Kaum jemand spricht aus, dass Kriege Männerangelegenheiten sind. Wieder eine Selbstverständlichkeit, von der man sich als vermeintlich Unbeteiligter leicht distanzieren kann. In der aufgeschriebenen Geschichte sind wir Männer das wesentliche, oft das einzige Element. The shortest history of Germany1 führt in 2518 Jahren deutscher Geschichte mit dem Fluss Elbe, der weiblich personifiziert wird, mit der den meisten wahrscheinlich unbekannte Markgräfin Mathilde von Tuszien (Besitzerin der Burg Canossa, auf der Heinrich IV. angeblich drei Tage kniete, bevor er von Papst Gregor VII. empfangen wurde) und mit Rosa Luxemburg ganze drei weibliche Personen auf (wovon eine noch ein Fluss ist!).
Obwohl Frauen ungefähr die Hälfte der Menschheit ausmachen, spielen sie in der Geschichtsschreibung keine aktive Rolle, sondern die der Leidtragenden. Obwohl Menschen in der Weltgeschichte in enormen Mengen verbraucht werden, ist nicht einmal deren Produktion durch Frauen als Beitrag zur Geschichte erwähnenswert.
Eine kleine, ziemlich willkürliche Auswahl von kriegerischen Aspekten der Weltgeschichte:
Julius Caesar war nicht nur ein großer Gestalter von Weltgeschichte – für ihn und viele seiner Zeitgenossen war das Römische Reich die Welt –, sondern auch wertender Beschreiber seiner eigenen Taten: in De bello gallico2 beschreibt er unter anderem, dass er in der Auseinandersetzung mit den Germanen im Jahr 55 vor Christus 430 000 dieser grimmigen Feinde töten oder in den Tod treiben ließ. Damals war das eine enorme Zahl, zu deren Rechtfertigung er wohl jenes Büchlein schrieb.3
Ein großer Zeitsprung: Gustav Adolf von Schweden, Kaiser Ferdinand, Kurfürst Maximilian I., Martin Luther, verschiedene Päpste und die Feldherren Wallenstein und Tilly sind nur einige der herausragenden Persönlichkeiten, die mit ihren emotionalen und existenziellen Problemen die historische und belletristische Darstellung des Dreißigjährigen Krieges prägen. Über diesen Krieg ist vieles geschrieben worden, doch die Tatsache, dass es drei bis neun Millionen Opfer gab, wird nirgendwo beklagt oder gewürdigt.4 Sie haben vollkommen recht: Diese Angabe ist in fast schon grotesker Weise ungenau. Doch ist das ein Phänomen, das uns auf dem Weg in die Neuzeit ständig begegnen wird.
Ein weiterer Sprung: Erzherzog Ferdinand, Kaiser Franz-Joseph, Zar Nikolaus II., Kaiser Wilhelm II., Großadmiral Alfred von Tirpitz und Generalstabschef Helmuth von Moltke waren einige der bedeutenden Männer, die den sogenannten Ersten Weltkrieg zu verantworten hatten. Das Entsetzen dieses Krieges beschreibt selbst der konservative und mit dem höchsten Orden Preußens geehrte Ernst Jünger so nüchtern und anschaulich, dass man es fast nicht aushält.5 Noch nüchterner sind die Zahlen: 10 Millionen in vier Jahren gefallene Soldaten, 9,7 Millionen Tote unter der Zivilbevölkerung.
Trotzdem wissen heute die meisten über diesen Krieg nichts mehr, was sicher zum Teil erklärt, warum überraschend viele die Idee vom Nationalen derzeit wieder für eine Chance halten. Dass es keine ist, hat dieser Erste Weltkrieg unzweifelhaft und, man sollte meinen, ein für alle Mal klargemacht: Es war ein Krieg, in dem alle beteiligten Länder, an der Spitze Deutschland, nationale Ideale bis zum bitteren Ende durchexerziert haben.6 Die Deutschen hatten einen erheblichen Anteil daran: Unter »allerhöchster« Führung – Kaiser Wilhelm II., Großadmiral Alfred von Tirpitz und Generalstabschef Helmuth von Moltke7 – beging der noble deutsch-kaiserliche Generalstab sofort am Anfang ein Kriegsverbrechen, indem er ohne jede Hemmung ins neutrale Belgien einmarschieren ließ. Doch die so generierte Westfront kam sehr schnell ins Stocken. Millionen »Gefallene« – ein seltsam verharmlosender Ausdruck angesichts furchtbarer Kämpfe, in denen Menschen, Land und Vegetation in Nordfrankreich und Belgien buchstäblich zerfetzt wurden – änderten nichts daran, dass sich die jeweils kriegsführenden Männer auch seelisch »eingegraben« hatten, was die Zahl der Gefallenen und Verwundeten mit jedem Tag entsetzlicher machte. Trotz unfassbarer Verluste an Menschen und Material wollte keine der kriegsführenden Parteien nachgeben und das Elend beenden. Zum Kriegsende wurde es nicht besser: Hochwohlgeborene, adelige Militärmänner wie Hindenburg und Ludendorff opferten jeden Rest von Ehrgefühl auf dem Altar ihres Egoismus und leugneten selbstverständlich ihre Verantwortung. Am Beispiel der »Dolchstoßlegende«, einem frühen Beispiel von fake news, lässt sich das im Detail studieren.8 Und damit war der nächste Krieg schon vorbereitet.
Der Zweite Weltkrieg war der bisher letzte Krieg, der von Deutschland ausging. Konkret von Adolf Hitler. Dieser Führer der Nationalsozialisten stand für eine ganz besondere Version von Männlichkeit: die Braunhemden der SA, die schwarze Waffen-SS und Himmlers Geheime Staatspolizei – alles Männer. Die den Krieg und vor allem die begangenen Gräueltaten begründende Rassentheorie wurde von Männern formuliert und durch Männer umgesetzt. In Hitlers Führungsriege finden Sie auch bei genauem Hinsehen keine einzige Frau – die Damen Eva Braun, Emmi Göring und Magda Goebbels waren Staffage. Obwohl es durchaus auch weibliche Fans in großer Menge gab. Hitler wurde schließlich von fast ebenso vielen Frauen wie Männern gewählt.9
Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus muss eigentlich jeden, der keine umfänglichen Verdrängungsmechanismen mobilisiert, in die ultimative Sprachlosigkeit führen. Der »Führer« und seine Spießgesellen schufen das exzessivste Desaster, das männliche Macht bisher angerichtet hat: Am Ende des Krieges waren 13 000 000 russische Soldaten, 407 000 Amerikaner, 5 170 000 deutsche Soldaten, 14 000 000 Zivilisten, Frauen, Kinder, Männer, im Krieg getötet worden. Dazu 6 000 000 Juden, 2900 Sinti und Roma, 200 000 psychisch und körperlich Kranke und last, not least 6000 Deutsche, die im Rahmen des Sterilisationsprogramms wegen angeblicher Erbkrankheiten – insgesamt 400 000 Männer und Frauen wurden zwangssterilisiert10 – durch stümperhaftes medizinisches Vorgehen quasi »aus Versehen« getötet wurden.
Was dieser Krieg in aller Deutlichkeit zeigt, hat der heute uralte Chefankläger im Einsatzgruppenprozess der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse Benjamin Ferencz 2018 auf den Punkt gebracht: »Der Krieg ist das Schlimmste, was Menschen tun können […] Als wir nach Buchenwald kamen oder nach Mauthausen, ganz gleich: Menschen, die im Müll nach etwas Essbarem suchten […] Dann der beißende Geruch von verbranntem Fleisch. Ich werde nie vergessen, wie KZ-Insassen einen deutschen Wärter verfolgten und ihn dann lebend verbrannten […] (weinend). Noch immer sind diese Szenen in meinem Kopf. Da wurde ein Mensch geröstet, er wurde gekocht. Ich habe es nicht stoppen können. Der Krieg ist das Schlimmste, was Menschen tun können […] Wir könnten die Welt verändern, wenn die Kriege enden würden. Aber wir dehnen sie aus und führen heute Cyberkriege. Menschen, die ohne Krieg ein anständiges Leben führen würden, werden im Krieg zu Kriminellen. Der Krieg vereinigt alle Verbrechen.«11
Im Krieg werden menschliche Verhaltensweisen freigesetzt, die sonst keine Existenzberechtigung zu haben scheinen, die »Anständige zu Kriminellen« machen, wobei die meisten Kriminellen sich für diesen Vergleich wohl bedanken würden. Ferencz räumt mit der Illusion auf, es gäbe so etwas wie einen »sauberen« Krieg. Den Beweis, dass er recht hat, haben dann ausgerechnet auch die Amerikaner geliefert, die »Befreier« von den Nazis, die das Kriegselend, das Elend der KZs so dicht vor Augen hatten: in Vietnam, in Kambodscha und später im Irak. Niemand, kein Mann, der in den Krieg zieht, wird mit sauberen Händen zurückkommen.
Der Sprung zu Stalin ist nicht groß; er war aus schieren Überlebensgründen zu einem der erbittertsten Gegner Hitlers geworden, nachdem er zunächst noch mit ihm paktieren wollte. Über dem durch Deutsche in Russland verursachten Leid wird manchmal übersehen, dass Stalin selbst, der gesagt haben soll, ein einzelner Tod sei eine Tragödie, eine Million Tote seien eine Statistik, dieser Art von Statistik eine ganz eigene Qualität gab: Zwischen 7 und 22 Millionen Menschen starben unter seiner Herrschaft, über 4 Millionen allein in der Zeit des großen Terrors zwischen 1936 und 1938. Stalins Gefolgsleute hatten keine Skrupel, Gewalt einzusetzen, denn ihr Herrscher machte ihnen vor, wie eng der Bezug zwischen emotionalen und körperlichen Aspekten von Gewalt und männlicher Machtfülle ist: »Das größte Vergnügen ist es, den Feind auszumachen, Vorbereitungen zu treffen, richtig Rache zu nehmen und dann ins Bett zu gehen.«12
Stalin stirbt, mit Chruschtschow kommt das »Tauwetter«, später die Breschnew-Doktrin, irgendwann Gorbatschows Perestroika. Russische Männer. Da war sie, die Hoffnung auf das Ende des Kapitels der großen Menschheitskriege. Wie Stalin selbst schien auch der von ihm geschaffene Terror tot.
Bis Putin sich entschlossen hat, Baschar al-Assad zu unterstützen. Russische Jets decken Assad den Rücken, wodurch dieser in »seinem« Land jede Opposition morden kann, vor allem die Frauen und Kinder der Opponenten. Bei den russischen und syrischen Luftangriffen werden immer wieder auch Krankenhäuser und andere lebenswichtige Infrastrukturen getroffen. Kritiker werfen den Verbündeten vor, diese gezielt ins Visier zu nehmen. Die Opferlage in Syrien ist komplex:13 Von 2011 bis 2020 sollen mehr als 380 000 Menschen getötet worden sein14, darunter seien 115 000 Zivilisten gewesen, davon rund 22 000 Kinder. Unter den Toten seien mehr als 128 000 syrische und nicht syrische Kämpfer, die Assad unterstützten. Auch 69 000 Oppositionskämpfer, Islamisten und kurdisch geführte Kämpfer seien getötet worden. Die Zahl der Toten berücksichtigt nicht die rund 88 000 Menschen, die in syrischen Gefängnissen zu Tode gefoltert wurden. Auch Tausende Vermisste, die von verschiedenen Konfliktparteien verschleppt worden sein sollen, sind nicht berücksichtigt. Wegen des Bürgerkriegs wurden rund 13 Millionen Syrer in die Flucht getrieben, ein Thema, das Deutschland noch Jahrzehnte beschäftigen wird.
Mindestens 350 000 Tote auf der Seite von Assads – und damit Putins Gegnern: Im Vergleich zu Stalins Zahlen ist das nicht viel. Und doch, bezogen auf die Kriterien von Mord oder in diesem Fall wohl der Beihilfe dazu sind es unglaublich viele Menschen.
Die Lichtgestalt John F. Kennedy, Lyndon B. Johnson, Richard Nixon und last, not least Henry Kissinger sind einige der Protagonisten, die den Vietnamkrieg auf westlicher Seite zu verantworten haben, Ho Chi Minh war das Idol der Nordvietnamesen. Hier versage ich mir die Erwähnung der Millionen Toten, rutsche einige Stufen auf der Militärhierarchie nach unten und komme zu William Calley.
Wissen Sie noch: My Lai? Wenn Sie zu denen gehören, die gegen den Vietnamkrieg protestiert haben, werden Sie My Lai nicht vergessen können. Dabei sollte niemand davon wissen: Die US-Streitkräfte vertuschten dieses Massaker, und nicht nur die Streitkräfte, sämtliche US-amerikanische Medien lehnten Veröffentlichungen dazu über ein Jahr lang ab. Bis Seymour Hersh 1970 dann doch den Pulitzer-Preis bekam. Was berichtete er?15
Am 16. März 1968 wurden 504 vietnamesische Dorfbewohner, Frauen, Kinder, Alte, von einer Gruppe amerikanischer Soldaten ermordet. Vorher wurden Frauen vergewaltigt. Nur ein amerikanischer Hubschrauberpilot, Hugh Thompson, rettete 11 Frauen und Kinder, nachdem er Soldaten seines eigenen Landes durch seine Bordschützen hatte bedrohen lassen.
William Calley, der verantwortliche militärische Vorgesetzte, wurde von einem Militärgericht am 31. März 1971 zu lebenslanger Haft verurteilt. Am nächsten Tag (!) wandelte der amtierende Präsident Richard Nixon die Strafe in Hausarrest um, drei Jahre später begnadigte er ihn.
Erinnert Sie das an irgendetwas? Faltlhauser, der während der NS-Zeit die Ermordung Tausender psychisch Kranker auf dem Gewissen hatte, wurde wegen Anstiftung zur Beihilfe zum Totschlag zu drei Jahren (!) verurteilt, trat die Strafe aber aus Gesundheitsgründen nicht an und wurde 1954 begnadigt (!). Die Begnadigung männlicher Massenmörder durch männliche Staatsführer ist international. Wenn wir davon erfahren, irritiert uns das. Leider haben wir uns angewöhnt, diese Irritation dadurch zu beenden, dass wir den Vorgang vergessen. Ich komme darauf zurück.
Das war eine willkürliche Auswahl. Es gäbe noch viel, viel mehr Kriegstote, noch viel mehr Tote von staatlichem Terror, die Millionen Opfer von Mao Zedongs »Großem Sprung nach vorn«, von Pol Pots Rotem-Khmer-Terror.
Doch vielleicht sollten wir noch kurz den Kolonialismus erwähnen:
Der Ost-Historiker und Gewaltforscher Jörg Baberowski beschreibt, was sich fern der Heimat tat: »Außerhalb Europas konnten Europäer ohnehin tun, was auf dem alten Kontinent nicht mehr möglich war. Kein General wäre auf den Gedanken gekommen, auch in Afrika müssten Zivilisten geschützt und Kriegsgefangene nach den Regeln der Haager Landkriegsordnung behandelt werden […] In den asymmetrischen Kolonialkriegen gab es für die Unterlegenen kein Pardon, weil sie nicht als gleichwertige Kombattanten anerkannt wurden […] Solche Verachtung aber konnten sich die weißen Herren nur leisten, weil sie nicht mit Vergeltung rechnen mussten […] Keine demokratische Zurichtung und keine zivilisatorische Abrichtung haben die Eliten der europäischen Nationalstaaten daran gehindert, den Tod in Räume zu bringen, die sie nicht für zivilisiert hielten […] Zivilisierte Männer töteten, vergewaltigten und plünderten.«16
Im Kongo plünderten und töteten die Belgier. Ein prominentes Opfer war Patrice Lumumba, ermordet 1961, als die Kolonialmacht Belgien eigentlich schon abgezogen war. Er hatte eine berühmte Rede gehalten.17 »Patrice Lumumba sitzt auf seinem Stuhl, ein Stapel Papiere auf dem Schoss. Er macht wie rasend Notizen. Wenige Meter neben ihm spricht der junge belgische König Baudouin I. Dessen Vorgänger Léopold II., der auch als Schlächter des Kongo gilt, habe dem Land die Zivilisation geschenkt. ›Kongos Unabhängigkeit stellt die Krönung des Werkes dar, das Leopolds Genie ersann‹, sagt Baudouin. Diese Äußerung ist selbst bei einem Festakt grotesk. Denn Leopold II., der sich den Kongo als sein Eigentum überschreiben ließ, war ein menschenmordendes Monster, das die abgeschlagenen Hände der schwarzen Bevölkerung in Körben sammeln ließ. Für Lumumba, den ersten Ministerpräsidenten des Kongo, klingt das wie Hohn. Man hat uns mit Ironie behandelt, Herablassung, Beleidigung, Schlägen […] Wer wird die Erschießungen vergessen, die Kerker, in denen jene schmachteten, die sich der Ausbeutung nicht unterwerfen wollten?«18
Lumumbas Einspruch, der im Radio übertragen wird, ist eine der berühmtesten Reden des 20. Jahrhunderts. Aus belgischer Sicht ist sie unerhört. Sechs Monate später wird Lumumba ermordet. Der amerikanische Präsident Dwight Eisenhower soll höchstpersönlich angeordnet haben, Lumumba zu beseitigen.
Lumumbas Ende war der Beginn seines Mythos. Jean-Paul Sartre schrieb über ihn: »Seit Lumumba tot ist, hört er auf, eine Person zu sein. Er wird zu ganz Afrika.«19 Auch Sartre war kein Prophet: Wenn Sie heute Lumumba googeln, springt Ihnen ein auf Schokolade und Rum basierender Cocktail ins Auge.
Afrikanische Kolonien hatten auch die Deutschen. Die entsprechenden Geschichten waren längere Zeit nicht im Bewusstsein, weil sie mit dem Ende des Ersten Weltkriegs aus der Erinnerung verbannt wurden.20 Deutsch-Ostafrika und Carl Peters, Deutsch-Südwest und Trotha oder Lettow-Vorbeck – die unsäglichen Verbrechen des deutschen Kolonialismus waren untrennbar mit deutschen Männergestalten verbunden. Mit den Folgen ihres Wirkens muss sich der derzeit heutige Bundespräsident Steinmeier bei seinem Besuch in Namibia auseinandersetzen.21
Im 21. Jahrhundert sehen wir, wie groß die Illusion war, das Zeitalter der Kriege, der Unterdrückung, des Genozids sei vorbei. So viele hatten geglaubt, endlich sei nach dem Jahrhundert der großen Kriege und Massenvernichtung von unvorstellbar vielen Menschen die Zeit gekommen, dass wir alle, ungeachtet von Geschlecht, Hautfarbe oder Kultur, ohne Angst leben könnten – egal wo auf der Erde. Dass Geld in Lebensqualität anstatt in Rüstung gesteckt würde, dass Grenzen nicht mehr benötigt würden. Es gibt viele politische Analysen, wie die Chance auf den Weltfrieden vertan werden konnte, sicher spielen ökonomische Gründe eine zentrale Rolle. Doch mir geht es um einen anderen Mechanismus, den ich hier anreißen und im Kapitel Exkurs Trauma: Wie sieht das Elend aus? (siehe S. 172) ausführlich aufnehmen werde: Menschen einer Generation, die mit Krieg, mit unvorstellbarem Terror konfrontiert waren und ihn zwar überlebt haben, aber die Auslöschung ihrer Familien, ihrer Dorfgemeinschaften, ja ganzer Städte miterleben mussten, funktionieren nicht einfach in einer anderen Modalität weiter, bloß weil eben irgendwann Frieden ist. Sie sind vielmehr in ihren kognitiven und emotionalen Strukturen, in ihren Reaktionsweisen, in dem, was sie für gut oder schlecht, für aussichtsreich oder für verhängnisvoll halten, durch die Erfahrung des Terrors geprägt, die sich in ihre Nervenzellen, in die Expression bestimmter genetischer Informationen eingebrannt hat. Manchmal hält sich das Eingebrannte auch noch über die nächste Generation. Frieden leben, das können diese Menschen nicht einfach so, dafür hätte man vieles tun müssen; zum Beispiel den Versuch machen, sich mit den individuellen und kollektiven Traumatisierungen auseinanderzusetzen. Wie wir noch sehen werden, spielen gerade wir Männer bei der emotionalen Nichtaufarbeitung schrecklicher Erfahrungen eine zentrale Rolle, weil uns Schweigen männlicher erscheint als das Sprechen über den Terror.
Mal unter uns – finden Sie es eigentlich fair, wenn ich nach Missbrauch und häuslicher Gewalt den Männern nun auch noch Kriege, Völkermord und Kolonialismus in die Schuhe schiebe? Sie könnten doch argumentieren: dass eben die ein Land regierenden Menschen verantwortlich gemacht werden, wenn sich dieses Land auf solche Unternehmungen einlässt. Hätte es Frauen-Regierungen gegeben, so wären es eben die Frauen gewesen, die sich die Hände schmutzig hätten machen müssen.
Ist das so?
Na ja, zum einen lässt sich eben nicht »ein Land« auf solche Unternehmungen ein, sondern Menschen, die sich nach mehr oder weniger sorgfältigem Abwägen entschließen, Kriege zu führen, Menschen anderer Länder oder Ethnizitäten auszurotten oder andere Erdteile auszubeuten. Und da spielt es schon eine Rolle, ob diese Menschen eher gewaltbereit und wenig empathisch oder konfliktvermeidend und auf Ausgleich bedacht sind.
Zum anderen befinden wir uns ja hier nicht in einem Tribunal mit mildernden oder verschärfenden Umständen, sondern es geht eigentlich eher um die Frage, ob wir Männer mit dem von uns Hervorgebrachtem leben können, ob unsere Rolle, ja, eben nicht nur in der Partnerschaft, sondern auch in der Welt, unser Selbstbild, unser Gewissen und last not least unsere Seele zufriedenstellt.
Überhaupt nicht kompetent bin ich für historische Zusammenhänge oder große politische Debatten. Doch fällt die Frage sehr wohl in mein Fachgebiert, ob es mir und anderen Männern guttut, immer wieder solche »Drecksarbeiten« zu übernehmen, angeblich heldenhaft und in Selbstverleugnung, oder ob ich und meinesgleichen nicht besser dran wären, weniger Alkohol – bei den Jüngeren wohl eher Kokain – bräuchten und seltener an Suizid denken müssten, wenn wir die Maschinenpistolen, Handgranaten und Landminen in die Ecke legten und nach Hause gingen. Ich würde zumindest bezweifeln, dass ausgerechnet die Frauen dann diesen Job übernähmen. Vielleicht würde die Welt einfach besser.
1 James Hawes, The shortest history of Germany. Devon 2017
2 Julius Caesar: De bello Gallico/Der gallische Krieg. (Reclam) 2010
3 James Hawes, a. a. O.
5 Ernst Jünger: In Stahlgewittern, Stuttgart 2014
6 Ian Kershaw: Höllensturz. München 2016
7 John C. G. Röhl: »Wie Deutschland 1914 den Krieg plante.« sueddeutsche.de vom 05.03.2014, abgerufen am 11.01.2021
9 Wieland Giebel (Hg.): »Warum ich Nazi wurde«. Berlin 2018
10 Wikipedia
11 Interviewer: Stefan Willeke: »Wer lügt wird erschossen.« DIE ZEIT 14, 28.03.2018, S. 12
12 Jörg Baberowski: Verbrannte Erde. Frankfurt 2014, S. 124
13 »Mehr als 380 000 Tote im Syrienkonflikt seit 2011.« spiegel.de 05.01.2020, abgerufen am 11.02.2021
14 Die Zahlen stammen von der oppositionsnahen syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, deren Angaben sich in der Vergangenheit meist als zuverlässig erwiesen.
15 Seymour M. Hersh: »The Massacre at My Lai.« The Ney Yorker 15.01.1972. Newyorker.com, abgerufen am 12.01.2021
16 Jörg Baberowski, a. a. O.
17 Eric Vuillard: Kongo. Berlin 2018
18 Samuel Misteli/Fabian Urech: »Afrikanischer Märtyrer. Patrice Lumumba brachte 1960 die abtretenden Kolonialherren gegen sich auf. Er bezahlte mit dem Leben.« nzz.ch vom 17.01.2021, abgerufen am 19.01.2021
19 Samuel Misteli, Fabian Urech, a. a. O.
20 Joachim Käppner: »Verflogen wie ein Spuk.« sueddeutsche.de, 5. Juli 2015, abgerufen am 16.7.2021
21 Katja Iken: »Herr Steinmeier kann nur um Verzeihung bitten.« spiegel.de vom 21.05.2021, abgerufen am 06.07.2021