Seelenkunde 1: Das Kind im Mann – wie es entsteht

Wir Männer sind, wie gesehen, die Quelle extremer Ereignisse mit gewaltigen Konsequenzen für den Rest der Welt, für Männer, Frauen, Kinder, für die Natur und das Klima. Diese Tatsache nicht weiter zu ignorieren und unter den Teppich zu kehren, sondern sie als Ausgangspunkt für Änderung zu nehmen, das würde Verantwortung bedeuten. Warum sollten wir das tun? Ganz einfach: Um mit unserer Seele ins Reine zu kommen. Nassim Nicolas Taleb hat das so ausgedrückt: »Ich habe keine andere Definition von Erfolg, als ein ehrenvolles Leben zu führen […] Unehrenhaft ist, andere an Deiner Stelle sterben zu lassen.«1

Andere an unserer Stelle sterben zu lassen – da sind wir mittendrin in den Problemen der klimabedingten Dürren oder Überflutungen, in den Gründen für Migration, in den Folgen von Missbrauch und Traumatisierung. Als Seelenkundler würde ich Taleb so interpretieren, dass es vor allem unserer Seele guttut, wenn wir für den Schlamassel einstehen, den wir verursacht haben.

In den bisherigen Kapiteln habe ich Sie und mich mit Fakten konfrontiert, die uns Männern nicht gefallen können. Ich habe Befunde gesammelt, wie es ein Psychiater tut, und habe teilweise durchaus subjektive Erkenntnisse formuliert zu dem desaströsen Zustand, den Männer über die Gesellschaft im Allgemeinen, Frauen und Kinder im Besonderen bringen. Und, das sei unbedingt betont, auch über sich selbst. Im Folgenden soll es nun um Ursachen gehen, die ich qua Beruf vor allem in der Männerseele verorte. Denn nur auf der Basis solchen Wissens rund um die große Frage nach dem Warum können wir uns abschließend mit dem alles Entscheidenden befassen: Wie wir uns Männer, Frauen und Kinder, unsere Welt in Zukunft aus diesem Teufelskreis aus Unfrieden, Gewalt, Macht, Leid auf allen Seiten befreien können.

Änderung setzt voraus, dass wir begreifen, wie wir Männer eigentlich zu dem geworden sind, was wir heute sind. Wir Männer waren auch mal Kinder. Nein, das ist keine banale Feststellung. Denn die Kinderzeit war nicht unsere schlechteste Zeit.

Die meisten Männer haben das allerdings vergessen. Dazu ein paar Überraschungen der Kinderentwicklung2: Kommunikation beginnt gleich am Anfang, also früher, als wir uns das lange träumen ließen. Zwischen Mutter und Kind. Allein hat auf dieser frühesten Lebensstufe niemand eine Chance. Sogar Männer überleben nur durch eine andere, die ausgerechnet eine Frau ist. Dieser Kontakt prägt unser gesamtes Leben. Die anfänglichen Bedürfnisse, die in diesem Kontakt befriedigt werden, sind sehr basal: Berührung, Wärme, Nahrung. Werden sie nicht befriedigt, sterben wir schnell. Gefühle fangen als Versuch an, das körperliche Befinden in den Griff zu bekommen. Da Neugeborene das nur durch eine andere Person können, wird diese erste Bezugsperson enorm bedeutsam, wichtiger als alles andere. Diese Beziehung ist die Keimzelle von Emotionalität. Schon kleinste Kinder versuchen, diese Interaktion zu kontrollieren, einfach damit sie sich möglichst wohlfühlen.

Die Ausgestaltung der individuellen Beziehung zwischen Mutter und Kind beschreibt die Bindungstheorie. Sie heißt nicht Freiheitstheorie, Freiheit wird später wichtig. Die Entwicklungspsychologin Mary Ainsworth untersuchte in den 1950er-­Jahren in einer Feldstudie in Uganda die Trennungsreaktion der Kinder beim Abstillen. Daraus entwickelte sie zusammen mit John Bowlby die Grundlagen der Bindungstypen3: sichere, vermeidende, ambivalente, chaotische Bindung. Jeder Mensch braucht eine feste Bezugsperson, der es selbst gut geht und die für eine Zeit lang große Teile ihrer Aufmerksamkeit ganz diesem Kind zur Verfügung stellt. Das wär’s schon. Aber ohne geht es eben nicht. Wenn die erste feste Beziehung fehlt oder beschädigt ist, wird das Kind sein Leben lang große Schwierigkeiten haben, sein Potenzial zu erreichen. Kinder werden schnell gemacht, ohne dass jemand dafür Sorge trägt, dass ihnen die erste, wichtigste Beziehungsstruktur garantiert werden kann. Im Zeitalter der Geburtenkontrolle wäre das eigentlich Minimalstandard. Kindern diese Voraussetzung vorzuenthalten, ist zynisch.

»Die Welt ist meine Idee. Ich bin die Welt. Die Welt ist Deine Idee. Du bist die Welt. Meine Welt und Deine Welt sind nicht dieselbe.«4 Wie kommen deine und meine Welt zueinander? Ziemlich früh. Durch die Zeigegeste5: Da bin ich, und da ist ein anderer. Dem zeige ich, was ich an unserer gemeinsamen Welt für besonders halte. Kann sein, dass er das bisher nicht gesehen hatte. Oder er zeigt mir, was mir helfen könnte. Dadurch bekommt etwas eine Bedeutung, was bisher keine für mich hatte. Das kann mir bei einer konkreten Aufgabe helfen und/oder meine Perspektive auf die Welt erweitern. Vor allem ermöglicht es kooperative Kommunikation, eine Besonderheit des Menschen. Schimpansen sind im Alter von drei Jahren cleverer und stärker, Menschenkindern in vielem überlegen. Aber sie kooperieren nicht uneigennützig. Auch später nicht. So nützt dem starken Schimpansen seine Stärke nicht so viel, weil ihm die Vielfalt der Verhaltensmöglichkeiten unzugänglich bleibt, die der viel schwächere Homo sapiens von anderen lernt. Auf diesem Weg gewinnt der Mensch seine Überlegenheit.

Kein Grund, eingebildet zu werden! Wir sind eine Laune der Evolution, nur eine sehr wirksame, viele sagen: zu wirksam. Angebrachter wäre, diese Errungenschaft als Geschenk zu sehen, aus der wir unser Bestes machen könnten. Noch viel mehr, als vor allem wir Männer derzeit daraus machen!

Die Alternative zur Kooperation ist die Abgrenzung, eine Vorstufe der aggressiven Auseinandersetzung, der Gewalt. Da Letztere immer mit einem hohen Risiko verbunden ist, hat der einen Überlebensvorteil, der sie vermeiden kann, weil er Besseres weiß. Kooperation ist nach Tomasello eine grundlegende Verhaltensweise menschlicher Kinder – es sei denn, sie kommen aus Familien, in denen sie missbraucht wurden.6

Sorry, das kam jetzt wohl etwas unvermittelt. Aber man kann gar nicht zu früh darauf hinweisen, wie sehr Missbrauch mitten ins Leben eingreift und menschliches Potenzial zerstört. Nicht nur das der unmittelbar Betroffenen, sondern auch das seiner Gruppe. Wenn die Gabe der kooperativen Kommunikation eines Gruppenmitglieds beschädigt wird, werden alle beschädigt. Sie meinen vielleicht, das ginge Sie nichts an? Weil Sie ja so was nicht tun? Weil das selten ist? Erinnern Sie sich? Mehr als 10 Prozent. Mehr als 10 Prozent sind nicht selten. Tatsächlich beeinflusst »so was« die Lebens- und Beziehungsqualität unserer Gesellschaft grundlegender als alles andere.

Empathie, Mitgefühl oder Abgrenzung – wir könnten ruhig etwas genauer über uns Bescheid wissen!

Sich gegenseitig etwas zu zeigen, klingt fast nüchtern, handwerklich. Aber wir können sogar Gefühle übertragen, wenn wir uns zeigen. Wenn ich das Gleiche zu fühlen meine wie eine andere Person, wenn sich unsere Gefühle synchronisieren, spricht man von Empathie. Man könnte auch Mitleid sagen, aber Kommunikation besteht Gott sei Dank nicht nur aus Leiden: wenn eine oder einer leidet, leidet die und der andere mit, wenn eine oder einer sich freut, lacht sie oder er, wenn eine oder einer hasst, hasst sie oder er auch. Das kann etwas mit Spiegelneuronen zu tun haben,7 manchmal synchronisieren sich sogar die Hirnströme. Wenn es einer Person sehr schlecht geht, kann dieser Gleichklang für die anderen regelrecht quälend sein, weswegen sie dann alles tun, um die Ursache dieses schlechten Befindens zu ändern. Das geschieht quasi automatisch, besonders zwischen Kindern und Eltern, in beide Richtungen.

Empathie wird meistens als etwas Positives verstanden. Das ist schon richtig, wenn man von der Alternative »haben oder nicht haben« ausgeht: Wer nicht empathisch sein kann, hat überhaupt keine Chance, etwas über die Gefühlswelt der oder des anderen zu erfahren. Aber eigentlich ist Empathie wertfrei: Ich kriege mit, was die oder der andere empfindet, fühlt, vielleicht nicht ganz genau, aber in Annäherung. Jetzt kommt es darauf an, was ich daraus mache. Nutze ich meine Kenntnis, um die andere Person auszuspionieren oder zu manipulieren, oder entwickele ich Mitgefühl: Ich versuche zu verstehen, wie diese Person in diese Notsituation gekommen ist, ich versuche, ihre oder seine Beweggründe zu erfassen. Mitgefühl belässt die andere Person in ihrer Besonderheit mit ihren Eigenheiten und Begrenzungen und versucht, ihr trotzdem beizustehen.

Abgrenzung ist einfacher: Der andere erscheint mit fremd; wie er will ich nicht sein; das passt nicht zum Bild, das ich mir von mir gemacht habe, zu meinem Ego. Entwertung kann dazukommen, Erniedrigung, Diskriminierung, es geht schnell dahin, und am Ende dieses Prozesses hat man vergessen, dass der andere doch auch ein Mensch ist. In diesem Stadium überprüfen wir die Abgrenzung nicht mehr, machen keinen Realitätscheck, sondern agieren blind. Heutzutage meistens im Internet, wo man das Kino im Kopf nicht hinterfragen muss, anders als in der realen Begegnung mit Fremden, wo eine Überprüfung selbst unter extremen Bedingungen immer noch möglich ist.

»Wenn wir einen der schwarzen Teenager erwischten, schlugen wir ihn übel zusammen. Sein Gesicht war dann so geschwollen, dass Du ihn gar nicht mehr als ein menschliches Wesen erkennen konntest. Doch als ich ihn trat, schaffte er es in einem Moment, seine Augen zu öffnen. Und da bekam ich Verbindung mit ihm. Und zum ersten Mal drangen die Realität und die Konsequenzen meines Tuns für den Bruchteil einer Sekunde in mein Bewusstsein.«8

Bei allem Entsetzen bleibt irgendwie tröstlich, dass selbst in einer so extremen Situation Kontakt und damit Empathie möglich wird: Der ist irgendwie ähnlich wie ich. Damit etwas daraus wird, müsste ich mich auf diese Ähnlichkeit einlassen, mit-fühlen.

Zu Empathie und Mitgefühl kann es nur im realen Kontakt zwischen zwei Menschen kommen. Kontakt ist die einzige Chance, wie Menschen herausfinden können, was zwischen ihnen los ist. Diese drei Versionen von Kontakt, also Empathie, Mitgefühl oder Abgrenzung, gibt es schon in der Beziehung zwischen Mutter und Kind. Das Kind sucht Blickkontakt oder sucht ihn nicht, die Mutter geht darauf ein, gibt dem Kind, was es braucht, oder manipuliert es, damit Ruhe ist. Oder sie geht aus dem Kontakt, macht etwas anderes, bringt zum Beispiel ihr Handy zwischen sich und das Baby im Wagen. Wenn sie sich als Muster etablieren, führt jede dieser Alternativen in völlig unterschiedliche Welten der Kommunikation. Denn der erste Kontakt, den wir zulassen oder verhindern, beeinflusst und prägt eben auch, wie wir künftig im Leben miteinander umgehen, ob Annäherung oder Isolation, Akzeptanz oder Feindschaft unser Ding sein werden.

Interesse hilft viel: Wenn ich mich für diesen anderen Menschen interessiere, der mir ähnelt und sich doch von mir unterscheidet, dann bekommt er die maximale Aufmerksamkeit.9 In der Auseinandersetzung mit ihm kann ich mich, meine Grenzen erweitern, mich weiterentwickeln – oder mich sicherheitshalber auf das beschränken, was ich schon kenne, und mich vor dem anderen verbergen.

All das bisher Beschriebene – die Mutter-Kind-Interaktion, die Bindung, die kommunikative Kooperation, die Abgrenzung von Fremden – gilt für Menschen, also für Männer und Frauen in gleicher Weise.

Jetzt kommt, noch diskret, der erste Unterschied, der zeigt, dass weibliche Empathie etwas anderes als männliche sein könnte: Auch Männer können empathisch sein, aber egoistisches Verhalten führt bei ihnen zu »wohligeren« Gefühlen; für Frauen dagegen ist »pro-soziales« Verhalten attraktiver, weil es ihr Belohnungssystem stärker aktiviert.10 Wenn man den für die Belohnung zuständigen Transmitter Dopamin, der diesen Effekt auf neuronaler Ebene vermittelt, pharmakologisch blockiert, dreht sich der Effekt um: Frauen werden egoistischer, Männer sozialer.

Manch einer würde jetzt argumentieren, diese Pharmakologie mache doch klar, dass die Grundlagen der Gefühle »biologisch« vermittelt, also irgendwie fest verdrahtet und deswegen nicht beeinflussbar seien. Etwas verkürzt, diese Argumentationslinie! Denn die Aussage, Verhalten sei biologisch bedingt, besagt ja nur, dass man es sowohl auf der Verhaltensebene als auch auf der Ebene von neuronalen Netzwerken oder einzelnen Nervenzellen abbilden kann. Das Lernen, also die Modifikation von Reaktionen in Abhängigkeit von Umweltbedingungen, ist ein allgemeines Merkmal biologischer Systeme und nicht zuletzt eine Grundlage der Evolution.

So ist es auch bei der Empathie: Belohnungsempfinden wird zwischen Mädchen und Jungen unterschiedlich gelernt, weil Erziehung diesen Geschlechtsunterschied eben unterschiedlich vermittelt.11

Zwischen Männern und Frauen gibt es in diesem Zusammenhang einen weiteren Unterschied: Wenn es darum geht, ob man Empathie mit Menschen empfindet, die einem sympathisch oder wegen ihres Verhaltens unsympathisch sind, zeigen Männer Mitgefühl mit den sympathischen, aber Schadenfreude, wenn ihnen unsympathische Personen Schmerzen erleiden, während Frauen diese Unterscheidung nicht machen. Dieser Unterschied könnte bemerkenswert sein, denn sympathisch sind einem die, die man kennt. Möglicherweise beschreibt er auf einer anderen Ebene, dass Frauen mit Fremden, anderen besser zurechtkommen könnten als Männer. Es ist kein »Hammereffekt«, aber auf diesem Gebiet sind Nuancen wahrscheinlicher.

Liebe Leser, ahnten Sie nach den ersten zugegeben sehr düsteren Kapiteln eigentlich, wie viele kooperative Elemente menschliches und auch männliches Verhalten bereits in der Kindheit hat? Wir Menschen verfügen über einen hochdifferenzierten psycho-biologischen Apparat, der die Fähigkeit zur Kommunikation reguliert, unseren großen Evolutionsvorteil. Bei Männern wie Frauen ist er weitgehend ähnlich. Woher kommen dann aber die großen Unterschiede? Was ist der Grund, dass die kooperativen Elemente vor allem bei Kindern beobachtet werden und im Erwachsenenleben in den Hintergrund treten oder ins Hintertreffen geraten?

Interessant erscheint auch, dass diese Verhaltenselemente nicht »fest verdrahtet« und unausweichlich sind, sondern Alternativpaare bilden, von denen wir eine Möglichkeit wählen können. Tatsächlich kommt es genau auf diese Wahl an.

Kinder können Gefühle

Hilfsbreit, altruistisch, kooperativ, empathisch – ein bisschen egoistisch, aber nicht zu sehr, sensibel für den Wert von Gleichheit und Autorität und mit einem soliden Sinn für soziale Rationalität ausgestattet – wen beschreibe ich? Normale Kinder. Die Darstellung beruht auf kinder- und entwicklungspsychologischer Forschung der letzten Jahrzehnte.12

Kinder sind ungefähr ab ihrem ersten Geburtstag hilfsbereit und kooperativ, zumindest können sie so sein. Wenn sie merken, dass ein Erwachsener hilflos ist, zum Beispiel weil er etwas nicht findet, versuchen sie, ihm zu helfen, ihm das Gesuchte zu zeigen. Kinder machen das spontan, anders als Sie vielleicht denken, ist dieses Verhalten nicht von Erwachsenen abgeschaut.

Damit sage ich nicht, dass Kinder nicht egoistisch sind. »Alle lebensfähigen Organismen [haben] eine egoistische Ader ... andernfalls würden sie nicht viele Nachkommen hinterlassen.«13 Aber hier geht es nicht um schwarz oder weiß. Altruistisches Verhalten tritt relativ früh, im Alter von 14 bis 18 Monaten, auf, bevor die meisten Eltern überhaupt prosoziales Verhalten von ihren Kindern erwarten. Manche erwarten es ja nie. Belohnungen oder Ermutigungen durch die Eltern steigern dieses hilfsbereite Verhalten der Kinder nicht; teilweise wirkt sich »motivierendes« Verhalten der Eltern sogar kontraproduktiv aus. Trotzdem ist der Altruismus kleiner Kinder keine unabhängige Eigenschaft, sondern hängt von »Räumen« und »Situationen« ab.

Wenn man uns als Kinder machen ließe, wären wir bereits in früher Kindheit Wesen, mit denen wir es selbst gerne zu tun hätten: hilfsbereit, unterstützend, sozial und nur in Maßen egoistisch. Auch die Jungen. Bleibt das so? Das hängt von unserer Sozialisierung ab: in ihrer Gruppe, zum Beispiel im Kindergarten oder auf dem Spielplatz, lernen Kinder, dass positives Verhalten und Hilfsbereitschaft zu entsprechendem Verhalten bei anderen führen kann; sie lernen aber auch, dass so ein Verhalten ausgenutzt werden kann. Sie richten ihr Verhalten nach ihrer Gruppe aus, mit der sie zusammenleben. Zur »Gruppe« gehören die Gleichaltrigen, aber auch die Erwachsenen. Beide tragen dazu bei, warum Kinder soziale Normen respektieren.

Nach der Einschulung treten neue Gruppenmitglieder von einiger Bedeutung auf: die Lehrer. Warum hat ein Lehrer Macht? Nach Jean Piaget spielen zwei Quellen eine Rolle:14

Zum einen Autorität, die aus der Interaktion mit Erwachsenen stammt; Kinder lernen, dass Erwachsene sich mit Macht durchsetzen können, egal, was die Kinder dazu meinen. Macht? Aha! In Gesprächen mit erwachsenen Männern entsteht manchmal der Eindruck, Macht sei nur ein, vielleicht feministisches, Konstrukt. Im realen Leben einer Demokratie spiele Macht keine wesentliche Rolle. Kinder wissen das offenbar besser.

Ein Zitat dazu: »Ein Fürst muss lernen, nicht gut zu sein.« Der Begriff »Fürst« ist etwas aus der Mode gekommen, weckt aber in vielen Männern erhebende Gefühle. Dieses Zitat stammt aus einem Klassiker über Männer mit Macht und einer guten Portion Skrupellosigkeit: »Il Principe«, der Erfolgsleitfaden für Fürsten, Anfang des 16. Jahrhunderts von Nicolo Machiavelli verfasst. Tomasello hat dieses Zitat dem Kapitel über die altruistischen Kinder vorangestellt. »Soziale Rationalität« war Machiavellis Thema nicht, er sagt vielmehr in schöner Offenheit, dass wir das »Gutsein«, also unsere ursprüngliche Natur, überwinden müssen, wenn wir machtvoll werden wollen.

Ob die mächtigen Männer ihren Machiavelli wirklich gelesen haben?

Als zweite Quelle nennt Piaget Gegenseitigkeit, die aus dem Umgang mit Gleichaltrigen entsteht. Die entwickelt sich erst im späten Vorschulalter, wenn Kinder merken, dass es nicht nur sie und ihre unmittelbaren Bezugspersonen gibt, sondern auch andere, die sie als gleichberechtigte, unabhängige Handlungspartner erleben. Ein sozialer Pakt, der auf gegenseitigem Respekt aufbaut. (Im Gegensatz zu den machtbasierten Normen nennen die Forscher das »echte« Normen.)

Im frühen Vorschulalter orientiert sich das Verhalten der Kinder weniger an ihnen selbst, sondern an anderen. Und dabei entwickeln sie ein Gefühl für Gleichberechtigung, für soziale Normen. Es spielt also durchaus eine Rolle, mit welcher Art von Gruppe Kinder in dieser Phase konfrontiert werden oder wie die Erwachsenen, mit denen sie es zu tun haben, sich ihnen gegenüber verhalten.

Im Hinblick auf die Funktionsfähigkeit unseres Gemeinwesens und der Demokratie empfinde ich es als eine gute Botschaft, dass unser Bewusstsein für Gleichberechtigung so früh einsetzt. Dass Kinder sich tatsächlich für solche sozialen Normen interessieren, merkt man daran, dass sie sich auch an ihrer Durchsetzung beteiligen.

Das Fazit Tomasellos: »Mein Vorschlag lautet daher, dass der kindliche Respekt für soziale Normen nicht nur auf ihrer Sensibilität für Autorität und Gerechtigkeit basiert. Kinder besitzen von klein auf eine Art sozialer Rationalität […] Indem sie andere wie sich selbst betrachten (»er ist ich«), identifizieren sie sich mit ihnen und sehen sich selbst als einer unter vielen […] Die Universalität sozialer Normen und ihre grundlegende Rolle in der menschlichen Evolution sind offensichtlich. […] Schuld- und Schamgefühle werden dabei als eine Art Selbstbestrafung interpretiert, die verhindern soll, dass ich den gleichen Regelverstoß in der Zukunft wiederhole […] All dies reflektiert […] auch eine Art Gruppenidentität und soziale Rationalität.«15

Brauchen Kinder Erziehung, um glücklich zu werden?

So also sieht es aus: Diese Kinder, die auf dem Weg sind, Männer, Frauen und andere zu werden, bringen so einiges mit, was für das Zusammenleben von Menschen nützlich und hilfreich ist. Ist Ihnen bewusst, was für ein Kind in Ihnen steckte, wie Sie sich an welcher Stelle weiterentwickelt haben? Erinnern Sie sich, dass Sie schon sehr früh altruistisch waren? Auch ohne Vermittlung ­Ihrer alles besser wissenden Eltern? Grundlegende soziale Vernunft? Und haben Sie sich mal geschämt, wenn Sie gegen Regeln verstießen, die wichtige Werte Ihrer Gruppe ausmachten?

Aus alldem ergibt sich eine spannende Frage: Müssen wir unsere Kinder eigentlich erziehen? Wie die meisten Eltern gehen Sie vermutlich davon aus, dass Sie »Ihre« Kinder erziehen müssen, damit aus ihnen »etwas« wird. Aber was? Ohne Zweifel brauchen Kinder Unterstützung, vor allem, wenn sie klein sind. Andererseits bringen sie erstaunlich viel mit.

Auf welches Lebensziel sollte Ihr Kind sein Leben ausrichten? Reich werden, durchsetzungsfähig, erfolgreich im Job oder sozial akzeptiert und vielleicht sogar glücklich?

Wie sinnvoll sind solche Ziele? Es gibt eine aus wissenschaftlicher Sicht faszinierende Studie, die an der Harvard-University gemacht wurde. 1938 fing man mit 268 Studierenden an und schloss im Verlauf bis heute 1300 Menschen ein. Was ist so besonders an dieser Studie? Über so lange Zeit und so ausdauernd durchgezogene Studien gibt es sonst nicht. Ein Grund ist die erforderliche Selbstlosigkeit der Forscher, denn sie bekommen während ihrer Karriere ja nie den ganzen Schatz der Ergebnisse. Eine andere Besonderheit ist die Vielfalt des untersuchten Kollektivs, die von einem amerikanischen Präsidenten bis zum Obdachlosen reichte. Entsprechend außergewöhnlich ist das Ergebnis16: »Der überraschende Befund ist, dass unsere Beziehungen und wie glücklich wir in diesen Beziehungen sind, einen mächtigen Einfluss auf unsere Gesundheit haben, […] mehr als Geld oder Ruhm. […] Sie helfen, den seelischen und körperlichen Verfall zu verlangsamen, und sind bessere Prädiktoren eines langen und glücklichen Lebens als die soziale Klasse, der IQ oder sogar die Gene. Der Grad der Zufriedenheit der Menschen mit ihren Beziehungen im Alter von 59 war ein besserer Prädiktor ihrer körperlichen Gesundheit als ihre Cholesterol-Spiegel. Einsamkeit tötet […] genauso wirkungsvoll wie Rauchen oder Alkohol […] Gute Beziehungen […] schützen unsere Gehirne.«

Vielleicht denken Sie, verehrter Leser, jetzt: Beziehungskram, klar, dass es Frauen damit besser geht! Da irren Sie! Die Studie war anfangs eine reine Männerstudie, weil in den 1940er-Jahren nur Männer in Harvard studierten; Frauen wurden erst vor mehr als zehn Jahren eingeschlossen. Beziehungen und gute Sozialkontakte begünstigen ein langes und glückliches Leben – von Männern. Über welches Organ kann das bitte vermittelt sein als über die Männerseele?

Und unsere Fähigkeit, Beziehungen aufzunehmen und zu erhalten, drückt sich in dem aus, was wir bereits als »soziale Rationalität« kennengelernt haben. Diese bringen Kinder zum großen Teil von sich aus mit, oder sie lernen sie im Kontakt mit anderen »gleichberechtigten und unabhängigen Handlungspartnern«.

Wäre es also nicht naheliegender, mehr darauf zu setzen, was unsere Kinder spontan mitbringen, als sie auf Teufel komm raus zu erziehen?

Kinder sind kein Besitz

Ihr Kind? Gehört es Ihnen? Nein, natürlich nicht, aber …?

Der Eigentumsbegriff – was für eine seltsam schillernde Angelegenheit. Einerseits ganz klar: Ein Kind ist niemandes Eigentum, die Frau auch nicht – die Sklaverei wurde bei uns ja abgeschafft. Andererseits behandeln wir Kinder de facto wie Besitz: Wir entscheiden über sie, auch gegen ihren ausdrücklichen Willen, wir zwingen sie zu Verhaltensweisen, die sie nicht wollen, üben Macht über sie aus. Bis vor 40 Jahren durften Lehrer und Eltern Kinder schlagen; heute dürfen Lehrer das nicht mehr, und von den Eltern tun es »nur« noch 4 Prozent17. Wir unterwerfen Kinder unseren sexuellen Wünschen, wenn auch »nur« 10 Prozent von ihnen. Extremfälle?

Ich glaube, dass wir einen anderen Umgang mit unseren Kindern finden sollten. Zuallererst müssen wir akzeptieren, dass sie uns nicht gehören. Auch wenn wir durchaus den Eindruck haben können, sie seien uns geschenkt. Geschenkt, aber nicht wie ein Stück Besitz, sondern wie ein besonderes Erlebnis, ein Eindruck, »ein Leuchten, das in der Weite der Welt erscheint«18.

Kein Besitz, nicht Ihr Besitz, auch nicht von jemand anderem. Wenn ich etwas besitze, dann kann ich damit machen, was ich will. Das aber sollten wir mit Kindern nicht tun, sonst führt das zu den Dystopien, die ich im ersten Teil dieses Buches beschrieben habe.

Wer Kinder »bekommt«, hat eine Aufgabe, keinen Anspruch. In unserer Gesellschaft glauben wir, dass aus Besitz Ansprüche resultieren, und man kann als Faustregel festhalten: Überall dort, wo inadäquate Anspruchshaltungen gegenüber anderen geäußert oder durchgesetzt werden, wird etwas zum Besitz gemacht, das sich als Besitz nicht eignet: Kinder, »eigene« und fremde Frauen. Von Männern.

Hierzulande verlieren wir immer wieder auffällig schnell aus den Augen, dass unfassbar viele Kinder hungern, verhungern und unter Krieg und Terrorismus leiden, obwohl wir es wissen können. Jeder Bewunderer der sogenannten starken Männer wie Putin, Trump, Erdoğan sollte sich immer wieder klarmachen, welch entsetzliche Schicksale von Kindern diese Gestalten zu verantworten haben, in Texas19, Syrien, Tschetschenien, Bergkarabach20 oder Kurdistan21. Wollen wir solche Männer als nachahmenswert zulassen? Sie gar bewundern? Sind sie nicht vielmehr eine Warnung, welche Konsequenzen jene falschen Erziehungsmuster, jenes Besitzenwollen haben?

Und natürlich sollten wir alle nicht vergessen, was in den Flüchtlingslagern mit Kindern passiert oder was afrikanische Kinder auf der Flucht erleben, im Moment ihres Ertrinkens oder wenn sie miterleben, wie ihre Mutter im Wasser versinkt, weil sie entweder keine Schwimmweste hatte oder zu schwer dafür war.22

»Unsere« Kinder haben es dagegen relativ gut, aber auch sie sind bis zum 18. Lebensjahr nicht geschäftsfähig, sie dürfen nicht wählen, dürfen sich keinen Anwalt nehmen, um gegebenenfalls ihre Ansprüche gegen ihre Eltern oder andere durchzusetzen, was besonders relevant im Fall von Gewalterfahrungen ist.

Während der Corona-Pandemie trafen alle möglichen wichtigen Menschen Entscheidungen für Kinder und Jugendliche über ihren Kopf hinweg, ohne ihre Meinung einzuholen. »Die Politik hat Kindern in Stil, Geste und Inhalt die Solidarität aufgekündigt.«23 Diesen Satz hat Hilmar Klute in einem flammendem Appell für die unter den Corona-Maßnahmen der Politik leidenden Kinder geschrieben, und er ergänzt: »Aber dass der Staat seine vulnerabelsten Bürger, die Kinder, derart brutal aus der Solidargemeinschaft ausschließen würde, wer hätte das gedacht?«24

Bei aller Sympathie für Klute und seinen Appell, das hätte jeder denken können, der Augen und Ohren hat. Die Politik hat den Kindern nicht die Solidarität aufgekündigt, sondern diese Solidarität gab es nie.

Und diese fehlende Solidarität spielt den Missbrauchern in die Hände, weil sie genau wissen, dass sie es nicht mit einem gleichberechtigten Gegenüber zu tun haben. So bringt die Respektlosigkeit den Kindern gegenüber, der Blick von oben herab aus der Sicht des Größeren, das Elend ihrer Seelen jene seelisch verarmten Männer hervor, mit denen wir es hier zu tun haben.


2 Ich beziehe mich im Folgenden auf unterschiedliche Modelle, die verschiedene Aspekte der Entwicklung menschlichen Verhaltens beschreiben. Jedes wurde in einem eigenen wissenschaftlichen Kontext entwickelt, aber nicht alle sind kompatibel; manche Modelle überschneiden sich, andere berühren sich kaum. Das liegt daran, dass es wissenschaftliche Modelle sind.

3 Bowlby J: A Secure Base: Clinical Applications of Attachment Theory. London 1988

4 Paul Auster: Talking to Strangers. New York 2019

5 Michael Tomasello: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation. Frankfurt am Main 2011

6 Michael Tomasello: Warum wir kooperieren. Berlin 2017

7 Giacomo Rizzolatti/Corrado Sinigaglia: Empathie und Spiegelneurone. Die biologische Basis des Mitgefühls. Frankfurt am Main 2008 

8 Michael Kimmel, a. a. O. S. 167

9 Aufmerksamkeit ist nicht das, was uns in der Schule genervt hat, wenn wir den Vorstellungen des Lehrers von der angemessenen Aufmerksamkeit nicht entsprachen; die maximale Aufmerksamkeit ist die gesamte, konzentrierte Zuwendung, während der alle anderen Interessensobjekte abgemeldet sind.

10 Alexander Soutschek/Christopher J. Burke/Anjali Raja Beharelle/Robert Schreibe/Susanna Weber/Iliana I. Karipidis/Jolien ten Velden/Bernd Weber/Helene Haker/Tobias Kalenscher/Philippe N. Tobler: The dopaminergic reward system underpins gender differences in social preferences. Nature human behaviour 1, 819–827, 2017

11 Werner Bartens: »Frauen sind großzügiger.« sueddeutsche.de vom 10.10.2017, abgerufen am 20.01.2021

12 Ich beziehe mich hier im Wesentlichen auf die Forschungen von Michael Tomasello, publiziert in: Warum wir kooperieren, Berlin 2010, und interpretiere die wesentlichen Ergebnisse, ohne die Herkunft jeweils gesondert zu zitieren.

13 Ebd.

14 J. Piaget: The Moral Judgement of the Child. New York 1935/1965

15 Michael Tomasello: Warum wir kooperieren. Berlin 2017, S 43 ff.

17 Christian Pfeiffer, a. a. O.

18 Shunryo Suzuki: Beginners mind. New York 1990

19 »Die USA sperren Flüchtlingskinder in Käfige«. spiegel.de 19.06.2018, abgerufen am 24.07.2021.

20 Joachim Käppner: »Auch das noch.« Süddeutsche Zeitung Nr. 246, Sa./So. 24./25. Oktober 2020, S. 40

21 Moritz Baumstieger: »Verloren unter Verlorenen.« Süddeutsche Zeitung Nr. 282, Sa./So. 05./06. Dezember 2020, S. 2

22 Nicola Meier: »Über Bord.« Süddeutsche Zeitung Magazin Nr. 50. 11.12.2020, S.12

23 Hilmar Klute: »Macht’s Euch ungemütlich.« Süddeutsche Zeitung Nr. 150, Sa/So 03./04.07.2021, S. 15

24 Ebd.