Wie entsteht denn nun der Mann mit seinen akzeptablen, faszinierenden und aber fürchterlichen Seiten? Seiten, die vom Herrschaftsgebaren im häuslichen Alltag, von seiner immer noch weitgehend unangetasteten Vormachtstellung in den Gesellschaften des 21. Jahrhunderts bis zu Missbrauch und Gewalt reichen. Eben war er doch noch ein Junge mit erheblichem Potenzial für sozialverträgliches Verhalten.
Eine Geschichte: »Immer wieder erzählten mir Männer über ihren frühen Gefühlsüberschwang, eine nicht unterdrückte Freude, das Gefühl, mit dem Leben und anderen Menschen verbunden zu sein – bis ein Bruch geschah, ein Riss, und das Gefühl, geliebt zu sein, umarmt zu sein, war weg. Irgendwie war es der Männlichkeitstest, so erzählten mir die Männer, diesen Verlust zu akzeptieren.«1
Freude. Sich ganz fühlen. Manchmal durchaus Begeisterung für das Leben, für sich selbst, für andere. Und dann: plötzlich ein Bruch – von nun an ist alles anders, alles aus. Kennen Sie solche Formulierungen, die immer wieder auftauchen, wenn Therapeuten über das Mannwerden ihrer Klienten berichten? Irgendwann wird die Seele einbetoniert: Nur wer das Verstummen des eigenen Frühlings als normal bejaht, darf Mann unter Männern sein.
Die Autorin, Bell Hooks, erlebte das an ihrem Bruder, der es mit seinem Vater viel schwerer hatte als sie: »Als er ein Junge war […], hatte mein Bruder einfach das Bedürfnis, sich selbst auszudrücken. Die Folge war, dass unser Vater ihn verachtete und lächerlich machte.«
Jungen, die ihre Gefühle spüren und sie ausdrücken, werden vom Vater verachtet, weil weiche Gefühle unmännlich sind. Was bleibt ihnen? Aufstand ist riskant, es könnte ja alles zu Bruch gehen. Alternativ bleibt der Abschied von den Gefühlen. Ist der so schlimm? Gefühle machen doch sowieso ständig Ärger.
Dazu lernte unsere Autorin, »es gibt nur eine Emotion, die das Patriarchat an Männern wertschätzt, der Ärger. Richtige Männer werden wütend«. Nun ist es raus: die Wut des Patriarchats! Männer gebrauchen den Begriff »Patriarchat« kaum: »Männer, die dieses Wort gehört haben und es kennen, assoziieren es mit […] Feminismus. Ich gebrauche dieses Wort täglich, und Männer, die das hören, fragen mich oft, was ich damit meine.«
Sie, lieber Leser, der Sie dieses P-Wort natürlich kennen, verbinden wie so viele Männer vermutlich Positives damit, die Herrschaft des Vaters, der Männer, die Gewähr, dass es auf der Welt effektiv zugeht. Doch Bell Hooks, unsere Autorin, sieht das anders: »Das Patriarchat ist die einzige lebensbedrohliche soziale Krankheit, die den männlichen Körper und Geist in unserem Land angreift.«
Die lebensbedrohliche soziale Krankheit für die Körper und Seelen der Männer schlechthin? An dieser Stelle müssen wir wohl entscheiden, über uns zu reflektieren, auch wenn das nicht unser beliebtestes Hobby ist. Doch diesem feministischen Angriff sollten wir wohl standhalten. Ja, Männer, wir sollten uns stellen.
Ich kann mir vorstellen, dass Sie, wie viele andere gebildete, weiße, wahrscheinlich ältere Männer, hier abwinken: Was ist in diesen psychiatrischen Professor gefahren, den wilden feministischen Überlegungen einer Afroamerikanerin so viel Platz einzuräumen? In den eigenen vier Wänden denken Sie vielleicht sogar das N-Wort statt Afroamerikanerin. Ich kann Ihnen schon sagen, was in mich gefahren ist: Ich bin überzeugt im tiefen Grunde meiner Therapeutenseele, dass sie recht hat. Diese »wilden« Überlegungen bilden die traurige Realität so vieler Männer angemessen ab. Diese Frau findet Worte, die den meisten Männern für die Darstellung unseres gesellschaftlichen Elends fehlen.
Halten wir als zentrale Erkenntnis über den Seelenzustand von viel zu vielen Männern fest: Dieses Elend liegt begründet in der uns im Verlauf des Erwachsenwerdens anerzogenen Unfähigkeit, Gefühle wahrzunehmen und zu ihnen zu stehen. Liebe zum Beispiel, Mitgefühl zum Beispiel. Beides spielt in männlichen Diskursen keine wichtige Rolle, beides können viele Männer weder wahrnehmen noch äußern. Der Preis dafür?
»Etwas fehlt da drinnen.« Da drinnen, dort, wo die Seele sitzt, an diesem persönlichsten und existenziellen Ort fehlt etwas. Eine Lücke ist entstanden. Doch sie darf nicht bleiben, und deshalb wird sie mit Ärger, Aggression und Gewalt gefüllt, raumgreifende Gefühlsäußerungen, die sich in der Gesellschaft ausbreiten. Wie ein Nebel, der aus allen Ritzen kriecht. Diese Lücke scheint seit Jahrtausenden zu bestehen, wie meine kleine Kriegsgeschichte nahelegt. Heute ist sie zivilisatorisch verkleidet, aber ungebrochen wirksam.
Aber – sind denn alle Männer so? Nein! Es sind auch manche Frauen so! Ja. Obwohl Sie da schon ganz schön suchen müssen. Ich finde, diese Diskussion lassen wir jetzt mal weg, weil sie eine realitätsverschleiernde, den Blick aufs Eingemachte vermeidende Diskussion, also ein Vorwand, ist. Damit haben wir uns oft genug auseinandergesetzt. Nicht schon wieder.
Wichtiger wäre, uns anzusehen, was aus den verdrängten Gefühlen entsteht, also wie das Patriarchat im seinem Kern, in den Männerseelen, funktioniert. Da gibt es einiges Interessantes: Das Patriarchat behandelt nicht nur erwartungsgemäß Mädchen und Frauen, sondern erstaunlicherweise vor allem Jungs und Männer schlecht. Sie müssen die Botschaft vom Sinn der Härte weitertragen. In unserer deutschen Geschichte war der Krupp-Stahl mal die Referenz für Härte. Obwohl diese Referenz etwas zerbröselt ist, gilt immer noch erstaunlich oft: »Männer kennen keinen Schmerz.«
Das Ergebnis ist ein soziales Prinzip, das nicht für die von ihm sozialisierten Menschen sorgt, sondern nur für den eigenen Erhalt. Ein Apparat, der sich selbst ständig verstärkt, aber vor allem diejenigen schwächt und ausbeutet, die ihn am Laufen halten: die Männer.
Bell Hooks fasst die Komplexität des Patriarchats als »imperialist white-supremacist capitalist patriarchy« zusammen: Männer sind allen anderen überlegen, haben das Recht, alle anderen zu dominieren, und tun das heute mit den Instrumenten des Geldes. »Geld ist die stärkste Droge«, sagt ausgerechnet die erfolgreichste Kinderbuchautorin Deutschlands Cornelia Funke.2 Das liegt daran, dass Geld gefühlsfrei ist, hocheffektiv und es stinkt nicht, selbst wenn es mit den fürchterlichsten Dingen verdient wird. »Es muss sich rechnen«, ist das perfekte Totschlagargument gegenüber idealistischen, jungen Menschen, die sich als weltverbessernd profilieren wollen. Dieser Logik folgen sogar die »grünen Aktien«, die gerade so in sind.
Und natürlich: Richtig reich sind weiße Männer! Googeln Sie mal »reichste Menschen der Welt«. Weiße, herrschaftsbewusste Männer sollte man vielleicht noch ergänzen: Peter Thiel, der sein Geld mit der wirklich praktischen Bezahlhilfe Paypal verdiente, unterstützte nicht nur Donald Trump, sondern sorgt sich schon jetzt wieder um das Schicksal der Republikaner bei den nächsten Wahlen; daher unterstützt er den »netten Reichen« J. C. Vance, dem Familie angeblich wichtiger ist als Steuersenkungen, mit 10 Millionen US-$ bei der Kandidatur für einen Senatssitz. Wobei Vance »sich zuletzt von einem Trump-Gegner zu einem seiner größten Cheerleader entwickelt und auf seinem Twitter-Account zumindest andeutungsweise Verschwörungsmythen der QAnon-Sekte legitimiert«3.
Geld als weißer Gefühlsersatz, geiler und ungleich besser zu manipulieren als diese komplizierte Empathie. Geld hilft aber leider nicht gegen die innere Leere, sondern zerstört selbst seine Fans: Ein 30-jähriger Karrieremann vermutete irgendeinen Mangel hinter seiner zunehmenden inneren Unruhe, die bald in »sehr starke Verspannungen, Kopfschmerzen, Druck im Bauch« übergingen, Alkohol half nur vorübergehend, »die Zeiten, in denen ich den Erfolg genossen hab, wurden immer kürzer, die innere Leere wurde immer größer«4.
Leere, wo eigentlich Gefühle sein sollten, ist eine Illusion, wie jeder Psychotherapeut weiß. Sie entsteht, wenn emotionale Erinnerungen weggedacht werden, weil sie nicht auszuhalten sind. Kinder und Frauen machen das nach Traumatisierung. Bei männlich sozialisierten Männern gehört dieser Vorgang quasi zur Grundausstattung, um ihre Emotionalität wegzurationalisieren. Wenn Menschen erwähnen, dass ihre Biografie »weiße Flecken« hat, heißt dies nicht, dass damals nichts gewesen wäre, sondern etwas, das man sich um keinen Preis anschauen will. Vermeiden ist aber auf die Dauer keine sinnvolle Maßnahme, denn das, was sich da als »leer« maskiert, also vorgibt, nicht da zu sein, beeinflusst das Verhalten ganz gewaltig. Es macht krank – Verspannungen, Schmerzen, Druck –, weshalb »weiß-fleckige« Menschen ja auch Therapie suchen, allerdings vorwiegend die Frauen.
Die Emotionalität, an die sich Männer aus der Kindheit oft noch erinnern, ist nicht einfach weg. Sie ist als Sehnsucht meist deutlich spürbar. Ist Sehnsucht männlich? Na ja. Oft bleibt nur die Gewissheit des Verlusts.
Eine Therapeutin, die mit Männern arbeitet, deren schwieriges Verhältnis zu ihren Gefühlen sie alkoholkrank gemacht hat, erzählte mir: »Wenn ich mit Männern in der Therapie sitze, die dann so garstig zu sich selbst sind, zum Teil überhöhte Ansprüche an sich stellen, fies zu ihrem Körper sind etc., dann hole ich manchmal die Seele als Instanz ins Boot: ›Mensch, wenn ich das so höre, dann denke ich an Ihre Seele, die möchte doch auch gesehen werden, wieso gehen Sie so arg mit ihr um …?‹ Manchmal erlaubt das, bei Männern die verwundbare Seite benennbar zu machen. Ich bilde mir zumindest ein, die Männer könnten dies dann leichter zulassen wie ein erlaubter emotionaler Zugang.«5
Verlust gehört zum Leben, er ist nicht zu vermeiden, Menschen sterben, Menschen verlassen uns. Was tun? Männer stehen doch auf Werkzeuge. Tatsächlich gibt es ein »Verarbeitungswerkzeug« für Verluste: die Trauer. Sie ist die einzig sinnvolle Maßnahme: Verlust muss betrauert werden. Doch weil sie von Gefühlen nichts wissen wollen, verbauen sich Männer sogar diesen Weg: Heulen ist nicht! Wenn Sie das verkürzt finden, darf ich Ihnen sagen, dass Trauern nur über Jammern und Heulen, Haareraufen und Kleiderzerreißen funktioniert. Für Menschen in nordwestlichen patriarchalischen Gesellschaften geht das gar nicht, und auch in südöstlicheren Gesellschaften ist es meistens den Frauen vorbehalten. Der Weg in die Trauer ist vermint, die Gefahr spüren Männer genau. Wer ein Gefühl erlaubt, hat es schnell auch mit anderen zu tun, solchen, die Mann nun überhaupt nicht will. In der »Gefühlssphäre« stecken Gefühle nicht in separaten Schubfächern, sondern man muss sie sich eher als kommunizierendes Netzwerk vorstellen. Wer sich einmal hineinbegibt, kann nicht mehr kontrollieren, wohin er als Nächstes gerät.
Männer, die den Zugang zu ihren positiven Gefühlen verloren haben, zu Empathie und Mitgefühl, leiden an diesem Defizit. Als Ersatz müssen starke Reize herhalten: Sex, Kokain, Opiate, Alkohol. Ob der gewaltig gestiegene Kokain-Gebrauch in der Bundesrepublik – zwischen 2019 und 2020 um 12 Prozent6 – etwas damit zu tun hat? Die Sucht nach Starkem bleibt ein Leben lang und wird zum Desaster, wenn Sex nicht mehr geht, Drogen und Alkohol nicht mehr vertragen werden und die innere oder äußere Einsamkeit das Leben dominiert. Die Suizidrate älterer Männer – bei den 85-Jährigen bringen sich ca. 70 von hunderttausend Männern um, im Vergleich zu 15 Frauen7 – ist ein nicht gelöstes Problem der Gesundheitsprävention, aber richtig furchtbar ist sie für diese Männer selbst: Haben Sie sich schon mal überlegt, wie das Umbringen funktioniert und wie Sie danach aussehen, Ihr Körper, von der Seele ganz zu schweigen? Haben Sie schon mal Suizidopfer gesehen?
Spätestens an diesem Punkt könnte Ihnen dämmern, dass patriarchalische Männlichkeit einen viel zu hohen Preis fordert. Leider sind wir mit den Nebenwirkungen und Risiken des Patriarchats noch nicht am Ende. Das Unterdrücken der Gefühle erstreckt sich natürlich auch auf das Mitgefühl, das normalerweise entsteht, wenn eine andere Person glücklich ist oder wenn sie leidet. Wenn ich das aber nicht mitfühlen kann, muss ich schon ziemlich viel Charakter haben, um meinen Neid nicht zu zeigen, den anderen ihr Glück nicht madig zu machen – und es ihnen nicht zu zerstören. Schöne Gefühle bei anderen, vor allem Kindern, zu zerstören, ist so richtig mies. Aus der Kategorie gibt es noch mehr. Charakter hat was mit Anstand zu tun, und anständig zu leben ist mühsam, wenn man keine Unterstützung und Korrektur durch die eigenen Gefühle bekommt. Vielleicht ist Anstand deshalb in unseren patriarchalischen Gesellschaften zu einer Erinnerung aus fernen Zeiten geworden.
Doch Mitgefühl ist vor allem das Antidot zum Hass, zur Feindschaft, zur Gewalt. Wer kein Mitgefühl empfinden kann, wird zum Spielball seines eigenen Hasses, seiner eigenen Gewalt.
Wurden die berühmten Gesetzeswerke deswegen etabliert, weil das Gewaltproblem patriarchalischer Gesellschaften nicht durch Mitgefühl und Empathie kontrolliert werden kann? Beispielsweise von Hammurabi, dem sechsten König der ersten Dynastie in Babylon, oder von Moses, dessen Zehn Gebote, der Kern der Thora, auch im Christentum weiterwirken. Ich will hier nicht den Rechtshistoriker geben, aber das Thema ist schon interessant: Solche Gesetzeswerke entstanden offenbar an der Schwelle zur Sesshaftigkeit. Wer ohne Grundbesitz herumzog, konnte flexibel sein, dem Streit ausweichen, wenn es nichts mehr zu sammeln gab, denn die Pflanzen gehörten ihnen nicht, Tiere hatten sie nicht gezüchtet, sondern nur gejagt. Nur wer sich niedergelassen hatte, war auf Gesetze angewiesen, insbesondere des Eigentums.
Ein Gesetz teilt die Vielfalt möglicher Verhaltensweisen in berechtigte und unberechtigte auf, in Gut und Böse. Durch mein Verhalten entscheide ich, wohin ich gehöre. Doch tatsächlich ist das keine Wahl. Wer will denn bestraft werden? Menschen sind ja nicht blöd! Deshalb wollen wir alle, vor allem die dominanten Männer, als Gute gelten, obwohl wir bei einiger Selbsterkenntnis wissen müssten, dass wir das im Inneren gar nicht sind. Außerdem wären Gesetze sonst überflüssig.
Deswegen haben Fassungslosigkeit und dramatisch geäußertes Entsetzen ihre großen Auftritte, wenn das Böse angeblich in unser Leben einbricht, obwohl es doch als alltägliche Möglichkeit mitten unter uns ist. Das Privileg der Fassungslosigkeit beanspruchen diejenigen für sich, die jeden Zweifel an ihrem Gutsein von vornherein ausschließen wollen. Der Theaterdonner verschleiert, dass es gar nicht um Prävention geht: Wollten wir wirklich verhindern, dass Hass und Gewalt sich Bahn brechen, müssten wir das Patriarchat auf den Prüfstand stellen und beispielsweise dafür sorgen, dass unseren Kindern, vor allem den männlichen Kindern, ihre Emotionalität nicht ausgetrieben wird. Das wäre nämlich ein viel besserer Schutz als Normen, die für die wirklich wagemutigen Männer nur ein Anreiz zu ihrer Überschreitung sind.
Hier wird die Verbindung zur Gewalttätigkeit sichtbar. Wenn ich verlernt habe, mit meinen eigenen, unter der Oberfläche ständig rumorenden Gefühlen zurechtzukommen, bin ich ständig vom Kontrollverlust bedroht. Die Kontrolle erlange ich scheinbar zurück, wenn ich gewalttätig werde; denn das schafft vielleicht unangemessene, aber jedenfalls eindeutige Fakten – last exit Gewalt. So erzählen es verurteilte und erfolgreich resozialisierte Täter. Und deshalb sorgen wohl auch amerikanische Polizisten in unsicheren Situationen dafür, dass der Fremde, der andere, der Schwarze keine Luft mehr kriegt. So entsteht eine unumkehrbare Eindeutigkeit.
Und der Ausgangspunkt dieses Buchs, der Missbrauch, ist auch er ein Effekt des Patriarchats? Was glauben Sie? Hier müssen Sie leider Ihren mehr oder weniger gesunden Menschenverstand mobilisieren, denn Studien gibt es dazu nicht. Oder können Sie sich eine randomisierte Studie zum Missbrauch vorstellen?
Männer, die ihre weichen Gefühle nicht wahrnehmen können, die nicht rechtzeitig und nicht genau spüren, was sie eigentlich brauchen, wie ihre Bedürfnisse sind – und plötzlich von der Erkenntnis übermannt werden, was für unfassbar wunderbare Wesen ein kleines Mädchen oder ein kleiner Junge sind (Eve Ensler hat das beschrieben8) –, können darauf nicht adäquat emotional reagieren, sondern geraten in einen diffusen Sumpf dumpfen Begehrens. Wenn sie sich in diesem Moment an den Primat des Männlichen erinnern, der vor allem verlangt, auf seine Ansprüche nicht zu verzichten, dann vögelt der Vater seine dreijährige Tochter oder zwingt seinen Fünfjährigen zur Fellatio oder zum Analverkehr.
Tut mir leid, wenn ich Ihre Gefühle verletze!
Anders als all diejenigen glauben wollen, die immer wieder ihre Fassungslosigkeit zur Schau stellen, handelt es sich bei diesen Vätern nicht um entmenschte Monster, sondern um Männer, die mit ihren Gefühlen nicht umgehen können. So sieht das aus! Sie bräuchten Hilfe, um nicht mehr zum Täter zu werden. Woher nehmen, wenn unser geplagtes Gesundheitssystem kaum genug Hilfe für die Opfer mobilisieren kann? Allerdings ist das ja auch kein Problem des Gesundheitssystems, sondern unserer patriarchalischen Gesellschaften.
Wie wirkt sich die Härte gegen die eigene Seele in jedem einzelnen Leben aus? Sie erinnern sich? Auch Männer entwickeln in der frühen Kindheit aus Hunger, Schmerzen, dem Bedürfnis nach Berührung, im Kontakt mit der ersten Bezugsperson Gefühle. Das stärkste, unser Verhalten unmittelbar beeinflussende Gefühl ist die Angst. Im zentralen Nervensystem ist sie so organisiert, dass das Erscheinen von Bedrohlichem unmittelbar zu Aktionen führt, ein extrem schnelles, hocheffektives System, das ohne Denken funktioniert und ohne das es uns nicht gäbe.
Drei primäre Angstreaktionen sind bekannt: fight, flight – freeze. Kämpfen oder fliehen – und, wenn die Bedrohung von einem Lebewesen oder einem Naturereignis ausgeht, gegen das man nicht kämpfen und vor dem man nicht weglaufen kann, totstellen. Menschlicher anmutende Aspekte der Angstbewältigung wie Mut, Vertrauen, Erkenntnis, Macht, Hoffnung, Demut, Glaube und Liebe beschreibt Fritz Riemann in seinem Grundlagenbuch zur Angst als »Gegenkräfte der Angst«9; sie können uns in die Lage bringen, uns mit der Angst auseinanderzusetzen.
Weil Angst so bedrohlich ist, versuchen kleine Kinder normalerweise nicht, ihre Angst allein zu bewältigen, sondern suchen die Unterstützung der Eltern. Gleichzeitig entsteht Akzeptanz: Ich erkenne ein Gefühl an, indem ich für mich und alle sichtbar darauf reagiere.
Doch genau dieser grundlegende Mechanismus kommt Jungen im Verlauf ihrer Sozialisation häufig abhanden, was zu einer erheblichen Verunsicherung führt: Während kleine Jungen ihre Gefühle noch akzeptieren dürfen, weinen, wenn sie traurig sind, Schmerzen oder Angst haben, fröhlich und glücklich sind, wenn es ihnen gut geht, erleben sie einen radikalen Bruch, wenn sie plötzlich zum Indianer geworden sind, der angeblich keinen Schmerz kennt. Dieser virtuelle Indianer kann sich und den Rest der Welt nicht mehr akzeptieren. Augen zu und durch!
Warum ausgerechnet »Indianer«? Politisch unkorrekt ist ja nicht nur der Begriff, sondern die Annahme, dass die ursprünglichen Bewohner Nordamerikas mit ihren Gefühlen schwachsinnig umgegangen wären. Wie schon Benjamin Franklin schrieb, hatten »die sechs Nationen des Bundes der Irokesen […] eine klare Arbeitsteilung auf der Grundlage von Geschlecht, Alter und Neigung, […] verwalteten die meisten Ressourcen gemeinschaftlich und übergaben die Verantwortung für ihre [gerechte] Verteilung einem Rat der Frauen […] Mehr als alles andere diente dieses System dem wichtigsten Ziel, Frieden durch moralische Verpflichtungen zu erhalten«10. Irgendjemand hat da etwas falsch verstanden. Diese Indianer sind gänzlich anders als die von uns als vermeintliche Erziehungshilfe mobilisierten Zerrbilder.
Die Absurdität des Verhaltens, Kinder zur Ignoranz gegenüber ihren Gefühlen zu erziehen, wird deutlich, wenn dieses Kind in eine Situation kommt, die Angst auslöst: ein unbekannter Mensch, eine Mobbingsituation im Kindergarten oder in der Schule, Dunkelheit, komische Geräusche in der Nacht. Jetzt wäre es für ein Kind sinnvoll, wegzulaufen oder vielleicht auch mal zu kämpfen, beispielsweise in der Mobbingsituation, aber auf jeden Fall die Hilfe der Eltern zu suchen, um Unterstützung zu bekommen.
Wenn aber solche Gefühle, weil sie angeblich »schwach« oder »schlecht« sind, gar nicht erst auftauchen dürfen, sieht sich dieses Kind plötzlich mehreren Fronten gegenüber: dem Angstauslöser, seiner eigenen normalen, aber jetzt unerwünschten Reaktion und der »neuen« Angst vor dem Vater, der ärgerlich wird oder werden könnte. Der Versuch, die eigene Gefühlswahrnehmung in Befolgung väterlicher Erziehungsvorgaben zu disziplinieren, kann in Kindern nur Verwirrung auslösen, denn gegen das »alte«, effektive Angstsystem, das während der ganzen Evolution unser Überleben sicherte, hat die elterliche Denke, bei allem Respekt, natürlich überhaupt keine Chance. Wenn die Eltern daran festhalten und sie möglicherweise sogar durch Gewaltandrohung unterstützen, werden Kinder künftig immer mehr in Widersprüche mit sich selbst und in eine ambivalente Grundhaltung gegenüber ihren engsten Bezugspersonen geraten. Schließlich werden sie ihre unerwünschten Gefühle ganz unterdrücken.
Diese Situation entbehrt nicht einer gewissen Tragik, da auch der Vater selbst einmal durch eine ähnliche Situation gegangen sein dürfte, als er am Übergang in die Männerrolle stand. Tragik ist schön fürs Theater, hat aber keine heilende Wirkung.
Abgesehen davon, dass man eigentlich keinem Menschen so eine emotionale Ambivalenz wünschen möchte, hat sie noch grundsätzlichere kognitive Wirkungen, die weit über die Verzweiflung eines Kindes hinausgehen: Akzeptanz ist eine wichtige Grundhaltung, gegenüber mir selbst, gegenüber Anderen, gegenüber der Welt. Wenn ich akzeptiere, lasse ich etwas, das ich wahrnehme, so sein, wie es ist, schaue es mir an, erlaube mir meine Gefühle – es bekommt einen Platz in meiner Welt: Aha, so ist das also. Zur Akzeptanz gehört, mich und andere als gegeben anzunehmen und nicht als gut oder schlecht zu bewerten. Big mind nennen das Zen-Buddhisten. Das Ritual des Sichverbeugens spiegelt diese Sicht wieder: Ich verbeuge mich vor der Welt, auch wenn sie unfassbar und unverständlich ist. Es ist die Welt, in der alles Buddha-Natur hat.11
Für die Entstehung einer akzeptierenden Grundhaltung hat mein Umgang mit mir selbst und natürlich mit meinen Gefühlen Modellcharakter. Nur wenn ich mich selbst und mein Leben mit seinen Höhen und Tiefen wertschätze, kann ich andere Personen in ihrem Wert wahrnehmen, auch in den Seiten von ihnen, die mir primär nicht vertraut, sondern fremd sind. Für mich und die Welt macht es einen großen Unterschied, ob ich anderes, auch Fremdes erst einmal akzeptiere oder es von vornherein verändern oder wegen seiner Andersartigkeit gleich bekämpfen muss.
Um zu unserem Ausgangspunkt zurückzukommen: Akzeptanz entsteht, wenn Eltern ihre Kinder so sein lassen, wie sie sind. Und da haben wir den Salat. Denn wenn wir unsere Kinder dazu zwingen, ihre Gefühle zu manipulieren, um dem Vater, der gleichgeschalteten Mutter, also »den Eltern«, zu gefallen, dann treiben wir ihnen die Akzeptanz für sich selbst aus. Wir verhindern die Entstehung des Selbstwerts, der diesem Menschen fehlen wird, wenn er längst nicht mehr klein sein darf, sondern »groß« und einflussreich sein muss. Der erzwungene Verzicht auf die vollständige und wertschätzende Wahrnehmung meiner Emotionen bedeutet vor allem, dass ich auch auf das Glück verzichten muss, mich in dieser Welt zu verwirklichen, von anderen gesehen und genauso akzeptiert zu werden, wie ich nun mal bin.
Ich fasse den Kern meiner Seelenkunde nochmals zusammen: Es hat den Anschein, dass alles, was Kinder aus einer gesunden Bindungsstruktur in den ersten Monaten und Jahren ins spätere Leben mitbringen, menschen- und gesellschaftsfreundlicher ist als die Erziehung zu männlichen Werten. Die sind alles in allem eine kognitive und emotionale Katastrophe.
Durch die gelernte Nichtakzeptanz seiner selbst kommt ein Mann, der dem patriarchalischen Prinzip folgt, automatisch in Widerstreit mit sich selbst. Schon diese Grundhaltung generiert Stress, inneren Kampf, Aggression und in der Folge Widerspruch zu allen anderen. Ärger wird zur dominierenden Grundstimmung, von der es bekanntlich nur ein kleiner Schritt zur tätlichen Gewalt ist. Wenn die Option der Gewalt auftaucht, haben wir die Schwelle zu einem selbstverstärkenden System überschritten, das die Chance beträchtlich steigert, dass Härte, Nichtwahrnehmen und Nichtakzeptanz sich dauerhaft in unserem Verhaltensspektrum durchsetzen.
Die Verdrängung der Gefühle, die Härte gegen mich selbst, kurz das patriarchalische Prinzip, führt in die Gewalt. Eine so orientierte Gesellschaft favorisiert das Recht des Stärkeren und unterdrückt die Auseinandersetzung mit Komplexität und Vielfalt. Unter anderem deswegen haben es Männer nicht leicht.
Die gesellschaftlichen Konsequenzen liegen auf der Hand. Sie befeuern die Gender-Debatte, weil das nichtakzeptierende, harte Verhalten von Männern alle anderen, Männer, Frauen, LBQGT, benachteiligt. Die entsprechende Diskussion tobt seit Jahren, doch sie spart die Kinder aus. Was schon merkwürdig ist. Sind die Kinder nicht unsere Zukunft, leben wir in ihnen nicht weiter, wenn unsere Zeit zu Ende geht? Rätselhafterweise scheint uns das heute kaum zu interessieren. Wir vergeuden die Ressourcen, zerstören die Natur und beschädigen das Klima, als wenn es nicht unsere Kinder wären, die in einer sehr absehbaren Zukunft damit leben müssen. Wir häufen im Interesse unserer Rüstungsindustrie, an der wir Aktien halten, so viel Brennmaterial und Zündstoff an, dass ein Leben ohne Kriege auch für die Kinder des Westens immer unwahrscheinlicher wird. Kinder des Südens oder Ostens, die also das Pech hatten, in Afrika, Asien oder Südamerika geboren worden zu sein, leiden ohnehin schon ohne Ende unter dieser Situation. Ohne jeden Zweifel spielen unsere Nachgeborenen keine Rolle für uns. Der Kindersitz im SUV muss reichen.
Möglich ist das alles nur, weil wir nichts mehr fühlen.
Dazu passt die Marotte der superreichen Männer, nicht mehr an die Zukunft der Kinder, sondern nur an die eigene Unsterblichkeit zu denken und viel Geld in Prozesse des Einfrierens und Auftauens zu investieren: »Der 70-jährige Ray Kurzweil […] und andere Tech-Größen wie Amazons Jeff Bezos oder der Investor Peter Thiel sind aktiv. Sie gehören zu den Finanziers von Unity Biotechnology […] Über eine Milliarde US-Dollar hat Google bereits investiert. Ein weiteres Google-Seitenprojekt könnte dabei helfen: Verily, ehemals Google Life Sciences, will so viel wie möglich aus den Gesundheitsdaten von Menschen überall auf der Welt lernen.«12 Peter Thiel, schon wieder! Beklemmend, oder? Wie gut, dass wir alle googeln, da ist die Zukunft ja gesichert.
Dazu fragten sich zwei hellsichtige Autoren, Moritz Riesewieck und Hans Block, deren Buch über Die digitale Seele 2020 erschien, ob »der Wunsch nach Unsterblichkeit eigentlich eine besondere Form von gekränktem Narzissmus sei, […] den vor allem Männer in sich tragen, […] weil man nicht selber gebären, kein Leben hinterlassen kann«13.
Dieser Gedanke führt noch in andere Abgründe: Wenn die Macht der Männer über ihre Reproduktionsfähigkeit unbedingt erhalten werden muss, dürfen Frauen natürlich nicht darüber entscheiden, ob sie ein Kind bekommen wollen. Auch wenn das hierzulande inzwischen halbherzig gesetzlich geregelt ist, wird der männliche Machterhalt in den EU-Ländern Polen und Ungarn durchaus gegen allen Zeitgeist hochgehalten. Oder täuschen wir uns vielleicht über den Zeitgeist? »Von religiösen Institutionen wie der katholischen Kirche und konservativen protestantischen Gruppierungen über […] Familien- oder Männerrechtsvereine hin bis zu Verschwörungstheoretikern […] findet sich alles unter einem Label: Sie alle verbindet die eine Idee, dass hinter dem Konzept ›Gender‹ eine totalitäre und gefährliche Idee stecke […] In Polen und Ungarn regieren schon Parteien mit einem dezidierten Anti-Gender-Programm […] In Spanien […] wird gegen Abtreibung mobilisiert. […] In Frankreich gegen die ›Ehe für alle‹. [Sie] wollen die Restauration jener ›natürlichen Ordnung‹, in der Frauen den Männern untergeordnet sind.«14
Wie war das? »Eine besondere Form von gekränktem Narzissmus, […] den vor allem Männer in sich tragen, […] weil man nicht selber gebären kann, kein Leben hinterlassen kann.«15
1 Alle Zitate in diesem Zusammenhang in: Bell Hooks: The will to change. New York 2004, S. 7–17
2 Cornelia Funke im Interview mit Elisa von Grafenstein und Vivien Timmler: »Geld ist die stärkste Droge« Süddeutsche Zeitung, Nr. 65, Freitag, 19.03.2021, S. 15
3 Felix Stephan: »Cheerlader für Jobs, Familie und Patriotismus.« sueddeutsche.de 18.03.2021
4 Jürgen von Rutenberg: »Männer, lasst Euch helfen!« ZEIT-MAGAZIN Nr. 36, 25.08.2016, S. 21
5 Marina Soltau: persönliche Mitteilung, 13.03.2021
6 »Kokain wird größeres Problem.« tagesschau.de 08.09.2020, abgerufen am 07.03.2021
7 de.statista
8 Eve Ensler: The Apology. New York 2019
9 Fritz Riemann: Grundformen der Angst. München 2013
10 James Suzman: Work. A history of how we spend our time. London 2020
11 Shunryo Suzuki: Zen mind, beginners mind. New York 2010
12 Jan Tißler: «Let us freeze young or let us live forever«. fluter.de 03.04.2018, abgerufen am 24.03.02021
13 Andrea Schwyzer interviewt Moritz Riesewieck und Hans Block: »Die Digitale Seele.« NDR Kultur à la carte, 28.09.2020
14 Susanne Kaiser: Politische Männlichkeit. Berlin 2020
15 Andrea Schwyzer, a. a. O.