Missbrauch von Kindern und Frauen ist inakzeptabel. Niemand wird etwas anderes behaupten.
Leider ist völlig unklar, was dagegen getan werden kann. Denn wer gegen Missbrauch kämpfen will, muss sich gut rüsten, sich »warm anziehen«, er muss sich mit den geschlossenen Kreisen der Macht anlegen, den Mächtigen, mit den Vätern. Klingt etwas mysteriös, lässt sich aber gut konkretisieren. Die große Studie zum klerikalen Missbrauch erwähnt unter anderem, »neben allgemeinen Mechanismen, die den sexuellen Missbrauch in Institutionen begünstigen (zum Beispiel asymmetrische Machtverhältnisse oder ein geschlossenes System), [ist] bei der katholischen Kirche der Missbrauch klerikaler Macht [zu bedenken].«1 Asymmetrische Machtverhältnisse heißt, dass nur wenige entscheiden können, geschlossenes System bedeutet Intransparenz.
Waren Sie schon mal in Rom? Ich liebe es: die Mischung aus prallem Leben, die Ruinen der Antike und die ubiquitäre Präsenz der katholischen Kirche. Besonders fasziniert war ich immer vom Petersdom, vom Vatikan. Und eines Tages fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Diese ungeheuren Bauwerke, die gewaltige Größe, die sich unserer Wahrnehmung entzieht, die Pracht. All das dient der Verkörperung von Macht, und nur darum geht es. Die Macht und die Herrlichkeit der heiligen Männer.
Um Nächstenliebe und den Schmerz des alleingelassenen, sterbenden Jesus am Kreuz zu verkünden, brauche ich keine Fassade aus weißem Marmor. Diese Fassade ist so prächtig wie undurchsichtig, intransparent. Denn die Macht braucht geschlossene Systeme, in die nicht jeder hineinschauen kann und in die schon gar nicht jeder hineinreden kann. Diese Struktur hat den Missbrauch erst möglich gemacht. Er ist also quasi eine Nebenwirkung der Macht. Und deswegen fällt es dieser Kirche so schwer, sich vom Missbrauch zu befreien. Dieses unfassbare, sich mit zunehmender Dauer permanent steigernde Versagen der katholischen Kirche bei der Verarbeitung des Missbrauchsskandals, das so viele Gläubige zum Verzweifeln bringt, gründet darauf, dass man die Macht nicht beschädigen will. Diese Macht der alten Männer muss unbedingt erhalten werden. Dazu gehört auch das diskriminierende Verhalten gegenüber den Frauen, ganz egal, ob man ihnen das Priesteramt verweigert oder die Abtreibung. Die alten Männer wollen das Sagen behalten, und deshalb können sie nicht zugeben, dass geweihte Männer sündigen können, gesündigt haben und auch in Zukunft sündigen werden. Wegen einzelner schwarzer Schafe muss man doch die Struktur nicht ändern! Dass der Zölibat eine Lebensform ist, die, wenn sie nicht freiwillig gewählt wurde, menschenfeindlich wird und so viele Leben zerstört – das darf nicht gesagt werden.
Ich weiß, dass es sich als Protestant eigentlich nicht gehört, nur auf der katholischen Kirche rumzuhacken. Sagen wir’s mal so: Die Aufarbeitung des Missbrauchs in der evangelischen Kirche ist so chaotisch, dass man noch nicht einmal weiß, auf was man herumhacken soll.
Macht ist Ausdruck eines Privilegs, das sich in der Kirche an der Heiligkeit festmacht. Doch gelegentlich beschleicht einen der Verdacht, dass wir, die Öffentlichkeit, so stark auf die Kirche fokussieren, weil wir verbergen wollen, dass sich die Privilegien in säkularen Institutionen nicht weniger fürchterlich auswirken, in den Münchner Orchestern, die Herrn Levine nicht begrenzen wollten, bei den Pfadfindern, den Sportvereinen und so weiter. Ein besonderes Privileg der Macht ermöglicht Therapeuten, zu tun, was sie niemals tun dürften.
Wie wäre Abhilfe möglich? Ich schlage Ihnen zwei Maßnahmen vor, eine für den Alltag und eine grundsätzliche.
Folgen wir doch Papst Franziskus und »schenken […] dem Schrei der Kleinen Gehör«2. Ob dem Heiligen Vater ganz klar war, was das wirklich bedeutet? Den »Kleinen« zuhören bedeutet, Transparenz zu schaffen, die entsteht, wenn wir jene befragen, die als potenzielle Opfer infrage kommen, ja, die »Kleinen«. Indem wir das geschlossene System öffnen. Alle Institutionen, in denen Macht in irgendeiner Form vorkommt, von den Kirchen und den ihnen angeschlossenen Einrichtungen über die Schulen, Internate, Sportvereine, sollten obligat ein System vertraulicher Befragungen der »Kleinen« etablieren, durch ein für alle, aber vor allem für die »Kleinen«, als unabhängig erkennbares Gremium. Dieses Gremium soll definieren, wie es kontrolliert, und sollte frei sein, auch solchen Hinweisen nachzugehen, die das juristische Kriterium des Anfangsverdachts noch nicht erfüllen. Denn im Fall von Lügde haben wir gesehen, dass die staatsanwaltschaftliche Formulierung des Anfangsverdachts eben nicht funktioniert hat.
Sie meinen, das sei nicht ideal, könne missbraucht werden, falsche Anschuldigungen und so? Na ja, Menschen sind nicht ideal. Aber es würde schon mal helfen, wenn man den Spieß umdreht. Kann irgendwas dadurch schlimmer werden? Kaum.
Das gleiche Verfahren könnte man für Therapien verpflichtend machen: Patienten und Patientinnen geben obligat vertrauliche Fragebögen zum Verhalten von Ärzten und Therapeuten ab. Die gehen zu einer unabhängigen Stelle der Therapeuten- oder Ärztekammer, die Verdachtshinweisen nachgehen muss, im Zweifel müssten die Betroffenen angehört werden.
So würde die therapeutische Atmosphäre vergiftet? Sie würde wohl nur transparent.
Was das Grundsätzliche angeht, gibt es einen kreativen Ansatz, die unsägliche Koppelung von Macht und Privilegien, vor allem den privilegierten Umgang mit dem Geld, zu begrenzen. Kreativ nicht aus Sicht der Privilegierten, sondern der Allgemeinheit oder besser des Gemeinwohls.
Diese Interessen des Gemeinwohls scheinen auf dem Höhepunkt der Republik Venedig dominierend gewesen zu sein, obwohl diese am ehesten als eine Plutokratie, eine Herrschaft der Reichen, beschrieben werden kann: »Der Doge war das nominelle Regierungsoberhaupt […] Er wurde auf Lebenszeit gewählt, war aber enormen Restriktionen und Vorschriften unterworfen. Die Venezianer wollten sicherstellen, dass ihnen ein Cäsar erspart bliebe […] Der Doge durfte noch nicht einmal persönlich die an ihn gerichteten Briefe öffnen […] Er durfte über keine politischen Angelegenheiten diskutieren, ohne seine Berater hinzuzuziehen. Er durfte die Stadt nicht ohne Erlaubnis verlassen. Er konnte sich noch nicht einmal frei durch die Stadt bewegen, ohne vorher die Genehmigung dafür einzuholen […] Er sollte nie mit ›mein Gebieter‹ angeredet werden, sondern immer nur mit ›messer doge‹, ›Herr Doge‹. Niemand sollte vor ihm auf die Knie sinken oder seine Hand küssen […] Und doch besaß der Doge Macht […] Er präsidierte über allen gewählten Ratsgremien […] er war der allgemeine Wächter über alle Organe der Regierung […] und er kannte alle Geheimnisse der Stadt. Beim Tod des Dogen wurde der Amtsring von seinem Finger gezogen und in zwei Teile gebrochen. Seine Familie musste den Palast binnen drei Tagen geräumt haben. [Und jetzt kommt das Heftigste]: Drei Inquisitoren wurden damit beauftragt, alle Handlungen des Toten noch einmal zu überprüfen und falls er sich eines Betrugs oder irgendeiner Missetat schuldig gemacht hatte, seine Familie dafür zu bestrafen. Nur auf diese Weise konnte der Stadt den Aufstieg mächtiger Familien verhindern.«3
Denken Sie mal darüber nach. So furchtbar weit sind wir ja von einer Plutokratie auch nicht entfernt.
Aus einer von unserer Kultur noch viel weiter entfernten Gesellschaftsform kommt ein anderer Ansatz, mit der Macht umzugehen: Eine Gruppe der »Buschmänner«, die Ju/’hoansi, behandeln erfolgreiche Männer, konkret gute Jäger, schlecht. Diese Indigenen sind eine der letzten Kulturen der Sammler und Jäger, für die Fleisch wegen seines hohen Brennwerts besonders kostbar ist. Ein guter Jäger hätte deswegen gute Chancen, eine herausgehobene Stellung oder gar eine Machtposition in der jeweiligen Gruppe zu bekommen. Doch das halten die Ju/’hoansi nicht für sinnvoll: »Wenn ein junger Mann viele Tiere tötet [und damit viel Fleisch für die Gemeinschaft heranschafft], denkt er von sich selbst, er sei ein Anführer oder ein großer Mann, und er betrachtet uns andere als Knechte oder ihm Untergeordnete […] Das können wir nicht akzeptieren! […] deswegen bezeichnen wir das von ihm herangeschaffte Fleisch als wertlos. So kühlen wir sein Herz und machen ihn sanftmütig.«4
Ich finde, dass dieser Umgang mit potenziell Mächtigen, ihr »Herz zu kühlen und sie sanftmütig zu machen«, ausgesprochen zielführend wäre. Auf die Ju/’hoansi kommen wir noch mal zu sprechen.
Nehmen wir bis hierher mit, dass unser Umgang mit Macht, mit Privilegien und Missbrauch nicht die einzige Möglichkeit und noch nicht einmal die beste ist. Vorausgesetzt, wir behalten das Interesse von uns allen und nicht nur das der Mächtigen und Großartigen im Blick.