Michael Kimmel hat beschrieben, dass der starke, unangreifbare Mann, der sich und die Seinen gegen die böse Welt verteidigt, der nette und auch der mächtige, the ruler of the world, nicht mehr zeitgemäß ist. Verschwörung? Je nach Geschmack, Soros, Gates, die Juden? Dass Männer keine Anerkennung mehr bekommen, halten viele für einen viel zu hohen und ungerechten Preis, den die Männer zu zahlen haben.
Hoch vielleicht, aber ungerecht? Sind wir wirklich in diese Männerrollen gezwungen worden? Gab es nie eine Alternative? Sagen wir es mal so: die Wahl. Eine Wahl hätten wir wohl schon gehabt, aber sie war uns nicht bewusst. Zu verlockend war, was sich da anbot, die gravierenden Nachteile waren zu attraktiv verpackt. Denn unsere Schwächen, die Defizite wurden als Stärke verkauft, im Narrativ vom starken, unangreifbaren Mann, dem Märchen der Narzissten.
Was hat es mit diesem wieder so viel diskutierten Narzissmus auf sich?
Sie erinnern sich vielleicht, dass Michael Tomasello die hohe kommunikative Kooperationsbereitschaft kleiner Kinder beschrieben hatte?1 Bei diesen k&k-Kindern2 im Alter von zwei oder drei gibt es kaum Hinweise für ein Potenzial zum Narzissmus, diesem Persönlichkeitszug, der den späteren Mann zum Arschloch3, zum erfolgreichen CEO oder zu einem dieser Politiker machen kann – Sie wissen schon. Aber bei manchen Jugendlichen tauchen schon ein paar Jahre später narzisstische Züge auf. Ihre Träger zieht es wie magisch in Führungspositionen4, unter Jugendlichen wie unter Erwachsenen. Doch narzisstische Jungs sind für ihre Gruppe weniger schädlich als erwachsene Männer. »Narzissmus mag in der Kindheit die zwischenmenschlichen Beziehungen weniger beeinflussen als bei Erwachsenen, vielleicht weil Kinder in ihrem Sozialverhalten generell weniger dominant sind als Erwachsene, was sie weniger gegen ihre Gruppeninteressen handeln lässt.«5 Diese Psychologen! Echt jetzt! Sie sprechen ganz offen aus, dass soziale Dominanz die Neigung bedeutet, gegen die Interessen der eigenen Gruppe zu handeln. Gut, das erklärt doch manches.
Aber warum tun Narzissten so etwas?6 Die Persönlichkeitsforschung geht davon aus, dass sich narzisstische Persönlichkeitsanteile bei vielen Menschen auf einem Kontinuum mit anderen Eigenschaften lokalisieren lassen und dass nur die Extremposition, also wenn diese Anteile alles andere überwiegen, tatsächlich pathogen ist.
Wie sieht narzisstisch aus?
Narzissten sind oft nicht in der Lage, sich in andere einzufühlen, weswegen sie es natürlich auch nicht tun; die anderen glauben dann, der Typ wolle nicht mitfühlend sein, weil er besser finde, stark und durchsetzungsfähig zu sein – aber tatsächlich kann er nicht. Die Fähigkeit zu Empathie ist bei Narzissten unterentwickelt. Ihr schwankendes und unsicheres Selbstwertgefühl ist von außen schwer wahrzunehmen, es sei denn, man arbeitet psychotherapeutisch mit ihnen.
Narzissten haben wahrscheinlich als Kinder zu wenig bedingungslose, dafür nur an Leistung geknüpfte Zuwendung bekommen, Schwächen wurden nicht akzeptiert. Es gibt aber auch Hinweise für eine genetische Grundlage. Sie sehen, dass man es nicht so genau weiß.
Solche Störungen sind bei Männern häufiger7, so sorry, aber wahrscheinlich ist es noch komplizierter, weil es neben dem narzisstisch grandiosen Typ auch noch einen narzisstisch vulnerablen Typ gibt, der vielleicht bei Frauen häufiger vorkommt: introvertiert, ichbezogen und mit hohen Ansprüchen. Sie merken es selbst, die Geschichte ist zu komplex für Stigmatisierung und Beschimpfungen, aber Sie können davon ausgehen, dass Narzissmus im alltäglichen zwischenmenschlichen Umgang ziemlich defizitär ist: Sie bekommen nichts von ihm.
Die Preisfrage: Warum findet sich diese Persönlichkeitsvariante so häufig in Führungspositionen? Falls Sie sich schon mal beworben haben, wissen Sie, dass für jede halbwegs interessante Position Profile formuliert werden. Von Unternehmensberatern. In den letzten 15 Jahren war von einem der Mächtigsten dieser Berater, McKinsey & Co, der »Krieg um die Talente«8 ausgerufen worden. Die Persönlichkeitseigenschaften dieser Masters of the Universe, ihr besonderer Status, ihre Heldenhaftigkeit, die Nähe zu den Göttern machte jedem auch nur etwas distanzierten Beobachter klar, dass diese Art von Talent mit den Persönlichkeitseigenschaften von Narzissten gleichzusetzen waren und dass Kooperationsfähigkeit nicht als wesentliches Einstellungskriterium angesehen wurde.9 Die von diesen »Talenten« verursachten Bank- und Firmenpleiten bestätigten diese Einschätzung.
Die Idee, was ein »Talent« ausmacht, war natürlich nicht neu generiert worden, sondern basierte auf den uralten Profilen von einflussreichen und mächtigen Männern. Schlüssel und Schloss passten also wunderbar.
Interessant ist zweierlei: Niemand hat tatsächlich anhand des Erfolgs evaluiert, ob Menschen mit solchen Eigenschaften wirklich besonders geeignete Führungspersonen sind. Wer die eigene Großartigkeit vor sich her trägt und bewundert werden will, macht zwar Eindruck, vor allem bei denen, die sich selbst nicht für kompetent halten, aber das ist ja kein objektiver Erfolgsgradmesser.
Fast noch interessanter ist, warum niemandem auffiel, dass die angebliche Stärke solcher Führer tatsächlich ein Defizit ist. Denn bei Licht betrachtet, handelt es sich um narzisstisch/soziopathische Männer, eigentlich »arme Hunde«, aber leider ohne die enorme Sozialkompetenz, die Haushunde auszeichnet?10 Was um Himmels willen gefällt uns anderen so daran? Was finden wir so attraktiv an ihnen?
Eine Möglichkeit wäre, dass sie ihre Chance genau deshalb bekommen, weil sie so unkommunikativ und autoritär sind: Wer sich sozial nicht vermittelt, wirkt geheimnisvoll, weil er »keiner von uns« ist; wie die Biografien zeigen, hätten solche Männer unter anderen Bedingungen das Problem gehabt, als »fremd« ausgegrenzt zu werden. Unsoziale Einzelgänger nähren realitätsferne Männermythen, stilisieren sich als »Wölfe«, was jeden Sinns entbehrt, denn reale Wolfsrudel sind Familiengruppen mit bestens funktionierenden Sozialsystemen.11
Solche Männer kokettieren oft mit einem noch verdächtigeren Mythos: mit dem Untergang, der Götterdämmerung, dem Weltenbrand. Hitler, der Wagnerfan, hat diesen Weltenbrand in die Realität umgesetzt. Der Umgang anderer moderner Führungspersonen mit demokratischen Werten, Natur und Klima deutet darauf hin, dass solche Szenarien ihre Faszination nicht eingebüßt haben.
Eine etwas andere Interpretation gibt Achille Mbembe: »Dass es im jüdisch-christlichen Erbe der Philosophie, von dem die Menschen in Europa so nachhaltig geprägt wurden, eine strukturelle Beziehung zwischen der Zukunft der Welt […] auf der einen, der Katastrophe […] auf der anderen Seite gibt. Man glaubt, um zu seinem Höhepunkt zu gelangen, müsse das Sein eine Phase der Reinigung durch Feuer hinter sich bringen […] Es ist jedoch keineswegs sicher, ob die ganze Menschheit […] der Katastrophe so eine Stellung zuweist. In den afrikanischen Traditionen bildet die Frage nach der menschlichen Existenz nicht die Seinsfrage […] Solche Traditionen schenken der Idee eines Endes der Welt oder einer anderen Menschheit nur wenig Aufmerksamkeit. Diese Obsession ist letztlich daher möglicherweise eine Eigenheit der westlichen Metaphysik.«12
Uns gibt es ja überall. Das macht die Frage nach den Alternativen schwierig, nach anderen Lebensformen, die ihre Hoffnung nicht auf Soziopathen, sondern auf normale Menschen setzen.
Tatsächlich bieten die »afrikanischen Traditionen« eine interessante Alternative. Die Anthropologie indigener Völker kommt momentan in Mode. Für Menschen, die in der europäischen Zivilisation sozialisiert sind, mag die Idee ziemlich absurd erscheinen, dass wir etwas von Buschmännern lernen könnten, die in der uns lebensfeindlich erscheinenden Umgebung der Kalahari leben. Tatsächlich sind auch das Mitglieder der evolutionär so überaus erfolgreichen Gruppe Homo sapiens. Sie sind allerdings so distanziert gegenüber sesshaften und ackerbauenden Menschen geblieben, dass sie sich ihr besonderes Leben bewahren konnten.
Die Herausforderung, die das Leben der Ju/’hoansi für uns bedeutet, liegt in der Frage, »ob der Mensch in der Lage sein wird, die überaus komplexen und unstabilen ökologischen Bedingungen zu überleben, die er selbst erschaffen hat, und ob die Blüte der Technologie, die der agrikulturellen Revolution folgte, uns zur Utopie oder zur Auslöschung führen wird«13.
Die Jäger und Sammler leben unter gänzlich anderen Umständen als wir, und es wäre wohl ziemlich illusionär, wollten wir unser Leben einfach nach ihren Standards ausrichten. Aber es lohnt sich, diese Standards anzuschauen, weil sie nicht nur zu einem konkret anderen Leben, sondern zu ganz anderen Werten führen. Zum Beispiel ernten sie nie mehr, als sie am gleichen Tag essen wollen, und betreiben keine Lagerhaltung. Die mit ihnen beschäftigten Anthropologen sehen dieses short-term thinking als die Grundlage an, dass diese Gesellschaften so egalitär, stabil und widerstandsfähig sind, dass sie Hierarchien verachten, keine Häuptlinge oder institutionalisierte Autoritäten mögen und Unterschiede an materiellem Reichtum ablehnen,14 Gesellschaften, in denen Frauen und Männer gleichberechtigt sind. Ein grundsätzliches Prinzip ist das demand-sharing, das Prinzip, das jedem nach seinen Bedürfnissen, nicht nach seinem Verdienst gibt.
Wie gesagt, einfach abkupfern wird nicht gehen, aber über diese anderen Werte nachdenken, würde uns vielleicht doch neue Perspektiven eröffnen, zumal unsere fast ausschließlich an monetären Werten orientierte Kultur – sollen wir sie wirklich Kultur nennen? – allmählich an ihre Grenzen stößt.
Es ist gar keine Frage: Die Ju/’hoansi mit ihrem egalitären Verständnis vom Umgang der Menschen untereinander, die Besitz negieren und jedem nach seinen Bedürfnissen geben, haben die Gleichheit zwischen Frauen, Männern und Kindern besser realisiert als wir. Kehren wir also auf der Suche nach Veränderung, nach neuen Perspektiven für uns Männer nochmals zu der Frage zurück: Können wir von Indigenen lernen, besser mit unseren Kindern umzugehen? Da aus Kindern Erwachsene werden, hätte ein anderer Umgang mit Kindern nachhaltige Konsequenzen.
Kleine Kinder können in unserer Kultur angeblich nicht beurteilen, was für sie gefährlich werden könnte. Deswegen haben wir Eltern die Pflicht – ja, zu was? Zu verbieten oder es ihnen zu erklären? Wie machen das Indigene?
Eine US-amerikanische Journalistin, Michaeleen Doucleff, besuchte für eine Recherche drei unterschiedliche indigene Gruppen, eine Inuit-Gemeinde, ein Maya-Dorf in Mexico und eine Gruppe in Tansania. Ihre dreijährige Tochter nahm sie mit.15 Als die infolge der regelmäßigen Ausraster ihres Kleinkindes erschöpfte Mutter war sie über die Kinder der Indigenen verblüfft: extrem hilfsbereite, freundliche Kinder, die Geschirr spülen, Süßigkeiten mit ihren Geschwistern teilen und auch die kleineren mitspielen lassen, die verantwortungsbewusst handeln, offenbar ganz selbstverständlich.
Sie berichtet, dass bei den Inuit »bereits Kinder ab etwa sechs Jahren zur Jagd mitkommen dürfen unter der Prämisse, dass sie dort stundenlang absolut still sein müssen.«16
Sechsjährige. Stundenlang still sein. Wie geht der Trick? Das ist schon ein Crash-Test, denn der Inuit-Mann würde nichts zu essen mitbringen, und die Familie müsste hungern, wenn sein 6-Jähriger plötzlich rumquakt, weil es ihm zu langweilig ist, und die Robbe im Eisloch verschwindet. Er quakt aber nicht rum.
Die Inuit kommen offensichtlich mit ihrer Meinung weiter, dass Kinder am Erwachsenenleben teilhaben wollen und dafür auch ihr Verhalten modifizieren. Im Unterschied dazu machen es sich europäische und US-amerikanische Eltern mit ihren Vorbehalten nicht einfacher. Kontrolle, helikoptern, die Supernanny zu Hilfe rufen – damit machen wir unsere Kinder einerseits unzurechnungsfähig und müssen sie quasi als Ausgleich unbedingt ständig in lauten Tönen loben. Wir tun so, als wenn Kinder Nuancen nicht verstehen würden. Stattdessen investieren wir gewaltig in Kinder, Kindersitz, Buggy, Spielzeug ohne Ende. Was ganz nebenbei die Ungleichheit fördert, zwischen Generationen, zwischen Reichen und Armen, zwischen Menschen, die nach den berühmten Konventionen Grundgesetz, Menschenrechtskonvention, UNO-Kinderrechtskonvention angeblich alle gleich sein sollen.
Möglicherweise schleicht sich bei einigen, vielleicht gar nicht so wenigen Eltern schon mal der Gedanke ein, dass gelegentlich »sanfte« Gewalt, also die verschämte, weil man das ja nicht mehr darf, als »Klaps« bezeichnete Ohrfeige angesagt wäre.
Frau Doucleff schließt das aus. Gewalt sei bei den indigenen Gruppen tabuisiert. »In den USA sagen wir dagegen oft über unsere Kinder: ›Oh, das tut er, um dich zu provozieren.‹ Oder: ›Sie weiß genau, wie sie kriegt, was sie will.‹ Wir unterstellen unseren Kindern ständig die Manipulation unserer Gefühle oder dass sie uns mit Absicht bestrafen wollen […] Unsere Kultur geht davon aus, dass entweder der Erwachsene oder das Kind die Kontrolle hat.
Ich habe das einmal Sally, der einen Mutter aus der Inuit-Gemeinde, erzählt, und sie hat so gelacht. Sie konnte es kaum glauben. Sie meinte, dass es doch nur Kinder seien. Kinder machen in ihren Augen nichts in böser Absicht.«
Die Ju/’hoansi bringen ihren Kindern nicht bei, wie man Spuren liest. Stattdessen ermutigen sie ihre Kinder, diese Fähigkeiten selber zu lernen, indem sie die Welt um sie herum beobachten und mit ihr in Wechselwirkung treten.17
Warum ist es für uns so schwer, Kinder, unsere Kinder als vollwertige Menschen zu akzeptieren mit einem anderen Entwicklungsstand? Warum negieren wir, dass ihre Weiterentwicklung ihr wichtigstes Ziel sein muss? Also sollten wir nicht reglementieren, befehlen oder einfach nur rumschimpfen, sondern uns um vernünftige Argumente bemühen, die das Kind auf seiner jeweiligen Altersstufe verstehen kann. Die Kinder ernst nehmen, das wäre es. Sie ernsthaft respektieren, nicht nur so tun, als ob.
Dazu würden auch die Kindergrundrechte, das Kinderwahlrecht und die Mitsprache bei Problemen gehören, die Kinder etwas angehen. Gibt es überhaupt gegenwärtige Probleme, die Kinder nichts angehen?
Respekt ist ein grundlegendes Element zwischenmenschlichen Verhaltens, das beiden etwas bringt, dem, der Respekt bekommt, und dem, der Respekt erweist.
Es ist unmöglich, bei jedem Menschen, der in unserem Leben eine wichtige Rolle spielt, gründlich zu prüfen, ob wir ihm vertrauen können, ob er ehrlich ist und vor allem, ob er Macht missbrauchen wird oder nicht. Viel zu viele Menschen, die wir gar nicht genau kennen können, und auch viel zu viele Männer haben Einfluss auf unser Leben. The proof of the pudding is in the eating – aber wenn wir jeden Pudding testen, platzen wir. Ein Ausweg ist, jene zu respektieren, die für uns wichtig sind. Wenn ich jemanden respektiere, dann gebe ich ihm quasi Kredit, was seinen Wert für unsere Beziehung angeht. Ich vertraue: Er wird’s schon richtig machen. Das beruhigt mich, ich schlafe besser, ich muss nicht alles hinterfragen, und etwas vom Licht der Respektsperson fällt auf mich. Mit jemandem, den ich respektiere, fühle ich mich wohl. Respekt ist zunächst mal ein Arrangement zwischen zwei Menschen, also etwas sehr Persönliches: Ich respektiere eine oder einen, weil sie oder er stärker, klüger etc. ist. Respekt kommt auch mit dem Amt: Präsidenten, Kanzler, Abgeordnete werden meistens respektiert. Kardinäle und Priester auch. Früher waren es noch der Apotheker und der Lehrer. Hier sehen wir alte gesellschaftliche Konventionen. Männer werden häufig respektiert. Allein schon die Überhöhung des Mannes in der alltäglichen Anrede: Herr! Herrgott noch mal: Welche Frau lässt sich heute noch als Dame anreden?
Hier schimmern die Grenzen des Prinzips Respekt durch. Respekt hatte immer auch die dunkle Seite, die Seite des Hohlen, des Gespreizten, des Falschen, des Scheins. Besonders für zwielichtige Gestalten scheint Respekt enorm wichtig zu sein, weswegen Trump, Putin, Lukaschenko, Bolsenaro Respekt einfordern müssen, damit der aufgrund ihrer Handlungen aufkeimende Zweifel im Keim erstickt wird. So bekommen sie jede Menge Aufmerksamkeit, man hört ihnen zu, nimmt sie ernst, viel zu ernst. Hier fällt mir das Märchen von »Des Kaisers neuen Kleidern« ein …
Wäre dies alles nicht so tödlich ernst, könnten wir die vielen Beispiele lächerlich nennen. Die »ehrenwerte Gesellschaft« ist nicht ehrenwert. Sie nimmt die Gegenposition zu allem ein, was Menschen mit dem Begriff »Ehre« verbinden, führt diesen Begriff ad absurdum. Aber Respekt braucht sie und fordert sie mit allen Mitteln ein. Sonst würden die Männer von Mafia, Cosa nostra, N’drangheta in ihren eigenen Organisationen, denen keine Unmenschlichkeit fremd ist, nicht ernst genommen. Wer Respekt bekommt, muss nicht ständig gewalttätig werden, denn die anderen wissen, dass er dieses Potenzial hat. Und dieses Wissen lässt sich durch gelegentliche Auffrischungen der Angst aktiv halten – hier wird eine gefoltert, dort einer gemordet.
Erinnern Sie sich an den »Paten«? Marlon Brando! Diese unglaubliche Ehrerbietung, die ihm alle entgegenbrachten! Einem Mafioso! Da könnte jeder Kardinal vor Neid erblassen.
Ach ja, die Nazis! Hitler brauchte Respekt dringender als die Luft zum Atmen, weil er so ein skurriler Narziss war. Sieht man sich Fotos aus dieser Zeit an, die Herren (!) in Frack und Zylinder, dann springt einem diese Sehnsucht nach der dringend benötigten Respektabilität in die Augen. Tatsächlich war Hitlers Truppe weder tapfer noch anständig und schon überhaupt nicht respektabel.
Die Anständigen, die Hitler widerstanden, wurden konsequent fragmentiert, isoliert und erschienen vor dem Hintergrund der jubelnden Massen so unnormal, dass man sich bei nüchterner, empirischer Betrachtung fragen muss, ob sie denn von allen guten Geistern verlassen waren: Den Scholls, Stauffenbergs, die Bonhoeffers, Görings Bruder wurde jeder Respekt verweigert. Lesen Sie mal nach, wie Hitlers Hauptankläger Freisler mit den Geschwistern Scholl, mit den Männern des 20. Juli umsprang, wie er versuchte, ihnen den Respekt zu rauben. Hitler schaute sich die Filme an, wie die Verschwörer an Metzgerhaken aufgehängt wurden. Nach dem »Endsieg« gab es viele Versuche, all diesen tapferen und anständigen Menschen, die oft gegen jeden angeblich gesunden Männerverstand handelten, die Ehre zu erweisen. Ob es gelungen ist?
Der Respekt für die Nazis verging dann jedenfalls nicht so schnell, als alles in Scherben lag und die Untaten bekannt wurden. Nur wenigen kamen substanzielle Zweifel, als wenige Jahre nach dem Desaster wieder eine christlich respektable Mehrheit an die Urnen ging. Wie dann der Auschwitz-Prozess in das wieder zwangsnormalisierte Alltagsleben der 1960er-Jahre einbrach, das hat Annette Hess in Deutsches Haus anschaulich beschrieben.18 Offenbar wurde jedenfalls, dass hochrespektable deutsche Herren-Männer Menschen umgebracht haben, die nach ihrer absurden Rassentheorie nicht mehr Menschen sein sollten. Unter geistiger und tätiger Mithilfe von respektablen, promovierten Männern, Professoren, ärztlichen Direktoren und Gutachtern wurden die auch seelisch Kranken zu Untermenschen im eigenen Land gemacht.
In der Psychiatrie hat es über 70 Jahre gedauert, bis der damalige Präsident der Deutschen Psychiater Frank Schneider uns, seine Kollegen, dazu brachte, sich bei den Überlebenden der von den Psychiatern gequälten und ermordeten Patienten zu entschuldigen.19
Öffnet also Respekt Missbrauch in jeder Form Tür und Tor?
Sie meinen, ich könne misshandelte Kinder und Frauen doch nicht in einen Topf mit den Opfern der Nazis werfen? Und die Herren des Geldes noch mit dazutun? Oh doch. Kann ich, und das passt wunderbar zusammen: Männermacht, Schweinereien und Respekt – eingefordert oder freiwillig zugesprochen.
Der Mann, der wahrscheinlich (das Verfahren ist zum Zeitpunkt, zu dem ich das schreibe, noch nicht abgeschlossen) der Täter von Lüdge war, hätte ohne den Respekt der anderen seine grausamen Verbrechen nie begehen können. Die von ihm misshandelte Michaela V. »habe ihrem Vater und ihrer Oma mehrmals gesagt, dass er sie als Elfjährige ›angefasst hatte‹. Doch beide hätten ihr nicht geglaubt. Es hieß immer: ›Andreas würde so etwas niemals tun.‹.«20
Hat er aber.
Wenn wir wirklich etwas anders machen wollen, müssen wir uns darauf besinnen, was Respekt wirklich ist, welche Inhalte wir dem Begriff Respekt für eine zukünftige Welt geben wollen. Respekt vor dem Leben in seiner Vielfalt. Akzeptanz, dass nicht jeder so ist wie ich und trotzdem Anspruch auf unser Verständnis, auf unsere Unterstützung und unsere Ehrerbietung, auf unsere Achtung hat. Im Zen-Buddhismus wird Respekt durch das Ritual des Verbeugens ausgedrückt, vor allen Lebewesen, vor ihrer Besonderheit, vor den Wundern der Schöpfung.
Eigentlich geht es ja nicht um hohe Ziele, sondern um die selbstverständliche Akzeptanz jedes einzelnen Individuums, ob es nun in Deutschland, in New York, im Mumbai, im Urwald des Amazonasgebietes lebt. Und ob es Frau oder Mann, Erwachsener oder Kind ist. Es geht darum, wie ernst wir Menschenrechte nehmen wollen. Das ist ein schwieriges Thema selbst für uns Deutsche, die wir uns doch so viel Mühe geben, politisch relativ anständig zu bleiben. Denn die Menschenrechte sind unteilbar. Mensch ist Mensch, keiner kann mehr Mensch sein. Wenn da nur nicht im Mutterland unserer abendländischen Kultur die Grenze Europas wäre. Und die Lager der Geflüchteten. Gerechtigkeit wird nicht nur bei ihnen zum Lackmustest unserer Zivilisation.
Männer, vor allem wichtige, einflussreiche und durchaus auch mächtige, vermeiden gerne, sich zu diesem Thema zu positionieren, sie verweisen auf komplexe juristische oder wirtschaftliche Gegebenheiten oder sie wurschteln einfach weiter. Wenn sie auf die diversen Ungleichverhältnisse angesprochen werden, kultivieren sie eine Haltung, die irgendwie zwischen schaumgebremst und angefasst daherkommt. Psychotherapeuten nennen so was Abwehr, Widerstand.
Beispielhaft zeigt das Oliver Bäte, der Chef der Allianz, Deutschlands größtem Versicherer; ohne jeden Zweifel ist er ein einflussreicher, mächtiger Mann, sicher einer, den sich andere Männer zum Vorbild nehmen. In einem Interview mit einem ebenfalls einflussreichen und wohl auch mächtigen Mann, Giovanni di Lorenzo, Chefredakteur der ZEIT, sagt Bäte den interessanten Satz: »Gerechtigkeit ist für mich ein marxistischer Begriff. Ich weiß nicht, was das ist.«21
Lassen Sie diesen Satz mal auf sich wirken, so einfach erschließt er sich in seiner männlichen Simplizität nicht. Gerechtigkeit – marxistisch? Er weiß es nicht? Noch nie etwas vom Marxismus gehört? Nein, nein, das kann nicht sein! Wenn Sie ihn googeln, erfahren Sie, dass er Abitur hat, BWL in Köln und New York studierte, international in leitenden Positionen der Versicherungswirtschaft tätig war und einer schlagenden Verbindung angehört – undenkbar, dass er nichts über das Konzept der Gerechtigkeit weiß.
Ich glaube, es ist anders: Wenn man solch einen Satz gegenüber dem Chefredakteur der ZEIT ausspricht, muss man sich seiner Macht und seiner Wichtigkeit so vollkommen sicher sein, dass man sich um nichts, aber auch gar nichts mehr schert, weil man genügend andere Mächtige hinter sich weiß. Nur dann kann einer sagen, dass ihn Gerechtigkeit nicht interessiere. Diese Ignoranz der Macht raubt einem immer wieder den Atem, was natürlich den Ignoranten hilft. Bäte steht dafür, dass mächtige Männer durchblicken lassen, Themen aus den Niederungen der »kleinen Leute« seien nicht wirklich wichtig, darum müssten sie sich nicht kümmern. Schämt er sich? Keineswegs. Wofür auch. Wahrscheinlich würde Bäte den Begriff der Abwehr sowieso nicht akzeptieren, denn zum Konzept des Narzissmus gehört, dass man an seinem Egostandpunkt keine Zweifel aufkommen lässt.
Für narzisstische Abwehr interessiert sich hingegen ein schwarzer Philosoph, Achille Mbembe: »Unsere Zeit ist also eine der festen narzisstischen Bindungen. Die gedankliche Fixierung auf den Ausländer, den Muslim, die verschleierte Frau, den Flüchtling, den Juden oder den Neger dient in diesem Kontext der Abwehr. Man weigert sich, anzuerkennen, dass unser Ich sich in Wahrheit stets im Gegensatz zu einem anderen konstituiert, den wir internalisiert haben […] Dass wir in Wirklichkeit aus diversen Anleihen bei fremden Subjekten bestehen und daher immer schon Grenzwesen waren – genau das weigern sich heute viele einzugestehen.«22
Da prallen in der Tat Kulturen aufeinander. Der eine Prototyp lehnt es voller Saft und Kraft seines Egos ab, sich um den Schrott der Welt kümmern zu müssen, den er lieber versichert und gut daran verdient. Der andere denkt über die Entstehung unseres Ichs aus der Abgrenzung von anderen nach. Beide Männer, immerhin.
Auf einer Skala, die ein Kontinuum zwischen »archaisch« und »differenziert« abbildet, wäre Herr Bäte ganz auf der Seite des Archaischen, viele würden wohl sagen »Gesunden«, nicht Intellektualisierten anzusiedeln, Herr Mbembe ganz auf der anderen Seite. Und Sie? Zu welcher Kultur gehören Sie?
Das ist die Frage, um deren Antwort ich Sie in diesem Kapitel bitte.
Auf Ihre Position kommt es an. Und die Antwort ist nicht einfach, denn allmählich nähern wir uns dem, was in den letzten Jahren gerne als »toxische« Männlichkeit hochstilisiert wird, den Mechanismen der Netzwerke, die seltsamerweise immer wieder von narzisstischen Persönlichkeiten geleitet werden wollen, den Mechanismen der Identifikation und des Respekts und der Rolle der »netten« Männer.
Wieso sollen uns nette Männer interessieren? Schurken sind doch zurzeit viel interessanter! Im Zeitalter von Netflix glaubt man, sie nur noch im »House of Cards« oder bei »Breaking Bad« zu finden. Eigentlich könnten Sie sich das Geld sparen und einfach Shakespeare lesen. Da finden Sie fast alle dominanten Männertypen. Zum Beispiel Richard III., der es mit ungeniertem Lügen, Intrigieren und Morden vom Herzog von Gloster zum König von England brachte. Ein Monster ohne Wenn und Aber, »The Crown« wirkt dagegen eher blass.
Der Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt hat analysiert, wer Richards Weg an die Macht ermöglicht: Er nennt sie »the enablers«. Es sind vor allem »nette« Männer, ja, solche wie Sie, die immer gerne als Gegenbeispiele für die These von der toxischen Männlichkeit herangezogen werden. Doch wer auf ihre Nettigkeit baut, macht ein paar entscheidende Denkfehler:23
Nette Männer sträuben sich zu akzeptieren, dass Richard, das paradigmatische Scheusal, tatsächlich so schlecht ist, wie es den Anschein hat! Für nette Männer, und ich nehme mich da gar nicht aus, scheint die Wahrnehmung enorm schwierig zu sein, dass Männer tatsächlich so furchtbar sein können, wie es alle Tage in der Zeitung steht. Nette Männer entschuldigen die Monster: Nein, es sind doch nicht alle so, meine Kumpels können nicht wirklich schlecht sein, die Frauen haben doch auch miese Seiten! Uns Netten wohnt offenbar ein unwiderstehlicher Drang inne, als normal ansehen zu wollen, was keineswegs normal ist. Bei Männern.
Ähnlich irreführend ist die Annahme, es würden schon »immer genug Erwachsene im Raum sein«, dass sich die Bösen nicht durchsetzen könnten. Dieses irrationale Konstrukt hält allen historischen Widerlegungen stand: Sie erinnern sich? Von Papen werde Hitler zähmen? Das Vertrauen auf die schadensbegrenzende Wirkung der »Erwachsenen« suggeriert, dass das Böse kindlich sei und dass Erwachsene dem Einhalt gebieten könnten. Die Anthropologie sagt ja eher das Umgekehrte. Erwachsene! Erwachsene Männer stellen überhaupt keine sichere, vernünftige Burg gegen Böses, Irrationales dar. Wie irre kann man eigentlich sein, so etwas immer noch zu glauben? Greenblatt beurteilt dieses Denkmuster denn auch als »unglaublich fragil«24.
Und in der Tat: Wer das sich ständig wiederholende Einbrechen des Irrationalen in die angebliche Normalität von Völkern und Individuen vergegenwärtigt, wird um das Zugeständnis nicht herumkommen, dass die Annahme, es werde schon alles gut werden, schlicht und ergreifend Quatsch ist. Sechs Millionen Juden, die unzähligen Kriegstoten, die verhungernden Kindern im Jemen. Brauchen Sie noch mehr?
Also: Nett sein wird es nicht richten.
Es reicht nicht, dass Sie und ich nett und keine Monster sind. Schon besser wäre aufzustehen, jedes Mal, wenn wir etwas Monströses wahrnehmen, in den Familien, in den Sakristeien, im Mittelmeer, wenn uns dämmert, dass Frauen beim Joggen Angst vor Vergewaltigung haben müssen und so weiter. Aufstehen und sagen, dass es so nicht geht! Nein, sich wegducken und beim Mittagessen unter Männern rumzumosern, wenn einem feministische Anwürfe doch unter die Haut gehen, ist überhaupt keine konstruktive Lösung, sondern einfach nur feige!
Hinschauen wäre gut, sich den Gefühlen stellen, die durch die Verbrechen unserer Geschlechtsgenossen in uns geweckt werden, auch mutig auf den Tisch steigen, wie die Schüler in dem uralten Kultfilm für Männer Club der toten Dichter25, woran übrigens die Moderatorin Caren Miosga ungeachtet »normalen« TV-Verhaltens im Andenken an den Widerstandsgeist (und den Schauspieler Robin Williams) erinnerte und auf den Tisch stieg.
Unseren Widerstand zeigen heißt also die Aufgabe für uns nette Männer. Nicht den Frauen ihren Widerstand abnehmen, sondern unseren eigenen entwickeln. Denn es geht um uns, wenn die Welt bewohnbarer werden soll.
1 Michael Tomasello: Warum wir kooperieren. Berlin 2010
2 Kinder mit kommunikativer Kooperationsbereitschaft
3 Ein faszinierender und noch dazu wissenschaftlicher Zugang zu diesem Thema wurde von Robert Sutton, Professor für Organisationspsychologie an der Stanford-University gegeben. Erhellend ist das Interview mit Bernd Kramer mit dem Titel »Arschlöcher«; Süddeutsche Zeitung Nr. 48, Sa./So 27./28.02.2021, S. 60
4 Eddie Brummelman/Barbara Nevicka/Joseph M. O`Brien: »Narcissm and Leadership in Children.« Psychological Science 2021, 1–10
5 Michael Tomasello, a. a. O.
6 Es gibt nicht viele allgemeinverständliche Darstellungen; eine gute ist von Corinna Hartmann: »Was Du über Narzissmus wissen musst.« quarks.de 27.11.2020, abgerufen am 01.03.2021
7 Emily Grijalva/Daniel A. Newman/Louis Tay, M. Brent Donella/Peter D. Harms: »Gender differences in Narcissism. A Meta-Analytic Review.« 2014 http://digitalcomons.unl.edu/pdharms/5,
8 McKinsey& C o: McKinsey Quarterly Nr. 4: The War for Talent. 1998
9 James Suzman, a. a. O.
10 Brian Hare/Vanessa Woods: The Genius of Dogs. New York 2014
12 Achille Mbembe: Politik der Feindschaft. Berlin 2017
13 Richard Lee, zit. bei James Suzman: Work. A. a. O.
14 J. Woodburn, zit. bei James Suzman: Work. A. a. O.
15 Caroline Rosales: »Kinder wollen und müssen lernen, wie das Erwachsenenleben geht.« zeit.de 24.03.2021, abgerufen 13.04.2021
16 Ebd. wie alle weiteren Zitate in diesem Kontext
17 James Suzman, a. a. O.
18 Annette Hess: Deutsches Haus. Berlin 2018
19 Professor Frank Schneider; Präsident der DGPPN, Aachen, Psychiatrie im Nationalsozialismus – Erinnerung und Verantwortung. dgppn.de
20 Jana Stegemann, Christian Wernicke: Die Welt tut sich auf. Süddeutsche Zeitung Nr. 50, 28.02.2019, S.3
21 Interview von Giovanni di Lorenzo mit Oliver Bäte: »Gerechtigkeit ist für mich ein marxistischer Begriff.«, DIE ZEIT Nr. 49/2018, 29.11.2018
22 Achille Mbembe: Politik der Feindschaft. A. a. O., S. 60
23 Stephen Greenblatt: Tyrant. Shakespeare on Power. London 2018
24 Ebd.
25 1989; Regie Peter Weir, mit Robin Williams, Ethan Hawke und anderen.