Der Gewaltzünder schlechthin: Fremdes!

Fremd ist mir erst einmal, was ich nicht kenne. Dieses »andere« kann ich mir entweder vertraut machen, es in mich aufnehmen, mich und meinen Horizont erweitern, oder ich lehne es ab, grenze mich ab, weil ich aus irgendeinem Grund Fremden nichts Gutes zutraue.

»Anderes« ist noch vielfältig: Wenn ein Mann entdeckt, dass eine Frau ein ganz anderes Wesen ist, mit anderen, aber durchaus attraktiven und besonders für ihn lustvollen Seiten, dann fällt das Annähern nicht schwer. Schwieriger ist es schon, wenn ich bei einer Person, die ich als zu mir gehörig betrachte, plötzlich fremde, mir unvertraute Gedanken wahrnehme; zum Beispiel, wenn »mein« Kind in die Pubertät kommt. Vielleicht wäre es möglich, auch diesem Verhalten Aspekte abzugewinnen, die den elterlichen Horizont erweitern. Meistens läuft das aber anders. Eltern tun alles, um das irritierend Fremde zu verhindern. Wir haben ja gesehen, dass die Gewalt gegen Frauen und Kinder besonders gut in der Privatsphäre gedeiht.

Der unvergleichliche Stephen King beschreibt den Vater von Beverly, dem 11-jährigen Mädchen im Roman ES 1: Er liebte seine Tochter, wozu bei ihm Schläge gehörten und noch einiges mehr, kein unbekanntes Muster. Dieser Vater wollte seine Privatsphäre bewahren vor dem Anderssein, vor dem »Fremdwerden« – der eigentlich passende Ausdruck »Fremdgehen« wäre zu entlarvend. In der Nähe zwischen Vater und Tochter, die auch in dieser Geschichte intimer ist, als sie sein dürfte, löste das ihm fremde Verhalten die ihm legitim erscheinende Gewalt aus: »In seinem Gesicht war Sorge, aber es war die Sorge des Raubtiers, bedrohlich statt fürsorglich.«2 Beverley entwickelte daraus ihr spezielles Männerbild und geriet folgerichtig an einen schlagenden Ehemann. Dieser Plot trägt in typisch King’scher Manier einiges zur Dynamik des Thrillers bei.

Fremd sind für viele auch Trans-Männer, Trans-Frauen. Warum wollen wir uns bedroht fühlen, wenn sich Menschen nicht den großen Gruppen der Normalos, den Cis-Männern, Cis-Frauen zuordnen wollen? Was ist mit Schwulen und Lesben? Eigentlich ein uraltes Thema, über das wir uns allmählich mal klar werden könnten.

Risiko fremd

Wie ich mit anderem umgehe, hängt erst einmal von meinem Befinden ab: Bin ich nicht gestresst, geht es mir gut, kann ich mich auch auf fremd Erscheinendes einlassen, kann mir den Luxus erlauben, Interesse daran zu entwickeln. Bin ich aber unter Druck, reduzieren sich meine Möglichkeiten und der oder die andere wird zum klaren Feindbild, die Abgrenzung wird schnell zur Vernichtungsfantasie.

Fremd sein ist in jedem Fall ein Risiko, ist kritisch, war es wahrscheinlich schon immer. Fremd kann alles werden, was anders ist: andere Hautfarbe, andere Haare, andere Nase, anderer Körperbau, andere Sprache, aber auch anderes Denken, anderes Verhalten. All das reicht aus, um als fremd beurteilt zu werden, besonders, wenn das Fremde gar nicht offensichtlich ist, sondern infolge von Unkenntnis nur vermutet wird. Fremde mussten zu allen Zeiten schon ziemlich viel Glück gehabt haben, wenn sie willkommen geheißen wurden. »Fremd bin ich hergezogen, fremd zieh ich wieder aus.«3 Gesungen von Fischer-Dieskau oder Christian Gerhaher weckt das traurig-romantische Gefühle, gut zum Seelenbaden geeignet, wenn einen die Liebste weggeschickt hat.

Doch wenn man bemerkt, dass einen die anderen fremd finden, sollte man den schnellen Auszug dringend als einzig sichere Option favorisieren. Denn sonst droht das gesamte Sammelsurium fürchterlicher Verhaltensweisen, zu denen wir Menschen in der Lage sind: Fremd ist Beute, ist Unmensch, ist Opfer. Da nutzt es leider gar nichts, überhaupt gar nichts – haben Sie es gelesen, Sie potenziell Fremder? –, wenn Sie integriert sind, wenn Sie sich angeglichen, assimiliert haben, wenn Sie dialektfrei die andere Sprache sprechen. Selbst wenn es überhaupt keinen fassbaren Unterschied gibt, wird die größere Brillanz im Denken, die außergewöhnliche Begabung für was auch immer als diskriminierender Faktor entdeckt. Und wenn all das nicht reicht, um Sie zu packen, kommt das lächerlichste Konzept von allen, die fremde Rasse.

Dass dieses Konzept wissenschaftlich unsinnig, intellektuell dürftig und ethisch untragbar ist, dass es banal, lächerlich und blöd ist, hat seinen Schrecken noch nie gemildert. Vor allem moralisch-ethische Werte können darüber hinwegtäuschen, dass sie keine stabilen und schon gar keine lebensrettenden Instrumente sind, wenn der Zweck wieder einmal die Mittel heiligen muss und sich die Gewalträume öffnen.

Wenn sich das Befinden der Mehrheit verschlechtert, wenn Warnsignale aus einem natürlich völlig irrationalen Unterbewussten aufblubbern und Sündenböcke gefunden werden müssen, dann wird ungeachtet der fatalen eigenen Vergangenheit der jahrzehntelang integrierte Fremde wieder auf die Straße, in die Wildnis, ins Meer gejagt, was noch die erträglicheren Varianten sind. Verbrennen ist auch sehr beliebt, wie vor gar nicht so langer Zeit längst integrierte Vietnamesen in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda erleben mussten.4, 5

Wenn uralte Mechanismen der Diskriminierung aus der Mottenkiste des Völkisch-Populistischen hervorgeholt werden, ist es Zeit für alle potenziell Fremden und auch für alle anderen, denen die Fremdheit nicht unbedingt auf die Stirn geschrieben steht, so schnell wie möglich das Weite zu suchen.

Ja, Sie sehen den Punkt. Meine Anspielungen waren ja durchsichtig genug. Ja, Sie erkennen an, dass die Nazis und ihre Untaten ein integraler Bestandteil unserer deutschen Geschichte sind, dass wir im Holocaust aller Welt vorgeführt haben, welches Entsetzen Rassismus zur Folge hat.

Aber das ist fast 80 Jahre her und auch völlig unverdächtige ausländische Intellektuelle gestehen uns Deutschen zu, dass wir uns in geradezu beispielhafter Weise mir unserer Vergangenheit auseinandergesetzt hätten.6 Reicht es jetzt nicht auch mal?

Ich finde die Frage nachvollziehbar, finde aber auch, dass der für den Geschmack ordentlicher Deutscher wahrscheinlich ziemlich rumpöbelnde Max Czollek recht hat, wenn er dem deutschen Integrationsbestreben misstraut, weil es die Erinnerung an das Leiden der Fremden, bei ihm konkret den Holocaust, dazu benutzt, um uns selbst, die Nation der Täter, reinzuwaschen.7

Der zweite Einwand dagegen hat es in sich. Er besagt, dass Rassismus eine Variante menschlichen Verhaltens sei, untrennbar mit unserer menschlichen Natur verbunden, kurz, die einfach zu uns gehört. Deswegen muss jeder, der verantwortlich mit sich umgehen will, immer wachsam sein, dass diese uralten, archaischen Inhalte nicht die Macht über seine Seele gewinnen und uns auf den Kriegspfad zur Gewalt führen.

Wie soll das gehen?

Kopfgeburt Rassismus

Die Ausgrenzung der Fremden spielt sich im Kopf ab, ist ausschließlich das Produkt unseres Denkens. Wir Psychiater, die wir ständig mit Krankheiten des Denkens konfrontiert sind, sehen die Segnungen unseres Großhirns gelegentlich skeptisch. Aber im »normalen« Leben ist es praktisch unmöglich, sich vom Denken und seinen Inhalten zu distanzieren. Deswegen ist die Idee, dass »Kopfgeburten«, also Fantasieprodukte unseres Denkens, ohne Bedeutung für das wirkliche Leben wären, ein verhängnisvoller Irrtum! Das eigene Denken, unser Ego gibt den dominierenden Imperativ für unser Handeln vor.

Leider auch bei mir:

Ich stand auf dem Wochenmarkt und wollte eines dieser köstlichen Sauerteigbrote mit Kruste kaufen. Obwohl sie nicht wirklich billig sind, gönne ich mir die. Aber diesmal hätte es mit dem Gönnen fast nicht geklappt! Es fing damit an, dass sich die junge Frau, die das Brot verkauft, verspätete. Unpünktlichkeit ist überhaupt nicht meins! Und jetzt bekam sie den simpel konstruierten Brotstand nicht aufgebaut. Was vor allem daran lag, dass sie ununterbrochen mit ihrem Handy telefonierte. Ich wurde zunehmend gereizt, obwohl mein Ego sich gerne gelassen erlebt. Gefühlt würde es noch Stunden dauern, bis sie endlich mit dem Verkaufen anfangen könnte. Ich brauchte meine gesamte Willenskraft, um nicht ätzend darauf hinzuweisen, dass sie doch mal aufhören könnte, mit ihrem Handy rumzudaddeln.

Plötzlich war dieser Gedanke da: Diese Schwarze kriegt das nicht auf die Reihe!

Ja, sie war schwarz, wohl eine Geflüchtete, keine Ahnung woher. Ich begriff sofort, dass dieser Gedanke ungeheuerlich war. Für mich, für das Selbstbild eines intellektuellen, empathischen Mannes. Was war schlimmer? Mein Outing als Rassist oder ihre Diskriminierung? Ungeheuerlich fühlte sich beides vor allem deshalb an, weil dieser Satz mit meiner festen Überzeugung kollidierte, kein Rassist zu sein und mich nie rassistisch zu verhalten. Rassismus habe ich immer als Ausdruck defizitärer Intelligenz erlebt.

Und nun?

Ist das Rassismus? Natürlich! Doch ich habe es gerne noch etwas komplexer. Folgen wir mal der absurden Vorstellung, Barack Obama wäre im Rahmen eines Wohltätigkeitsprogramms nach Hamburg gekommen und hätte für Kinder im Jemen Brote verkauft: Ich hätte zwei Stunden gewartet, um 20 Sekunden mit ihm sprechen zu können! Ich finde ihn toll, cool, grandios, obwohl er ja auch schwarz ist. Und wenn ich mich über ihn geärgert hätte, weil er zu langsam war? Hätte ich nicht, never! Warum nicht? Weil ich finde, dass er ein toller Man ist, ohne jede Frage. Weißer Mann findet tollen schwarzen Mann gut.

Diese Brotverkäuferin finde ich nicht so toll. Mein Frust war das eine. Das andere: Sie war eine Frau, die mich nicht beachtete und einfach weitertelefonierte. Und sie war anders, fremd. Ihr Anderssein sprang einem ins Auge; ich hätte auch bei gutem Willen nicht übersehen können, dass sie schwarz war. Eindeutig anders, ohne jede Frage. Wäre ich nicht sauer gewesen, hätte ich sie wahrscheinlich freundlich angelächelt und mir gedacht: »Toll, wie eine Schwarze diesen Job schafft!« Aber auch dann hätte sie keine Chance gehabt, als eine von uns durchzugehen.

Ich, ein Psychiater und Psychotherapeut, mit vielen, vielen Stunden Selbsterfahrung begegnete hier meinem ganz persönlichen Rassismus. Ich bin in der Nachkriegszeit in Bayern aufgewachsen, wo schwarze amerikanische Soldaten für mich das Höchste waren, natürlich nannten wir sie mit dem »N-Wort«! Sie lachten viel und schenkten uns, was uns verboten war, was wir aber nicht wegschmeißen wollten, weil es ungewohnt toll roch und einfach zu gut schmeckte: Chewing-Gum.

Wann auch immer ich später mit Frauen oder Männern dunkler Hautfarbe zusammentraf, fand ich sie sympathisch, interessant, mir war nie bewusst, dass ich einen Grund gehabt hätte, mich abzugrenzen. Bis zu meinem Erlebnis auf dem Wochenmarkt!

Wie es um Ihren ganz persönlichen Rassismus bestellt ist, können Sie mit dem »Implicit Association Tests (IAT)«8 herausfinden. 3 Millionen Amerikaner haben das getan, 73 Prozent von ihnen »brauchten […] etwa 200 Millisekunden länger, um richtig zu antworten, wenn schwarze Gesichter mit positiven Begriffen gepaart waren, als wenn dieselben Gesichter mit negativen Begriffen gepaart waren«. 200 Millisekunden sind viel zu schnell, als dass Sie eine Chance hätten, diese intellektuelle Operation bewusst wahrzunehmen. Sie nehmen noch nicht einmal wahr, dass Sie überhaupt denken. In Deutschland waren es 80 Prozent. Und die meisten davon waren Menschen, die sich als liberal bezeichnen würden und auch so leben.

Gehen wir mal davon aus, dass Sie das ähnlich irritiert wie mich: Irgendetwas in Ihnen verhält sich anders, als Sie bewusst wollen. Nun ist es keine brandneue Information, dass unser Gehirn Sachen macht, von denen wir nichts wissen; wir kämen ja sonst mit dem Denken überhaupt nicht hinterher. Und die Verarbeitung von etwas Fremdem läuft zur Schadensvermeidung wahrscheinlich auf schnellen, evolutionär alten Nervenbahnen. Beim IAT kommen zu »schwarz = fremd« Assoziationen heraus wie »schwarz = Schmutz, hässlich, Gift, Mord, Bombe, Erbrechen, Krieg, schrecklich, Tod«; während weiß mit »Liebe, Freund, ehrlich, Paradies, Himmel, zärtlich, streicheln« assoziiert wird.9 Diese Assoziationen sind aber nicht fest »verlötet«, sondern gelernt. Vor allem, wenn wir persönlich mit schwarzen Menschen noch nie zu tun hatten. Denn es gibt Bücher, Zeitungen, Filme, Nachrichten unterschiedlicher Güte.

Das Gute daran ist, dass man diese Verbindungen auch verlernen oder umpolen könnte. Aber dazu müsste man sich klarmachen, dass unser »schnelles Denken«10 uns in diesem Fall in die Irre führt. Unsere archaischen Reflexe sind für die komplexe globalisierte Welt von heute nicht mehr geeignet, waren schon seit ein paar hundert Jahren für den Umgang der Menschen miteinander nicht mehr geeignet. Ja, ich weiß, viele lieben ihre archaischen Narrative so sehr, dass sie leugnen, in einer globalisierten Welt zu leben.

Dass es den Menschen der Antike oder des Mittelalters noch nicht möglich war, ihr Denken als unzeitgemäß und irreführend einzuschätzen, zumal die wesentliche geistige Instanz, die Kirche, diesen Prozess auch noch verhinderte, ist kein Wunder. Aber sollten wir heute von uns nicht allmählich etwas anderes erwarten?

Vielleicht nicht erwarten. Aber fordern. Denn es steht einiges auf dem Spiel.

Firnis Gleichheit

Entscheidend ist Folgendes: Wer seinen privaten Rassismus pflegt, auch wenn er sich gar nicht rassistisch vorkommt, hält diese Einschätzung für unmittelbar, real, nimmt sie für bare Münze. Obwohl es für Rassismus weder eine wissenschaftliche noch irgendeine faktisch begründbare Basis gibt. Wer heute rassistische Vorlieben hegt, muss also den rationalen Zugang ignorieren oder beherzt lügen, weil er rassistische Diskriminierung als politisches Mittel nützen will. Archaisches Denken eignet sich für populistische Ziele hervorragend.

Wer das tut, sollte aber wissen, dass er zündelt. Furchtbare Gewalt gegen Unschuldige entsteht infolge ihrer Identifikation als fremd: weiße gegen schwarze Amerikaner, schwarze Tutsi gegen schwarze Hutu, weiße Europäer gegen Asiaten und Asiaten gegen Afrikaner, um nur einige zu nennen. Im Inferno der Vergangenheit gibt es zwei Höhepunkte des Entsetzens: die millionenfache Ermordung der Juden durch weiße und deutsche Männer und die Schande der Apartheid. Auch wenn Letztere unglaubliches Leid über die Menschen in Südafrika und Simbabwe gebracht hat, war sie gleichzeitig ein unglaublich schwachsinniges Denkgebäude! Das wird einem sehr deutlich vor Augen geführt, wenn man sich klar macht, dass die auf Apartheid versessenen Südafrikaner die Chinesen den coloured people und die Japaner den Weißen zurechneten.11 Schwachsinnig, wie gesagt, aber furchtbar für die Betroffenen.

Eine besondere Spielart im Umgang mit »anderen« ist die Sklaverei. Gerade gebildete Menschen leisten sich heute den moralischen Luxus, die Sklaverei zu verdammen. Das ignoriert wie so oft die Stimmen aus der eigenen Vergangenheit. Sklaverei und skrupellose Ausbeutung der sogenannten Kolonialländer gehören untrennbar zur Geschichte fast aller europäischer Länder: der Indonesier durch die Holländer, der Namibier durch die Deutschen, der Völker des Commonwealth durch die Engländer, um nur einige zu nennen.12 Ein Höhepunkt des Grauens war die Ausbeutung des Kongo durch die belgischen Könige, allen voran Leopold II.13 Die effektive Durchführung dieses Grauens war Männersache. Schon bei der »Kongo-Konferenz«, die Bismarck, der immer noch vielerorts durch hässliche Denkmäler gefeierte deutsche Supermann, 1884 in Berlin einberufen hatte, redeten und handelten ausschließlich Männer.14

Doch die Sklaverei ist viel zentraler im westlichen Denken verankert, als uns bewusst ist. Aristoteles »rationalisierte die Sklaverei […] Er glaubte, dass Sklaverei ein natürlicher Zustand sei, und während manche Männer und Frauen mit Recht versklavt würden, weil sie ein unglückliches Schicksal hatten, wären andere, besonders die mit den Händen arbeiteten, ›Sklaven von Natur aus‹. Er erklärte, dass sich der Nutzen der Sklaven nicht sehr von dem der Tiere unterscheide, da beide körperliche Unterstützung für die Bedürfnisse des Lebens lieferten«15.

Aristoteles, der Stammvater westlicher Philosophie und Theologie, begründet die Sklaverei! Ein Hintergrund ist sicher, dass die Griechen, eine stark männlich geprägte Kultur, die wir gerne als Grundlage unserer Zivilisation ansehen, sich ihr kontemplatives Leben und ihre Philosophie ohne Sklaverei nicht hätten leisten können. Ich finde es keineswegs trivial, dass unsere Denktraditionen nur auf unmenschlichen Lebensbedingungen anderer realisiert werden konnten. Schließt irgendetwas aus, dass wir auf diesen Status zurückfallen, wenn sich die Bedingungen unseres Zusammenlebens verändern? Vielleicht sollten wir etwas intensiver über die Frage nachdenken, wie es in unserer Kultur tatsächlich um die Gleichheit der Menschen bestellt ist.

Ich fasse zusammen:

»Jede Menge Hass für jeden Bedarf«

Ich finde die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus schwierig. Zum einen wegen der Ungeheuerlichkeit des Holocaust, der nach meinem Empfinden eben von uns Deutschen zu verantworten ist. Ich als Nachgeborener habe nichts dazu getan, aber die Generation meiner Väter und Großväter. Und auch wenn meine Familie meines Wissens nicht zu den Tätern gehörte, ist es ihr und allen anderen damals lebenden Deutschen nicht gelungen, dieses Unheil zu verhindern. Wir können uns nicht selbst entschulden, niemand kann das. Was uns bleibt, ist Prävention, verhindern, dass sich solches wiederholt.

Um das zu tun, müssen wir verstehen, was damals geschehen ist, und die Gegenwart auf Hinweise überprüfen, ob der Antisemitismus, den ich für die grausigste Form des Rassismus halte, wieder erstarkt. Doch diese Prüfung ist schwer, weil es so viele Zäune und Verbote des Denkens gibt. Schon die Gleichsetzung von Antisemitismus und anderem Rassismus stößt auf vehementen Widerspruch, wie nicht nur die Diskussion um Achille Mbembe zeigt16, den ich nicht für einen Antisemiten halte, der Antisemitismusbeauftragte der Bundesrepublik aber schon.

Ein Ansatz, der solche Widersprüche überwindet, ist dieser: »Auch der Antisemitismus ist eine Bedrohung der offenen Gesellschaft. ›Der Hass auf Juden ist‹, so der französische Autor Marc Weitzmann, ›ein Hass, den man ausstellt wie in einem Schaufenster.‹ Ein Signal an alle Gleichgesinnten: Bitte einzutreten, dahinter kommt noch jede Menge Hass für jeden Bedarf. Auf Frauen, auf die Moderne, Minderheiten, freie Medien, autonome Wissenschaft, den Rechtsstaat. Man kann es an Nazideutschland studieren, heute aber auch an Ländern wie Iran, wo der Antisemitismus Staatsräson ist. Und am Beispiel Saudi-Arabiens, wo es zwar Fortschritte gibt, aber die Garantie von Menschen- und Bürgerrechten eine Utopie bleibt.«17

Der heutige Antisemitismus ist nichts Isoliertes, er ist eine, möglicherweise die schlimmste »Bedrohung der offenen Gesellschaft«. Und in der heutigen Manifestation ist er wieder eine Verlockung, der nicht nur, aber vor allem wir Männer verfallen und die unsere Seelen vergiftet, wenn sie die anderen verfolgt, quält und tötet.


1 Stephen King: It. London 1986, S. 476

2 Ebd.

3 Franz Schubert: Winterreise

4 »Chronologie der Krawalle in Rostock-Lichtenhagen 1992.« Nordmagazin am 13.08.2012 ndr.de, abgerufen am 24.01.2021

5 Thilo Schmidt: »Rassistische Ausschreitungen in Hoyerswerda 1991. Ausländerjagd im rechtsfreien Raum.« deutschlandfunkkultur.de vom 15.09.2016, abgerufen am 24.01.2021

6 Susan Neiman: Von den Deutschen lernen. Wie Gesellschaften mit dem Bösen in ihrer Geschichte umgehen können. Berlin 2020

7 Max Czollek: Desintegriert Euch. München 2020

8 Bastian Berbner: »Wie rassistisch sind Sie?« DIE ZEIT Nr. 30, 16.07.2020, zeit.de, abgerufen am 25.01.2021

9 Ebd.

10 Daniel Kahneman: Thinking, fast and slow. London 2012

11 Trevor Noah, a. a. O.

12 Joachim Käppner und Magdalen Pulz: »Bis ans Ende der Welt.« Süddeutsche Zeitung Nr. 18. Sa./So. 23./24.01.2021, S. 55

13 Eric Vuillard: Kongo. Berlin 2018

14 Ebd.

15 James Suzman: Work. A history of how we spend our time. London 2020

16 Adam Soboczynski: »Für eine Entschuldigung sehe ich keinen Anlass.« zeit.de vom 19.05.2020, abgerufen am 11.07.2021

17 Nils Minkmar: »Massenhaft abwesend.« Süddeutsche Zeitung 22./23./24.05.2021, S. 17