Steven Pinker hat die interessante Hypothese formuliert, dass unsere gegenwärtige Zivilisation die gewaltärmste seit Beginn der Menschheit sei.1 Für Deutschland hat der Kriminologe Christian Pfeiffer eindrucksvoll gezeigt, wie die Zahl der Gewaltdelikte seit Abschaffung der Prügelstrafe zurückgegangen ist.2 Ob man Pinker zustimmen mag, ist unter anderem eine Frage des Standorts: Wer heute in den Vereinigten Staaten von Nordamerika lebt, bezieht sich bei der Beurteilung von kriegerischer Gewalt im eigenen Land auf eine historische Realität, in der die letzten Kriege 1783 (Unabhängigkeitskrieg) bzw. 1865 (Bürgerkrieg) beendet waren. Menschen in Europa, Israel, dem Nahen oder Fernen Osten haben zwangsläufig eine andere Sichtweise entwickelt. Auch wird sich der Blickwinkel eines schwarzen Mannes in den USA von dem des weißen Mannes unterscheiden, von dem einer schwarzen Frau in Afrika ganz zu schweigen. Sogar weiße Frauen in Nordamerika oder Europa dürften die Gewaltfrage vermutlich unterschiedlich und wahrscheinlich anders als Pinker beurteilen.
Der Standpunkt eines Psychologen, der sich mit dem durchschnittlichen Verhalten von Menschen der westlichen Hemisphäre beschäftigt, wird anders sein als der eines Historikers3, der nicht unwesentliche Teile seines Lebenswerkes dem Terror von Josef Stalin gewidmet hat.
Schwer lässt sich auch das Gegenargument entkräften, dass die gegenwärtige relative Gewaltfreiheit zunächst einmal eine Momentaufnahme ist: Exzesse fürchterlichster Gewalt wie der Zweite Weltkrieg und der Holocaust sind gerade mal 76 Jahre her, Stalin starb vor 68 Jahren, der Vietnamkrieg endete vor 46 Jahren, Mao Zedong starb vor 45 Jahren. Und damit war die Historie internationaler Gewalt keineswegs abgeschlossen, denken Sie an den Irak, an Afghanistan, den Jemen, um nur einige wenige zu nennen.
Man könnte außerdem argumentieren, dass die genannten historischen Ereignisse keineswegs abgeschlossen, ihre Ursachen behoben sind: Das mit dem Ende der Sowjetunion nicht verschwundene Gewaltpotenzial Tausender Atomsprengköpfe ist nach wie vor enorm, und die entsprechenden Szenarien könnten uns den Schlaf rauben, wenn wir, die wir früher gegen Marschflugkörper und Pershings protestierten, uns inzwischen nicht entschlossen hätten, unseren Schlaf durch anderes stören zu lassen. Das Russland Putins ist keineswegs das von Stalin, doch auch jener weiß die Vorteile kriegerischer und terroristischer Gewalt zu schätzen. Und auch die Nachfolger Mao Zedongs haben ja keinen Gewaltverzicht unterschrieben, weder was ihre gebetsmühlenartig beschworenen inneren Angelegenheiten noch den Umgang mit den unmittelbaren oder auch weiter abgelegenen Nachbarn betrifft.
Hier wird deutlich, dass Gewalt auch wirksam ist, wenn sie nicht ausgeübt, sondern lediglich möglich wäre, als Hintergrundbedrohung im Raum steht. Zweifellos kommt dem boomenden Handel in einer globalisierten Welt eine gewisse Frieden schaffende Wirkung zu, weil Frieden für alle, die sich einer globalisierten Ökonomie verpflichtet fühlen, eine Win-win-Voraussetzung ist. Aber wie weit trägt Frieden als Voraussetzung prosperierenden Handels tatsächlich? Oder sollte das von Ökonomen, Unternehmern und an der Wirtschaft orientierten Politikern als Realität verkaufte, moralfreie Interesse am freien Fluss des Geldes nicht wenigstens die Frage zulassen, ob Gewalt in Form von Nichtachtung der individuellen Rechte, der Gleichberechtigung von Frauen und LBQT-Menschen unserer Handelspartner schlussendlich nicht auch unsere Einstellung und das Leben in unserer Gesellschaft verändern wird – von deren Einstellung zur Kinderarbeit ganz zu schweigen. Wer wird wen beeinflussen?
Sehen Sie mir es also nach, wenn mich die Frage nach der menschlichen Gewalt noch etwas beschäftigt.
Wie bei allem ist es auch beim Thema Gewalt höchst sinnvoll, möglichst objektiv zu forschen und zu argumentieren. Aber egal, wie sicher Zahlen und Erkenntnisse sind, wird ihr Wert stets dadurch geschmälert werden, dass die subjektive Erfahrung von Gewalt eine viel folgenschwerere Bedeutung für jeden einzelnen betroffenen Menschen hat, als Zahlen und objektive Einschätzung vermitteln können.
Meine Seele ist nach Gewalterfahrungen eine grundsätzlich andere als zuvor. Egal, ob man sie anwendet oder erleidet, Gewalt kann niemanden kalt lassen. Natürlich sind die Positionen des Gewalttäters oder des Gewaltopfers fundamental unterschiedlich. Natürlich mussten die von den Nationalsozialisten gequälten und ermordeten Menschen grundsätzlich anderes erleben als die Männer der Waffen-SS oder der Gestapo. Aber alle, die dieses Grauen überlebten, die aus dem Krieg zurückkehrten oder aus KZs befreit wurden, hatten größte Schwierigkeiten, über das Erlebte zu sprechen, wenn sie nicht überhaupt verstummten. Sie alle waren Gezeichnete. Dies ist nur ein Beleg dafür, dass jeder Kontakt mit Gewalt ein unfassbar zerstörerisches Potenzial hat. Diese unsere relativ zivilisierte Gesellschaft, die Gewalt nicht mehr kennen will, sollte sich das sehr klar machen, denn es hat auch Konsequenzen für unseren Alltag mit seinen von mir beschriebenen Gewalterfahrungen.
Wegen der besseren Überschaubarkeit will ich mich im Folgenden auf die zwischenmenschliche Gewalt konzentrieren, Gewalt zwischen Männern und Frauen, gegenüber Kindern, vielleicht auch gegen Alte.
In Deutschland hat der Gießener Kriminologe und langjährige Direktor des Kriminologischen Forschungsinstitutes Niedersachsen Christian Pfeiffer über Gewalt geforscht:4 Alle Straftaten, bei denen Gewalt und/oder Sexualität zusammenkommen, sind in den letzten 40 Jahren weniger geworden. Auch die Sexualmorde in der Bundesrepublik haben abgenommen. Parallel dazu ging in den Geburtskohorten 1930 bis 1990 die elterliche Gewalt (schlagen!) von 20,4 Prozent auf 4,0 Prozent zurück, die elterliche Zuwendung nahm von 29,4 Prozent auf 61,5 Prozent zu. Ja, das ist eine beeindruckende Reduktion. Aber in 4 von 100, 40 von 1000 Familien wird immer noch geschlagen. Null ist das nicht. Die Pocken gibt es nicht mehr, das ist null.
Und da wäre doch die hiesige Tradition von terroristischen Gewalttaten, die »Baader-Meinhof-Bande« oder etwas moderner die Mörder des NSU und ganz neu: das Attentat auf den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke durch den als Rechtsextremisten eingeschätzten Stephan Ernst. Der wurde – ich weiß, das finde Sie jetzt eine platte Argumentation – im Widerspruch zum weitgehenden Verschwinden von Gewalt aus unserem Erziehungssystem von seinem Vater verprügelt. Ebenfalls aktuell ist der Anschlag auf die Synagoge in Halle durch den ebenfalls rechtsextremistischen Stephan Balliet. Auf der anderen Seite des Spektrums mit dem gänzlich anderen Hintergrund des islamistischen Gefährders Anis Amri, der in den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz raste, 11 Menschen tötete und 55 schwer verletzte.
Oder: Unterhalten Sie sich mal mit einem Polizisten, der regelmäßig Streife geht und die schusssichere Weste nervig schwer, aber unverzichtbar findet oder der sich das zweifelhafte Vergnügen leisten darf, die Fangruppen von Hansa Rostock und Holstein Kiel bei einem der beliebten Heimspiele in voller Montur und mit mannscharfem Schäferhund voneinander fernzuhalten.
Als Jugendlichen faszinierte es mich, dass die Bobbys in London ihrem Dienst angeblich unbewaffnet nachgingen.
Und wenn Sie sich ins Internet begeben, werden Sie unerwartet mit verblüffenden Ausbrüchen von verbaler Gewalt konfrontiert, weil irgendeinem irgendetwas nicht gefiel und er glaubte, darauf heftig reagieren zu müssen. Gewaltfrei wäre wohl anders.
Was also ist von der Gewalt in unserer Gesellschaft hier und heute zu halten? »Wir verleugnen die Gewalt, weil wir uns friedliche Menschen, die nicht böse sind, als Gewalttäter nicht vorstellen können. Und dennoch ist die Gewalt überall, obwohl die Welt nicht nur von bösen Menschen bewohnt wird. Menschen schlagen und töten im Affekt, sie tun es aus Gehorsam, aus Zwang, aus Gewohnheit, aus Freude oder weil sie sich gegen Gewalttäter zur Wehr setzen müssen. Offenbar hängt es nicht von Absichten und Überzeugungen, sondern von Möglichkeiten und Situationen ab, ob und wie Menschen Gewalt ausüben […] Der Raum der Gewalt ist ein anderer Raum, als der Raum des Friedens.«5
Räume? Möglichkeiten und Situationen? Liegen uns nicht andere Begriffe näher, zum Beispiel Moral als Grundlage von »gut« und »böse«? Tatsächlich ist unser Umgang mit Gewalt stark moralisch geprägt, wer Gewalt einsetzt, ist böse, jedenfalls meistens. Trotzdem glaube ich, dass der moralische Ansatz uns im Umgang mit der Gewalt nicht weiterbringt. Denn unsere Überzeugung, zu den Guten und Sanftmütigen zu gehören, bewahrt uns eben nicht davor, gewalttätig zu werden. Oder anders ausgedrückt: Auch Sie und ich, die Guten, können gewalttätig werden, wenn sich uns solche Räume eröffnen. Es hätte ja handfeste Vorteile:
»Gewalt ist eine Handlungsressource, die nicht nur für jeden zugänglich ist, sondern auch von jedem genutzt werden kann. Ein Gewalttäter erzeugt Aufmerksamkeit. Ein Argument kann ignoriert werden, ein Schlag ins Gesicht nicht.«6
Wie kompetent ist der Autor, der solch irritierende Sätze formuliert? Jörg Baberowski, Ost-Historiker an der Humboldt-Universität, hat sich eingehend mit Stalins Terror beschäftigt und kam dabei an den Nazis nicht vorbei. In die sogenannten sozialen Medien geriet er, als er angesichts junger, nordafrikanischer Geflüchteter etwas zum Gewaltpotenzial von Männern äußerte. Das Aussprechen von Tabus hat auch für Gewaltforscher so seine Tücken.
Bezogen auf die Gräueltaten der Nationalsozialisten beantwortet er Fragen, die viele erfolglos der Generation unserer Väter gestellt hatten: »Wie konnte es geschehen, dass Männer, die wenige Jahre zuvor noch brave Familienväter gewesen waren, solche Grausamkeiten begingen? […] Warum töteten sie ohne Anlass und Grund? Warum bereiteten sie den Opfern Qualen, anstatt sie zu erschießen? Niemand hatte ihnen den Auftrag gegeben, Juden zu Tode zu quälen […] Sie hätten Befehle verweigern und ihren Posten im Lager aufgeben können und niemand hätte sie dafür erschossen.«7 Die Antwort ist zutiefst beunruhigend: Es seien »ganz normale Männer« gewesen.
So hat der amerikanische Historiker Christopher Browning jene deutschen Polizisten genannt, die 1941 in die Sowjetunion geschickt wurden, um Juden im Hinterland der Front zu töten. »Als man ihnen befahl, Frauen und Kinder zu erschießen, gehorchten sie. Am Anfang waren sie noch verstört, hatten Albträume und mussten sich übergeben. Wenige Wochen später aber machte es ihnen nichts mehr aus. Sie betranken sich, töteten nach Vorschrift, mitleidlos und ohne Skrupel, weil sie sich einredeten, einen Ehrendienst zu verrichten.«8
Ist das Ungeheuerliche normal? Oder eher banal, wie Hannah Arendt es an einem verwandten Beispiel formulierte?9 Ja, es waren Familienväter, ja, von den wenigsten ist bekannt, dass sie schon vorher als Sadisten aufgefallen wären, selbstverständlich hätten sie diese Befehle verweigern können.10 Spricht etwas Gravierendes dagegen, dass es Männer wie Sie und ich waren? Das müssen wir, voll der Gnade der späten Geburt, natürlich nicht beantworten. Aber wenn wir nur halbwegs aufrichtig sind, könnten wir es eigentlich nur bejahen. Dass nette Männer zu Monstern mutierten, hing von den Möglichkeiten ab: fern der Heimat, dem Konstrukt des Befehlsempfängers verpflichtet, ein Status, innerhalb dessen Grenzen man das unbequeme Gewissen, das, was man über Ethik und Moral mal gelernt hatte, gut außer Acht lassen konnte und lieber nicht hinterfragte. Wer gehorsam ist, fragt nicht.
Es wäre bequemer, wenn wir von einem anderen Modell ausgehen könnten: Dass es Menschen, wieder einmal mit Betonung auf Männer, gibt, bei denen wir uns darauf verlassen könnten, dass sie »gut« sind, und andere, die verlässlich schlecht sind. Und natürlich wäre es gut und selbstberuhigend, Merkmale für die eine oder andere Ausprägung zu kennen.
Leider gibt es keinen Hinweis aus Geschichte oder Psychologie, dass solch ein Modell wirklich tragen würde. Wahrscheinlicher ist ein Spektrum: Es gibt Männer, die sich überwiegend und auch unter schwierigeren Bedingungen anständig, human, empathisch verhalten, und andere, die von Anfang an den Weg des schnellen Erfolgs wählen. Doch wenn der Druck größer wird und man sicher sein kann, nicht entdeckt und bestraft zu werden, dann halten auch die meisten netten Männer nicht, was wir uns von ihnen versprechen lassen wollen. Im Umgang mit so problematischem und gesellschaftsschädigendem Verhalten wie der Gewalt erscheint es vernünftiger, von einem anderen Modell als der überlegenen Moral auszugehen.
Der Begriff des »Gewaltraums« stellt eine Situation, in der mir Gewalt als Verhaltensoption möglich, sinnvoll und straffrei erscheint, als räumliche Option dar. Dieser Raum wird betretbar, wenn das Risiko, diese Option einzugehen, geringer ist als das Risiko möglicher Sanktionen.
Erstaunlicherweise kann der Begriff des »Raums« im Bereich meiner Hauptthemen, der häuslichen Gewalt, des sexuellen Missbrauchs durch Väter oder Priester oder auch durch Therapeuten, in seiner direkten Bedeutung angewendet werden. Denn Tatort ist der häusliche Raum, die Privatsphäre der Familie, in die keiner hineinschauen kann. Missbrauch oder Vergewaltigung spielen sich dort im innersten Heiligtum der Familie, im Schlafzimmer, ab. Das ist der traditionell durch kirchliche Moral und heute auch durch Parteiprogramme geschützte Raum, »die Hölle«, in der die Teufel Mama und Papa so zu Werke gehen, wie die Hamburger Gerichtsmedizinerin Dragana Seifert es beschreibt.11 Der klerikale Missbrauch findet in anderen durch besondere Heiligkeit bewehrten »Schutzräumen« statt, in denen kein Unbefugter etwas verloren hat, wie im Beichtstuhl oder der Sakristei. Überall wird etwas geschützt, in den Therapieräumen beispielsweise das therapeutische Schweigen; doch leider sind es ganz offensichtlich die Falschen und nicht die wirklich Schutzwürdigen, nämlich die Kinder oder die Frauen, die geschützt werden.
Die große Studie zum klerikalen Missbrauch in der katholischen Kirche12 benennt noch weitere Nährböden für Missbrauch, die sich ziemlich zwanglos auf andere Tatorte, die SOS-Kinderdörfer, die Sportvereine, die Pfadfinderlager, die Therapieräume und auch wieder die Familien, übertragen lassen: Es geht um »geschlossene Systeme«, in die kein Unbefugter Einblick haben darf, um »asymmetrische Machtverhältnisse«, also um Macht, um nicht hinterfragbare Dominanz. In keinem Begriff sammelt sich diese Macht so wie in dem des Vaters, ganz gleich, ob er ein Familienvater, ein Heimvater, die heilige Version des »Paters« oder ein väterlicher Führer ist. Und da dieser Diskurs natürlich nie um die angeblich auch positiven Seiten der Macht herumkommt, ist es gut, dass die Autoren klar aussprechen, wie diese Macht im System Kirche missbraucht wird. Die missbrauchenden Priester und die sie deckenden Vorgesetzten haben nicht nur die Schutzbefohlenen, sondern auch die Macht missbraucht. Danach geht’s noch ans Eingemachte: Die Autoren erwähnen die »restriktive katholische Sexualmoral«, die »problematische Einstellung zur Homosexualität«, und – last, not least – den Zölibat.
Auf dem Prüfstand steht also die Tauglichkeit unserer moralischen Ideale, auf die wir uns im Verlauf der herrschenden Säkularisierung zwar immer weniger, aber irgendwie doch noch beziehen. Und mit vollem Recht fragen die Autoren, ob solche Ideale unserer menschlichen Natur, insbesondere unserer Sexualität, eigentlich gerecht werden. In allen Missbrauchsnarrativen taucht immer wieder diese gedankliche Struktur auf, die Ideale zu retten versucht, indem sie die ihnen widersprechende und sie störende Realität ausblendet. Leider war und ist die Realität stärker.
Banaler, aber überall zu finden sind die Mechanismen, mit denen auch dann noch vertuscht wird, wenn der Verdacht schon überdeutlich im Raum steht. Bei den SOS-Kinderdörfern liest es sich wie eine Zusammenfassung: »Der vorliegende Untersuchungsreport legt nahe, dass Berichte über Missbrauch nicht ausreichend ernst genommen wurden, Kindern und Zeugen nicht geglaubt wurde und Täter nicht zur Rechenschaft gezogen wurden.«13 Fast die gleiche Formulierung fand sich bei den Straftaten von Lügde ...
Wir haben das Prinzip von Gut oder Böse, Richtig oder Falsch tief verinnerlicht. Es hat unsere Erziehungsmethoden geprägt – und damit uns selbst. Und als Folge will jeder unbedingt auf der richtigen, der guten Seite stehen. Dieses Prinzip durchdringt alle Bereiche unseres Lebens. Es ist das wesentliche Element der Literatur wie des Feierabend-Tatorts. Und natürlich können auch die Kirchen nicht ohne auskommen.
Die Kirchen! An ihrem Beispiel kann ich vielleicht deutlich machen, um was es wirklich geht. Ich nenne es mal das Fragwürdige an der Moral der Bischöfe oder »Woelkis Wolken«. Warum machen wir so ein Gewese um den Missbrauch der Priester? Warum ist es so wichtig, ob er veröffentlicht oder unter Verschluss gehalten wird? Was sollen diese Zeitungsdramen ohne Ende? Akzeptanz der Fakten ist das schließlich nicht. Wäre es nicht einfacher, wenn wir akzeptierten?
Was? Dass 4 Prozent der Priester irgendwie mit ihren Schutzbefohlenen rummachen und diese so für den Rest ihres Lebens beschädigen. Böse Priester, aber die Majorität ist ja gut. Glauben Sie nicht? Doch 96 Prozent versus 4 Prozent ist eindeutig Majorität. Das Problem liegt woanders:
Erstens in der Unsicherheit, dass niemand sagen kann, ob ein bestimmter Priester gut ist und in den entsprechenden Situationen, die ihm bekanntlich auch ganz anderes ermöglichen würden, gut bleiben wird. Folgen wir Baberowski, wozu ich stark neige, so müssen wir uns eingestehen: Jeder kann beides.
Und zweitens wird der klerikale Missbrauch durch den Absolutheitsanspruch der Kirche erst richtig zum Problem: Warum wollen sie partout heilig sein? Würde man zugestehen, dass auch Priester wie andere Männer gelegentlich auch nicht mit ihrer Sexualität zurechtkommen, könnten wir einen realistischen Umgang finden, mehr Supervision und vielleicht durchaus Kontrolle einführen. Das hätte zum Beispiel die für die Opfer hilfreiche Konsequenz, dass man einen plötzlich in den diversen Räumen auftauchenden Verdacht nicht mehr so einfach unter den Tisch hauen könnte.
Die entscheidende Frage: Wollen wir das so lassen? Ein für alle Mal? Vor der Antwort sollten Sie sich nicht drücken. Erst wenn wir uns klar positioniert haben, können wir uns überlegen, was wir dagegen tun könnten, gegen den Missbrauch der Priester, gegen den Missbrauch in den Familien, gegen die häusliche Gewalt, gegen Sextourismus, gegen therapeutischen Missbrauch – und all die anderen Themen, mit denen ich versucht habe, Ihnen die Nachtruhe zu stören.
Noch mal: Wollen wir das alles so lassen? Manches ja, anderes nicht? Bei den Bischofskonferenzen und Synoden würde die Verneinung bedeuten, entschlossen Ursachenforschung zu betreiben. Nicht zu vertuschen, sondern zu klären, was wirklich wichtig ist: Liegt es am Zölibat? Oder an der Exklusion der Frauen? Einfacher ist, sich auf den umwölkten Olymp zurückzuziehen und das Heilige durch Nebelkerzen zu schützen, Anwaltskanzleien zu bemühen, die persönliche Taten benennen, die inzwischen leider verjährt sind. Gibt es bei Christen eigentlich einen Olymp?
Wer sich mit der Macht einlässt, wird irgendwann feststellen, dass die Option der Gewalt vor der Türe steht. Und trotz einiger mächtiger Frauen sind die allermeisten Mächtigen nun mal Männer. Gibt es eine Essenz des Männlichen, die unsere Faszination an der Macht, der Gewalt, die Risikobereitschaft und vielleicht auch noch die Dominanz erklären könnte? Am besten etwas Biologisches, das klarmacht, warum Männer so sind, wie sie sind, und vor allem: dass daran nichts zu ändern ist. Auf der Suche nach dieser schlichten Frage landet man ziemlich schnell beim Testosteron.14
Dieses Hormon ist der Kandidat Nr. 1 für biologische Männlichkeit. Weiß doch jeder! Es gilt als die Grundlage von allem, was Männer ausmacht – und natürlich fehlte es in der christlich deutschen Politik der vergangenen 16 Jahre: »CDU-Vorsitz 2020 impliziert ganz klar: testosterongesteuert.«15 Netter Gedanke, leider völliger Blödsinn. Vor allem ist Testosteron keine Entschuldigung für die soziopathischen Entgleisungen von Männern. Obwohl man versucht hat, dieses Hormon in genau diese Position zu bringen!
In einem umfassenden Überblick zur Testosteronforschung beschreiben Rebecca Jordan-Young und Katrina Karzakis, wie die Washington Post 1971 neben einem Artikel, der über Calleys Prozess informierte – Sie erinnern sich: My Lai? –, einen Bericht über die Beziehung von Sexualhormonen und männlicher Aggression brachte. Die Zeitung behauptete nicht explizit, dass die Verbrechen von Calley und seinen Männern so zu begründen wären, aber tatsächlich versuchte man in der Folge mithilfe von Testosteronbestimmungen »irrationalen Killern den Zugang zum Militär zu verwehren«16.
Der Zusammenhang zwischen Steroidhormonen und Verhalten war in den 1970er-Jahren ein heißes wissenschaftliches Thema, das nicht nur den »Krieg der Geschlechter« durch Testosteron und Östrogene quasi personifizieren sollte. Aber letztlich kam nichts Tragfähiges dabei heraus: »Dieselben Forscher […] räumen seit Jahrzehnten ein, dass diese Beziehung ›unsicher‹, ›schwach, inkonsistent und unzuverlässig‹ ist […] In doppelblinden, Placebo-kontrollierten Studien […] hat Testosteron keine Auswirkungen auf aggressive Verhaltensweisen oder Gefühle.«
Wie immer ist die Biologie zu komplex für die Instrumentalisierung in gesellschaftlichen Klischees. Was macht diese Komplexität aus? Selbst biologisch ist Testosteron noch nicht einmal ein männliches Alleinstellungsmerkmal, denn es spielt auch in weiblicher Sexualität eine zentrale Rolle.17 Testosteron kommt ja nicht nur beim Mann vor, sondern auch bei der Frau; bei ihr ist es anscheinend für die Rekrutierung von Primordialfollikeln zuständig, einer Vorstufe des Eisprungs, spielt also eine grundlegende Rolle in der Reproduktion. In seiner Freisetzung und Wirkung verhält es sich wie andere Steroidhormone, Östrogen oder Corticosteron; es ist nicht einfach erhöht oder erniedrigt, sondern seine Freisetzung verändert sich über den Tag, es zeigt also eine sogenannte Tagesperiodik. Außerdem hat es wenigstens zwei in ihren zeitlichen Auswirkungen unterschiedliche Wirkungen an den Zellen, die es beeinflusst: die sogenannte »genomische« Wirkung im Zellinneren am Androgenrezeptor und eine schnelle Wirkung an der Zellmembran, die über die sogenannten G-Proteine weitergeleitet wird. Schon diese Eigenschaften machen das Errechnen einfacher Korrelationen zwischen Hormonspiegeln und Verhalten zu einem Himmelfahrtskommando.
Wie Siri Hustvedt in einem Essay zu Geist und Körper bis zur Ermüdung ausführlich darlegt,18 wissen wir über die Wirkung der Hormone auf komplexes menschliches Verhalten viel zu wenig. Bei Ratten erhöht Testosteron die Aggressivität, aber in diesem Punkt sind Männer keine Ratten.
Außerdem gerät in den Diskussionen über angebliche Verhaltenswirkungen von Hormonen häufig in Vergessenheit, dass es beide Möglichkeiten gibt: Das Hormon kann das Verhalten – Risikobereitschaft, Aggressivität, Dominanz oder auch Muskelvolumen und -stärke – beeinflussen, aber genauso ist das Umgekehrte möglich, zum Beispiel, dass ein Verhaltensaspekt wie der soziale Status die Hormonfreisetzung beeinflusst, und Letzteres bei Männern wie Frauen.19 In diesem zitierten Modell wurde der Sozialstatus noch dazu durch das Geschlecht, aber auch durch die Erwartungen des sozialen Umfelds an Personen in Abhängigkeit vom einen oder anderen Geschlecht beeinflusst.20
Wenn Sie versuchen, sich in so eine Thematik hineinzudenken, wird schnell klar, dass eine so schlichte Schlussfolgerung wie »Hormonerhöhung macht aggressiv« weder der Biologie noch den unterschiedlichen Verhaltensaspekten bis hin zum hoch vernetzten Sozialverhalten gerecht werden kann. Realistischer dürfte die Annahme sein, dass Testosteron statt der »Quintessenz der Maskulinität eher ein Molekül für verschiedene Zwecke [ist], das sich übergreifend auf eine Anzahl von biologischen und psychologischen Systemen auswirkt«21.
Vielleicht sollte ich an dieser Stelle betonen, dass Biologie beim Menschen nichts entschuldigen kann. Denn so sicher, wie es ist, dass biologische Zusammenhänge unser Verhalten modulieren und dadurch moduliert werden, ist es auch, dass diese ungeheure Powermaschine in unserem Schädel die Oberhand behalten wird, wenn wir nur wollen. Sonst wären wir Menschen nicht da, wo wir sind. Ja, es gibt Hinweise, nicht sehr robuste, aber immerhin, für die Modulation von sexualisierter Gewalt durch Testosteron bei Männern, und ja, es gibt Hinweise für zyklusabhängige Verhaltensweisen bei Frauen, aber bei Menschen mit normaler Gehirnentwicklung werden diese Mechanismen nie die letzte Oberhand gewinnen. Wir sind nun mal keine brunftigen Hirsche oder Elefantenbullen, die sich und alles ihnen Entgegenstehende niederwalzen, um zum Ziel ihrer Gier zu kommen. Und wenn wir Männer uns trotzdem so verhalten, dann, weil wir es gut finden, weil wir gelernt haben, dass Mann so sein darf, sobald er sich in den entsprechenden Räumen befindet, zu denen leider oft das eheliche Schlafzimmer gehört.
Wenn Sie sich dem Thema Gewalt und Männlichkeit trotz dieser vielen Unklarheiten weiter zu nähern versuchen, wird Sie Folgendes erstaunen: Eine wesentliche Bedingung von Gewalt ist Unsicherheit, Schwäche. In großen wie in kleinen Zusammenhängen: »Zur Grausamkeit verleitet […] auch das nüchterne Kalkül derer, die ihrer Macht nicht gewiss sein können […] In der Sowjetunion Stalins, in China und Kambodscha wurden im 20. Jahrhundert Millionen Menschen ermordet, nicht, weil der Staatsapparat allmächtig, sondern weil er schwach war. Der Terror war eine Repräsentation des schwachen Staates, die Grausamkeit ein Mittel der Macht.«22
Wenn Männer nicht weiterwissen, wenn sie zu scheitern drohen, keine Alternative mehr sehen, dann ist die Gefahr am größten, dass sie die Grenze zur Gewalt überschreiten. Gewalt ist quasi die letzte Option. Denn wenn ihnen alle Felle wegzuschwimmen scheinen, gibt es immer noch die letzte Chance, mit Gewalt zu gewinnen, denn Männer sind ja meistens stärker als die anderen, oder halten sich dafür. Warum ist Unterliegen, Verlieren, Schwachsein so furchtbar?
Wenn Sie sich bei den Tieren umschauen, auch bei starken, potenziell gefährlich gewaltsamen, stellen Sie schnell fest, dass Gewalt um fast jeden Preis vermieden wird. Wenn sich zwei Tiger an der Reviergrenze begegnen, erfolgt die Auseinandersetzung so schnell und ritualisiert, dass der Unterlegene schon seines Weges zieht, bevor wir überhaupt gemerkt haben, dass Gewalt im Spiel war.
Warum können wir Männer das nicht? Wenn es an irgendeinem Aspekt der biologischen Männlichkeit läge, müssten wir doch auch dazu in der Lage sein. Warum kämpfen wir bis zur Selbstaufgabe, warum idealisieren wir den »Untergang«?
Weil wir uns schämen: »Scham ist die wichtigste und grundlegendste Ursache aller Gewalt […] Der Zweck von Gewalt ist es, die Intensität der Scham zu vermindern und sie, soweit es möglich ist, durch ihr Gegenteil, den Stolz, zu ersetzen. So kann das Individuum verhindern, durch das Gefühl der Scham überwältigt zu werden.«23 Scham ist ein starkes Gefühl, das entsteht, wenn wir uns gegen die Wertvorstellungen oder Interessen unserer Gruppe falsch verhalten. Indem ich mich schäme, vermeide ich die Bestrafung, signalisiere, dass ich auf dem falschen Weg war, und kann mich wieder in die Gruppenhierarchie einordnen. Tomasello interpretiert Schuld- und Schamgefühle bei Kindern als »eine Art Selbstbestrafung, die verhindern soll, dass ich den gleichen Regelverstoß in der Zukunft wiederhole […] All dies reflektiert […] eine Art Gruppenidentität und soziale Rationalität«24.
Was Kinder können, ist den Männern verloren gegangen. Was sagt das über unsere Sozialstruktur? Warum tun wir so, als ob in unserer Gesellschaft nur die Starken, Wehrhaften, eben jene, die Gewalt in ihrem Repertoire haben, ein Existenzrecht hätten, vor dem die krank und hilflos Gewordenen sich besser verkriechen sollten? Das wäre ein Wandel aller Grundlagen, die menschliches Zusammenleben bisher ausgemacht haben. Selbst die Buschmänner in der Kalahari, ansonsten sehr pragmatisch und im Hier und Jetzt lebend, haben eine Kultur, in der Schwache und Alte geschützt werden.25
Bewegt sich unsere »Zivilisation« in die falsche Richtung, wenn sie Scham durch Gewalt ersetzt? Zumindest aus dem Feminismus kommt da eine klare Ansage: »Einer der Grundpfeiler des Patriarchats ist es, sich nie zu entschuldigen. Würde nur ein Mann hervortreten und sich öffentlich zu seiner Schuld bekennen, wäre das ein Verrat an allen Männern […] Wir brauchen jetzt die mutigen Männer!«26 Das ist aus einem Kommentar zur erschütternden Missbrauchsgeschichte von Eve Ensler. Die Journalistin Johanna Adorjan hat ihre Geschichte weitergedacht und stellt Fragen. Ein paar Antworten von Männern wären wohl nicht schlecht.
Dass Gewalt Ausdruck von Scham und Schwäche der Männer ist, merken vor allem die anderen nicht. Und selbst wenn: Sie hätten nichts davon. So hatte auch die Mutter von Trevor Noah, dem in Südafrika zur Zeit der Apartheid als Sohn eines Schweizer Vaters und einer Xhosa-Mutter geborenen Conferencier und Kabarettisten, nichts von der Einsicht, dass ihr Mann Abel eigentlich sich selbst nicht leiden konnte, wenn er sie schlug. Oder später auf sie schoss. Wie viele Männer kam Abel in solche Zustände, wenn er sich betrunken hatte.27 Auch deutsche Frauen bewerten Handlungen unter Alkohol meistens als weniger schwer. Sie folgen dabei der Auffassung deutscher Gerichte, dass die Männer unter Alkohol weniger oder gar nicht mehr steuerungsfähig und deswegen für ihre Handlungen nicht verantwortlich sind. Frauen täten gut daran, sich bei ihrer Entscheidung, ob sie mit unter Alkohol schlagenden Männern zusammenbleiben, weniger von der Einschätzung des Strafrechts als von ihrer Selbsterfahrung als Opfer solcher Gewalt leiten zu lassen.
Wenn wir akzeptieren, dass es die Angst vor der Konfrontation mit der eigenen Unzulänglichkeit ist, die hässliche Männergewalt befördert, nähern wir uns allmählich dem für Männer bedrohlichsten Thema: der Potenz. Anders als gerne behauptet, ist Potenz fragil, eine zerbrechliche Angelegenheit. Streng genommen nicht zerbrechlich, sondern weich. Warum ist Potenz für Männer so kostbar? Wie alles Kostbare: weil sie nicht selbstverständlich ist. Um es für Ihren Geschmack wahrscheinlich etwas zu deutlich zu sagen: Wäre ein steifer Schwanz so leicht zu zeigen wie der berühmte steife Finger, dann wäre Potenz nicht eine so tolle Sache.
Potenz, die Fähigkeit zum steifen, erigierten Glied, das die Männerkulturen mit phallischen Symbolen wie Obelisken feiern, ist eine ziemlich komplexe psychosomatische Reaktion. Das wichtigste Organ dafür ist ausgerechnet das Gehirn! Ob mich ein anderer Mensch erregt, beruht auf Vorstellungen, auf meinen Bildern von mir und dem Gegenüber, die in der Begegnung zwischen Mann und Frau, Mann und Mann entstehen. Ich bin nicht kraft meiner eigenen Herrlichkeit potent, sondern immer auch dank einer anderen Person, die meine Potenz befördern oder, wenn ich ihren Zweifel zu spüren glaube, behindern kann. Und vielen Männern gerät es zur großen Herausforderung, dass etwas so wohlgefällig Männliches eben nicht ausschließlich unserer Kontrolle unterliegt! Das können wir nicht so lassen! Und so müssen viele die weibliche Macht verdrängen, ignorieren, klein machen, erniedrigen und vernichten. Wie krank der landläufige männliche Umgang mit der Sexualität ist, zeigt der Sprachgebrauch: Eine der größten Beleidigungen ist »Ich ficke dich«! Sex wird auf den Begriff des »Fickens« reduziert, und eine der größten potenziellen Glückerfahrungen wird maximal erniedrigt. Was der Potenz nicht so richtig viel hilft.
Nicht alle Männer haben das nötig. Nur die verletzten und gekränkten, die traumatisierten Krieger. Potenz ist also verletzlich. Auch das noch. Und so ist die Phallokratie, in der wir leben, in ihrem Kern verwundbar, schwach. Der ach so herrliche Phallus ist über die längste Zeit seiner Existenz ein kleines verschrumpeltes Organ.
Schwäche und Verwundbarkeit sind die tiefsten Bedrohungen der Männer. Bei TED gibt es ein faszinierendes Interview mit einem verurteilten Gewalttäter, der 16 Jahre in kalifornischen Knästen zugebracht hat und seit einigen Jahren frei ist, weil er umgelernt hat. Schwarz, männlich hat er einiges zum Thema Gewalt zu sagen. Nein, nicht schon wieder die schwere Kindheit, obwohl er einiges über männliche Sozialisierung weiß, die nun mal bei Kindern und Jugendlichen passiert. Von der Gewaltverherrlichung bis zu Attitüde, Frauen unverblümt auf den Arsch zu starren. Richtig Macho also. In nur zehn Minuten macht er klar, was dahintersteckt: die Angst, schwach zu werden, die Abwehr, andere Gefühle zuzulassen, die Irritation, wenn er wirklich mal erlaubte, dass andere ihm empathisch begegnen, er sich selbst empathisch verhalten könnte. »Mich um eine andere Person zu kümmern, macht mich schwach!«28 Er bestätigt Bell Hooks29, wahrscheinlich ohne sie gelesen zu haben.
Potenz hat also mit Selbstgefühl zu tun, aber nicht nur damit, auch mit Konkurrenz, Dominanz, Status, Macht. Gegenüber anderen. Die Gestaltung meines Verhältnisses zu anderen bestimmt meine Welt. Und mein Gefühl für Konkurrenz, Dominanz, Status, Macht trägt zu dem inneren Zustand, meinem Selbstgefühl, bei, der mir ermöglicht, anderen gegenüberzutreten. Selbstgefühl ist eine fragile Sache. Da gibt es einen interessanten Unterschied zwischen Männern und Frauen: Frauen machen sich diese Zerbrechlichkeit bewusst, sprechen sie aus. Wir Männer haben’s oft nicht so mit dem Bewusstmachen. Deswegen agieren manche ihre Zerbrechlichkeit in Gewalt aus. Die erkennt dann keiner mehr, aber auch der gewalttätige Mann wird ein anderer als der, den etwa die Familie kannte. Und er selbst entfernt sich von seinem Kern, von seiner Seele, mehr und mehr.
Nehmen wir an, dass Männer in kritischen Situationen nicht zimperlich sein konnten, weil sie sonst nicht überlebt hätten, in der harten, lebensgefährlichen Vorzeit. Wir kennen wieder mal nur ganz wenige Zahlen, keine Motivationen und schon gar keine alternativen Szenarien. Steinzeitfunde deuten darauf hin, dass zehn von zwölf Männern durch die Hand anderer starben.30 Woran liegt’s? Vermutlich war Männergewalt ebenso wie beim Mord in der Neuzeit schon damals vor allem für Männer gefährlich. Nicht nur Menschenmänner: Auch bei manchen menschennahen Primaten ist der Anteil an Todesfällen durch interpersonelle Gewalt sehr groß. Männliche Wesen können offenbar in einen Modus switchen, in dem sie für andere lebensgefährlich werden. Das müssen allerdings nicht unbedingt nur Männer sein.
Eine Gruppe Konstanzer Psychologinnen und Psychologen hat im tiefen Schwarzafrika zu Traumata geforscht und Therapie gemacht. Sie sind dabei in Länder gefahren, in die sich andere Psychotherapeuten nicht einmal zum Abenteuerurlaub trauen würden, geschweige denn zur Arbeit. Dort haben sie Menschen interviewt und therapiert, die mit Gewalt in einer Intensität und Häufigkeit konfrontiert wurden, wie wir sie unter den gegenwärtigen Lebensverhältnissen hierzulande zurzeit nicht erleben.31
Im Spektrum der Gewalt unterscheiden sie drei Formen, in Analogie zum Titel des berühmten Italowestern »The Good, the Bad, and the Ugly«32: Der »Gute« setzt Gewalt nur ein, wenn sie im Rahmen der geltenden Werteordnung akzeptiert ist, also nur zur Selbstverteidigung. Der Böse versucht, sich mit Gewalt zu holen, was ihm der Rest der Gesellschaft nicht zugestehen will.
Und welche Gewalt ist hässlich? Die mit der Lust! Lust an der Verfolgung, Lust am Töten, Lust am Vergewaltigen. Für diese Art Gewalt haben wir in der westeuropäischen Zivilisation der Gegenwart einen ziemlich großen blinden Fleck. Baberowski schreibt dazu: »Man muss sich die Menschen der Moderne also als triebgedämpfte Menschen vorstellen, die verlernt haben, Lust an der Gewalt zu empfinden. Davon habe der Mensch des Mittelalters nichts gewusst. Sein Reich habe aus Raub, Kampf und Jagd bestanden, und für die Mächtigen und Starken habe das Verletzen und Töten ›zu den Freuden des Lebens‹ gehört.«33
Auch wenn sie jetzt nur noch domestiziert vorkommt und das Töten gesetzlich sanktioniert ist, macht die »appetitive Aggression« immer noch einen Riesenspaß, wie die Männer dominierte Begeisterung für das populäre Spiel mit 22 Männern und einem Ball allwöchentlich aufs Neue beweist.34 Bei der »appetitiven Aggression« ist im Gegensatz zur reaktiven Aggression, bei der ich mich angegriffen zur Wehr setze, die Empathie ausgeschaltet. Wenn Kämpfen einen positiven, gesellschaftlich akzeptierten Wert bekommt, kann der Combat High, der Kampfrausch, entstehen. So berichtete ein afrikanischer Tutsi-Kämpfer, dass er den »Blutdurst spürte, wenn er Gewehrsalven hörte. [… Ein amerikanischer Pilot und Familienvater sagte:] Ich habe einen Drang zum Bombenwerfen entwickelt, es erregt mich, es ist ein tolles Gefühl! Es ist genau so toll, wie jemanden zu erschießen […] Je mehr wir getötet haben, desto mehr wurden wir motiviert, es wieder zu tun. Das lässt dich nicht los […] Es ist ein ganz unerwartetes kollektives Vergnügen.«35
Es ist vollkommen in Ordnung, wenn Sie das widerlich finden. Aber Sie sollten sich bewusst sein, dass Sie damit wesentliche Aspekte des Menschlichen ausblenden. Die Lust an der Gewalt, am Blut, an der Jagd, an der Hilflosigkeit der Opfer ist menschlich. The Ugly ist unser Bruder oder sogar eher unser Vater. Wir müssen annehmen, dass es uns ohne diese Gewaltform nicht gäbe, die wir in unserem zivilisatorischen Hochmut gerne verdrängen würden. Denn als der sogenannte Homo sapiens, der »weise Mensch«, vor ca. 300 000 Jahren in Afrika, in Marokko oder Ostafrika entstand, lebte er gefährlich: Für viele andere Lebewesen, entschieden gefährlicher als er selbst, war er die ideale Beute. Umgekehrt war es für ihn selbst schwer, an Nahrung zu kommen; Tiere, die kurzfristig schneller als die Menschen waren, mussten gejagt werden. Gejagt. Zu Fuß. Über Stunden und Tage. Sie mussten müde gemacht, eingeholt und mit den Händen oder primitiven Werkzeugen getötet werden.36 Bei solchen mühsamen, langen Jagden erwies es sich wahrscheinlich irgendwann als Überlebensvorteil, wenn das Gefühl der Entbehrung, des drohenden Versagens, des Scheiterns plötzlich in Lust umschlug. Mit dem Energieschub dieser Lust konnte der Mensch das Tier einholen, das eigentlich viel schneller war, er bekam den Mut, anderen menschenähnlichen Wesen, die stärker waren als er selbst, den Schädel einzuschlagen, um ihnen Nahrung abzujagen oder sie gleich aufzufressen, diese Lust machte Frauen gefügig, um sie mal mehr oder mal weniger zu vergewaltigen, was dem eigenen Genpool Vorteile verschaffte. Vielleicht war diese Lust ein Grundelement menschlichen Überlebens. Die Vorfahren, die solche Lust mobilisieren konnten – Lust am Blut, Lust, die Angst in den Augen der Verfolgten zu sehen, Lust, die aus den Hilfeschreien entstand –, setzten sich dann durch, wenn Gewalt angesagt war. Wie so vieles ist auch diese uns heute als moralisches Desaster erscheinende Lust ein Teil unseres Erbes. Also sind bis heute in unserem menschlichen Verhaltensrepertoire Eigenschaften enthalten, die mit dem, was wir Zivilisation nennen, wenig zu tun haben. Wie wir gesehen haben, ist the Ugly nicht die einzige Menschenvariante. Aber eine, deren Existenz wir bitte ernst nehmen sollten. Wir sollten auch Konzepte entwickeln, wie wir mit dieser hässlichen Gewalt umgehen, wenn sie in verstörender Weise in uns selbst auftaucht. Sonst wird sie uns überrollen. Alles Verdrängte holt uns irgendwann wieder ein.
Was fangen wir damit an? Wäre es nicht eine angemessene Aufgabe für uns Männer, dieses Verhaltensarsenal zu sichten, auszuwählen, das Brauchbare zu fördern, das Gefährliche zu kontrollieren? Verhalten lässt sich modifizieren, sogar halbwegs intelligente Computer können das. Warum sollten wir das nicht hinkriegen? Wer? Also ehrlich: Wer wohl? Ach, Sie meinen, solche schwierigen Seiten kennen Sie gar nicht an sich? Baberowski würde wahrscheinlich sagen, dass Sie dann noch nicht in einer Situation waren, die so etwas auslöst. Dann wollten Sie noch nie diesen miesen, üblen Typen killen, der Ihrer Frau, Ihren Kindern zu nahe kam, wollten den anderen noch nie zum Untermenschen degradieren, die andere zur billigen Schlampe, die ja sowieso verdient hat, was ich jetzt nicht ausformuliere.
Geht diese Geschichte nur Männer an? Bei ihren Untersuchungen fanden die Konstanzer Forscher, dass Frauen nur selten in der Gruppe der Kämpfer auftauchten, weil sie meist versklavt wurden. Bei denen, die es doch geschafft hatten, an Waffen zu kommen, bestand kein Unterschied zu den Männern.37 Auch Frauen sind nicht a priori die Guten. Jede und jeder kann Gewalt.
Und die Kinder? Kinder werden nur gewaltsam, nachdem sie selber Gewalt erlitten haben. Es ist ein Irrtum, dass Gewalt einem Menschen gewaltsames Handeln verleiden würde. Wie man an schlagenden Eltern sehen kann, ist das keineswegs so, denn sie produzieren die nächste Generation an Schlägern, vor allem bei den Männern. Das gilt übrigens auch für traumatisierte und nicht therapierte Geflüchtete. Wenn wir uns ihnen gegenüber human verhalten wollen, reicht der Vorsatz, sie bei uns aufzunehmen, nicht aus. Es ist nicht genug, traumatisierte Geflüchtete in Sicherheit zu bringen; will man ihnen wirklich helfen, muss man ihr Trauma therapieren. Die Konstanzer Arbeitsgruppe entwickelte spezielle Therapien, die Aggressivität, Traumasymptome und Substanzmissbrauch vermindern sollen. Sie können sich darüber gerne informieren und das Vorhaben auch unterstützen.38
Die Möglichkeit, sich gewaltsam zu verhalten, gehört zu unserem biologischen Erbteil. Eine Möglichkeit, keine zwingende Notwendigkeit. Menschen bringen aus der Vorzeit viele andere Eigenschaften mit, die nicht so problematisch, sondern viel konstruktiver sind wie unsere Anlagen zur kooperativen Kommunikation, zur Empathie. Aber warum verwenden wir biologische Zusammenhänge so oft als Entschuldigung, als Ausrede? Warum führen wir Männer jene in ihrem intellektuellen Gehalt wirklich lächerlichen Scheingefechte, in denen wir unser Verhalten mit der biologisch größeren Stärke erklären oder mit einem von vielen Hormonen, dem geradezu mystisch überhöhten Testosteron? Im Spektrum des problematischen Männerverhaltens spielen gerade die Kirchen eine fatale Rolle, indem sie undifferenziert Biologisches als Gottgegebenes überhöhen. Vielleicht sollten wir die Kirchenmänner daran erinnern, dass der gerne zur Begründung aller möglichen Untaten gegen die Natur bemühte Auftrag, sich die Erde untertan zu machen, anders interpretiert werden könnte: dass wir das Potenzial der Schöpfung, zu der auch die Sexualität gehört, ernst nehmen und aus unseren menschlichen Verhaltensoptionen jene auswählen, die weniger zerstörerisch für Menschen und Welt sind als das, was Männer leider am meisten lieben. Und das würde auch beinhalten, das Patriarchat kritisch zu beleuchten und nicht heiligzusprechen.
Neuere anthropologische Forschungen legen nahe, dass die »Verhaltensstörung« der Männer ein Ergebnis der relativ spät in der Menschheitsgeschichte erfolgten Sesshaftigkeit sein könnte.39 Letztlich aufklären lassen wird sich diese Frage aus Mangel an schriftlichen Überlieferungen nicht. Aber schadet es denn, einmal über die Vor- und eben auch Nachteile von Ackerbau, Viehzucht und die ihnen folgende Sesshaftigkeit in Städten nachzudenken? Entwicklungen, die mit Ungleichheit, dem Aufkommen der Sklaverei und der religiösen Überhöhung der Macht einhergehen. Und könnten wir Männer nicht zur Abwechslung mal eine aktive Rolle bei der Behandlung dieser Störung übernehmen, auch wenn die obligaten Schuldfragen letztlich nicht beantwortet sind?
In den bisherigen Zusammenhängen war immer wieder von Trauma und Traumatisierung die Rede. Deshalb will ich hier einige Sachverhalte erläutern, die erklären, was Trauma eigentlich für Betroffene und Gesellschaft bedeutet.
Trauma heißt Wunde, doch diese Wunde sehen Sie nicht, die sieht auch keine Gerichtsmedizinerin den Menschen an, denn sie spielt sich vor allem in der Seele ab. Doch wie bei einer »richtigen« Wunde bleiben die Verletzung und die Narbe, also der Versuch, die Wunde zu schließen, lange, oft für immer, erhalten. Blut muss bei einer Traumatisierung nicht fließen, obwohl auch das natürlich oft vorkommt. Seelische Traumata sind so geartet, dass sie nicht so einfach heilen wie körperliche Wunden. Und deshalb müssen Traumatisierte nicht nur das Trauma selbst, sondern auch die eigentümliche Art der Erinnerung daran und die Folgen für lange Zeit, oft ein Leben lang, ertragen.
Auf normale Weise an das Trauma erinnern können sich Traumatisierte eben gerade nicht, was für Täter aller Arten ungemein praktisch ist: Denn genau deswegen entspricht zum Beispiel das, was vergewaltigte Frauen bei einer polizeilichen Anzeige erzählen können, den hohen Ansprüchen an eine Zeugenaussage nur selten. Traumatische Erinnerungen sind nebulös. Klare Erinnerungen bringen erst eine Therapie, und auch nicht jede.
Aber bloß, weil sie nicht exakt erinnert werden können, sind die traumatischen Erinnerungen nicht weg. Der Neuropsychologe Thomas Elbert und seine Mitarbeiterinnen erklären Traumatisierung als eine Art »Überwältigung«40: Mir widerfährt etwas, das ich nicht fassen, nicht einordnen und nicht so verarbeiten kann, wie Menschen Erlebnisse sonst verarbeiten.
Was wir normalerweise über den Tag wahrnehmen und erleben, wird vorübergehend in einer relativ kleinen Hirnstruktur, dem Hippokampus, gespeichert, bis es während des Schlafs sortiert wird; vieles wird vergessen, anderes wird auf Dauer in den dafür vorgesehenen Strukturen des Großhirns gespeichert. Und damit ist unsere Aufnahmefähigkeit wieder für einen neuen Tag bereit.
So funktioniert das bei einem Trauma eben nicht. Aus vielen möglichen Gründen.
Im Krieg, während Kampfhandlungen, wenn Bomben explodieren, Schüsse fallen, Gebäude einstürzen, Menschenteile durch die Gegend fliegen, sind es die schiere Menge und die ungewohnte Art der Wahrnehmungen, die zusammen mit der hohen Intensität nicht geordnet wahrgenommen, geschweige denn gespeichert werden können. Bei einer Vergewaltigung ist es die Zerstörung meiner psychosomatischen Integrität, das Erleben von Erniedrigung und von Wehrlosigkeit gegenüber brutaler Kraft. Wird ein Kind missbraucht, schleicht sich das Trauma unter dem Deckmantel der Vertrautheit und Freundlichkeit – allerdings keineswegs immer! – in das Leben ein. Erst allmählich, oft im späteren Verlauf des Lebens, stellt sich heraus, dass das Geschehene überhaupt nicht zu verarbeiten ist, für das Kind nicht und nicht für die erwachsene Person.
Bei häuslicher Gewalt, bei der gebrüllt, geschlagen wird und bei der Kinder auf die heiße Herdplatte gedrückt werden, bis die Haut verkohlt41, ist es wahrscheinlich eher wie im Krieg.
Solche Unfassbarkeiten überfordern unser ansonsten gut funktionierendes Stresssystem, das dann versagt.
Wenn es damit doch nur getan wäre! Aber all diesen Traumatisierungen ist gemeinsam, dass sie jederzeit in das Alltagsleben einbrechen können, was für die Betroffenen so ist, als bräche plötzlich Krieg im tiefsten Frieden aus. Das sind die sogenannten Flashbacks oder traumatischen Rückerinnerungen: Man geht davon aus, dass Erlebnisse, die nicht im normalen Gedächtnis abgespeichert werden konnten, jederzeit und ohne Kontrolle der Betroffenen aktiviert und dann so erlebt werden, als würden sie sich jetzt und hier ereignen. Das passiert, wenn ein zufälliger Auslöser auftritt, der weder mit dem Betroffenen noch mit der aktuellen Situation etwas zu tun haben muss, aber eben zufällig in der traumatischen Situation auch vorhanden war: ein Geruch, ein Geräusch. Von Folteropfern weiß man, dass die Foltersituation wieder da ist, wenn beispielsweise im Nebenraum ein Telefon klingelt, weil das in der Foltersituation zufällig auch so war, oder wenn sie sich medizinisch untersuchen lassen wollen, weil der Folterer damals ein Arzt war und seinen weißen Kittel anhatte. Und, und, und …
Doch obwohl sich diese Vergangenheiten jederzeit in das inzwischen wieder normale Leben mischen können, haben die Betroffenen eine Amnesie dafür, sie können sich nicht präzise erinnern. Das zutiefst irritierende an den Flashbacks ist, dass sie jederzeit auftreten können und dass sich Realität und Rückerinnerung für die Betroffenen nicht auseinanderhalten lassen.
Und da soll man nicht verrückt werden. Die Verrücktheit äußert sich geschlechts- und altersspezifisch. Meine ersten Erfahrungen mit traumatisierten Männern hatte ich mit einem Elitesoldaten aus dem Bosnienkrieg und einem Drogenfahnder, der infolge eines Irrtums in der Fahndungsplanung stundenlang in der Gewalt von Dealern gewesen war. Beide Männer, deutlich härter als Sie und ich, wussten jetzt vor Verzweiflung nicht mehr aus noch ein, was sich in fast greifbarer bedrohlicher Aggression äußerte; sie waren so wütend, weil sie es wegen der Flashbacks nicht mehr schafften, ihr Leben zu kontrollieren. Ich habe nie so vorsichtig mit jemandem über seine Störung gesprochen wie mit diesen beiden Männern.
Frauen richten die Aggression entsprechend ihrer Sozialisation meist gegen sich, bei Kindern nimmt Traumatisierung vielfach einen anderen Verlauf und wird erst nach der Pubertät als sogenannte Persönlichkeitsstörung sichtbar.
Kinder sind anders als Erwachsene, aber ihre Verletzungen bestimmen das Leben auch dann, wenn sie erwachsen geworden sind. Das zeigen auch die Krankheitskarrieren. Wenn Kinder traumatisiert werden, trifft dieser Stress auf eine Persönlichkeit, die gerade entsteht und noch nicht fertig ist. Deswegen werden sie durch ein Trauma noch grundlegender geschädigt als Erwachsene. Die Blockierung normaler Erinnerungsstrukturen lässt das traumatische Ereignis oft über viele Jahre in einer Amnesie versinken, aus der nur unverständliche Rückerinnerungen und Albträume auftauchen, die das Leben vergällen und tiefes Misstrauen gegenüber anderen auslösen. Ein menschenwürdiges Leben, inklusive the pursuit of happiness ist für solche Kinder und für die Erwachsenen, die aus ihnen werden, außerhalb jeder Reichweite.42 Weil sie trotz der Misshandlungen auf den kleinsten Hinweis warten, dass irgendjemand sie vielleicht doch lieben würde, haben sie oft eine unglaubliche Sensibilität für die diskretesten Gefühlsäußerungen anderer entwickelt und reagieren mit abrupter Ablehnung, wenn ihre Sehnsucht unerfüllt bleibt. Das Leben und die Menschen, die ihnen begegnen und die sie interessieren, werden unvermeidlich zu einer einzigen großen Enttäuschung.
Neben der Erfahrung von Gewalt, der eigenen Hilflosigkeit, des Ausgeliefertseins ist der Vertrauensbruch am schlimmsten, der des Vaters oder der Person, die diese Position in der Familie einnahm: Kein Begriff ist in unserer Männergesellschaft so überhöht und mit so viel positiven Erwartungen besetzt wie dieser Gott-Vater, Vater unser, il padre padrone, »Vater lass die Augen Dein, über meinem Bette sein« – Inbegriff der Geborgenheit, des Schutzes! Wie viele missbrauchte Mädchen würden sich alles lieber als das wünschen! Keine Konstellation macht so deutlich, was schiefläuft, wie der Respekt gegenüber dem Übervater, in dessen Schatten die übelsten Dinge gedeihen.
In der Folge dieser Misshandlungen entwickeln die Opfer nach der Pubertät häufig schwere psychiatrische Störungen, emotional-instabile Persönlichkeitsstörung, Borderline-Störung und weniger spektakulär, aber kaum weniger lebenszerstörend, chronische Depressionen. Doch ganz gleich, wie sorgfältig so eine Diagnose gestellt wird, sie reflektiert das Stigma der Gesellschaft: Frauen mit einer emotional-instabilen oder Borderline-Störung werden von ihrer Umgebung, von den Partnern und von Therapeuten als schwierig, nervig, launisch wahrgenommen: sprunghaft, wechselnd zwischen empathischer Begeisterung und abgrundtiefer Verachtung, voller Angst vor Beziehungsverlust, aber oft eben gar nicht in der Lage, eine Beziehung zu leben. Die oft als Suizidversuche missverstandenen Selbstschädigungen, die manchmal als der einzige Ausweg aus unerträglichen Anspannungen erscheinen, tun ein Übriges. Suizidversuche, Alkohol- und Drogenmissbrauch sind häufig, denn leicht zu ertragen ist dieses Leben nicht, jede noch so fatale Erleichterung ist willkommen. Und die anderen Menschen, die oft von denen, die eine solche Störung leben, fasziniert sind, sie wissen ja nichts vom Leiden in der Kindheit, ahnen häufig nicht einmal, dass diese so attraktive, aber leider unendlich nervige Frau in ihrer schon damals vorhandenen, noch kindlichen Attraktivität einem Täter auffiel und zum Opfer wurde. Oft wissen es die Frauen selbst nicht: Jahre fehlen in Altersstufen, die bei nicht missbrauchten Kindern in der Regel bereits detailreich erinnert werden.
Die als Jungen missbrauchten Männer landen häufig im Knast43: Mag es an der unterschiedlichen Wahrnehmung auffälligen Verhaltens bei Frauen und Männern durch die Gesellschaft liegen oder an der erhöhten Aggressivität und Risikobereitschaft, solchermaßen gestörte Männer rutschen schnell in kriminelle Karrieren hinein und ruinieren ihr Leben, noch ehe es richtig begonnen hat.
Chronische Depressionen sind viel weniger auffällig; in der Diagnostik spielt die gegenüber episodischen Depressionen geringere Schwere eine Rolle, die aber durch die oft lebenslang chronischen Verläufe ausgeglichen wird. Diese Menschen haben es auf andere Weise schwer, da ihre Störung oft fehldiagnostiziert wird, da sie sich nicht leicht zu Therapien entschließen können und da die Therapien aufwendig und nicht leicht zu erlernen sind.44 Was sie mit den anderen Persönlichkeitsstörungen gemeinsam haben, ist das nicht vorhandene oder tief geschädigte Selbstgefühl und die immer wieder scheiternden, verzweifelten Versuche, befriedigende Beziehungen zu leben.
Traumata machen Menschen zu Opfern, eine Formulierung, die im Prinzip zutreffend, aber doch ganz falsch ist. Wollen Sie Opfer sein? Genau! Wer sich als Opfer sieht, macht sich selber fertig, erniedrigt sich selbst, weil klar ist, dass er oder sie oder es vor aller Welt als einer, eine, eines sichtbar wurde, der, die, das sich nicht wehren konnte. Opfersein stigmatisiert, egal unter welchen Umständen: Im Rahmen des Eichmann-Prozesses stellte sich immer wieder die Frage, warum Juden sich gegen ihre Vernichtung nicht gewehrt hätten! Alte, Frauen, Kinder gegen die schwarzen Männer der SS!
Doch allein dadurch, dass sich ein Opfer nicht so nennen will, kommt es aus der Nummer noch nicht raus. Und bei Traumatisierung hilft es der Seele wenig, sich zu wehren.
Da wir überwiegend nicht mehr religiös sind und die Kirchen lieber handzahm erscheinen, als zu sagen, was Sache ist, ist uns eine weitere nicht uninteressante Bedeutung von »Opfer« verloren gegangen:
Menschen wurden für das Wohlergehen und die Ziele anderer geopfert, zum Beispiel, damit Männer in den Krieg ziehen konnten! In der Ilias, dem Urmythos gewalttätiger Männer und ihrer Opfer, ist es Iphigenie, die Tochter Agamemnons und Klytämnestras, die geopfert wurde, damit endlich der richtige Wind für die Abreise der griechischen Schiffe wehte. Weil er ihre Tochter geopfert hatte, wurde Agamemnon nach seiner Rückkehr von seiner Frau ermordet, die dann von ihrem Sohn Orest ermordet wurde und so weiter und so fort. Die Griechen wussten Bescheid. Iphigenie oder Abrahams Sohn, immer wurden die Kinder geopfert. Heute opfern wir die Kinder nicht mehr irgendwelchen Göttern, sondern eher den Interessen vorwiegend männlicher Lust.
1 Steven Pinker: Gewalt. Frankfurt am Main 2013
2 Christian Pfeiffer: Gegen die Gewalt. München 2019, S. 22 ff.
3 Jörg Baberowski: Räume der Gewalt. Frankfurt 2018
4 Christian Pfeiffer, a. a. O.
5 Jörg Baberowski, a. a. O.
6 Jörg Baberowski, a. a. O., S. 27
7 Jörg Baberowsk. a. a. O., S. 133
8 Jörg Baberowski, a. a. O., S. 163
9 Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. New York 1963
10 Sven Felix Kellerhoff: »Hatten SS-Mitglieder damals wirklich ›keine Wahl‹?« welt.de vom 15.07.2015, abgerufen am 27.01.2021
11 Fiona Weber-Steinhaus interviewt die Rechtsmedizinerin Dragana Seifert: »Die Hölle, das sind Mama und Papa.« ZEIT-MAGAZIN 01.04.2021
12 Harald Dreßing/Dieter Dölling/Dieter Hermann/Andreas Kruse/Eric Schmitt/Britta Bannenberg/Andreas Hoell/Elke Voss/Hans-Joachim Salize: »Sexueller Missbrauch durch katholische Kleriker.« Dtsch. Ärztebl. Int. 2019, 116: 389–96.
13 Jana Stegemann: »Missbrauch in SOS-Kinderdörfern.« Süddeutsche Zeitung Nr. 104, Freitag 7. Mail 2021, S. 7
14 James Gillighan: Violence. Reflections on a National Epidemic. New York 1997
15 Sven Bargel: »Vorwärts, zurück auf Anfang.« magazin-forum.de zeit.de vom 28.02.2020, abgerufen am 25.01.2021
16 Die folgenden Zitate aus: Rebecca Jordan-Young/Katrina Karzakis: Testosteron. Warum ein Hormon nicht als Ausrede taugt. München 2020, S. 83 ff., S. 59
17 Monica L. Andersen/Tathiana F. Alvarenga/Renata Mazaro-Costa/Helena C. Hachul/Sergio Tufik: »The association of testosterone, sleep, and sexual function in men and women.« Brain Research 1416 (2011) 80–104
18 Siri Hustvedt: Die Illusion der Gewissheit. Reinbek bei Hamburg 2000.
19 Susan R. Fisk/Bennan Miller/Jon Overton: »Why Social Status Matters for Understanding the Relationsships Between Testosteron, Economic Risk-Taking, and Gender. « Sociology Compass 11, 2017. e12 452.,1
20 Rebecca Jordan-Young/Katrina Karzakis, a. a. O., S. 192
21 Rebecca Jordan-Young et al., a. a. O., S. 304
22 Jörg Baberowski, a. a. O., S. 130
23 James Gillighan: Violence. Reflections on a National Epidemic. New York 1997
24 Michael Tomasello: Warum wir kooperieren. Berlin 2010
25 James Suzman: Work. A history of how we spend our time. London 2020
26 Johanna Adorjan: »Im Namen des Vaters«, SZ Nr. 230, Sa./So. 05./06. Oktober 2019. S. 3
27 Trevor Noah: Born, – a crime. Johannesburg 2016
28 Eldra Jackson: »How I Unlearned Dangerous Lessons About Masculinity«, ted.com, 18.12.2018, aufgerufen am 24.07.2021
29 Bell Hook, a. a. O.
30 Bewegte Zeiten – Archäologie in Deutschland, Ausstellung in Berlin vom 21.09.2018 bis 06.01.2019
31 Thomas Elbert/James Moran/Maggie Schauer: »Lust for violence. Appetitive aggression as a fundamental part of human nature.« Neuroforum 2017; 23(2) A77–A84
32 Sergio Leone 1966; deutscher Titel: Zwei glorreiche Halunken
33 Jörg Baberowski, a. a. O., S. 51
34 Persönliche Mitteilung von Thomas Elbert
35 Thomas Elbert, a. a. O.
36 James Suzman, a. a. O.
37 Danie Meyer-Parlapanis, Roland Weyerstall, Corina Nandi, Manassé Bambonyé, Thomas Elbert and Anselm Crombach: »Appetitive Aggression in Women: Comparing Male and Female war Combattants.« Frontiers in Psychology: 6, 1–8, 2016
39 Rutger Bregmann: Im Grunde gut. Hamburg 2020, Matthias Glaubrecht: Das Ende der Evolution. München 2019, James Suzman, a. a. O.
40 T. Elbert/M. Schauer/F. Neuner: »Narrative Exposure Therapy (NET).« In: U. Schnyder/M. Cloitre (eds.): Evidence based treatments for trauma-related psychological disorders. Berlin, Heidelberg, New York, Tokio: Springer 2015, S. 229–253
41 Fiona Weber-Steinhaus, a. a. O.
42 Fegert, a. a. O
43 Christian Huchzermeier/Friedemann Geiger/M, Emelie Bruß/Nils Godt/Denis Köhler/Günter Hinrichs/Josef B. Aldenhoff: The Relationship between DSM-IV Cluster B Personality Disorders and Psychopathy According to Hare’s Criteria: Clarification and Resolution of Previous Contradictions. Behavioral Sciences and the Law behav. Sci. Law 2007
44 Martina Belz/Franz Caspar/Elisabeth Schramm (Hrsg.): Therapieren mit CBASP: Chronische Depression, Komorbiditäten und störungsübergreifender Einsatz. Frankfurt a. M. 2013