: Wer in der Pubertät oder drum herum gezwungen wurde, seine Gefühle abzuschalten und hart zu sich selber zu sein, wird immer Probleme haben, erfüllende Sexualität zu erleben. Und leider sind das viel zu viele.
Aber das darf doch nicht sein! Das will dieser Mann natürlich nicht hinnehmen. Es muss doch funktionieren! Patriarchalisch geschädigte Männer glauben irgendwie, dass Sexualität eine fest verdrahtete Angelegenheit wäre, die auch ohne Seele funktioniert. Und die ihnen zusteht. Deswegen probieren sie es wieder und wieder. Mithilfe moderner Informationstechnologie – zum Beispiel Tinder: Ein Bekannter sang auf einer Party das Hohelied auf Tinder. An einem Tag habe er vier Frauen »durchprobiert«. Ich sagte ihm nicht, dass ich das nicht glaube, sondern fragte nur, wie es gewesen sei. Die Frage fand er unangemessen, er dachte, die Menge spräche für sich.
Sex wird so leider oft zum Schlachtfeld zwischen männlicher und weiblicher Macht, wo ständig wieder die Frage geklärt wird, wer die Kontrolle hat. Und dann ist da auch noch diese peinliche Geschichte mit dem Penis, der dem Machtwillen allzu oft nicht gehorcht. Da das nicht sein darf, muss es an der Frau liegen, die auch noch meine Erektion kontrolliert – welch Höhepunkt der Erniedrigung!
Wenn man wie ich beruflich mit gestörten Gefühlen zu tun hat, liegt einem der Gedanke nicht so fern, Patriarchy as illness of disordered desire, als »Krankheit der gestörten Sehnsucht«23, zu bezeichnen. Warum erkennen auch und gerade die schlauen Köpfe in unserer Gesellschaft das Krankhafte an diesem alles durchsetzenden Männlichkeitswahn nicht? Das Problem bei der Definition einer seelischen Störung ist die Normalität. Konkret: Aus Sicht einer Psychologie des Normalen wäre es einfach, den männlichen Umgang mit Gefühlen, die Negation der Sensibilität und Verletzlichkeit als nicht mehr normal, dysfunktional, also pathologisch zu definieren. Aber wenn die Mehrheit, die Gruppe mit der größeren Zahl, sich so verhält, reklamiert sie Normalität für sich, ungeachtet aller Nachteile, die sie dafür erleiden muss. Und weil so viele Männer zur Härte gegen sich selbst erzogen wurden, halten sie etwas durch und durch Pathologisches für Normalität.
Noch ein Versuch: Wäre es nicht Zeit für eine männliche Initiative gegen unsägliches Männerverhalten? Nicht, um etwas Tolles, Staunenswertes zu tun, nicht für die Frauen so à la weißer Ritter, der die Jungfrau vor dem Drachen rettet! Der fiese, schleimige, hinterhältige, geile Drachen sind wir leider selbst. Sondern weil es besser für unsere Seele wäre. Wir hätten ja auch noch mehr zu gewinnen: Sich zu schämen ist ein erster Schritt, um Zugang zu bekommen zu unseren Gefühlen, zu unserer Sensibilität. Wir könnten uns öffnen für andere und lernen, dass Diversität Reichtum bedeutet.
2 Alex Ross: Die Welt nach Wagner. New York 2020. S. 374
3 Der Leiter dieser Einsatzgruppe war der bereits erwähnte Otto Ohlendorf, der in einem der Nürnberger Prozesse wegen der Ermordung von 90 000 Menschen zum Tod verurteilt und erhängt wurde. Seine Hinrichtung verzögerte sich, weil hohe, vor allem evangelische Geistliche dagegen intervenierten.
4 Alex Ross, a. a. O.
5 Dr. Elisabeth Nolde: Interview mit Prof. Dr. Harald Freyberger: »Jeder 12. Therapeut wird übergriffig.« Medical-Tribune.de 01.08.2016
6 MHG-Forschungsprojekt »Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz.« Mannheim, Heidelberg, Giessen 24.09.2018
7 Clara Porak: »Nein.« SZ-Magazin Nr. 1, 08.01.2021, S. 17
8 Ebd.
9 Chimanda Ngozi Adiche: We should all be Feminists. London 2014
10 Christian Pfeiffer: Gegen die Gewalt. München 2019
11 Ebd.
12 Ebd.
13 Ebd.
14 Corinna Emundts: Gewalt in Beziehungen »Die Zahlen sind schockierend«. tagesschau.de 10.11.2020
15 Prof. Dr. Kristina Wolf: »67 deutsche Femizide. Wir wollen einen Sicherheitsgipfel.« Change.org. am 04.05.2021
16 Elisabeth Raether/Michael Schlegel: »Von ihren Männern getötet.« zeitonline, 04.12.2019 und DIE ZEIT Nr. 51/2019, 05.12.2019
17 Susanne Kaiser, a. a. O.
19 Einen Überblick über das Wirken von Valentin Faltlhauser als Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren bieten: Michael von Cranach, Hans-Ludwig Siemen (Hrsg.): Psychiatrie im Nationalsozialismus – Die Bayerischen Heil- und Pflegeanstalten zwischen 1933 und 1945, München 1999; Ernst T. Mader: Das erzwungene Sterben von Patienten der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee zwischen 1940 und 1945 nach Dokumenten und Berichten von Augenzeugen, in Heimatkunde, Blöcktach 1982
20 Volkmar Sigusch: Sexualitäten. Frankfurt a. Main, 2013
21 Michael Tomasello: Warum wir kooperieren. Berlin 2017
22 Christian Pfeiffer, a. a. O.
23 Bell Hooks: The will to change. New York 2004