Ästhetik, Sprache und Literatur

Fiktionale Zukünfte und die dezidiert Jungen

Das Metronom der literarischen Mode scheint auf presto eingestellt zu sein. Seit dem hoch gehandelten Auftauchen von David Leavitts Family Dancing (deutsch Familientanz), Jay McInerneys Bright Lights, Big City (deutsch Ein starker Abgang) und Bret Easton Ellis’ Less Than Zero (deutsch Unter Null) kam es in den Pi mal Daumen letzten drei Jahren fast schon zu einer Explosion wohlwollenden kritischen und kommerziellen Interesses an der Belletristik Dezidiert Junger[133] Schriftsteller. Ehrwürdige Traditionen von Not und Entbehrung der Lehrzeit wurden in diesem Zeitraum auf den Kopf gestellt: Die Nähe der Autoren zu ihren eigenen Pubertäten galt plötzlich als Aktivposten; Gerüchten zufolge suchten Agenten prestigeträchtige Creative-Writing-Workshops heim wie Talentsucher College-Meisterschaftsspiele; Verleger und Rezensenten rangelten darum, die Ersten zu sein, die ihre bartlosen Favoriten zur »ersten Stimme einer neuen Generation« ausriefen. Und die gehobene Stadtjugend erwies sich schnell als solides Publikum (und Absatzgebiet) für D.J. Literatur: Ellis und McInerney, Janowitz und Leavitt, Simpson und Minot genießen in ihrer Altersgruppe eine Beliebtheit, die es nicht mehr gegeben hat, seit die in den Sechzigern schwer angesagte Schwarze Komikerriege relativ aufsehenerregend von der Bühne abgetreten ist.

Zum Zeitpunkt dieser Niederschrift Ende 1987 ist eine schnelle und massive Gegenreaktion erfolgt, die nicht ganz ungerechtfertigt war. Viele der rezensierenden Trendsetter, die Mitte der Achtziger die Frühreife einer Neuen Generation bejubelt hatten, beklagen jetzt den Wildwuchs eines literarischen Brat Packs. Die Village Voice, die die Apotheose McInerneys 1985 in einer überschwänglichen Titelgeschichte in Stein gemeißelt hatte, nimmt in diesem Herbst den Verriss einiger McInerney-Epigonen zum Anlass, unter der Schlagzeile DAS BRAT PACK MACHT BÄUERCHEN unbeholfen ausgeschnittene Porträts von Janowitz, McInerney, Ellis u.a. auf Fotos von Babys in Windeln zu kleben. 1987 klagten Redakteure und Gastautoren der New York Times Book Review plötzlich über einen Trend zu »lebensüberdrüssigen Creative-Writing-Projekten«, eine Flut von »G.Ä.H.N.E.R.n (Geisttötenden Ätzenden Halbwüchsigen Neunmalklugen Englischen Romanciers)« und eine endlose Abfolge von Eintagsfliegen und »Short-Story-Starlets«. In der Ausgabe vom 11. Oktober verteilt die graue Eminenz William Gass Noten und konstatiert – »Die Gegenwart ist durchgefallen«:

Die Landplage literarischer Schulabgänger, die unsere Seiten befallen hat, ist Ihnen vielleicht schon aufgefallen, und Sie haben die nichtsnutzigen Zeitschriften zur Kenntnis genommen, die ausschließlich ihrer Veröffentlichung dienen. Tausende von Kurzgeschichtenlesern und -schreibern sind wie Setzlinge in den dünnen Mainstream ernsthafter Prosa gepflanzt worden … Nun, Jugend hat keine Tugend, nicht wahr … Jugendliche konsumieren mehr Seelenleben als Cola und mehr Gefühle als Junkfood. Aber lässt sich der Bauchnabelschau kein Riegel vorschieben? Im Rahmen meiner Recherchen habe ich [eine von Leavitt herausgegebene Anthologie von D.J. Literatur] gelesen. Man hat das Gefühl, über einen Friedhof zu gehen, der noch keine Gräber hat.

Wie kam es zu diesem jähen Stimmungsumschwung? War er willkürlich und ungerecht oder aber überfällig? Und vor allem: Worauf läuft er hinaus?

Meiner Meinung nach war das Ende der Flitterwochen von Literaturbetrieb und D.J. Schriftstellern die unausweichliche und vorhersehbare Konsequenz desselben schamlosen Hypes, der viele literarische Jungspunde überhaupt erst so voreilig ins Rampenlicht gezerrt hatte: herablassende Toleranz der Literaturkritk und herablassende Ablehnung der Literaturkritik sind zwei Seiten derselben Medaille. Es stimmt, dass D.J. Autoren teilweise lausige Literatur produzieren. Aber eigentlich erklärt das noch gar nichts, denn dasselbe gilt für viele ältere Schriftsteller, die ihr Pulver verschossen haben und sich nur dank ihres Namens und der Moden über Wasser halten.

Wichtiger ist der häufig zu hörende Vorwurf, viele zeitgenössische junge Schriftsteller seien sich so lähmend ähnlich. Jeder Vielleser wird das zu einem gewissen Grad bestätigen müssen. Der Löwenanteil neuerer D.J. Literatur bestätigt das Stereotyp, junge Literatur gehöre zu einem oder sogar mehreren der drei folgenden düsteren Lager:

Fies, aber leider fair – bis auf die Tatsache, dass diese Kategorisierungen wie alle Verallgemeinerungen nur auf die begabungsfreien Beispiele dessen zutreffen, worum es hier geht. Für den Kritiker, der zugleich die Invasion beklagen und die Invasoren in Schubladen stecken will, besteht die Ironie darin, dass die D.J. Literatur mitsamt ihren Randerscheinungen gerade dank ihrer Vermehrung die Besten ihrer Generation über das Stereotyp hinaushebt. Das außergewöhnliche Köpfchen, mit dem ein Simpson oder Leavitt elterliche Machenschaften durch die Augen durch und durch glaubwürdiger Kinder wiedergibt; die ungeschminkte White-Trash-Lyrik von Pinckney Benedicts Town Smokes; der sarkastische Zickenhumor guter Erzählungen von Lorrie Moore, Amy Hempel oder Debra Spark; das politische Vorstellungsvermögen von William Vollmanns You Bright and Risen Angels; die gewissenhafte Erforschung der Motive hinter dem Yuppie-Verfall in McInerneys Bright Lights – das alles überstrahlt die Sternschnuppen des Zeitgeists und hat, wichtiger noch, weder Hätscheln noch Höhnen verdient. Schauen Sie es sich mal an. Unter den D.J. Schriftstellern, von denen die zweite Hälfte des Jahrzehnts zugegebenermaßen wimmelt, gibt es einzigartige und solide Talente. D’accord, sie alle sind krude, einige reifer als andere, und manche sind eher als andere imstande, die Sau zu transzendieren, als die sie von den Trendsettern durchs Dorf getrieben werden. Aber etliche haben ihren eigenen Stil.

Doch es ist seltsam: Wir D.J. Schriftsteller werden alle unweigerlich in einen Topf geworfen. Loblieder und Verrisse beschwören gleichermaßen eine Generation herauf, die neu und geschlossen sein soll. Mit Feuilletonmoden früherer Jahrzehnte kenn ich mich nicht aus und kann daher nicht sagen, ob es Präzedenzfälle dieses Schubladendenkens gibt, aber in mancher Hinsicht finde ich es nicht einmal unangebracht. Gegenwärtig bilden die guten und die lausigen D.J. Schriftsteller meiner Meinung nach eine Generation, die weniger die Chronologie zusammenhält (Benedict ist 23, Janowitz über 30) als ein neues und noch nie da gewesenes Umfeld, in dem und über das wir uns literarisch zu äußern versuchen. Unsere Verwandtschaft erklärt zu einem Gutteil auch die heftigen und zwiespältigen Reaktionen auf Neue Stimmen.

Meine These lautet also erstens, dass sich einige entscheidende Faktoren im Zusammenhang mit der literarischen Produktion jungen amerikanischen Schriftstellern von heute radikal anders präsentieren und dass zweitens die Tatsache, dass diese Faktoren unsere ästhetischen Wertvorstellungen und literarischen Entscheidungen beeinflussen, uns (von Modeströmungen mal ganz abgesehen) zusammenschweißt und gleichzeitig von einem Gutteil des – literarischen, intellektuellen, politischen – Establishments abgrenzt, das unsere Texte eben von der Warte einer anderen Generation liest. Natürlich gibt es unzählige Unterschiede zwischen den Schlüsselerlebnissen aufeinanderfolgender Generationen und allein die relevanten hier erschöpfend zu behandeln, erforderte erstens objektive Distanz und zweitens ein Bataillon von Sozialhistorikern. Da ich beides grad nicht parat habe, möchte ich nur drei spezifische Phänomene der amerikanischen Jetztzeit nennen, und zwar die Auswirkungen des Fernsehens, der universitären Creative-Writing-Programme und der Revolution dessen, was gebildete Menschen unter den Funktionen und Möglichkeiten literarischen Erzählens verstehen. Diese drei Phänomene bilden für mich einen weitreichenden affektiven und normativen Komplex. Groß und grimmig, aufbauend und auszehrend, bilden sie (meines Erachtens) unbestreitbare und zusammengehörige Einflüsse auf die »Neuen Stimmen« des Landes.

 

Statistiken über die Zeit, die der durchschnittliche Amerikaner pro Tag vor kleinen Bildschirmen verbringt, sind sattsam bekannt. Die Generation der über den Daumen gepeilt nach 1955 geborenen Amerikaner ist aber die erste, die mit dem Fernsehen lebt und es nicht einfach anschaut. Unsere Eltern betrachteten die Glotze wie ein Flapper ein Auto: als eine Kuriosität, die erst ein Luxus war und dann eine Verführung wurde. Für uns, ihre Kinder, gehört das Fernsehen zum Alltag wie Toyotas und Staus. Ein Leben ohne Fernsehen können wir uns sehr buchstäblich nicht mehr »vorstellen«. Wie für einen Großteil der entwickelten Welt von heute präsentiert es und definiert damit den uns gemeinsamen Erfahrungsraum; im Gegensatz zu den Älteren können wir uns aber an keine Welt ohne solche elektronische Definition erinnern. Sie ist eingebaut. In meiner Kindheit – späte Sechziger, ländliches Süd-Illinois, Meilen und Megahertz weit weg von jedem Zentrum der Unterhaltungsproduktion – war Kenntnis der jüngsten Entwicklungen in Batman oder Verrückter Wilder Westen das Medium sozialer Kommunikation. Wenn wir spielten, vollzogen wir oft nur nach, was wir am Vorabend gesehen hatten, und Wirklichkeitsnähe wurde sehr ernst genommen. Die Fähigkeit, Howard Cosell, Barney Rubble, den Kuckuck aus der Cocoa-Puffs-Werbung oder Gomer Pyle nachahmen zu können, war ein Distinktionsmerkmal und legte den Rang fest.

Das Fernsehen als Lifestyle beeinflusst naturgemäß die Methoden, mit denen D.J. Autoren und Autorinnen gelebtes Leben verstehen und repräsentieren. In der Literaturzeitschrift Arrival hat der Kritiker Bruce Bawer neulich die Manier vieler Brat-Packer auf die Schippe genommen, Figuren nach den Werbeslogans auf ihren T-Shirts zu skizzieren. Er konnte erschreckend viele Beispiele aufzählen. Es ist tatsächlich traurig, dass sich Leavitts Beschreibung einiger Figuren, meinetwegen in »Danny, unterwegs«, darauf beschränkt, dass auf ihren T-Shirts »Coca-Cola« in einer Fremdsprache steht – trauriger ist vielleicht aber, dass diese Beschreibung für die meisten seiner lesenden Zeitgenossen völlig ausreicht. In meinen Augen geht Bawers Abneigung an die falsche Adresse: Im Grunde wendet sie sich doch gegen eine Jugendkultur, die sich so freiwillig mit Botschaften zuballern lässt, die die Konsumgewohnheiten eines Menschen mit seiner Identität gleichsetzen, dass Markenbindung zur akzeptablen Synekdoche von Identität und Charakter geworden ist.

Dieses Schisma zwischen jungen Schriftstellern und ihren älteren Kritikern gilt wahrscheinlich auch für das ganze Thema strategischer Bezugnahmen auf »Populärkultur« in der Literatur. Die künstlerische Verwendung von Popikonen – Markennamen, Fernsehsendungen, Promis, Kommerzfilm und -musik – kommt Intellektuellen, die vor der Fernsehära im strengen Sinne sozialisiert wurden, bestenfalls frivol vor, und im schlimmsten Fall halten sie sie für eine gefährliche Seichtheit, die die »Ernsthaftigkeit« der Literatur kompromittiert und aus der platonischen Sphäre ewiger Ideen relegiert, wo sie von alters her residiert. Ein ausgezeichneter und gewissenhafter Creative-Writing-Professor hat in unserem Seminar mal konstatiert, eine seriöse Erzählung oder ein Roman solle grundsätzlich »jedes Merkmal meiden, das sie oder ihn zeitlich verankern« und in der Geschichte situieren könne, denn »echte Literatur ist immer zeitlos«. Als wir protestierten und ihn darauf hinwiesen, in seinen eigenen und gut bekannten Texten würden sich die Figuren doch auch durch elektrisch beleuchtete Zimmer bewegen, Autos fahren, kein Angelsächsisch, sondern Nachkriegsenglisch sprechen und in einem Nordamerika leben, das sich im Zuge der Kontinentaldrift schon von Afrika gelöst habe, schränkte er seine Ächtung auf alle expliziten Hinweise ein, die eine Erzählung in der vergänglichen Gegenwart verorteten. Weiter bedrängt und um Präzisierung gebeten, stellte sich heraus, dass sein Verbot in Wahrheit den »kommerziellen Massenmedien« galt. Ich glaube, an dieser Stelle verödet der generationsübergreifende Diskurs. Die von Automobilen bevölkerte Sphäre ewiger Ideen dieses Gentlemans und unsere mit ihrer Federal Communications Commission hatten nichts gemeinsam. Die Zeit hatte die Ewigkeit verändert.

Und die Angelegenheit ist bitte schön auch keine Frage bloßen Geschmacks oder individueller Vorlieben. Die meisten Schriftsteller, auch junge, sind Intellektuelle. Die meisten Rezensenten und Dozenten (sowie ein überraschend hoher Anteil an Herausgebern) auch. Und das Fernsehen und seine Werbung sowie die Populärkultur, die beide spiegeln und definieren, haben zu grundsätzlichen Veränderungen dessen geführt, was Intellektuelle als geeignete Gegenstände ihrer Aufmerksamkeit bestimmen. Die Experten, deren Werte sich herausgebildet haben, bevor Fernsehen und Werbung psychologisch pandemisch wurden, unterscheiden noch wie etwa Barbara Tuchman geflissentlich und streng zwischen einerseits Dingen, die echte »Qualität« aufweisen und von kultivierten Menschen erschaffen und nachgefragt werden, und andererseits Dingen, die einfach nur »populär« sind, »die Massen anlocken«, von Menschen nachgefragt werden, die sich mal wieder waschen und die Haare schneiden könnten, und nur allzu gern von Leuten produziert werden, die sich schon längst für den kleinsten gemeinsamen Nenner eines gleichmacherischen Kapitalismus prostituieren: den demokratischen Markt. Für den aufgeklärten Ästheten alter Schule, gebildet und liberal, abgestillt sagen wir zwischen 1940 und 1960, ist der Unterschied zwischen echter Kultiviertheit und echtem Liberalismus noch eine Opposition, über die sich Werbewissenschaftler wie Martin Mayer schon seit Ende der Fünfzigerjahre lustig machen:

Der Löwenanteil der Werbung ist für jeden Menschen mit einem hoch entwickelten Sensorium ein kultureller Graus. Dasselbe gilt für die meisten Spielfilme und Fernsehsendungen, den größten Teil der Volksmusik und einen überraschend hohen Anteil aller hierzulande verlegten Bücher. Schlechte Filme, schlechte Bücher und schlechte Kunst kann ein sensibler Mensch jedoch meiden, aber wenn man nicht gerade im Gefängnis sitzt, ist der Kontakt mit Werbung kaum zu umgehen. Die Werbung präsentiert dem Intellektuellen ein mehr oder weniger genaues Bild der Populärkultur und wird dafür Zielscheibe seiner Feindschaft und seiner Hasstiraden. Sie trifft ihn, wo es wehtut: in seinen politisch liberalen und sozial edelmütigen Anschauungen – die sich teilweise der Tatsache verdanken, dass er sich dem Geschmack von Otto Normalverbraucher immer entzogen hat.

Ich möchte behaupten, dass Intellektuelle der Neuen Generation, deren Sprachrohre D.J. Schriftsteller sein sollen, so viel Scheinheiligkeit gar nicht mehr begreifen, geschweige denn darunter leiden. Nicht, dass diese »Aufgeklärtheit« verdient oder auch nur eine gute Sache wäre. Fernsehen, Werbung und Entertainment sind ja mehrheitlich auch weiterhin schlecht und billig gemacht. Entscheidend ist nur, dass sie den Psychen unserer Generation so lange und so nachhaltig angedreht worden sind, dass sie heute komplexe Wechselbeziehungen zwischen unseren Selbst- und Weltbildern eingehen. Wir können die distanzierte Abneigung des Ästheten alter Schule gegenüber Massenunterhaltung und Popularität schlechterdings nicht nachempfinden: Die Abneigung ist vielleicht geblieben – die Distanz nicht.

Da sich die Welterfahrung und das Weltverständnis unserer Generation aus dem Pop speisen, bestimmt dieser auch unsere künstlerischen Wertvorstellungen. Junge Literaten mögen Tag für Tag stundenlang am Schreibtisch sitzen; wir sind aber auch tagtäglich Teil des großen Publikums. Wir sind entsprechend konditioniert. Wir haben eine intuitive Vorliebe für visuelle Reize, bunte Bewegungen, hektische Vielfalt und Beats, zu denen man tanzen kann. Vielleicht verändern sich durch Hyper- oder Atrophie sogar unsere geistigen Fähigkeiten, und die Aufmerksamkeitsbreite wächst, während die Aufmerksamkeitsspanne schrumpft. Mit einer zumindest teilweise passiven Aktivität groß geworden, nehmen wir ein gewisses Ausmaß an Manipulation als neutral hin: Such is life. Da aber auf raffinierte Weise nicht nur unsere Treue umworben wird, sondern unsere Aufmerksamkeit, wird diese zu einer Ware, zur Maßeinheit von Macht, und wem wir sie zollen oder nicht, hat großes Gewicht für uns. Dasselbe gilt für unser gottgegebenes Recht darauf, unterhalten zu werden – oder wenn nicht unterhalten, dann doch wenigstens stimuliert; auch Unangenehmes ist absolut okay, wenn es nur fesselt.

Populärkulturelle Symbole werden in einem Gutteil der D.J. Literatur zu Maßstäben der Welt, in der wir leben und aus der wir Kunst zu machen versuchen, und entsprechend kann man einige Techniken, die bei vielen jungen Schriftstellern en vogue sind, auf ihre Verwurzelung in unserer Erfahrung als hingebungsvolle Zuschauer zurückführen. Ereignisse spiegeln sich z.B. in den Sinneswahrnehmungen mehr als einer Figur; in kurzen, dichten Abschnitten wird logische Geschlossenheit oft reiner Evokation geopfert; es gibt abrupte Wechsel von Schauplatz, Figuren, Perspektive, Zeitlichkeit und Kausalität; eine flächige, objektive, ›filmische‹ Instanz erzählt in der dritten Person. Vor allem aber wird eine relative Gleichgültigkeit gegenüber den Imperativen der Mimesis mit einer absoluten Leidenschaft für narrative Lösungen kombiniert, die zu etwas beitragen, das man »Stimmung« nennen könnte. Jeder Schriftsteller geht nämlich zwangsläufig davon aus, dass sich der Leser auf derselben Ebene wie er selbst bewegt: Da er schon bis zum Abwinken gesehen hat, wie das richtige Leben aussieht, interessiert er sich viel mehr dafür, wie es sich anfühlt, um daraus auf seine Bedeutung zu schließen.

Auch die technische Medaille hat ihre Kehrseite. Es ist beispielsweise kaum zu übersehen, dass der angesagte Ultraminimalismus, auf den zu viele D.J. Autoren stehen, von den ästhetischen Normen der Massenunterhaltung nachhaltig beeinflusst worden ist. Mehr noch, diese Literatur beruht nachgerade auf einer halb garen Umkehrung dieser Normen. Während das Fernsehen und besonders seine Werbung mit Übertreibungen arbeitet, ist der Ultraminimalismus bewusst flach, untertrieben, ›unterbietend‹. Während das Fernsehen sein Geschehen entweder dramatisch oder melodramatisch wiedergeben und den Zuschauer bewegen will, indem es ständige Bewegung abbildet, beschreibt der Minimalist ein Geschehen wie ein Objekt, als geometrisches Gebilde in der Stasis, und seine emotionale Distanz zum Beschriebenen bemisst sich nach Lichtjahren. Während das Fernsehen immerzu Lust erzeugen will und muss, deutet der katatonische Autor immer gleichermaßen auf Thema und Leser: Man muss nur eine Sexszene von Bret Easton Ellis lesen (schlagen Sie eine beliebige Seite auf), um zu begreifen, dass Lust hier weder Thema noch Ziel ist. Meine eigene Ablehnung des Ultraminimalismus geht auf seine naive Anmaßung zurück, glaube ich. Die Clique der Katatoniker scheint davon auszugehen, dass man die Werte, die Fernsehen, Blockbuster, Werbung usw. uns oktroyieren, nur auf den Kopf stellen muss, und schon erzielt man die ästhetische Tiefe, die der Populärkultur so deutlich fehlt. In Wahrheit sind die Ultraminimalisten von der Populärkultur natürlich genauso infiziert wie alle anderen D.J. Autoren: Sie verlegen sich nur darauf, ihre Kunst in Opposition zu der Welt zu sehen, in der sie leben. Die Haltung, die sich darin verrät, gleicht der von seichten Neoklassizisten, für die der Verzicht auf Vulgarität nicht nur eine Voraussetzung, sondern schon ein Wertausweis ist, oder der von unsicheren Geisteswissenschaftlern, die Unverständlichkeit mit Tiefsinn verwechseln. Und sie ist ungefähr genauso nervig.

Dabei ist des Katatonikers Unbehagen in Bezug auf die Kultur des Populären und aus Populärem absolut nachvollziehbar. Sie ist uns allen zumindest ein bisschen unbehaglich – oder? –, was wahrscheinlich daran liegt, dass die Flucht aus ihr, was Techniker wie Mayer schon vor dreißig Jahren vorausgesehen haben, nicht mehr nur unmöglich, sondern undenkbar geworden ist. Will sagen, da die Populärkultur des heutigen Fernsehens ihrem Wesen nach eine Kultur der Masse ist, eine Pankultur, hat sie naturgemäß Auswirkungen auf die Stile, Entscheidungen und Träume nicht nur einer Handvoll von Tippkünstlern und ihrer kleinen Leserkreise, sondern auf die der ganzen menschlichen Gemeinschaften, über die wir zu schreiben versuchen. Und diese Auswirkungen waren überwältigend: Die neue Sphäre ewiger Ideen hat alles verändert. Meiner Meinung nach ist das schlecht und hat seinen Preis. »Schlecht« bedeutet, es ist vielen Werten abträglich, die unsere Gemeinschaften herausgebildet, geschätzt und weitergegeben haben. Der Preis dafür besteht in schmerzhaften Veränderungen und Verlusten für die Menschen. Denn schauen Sie: Je mehr sich eine geheimnisvolle Krake wie das Fernsehen verfeinert, desto mehr produziert und perpetuiert es eine Antinomie, ein Phänomen, dessen Stärke in seiner Widersprüchlichkeit liegt: Obwohl sich das Fernsehen grundsätzlich an Gruppen, Massen, Märkte und Gemeinschaften richtet, verändert es am stärksten und nachhaltigsten doch Einzelne, denn der Einzelne muss sich Tag für Tag in seinem Verhältnis zu Gruppen definieren, kraft derer er überhaupt existiert.

Überlegen Sie etwa, inwiefern der gestiegene Konsum von Fernsehserien bei jedem von uns die Befangenheit steigert und die Reflexion senkt. Eine Kultur, die sich mehr und mehr um das Sehen dreht, pervertiert schließlich die Beziehung zwischen Seher und Gesehenem. Wir schauen verschiedenen Schauspielern zu, die verschiedene Figuren spielen, die in verschiedene Beziehungen und Ereignisse verwickelt werden. Wir denken so gut wie nie darüber nach, dass diese Figuren miteinander und mit den Schauspielern, die sie verkörpern, nur eines gemeinsam haben: Sie werden beobachtet. Das Verhalten von Schauspielern sowie – auf komplizierte Weise, nämlich durch die Serie, in der sie auftreten – ihren Figuren richtet sich immer an ein Publikum, für das sie sich verhalten … dank dem sie als Schauspieler oder Figur hinter dem Glas der Bildschirme überhaupt erst existieren. Für uns, das Publikum, erhärtet sich unbewusst die These, das wesentlichste Merkmal der Menschen sei ihre Anschaubarkeit, und der heutige Wert des Menschen sei dem Phänomen des Anschauens nicht nur isomorph, sondern in ihm verwurzelt. Lieb gewordene Unterscheidungen zwischen wahrem Sein und bloßem Schein werden verschleiert. Stellen Sie sich ein berkeleysches Esse-est-percipi-Universum vor, in dem Gott den Namen Nielsen trägt.

Vergessen Sie auch nicht, dass ein gut bekannter, großer, »bildungsferner« Teil der Bevölkerung Tag für Tag glaubt, die im Fernsehen ausgestrahlten Serien seien »real«. Die riesigen Postmengen, die Tag für Tag an die Figuren und nicht an die sie verkörpernden Schauspieler gerichtet werden, bilden nur die winzige Spitze des Eisbergs. Dieser selbst ist eine Generation (neu), für die die Unterscheidung zwischen dem (realen) Schauspieler und der (fiktiven) Figur, die er bei seiner Kunstausübung verkörpert, zunehmend hinfällig wird. Die Gefahren des Eisbergs sind die Schlechtheit und ihr Preis – eine Verschiebung von einem Verständnis des Selbst als Figur in einem großen Drama, das in Bedeutung kulminiert, zu einem Verständnis des Selbst als Schauspieler bei einem großen Vorsprechen, dessen Ziel das Scheinen, nämlich das Gesehenwerden ist.

Es gibt unzählige Arten und Weisen, wie effizient erdachte und verbreitete Unterhaltungsangebote die existenziellen Dilemmata von Menschen und Gruppen beeinflussen. Und wenn »existenziell« Ihrer Meinung nach ein zu gewichtiger Begriff für etwas ist, das mit Pop zu tun hat, dann missverstehen Sie vielleicht, was auf dem Spiel steht. Schauen Sie sich Fernsehserien an, in denen es um Gewalt und Gefahr mit möglicher Todesfolge geht. Die gibt es heutzutage ja wie Sand am Meer. Jede Serie hat einen Helden. Er ist bewusst so konstruiert, dass wir uns mit ihm »identifizieren«. Im Moment fällt uns das noch nicht besonders schwer, denn so pflegen wir auch unsere eigenen Leben zu sehen: Jeder von uns ist der Held seines Lebensdramas, und die Menschen um uns her werden zu Nebendarstellern zurückgestuft oder gelten (zunehmend) als Zuschauer.

Jetzt überlegen Sie aber mal, wann Ihnen letztmals ein »Held« untergekommen ist, der im Rahmen seiner Erzählung stirbt. Das ist extrem selten geworden. Die Unterhaltungsprofis haben anscheinend ihre Hausaufgaben gemacht und herausgefunden, dass Zuschauer Depri schieben, wenn ihre Identifikationsfiguren sterben, und eher weniger auf Serien stehen, in denen Gefahren auf kreative Weise an den Tod gekoppelt werden, der die Gefahr gefährlich macht. Daraus folgt zwangsläufig, dass heutige Serienhelden in den Handlungsrahmen, die sie zu Helden und Identifikationsfiguren machen, »unsterblich« zu sein pflegen (Video- und verwandte Technologien verschaffen dieser Illusion magnetische Realität für das Publikum). Die Tatsache, dass uns unablässig nahegelegt wird, uns mit Figuren zu identifizieren, für die der Tod keine ernst zu nehmende kreative Option ist, hat meiner Meinung nach ihren Preis. Wir als Publikum und Individuen, Sie da drüben und ich hier hüben, verlieren jedes Gespür für Eschatologie, ergo für Teleologie, und leben in einem Augenblick, der paradoxerweise keine intrinsische Bedeutung oder ein absehbares Ende mehr hat und recht buchstäblich ewig dauert. Wenn wir die einzigen Tiere sind, die im Voraus wissen, dass sie irgendwann sterben müssen, sind wir wahrscheinlich auch die einzigen Tiere, die sich voller Fröhlichkeit auf die anhaltende Leugnung dieser unleugbaren und bedeutsamen Wahrheit einlassen. Wenn die Leugnungen der Wahrheit durch die Unterhaltungsbranche immer wirksamer, allgegenwärtiger und verführerischer werden, besteht die Gefahr, dass wir irgendwann vergessen, was da geleugnet wird. Das ist beängstigend. Denn an einem gibt es für mich nichts zu rütteln: Wenn wir vergessen, wie man stirbt, vergessen wir, wie man lebt.

Und wenn Sie der Meinung sind, zeitgenössische Literaturschaffende, egal welchen Ranges, würden eine Realität nicht geflissentlich übersehen, die wir alle unangenehm finden, dann überlegen Sie mal, wie viele seriöse literarische Werke in den USA sich in den letzten zehn Jahren mit der eingestandenermaßen größten organisierten Bedrohung befasst haben, die uns und unserer Gesellschaft blüht. Es genügt, wenn Sie, sagen wir mal, zwei nennen können.

Vielleicht lautet die eigentliche Frage auch: Wie ernsthaft darf Literatur für Menschen noch sein, die das Recht beanspruchen, unterhalten zu werden? Wenn ich oben behauptet habe, die geistigen Väter der D.J. Autoren und Autorinnen hätten eine in sich widersprüchliche Mischung aus topaktueller Politik und einer Ästhetik unserer Altvorderen geschätzt, würden die meisten von uns diese garantiert liebend gern für die Widersprüche eintauschen, die an deren Stelle getreten sind. Wer heutzutage in den Startlöchern der literarischen Produktion sitzt, ist gleichzeitig ein Anhänger ernsthafter Literatur und ein zwangsläufig konditionierter Bestandteil einer vom Populären dominierten Kultur, in der der soziale Aktienkurs seines eigenen Unternehmens ständig sinkt. Wir stecken mitten in der, nein, wir verkörpern die Ermordung dessen, was wir lieben.

Übertreibung? Man darf auf keinen Fall vergessen, dass der größte Teil des Fernsehens nicht nur unterhaltend ist: Er ist auch erzählend. Und es ist so wahr wie wohlfeil, dass der Mensch das erzählende Tier ist: Jede Kultur rechtfertigt die eigene Existenz durch Geschichten, seien diese nun mythopoetisch oder politisch-ökonomisch; jeder Mensch versteht sein Leben als organisierte und nacherzählbare Abfolge von Ereignissen und Veränderungen, die zumindest Anfang und Mitte haben. Wir brauchen das Erzählen, wie wir die Raumzeit brauchen; es ist unser Zubehör ab Werk. Für D.J. Schriftsteller von heute sind es die Erzählmuster des Fernsehens, denen gebildete Amerikaner am meisten ausgesetzt werden. Und auch bei wohlwollender Einschätzung sind die Erzählformen des Fernsehens ziemlich mies. Seiner Erzählkunst geht es nicht mehr um Veränderung, Aufklärung, Horizonterweiterung oder Perspektivwechsel – ja vielleicht nicht einmal um Unterhaltung –, sondern immer und ausschließlich um das Mitreißen, um das Fesseln. Sein – offen eingestandenes – einziges Ziel ist es, für das Dranbleiben zu sorgen. Und (meiner Meinung nach) besteht der Preis der metastatischen Effizienz, mit der es dafür sorgt, in unausweichlichen und fatalen Konsequenzen für das Niveau, auf dem die Menschen Geschmack an Erzählungen finden. Denn schon das, was Leserinnen und Leser von Erzählkunst erwarten, ist Kunst.

Die größte Faszination des Fernsehens ist, dass es fesselt, ohne zu fordern. Man kann ausruhen, während man aufgeputscht wird. Nehmen, ohne zu geben. Das gilt für alle niedere Kunst, die anhaltende Aufmerksamkeit und Stammkundschaft anpeilt: Sie fesselt, eben weil sie Spaß macht und leicht zu haben ist. Und die Verwurzelung einer auf ihrer Anziehungskraft beruhenden Kultur erklärt etwas Dunkles und Seltsames: Zu einem Zeitpunkt, an dem es in den USA mehr anständige, gute und sehr gute e-literarische Autoren gibt als je zuvor, widmet eine amerikanische Öffentlichkeit, die ein noch nie da gewesenes Bildungs- und Einkommensniveau genießt, den Löwenanteil ihrer Lektürezeit und ihres Buchetats einer Literatur, die nach allen gängigen Maßstäben Schrott ist. Schrottliteratur hat in puncto Absicht und Anreiz die meisten Gemeinsamkeiten mit Fernseherzählungen: Sie ist fesselnd, aber nicht fordernd. In Bezug auf Qualität und Popularität ist Schrott aber ein weit unheilvolleres Phänomen. Denn während das Fernsehen von seinen Anfängen an von Aspekten wie Massenanreiz, kleinsten gemeinsamen Nennern und Profit motiviert war und sich um nichts anderes drehte, wimmelt unsere Geschichte nur so von Belegen, dass Leser und Gesellschaften wichtige und bleibende Beiträge von einer Erzählkunst erwarten können, der es im Selbstverständnis um Wichtigeres geht als nur um Beliebtheit und Bilanzen. Entertainer können fesseln, mitreißen und vielleicht sogar trösten – transzendieren können nur Künstler. Die Schrottschreiber von heute sind Entertainer, die in den Revieren der Künstler wildern. An und für sich ist das nicht neu, nur haben die Ästhetik des Fernsehens und eine nach seinen Vorgaben gemodelte Ökonomie ihnen zu noch nie da gewesener Beliebtheit und Belohnung verholfen. Und meines Erachtens laufen wir Gefahr, dass nicht nur die Formen, sondern auch die Normen der Fernsehkunst an die Stelle der Standards aller Erzählkunst treten. Das wäre eine Katastrophe.

Ich klinge hoffentlich noch nicht wie ein Klon von Barbara Tuchman, denn meine Kritik am Schrott kommt aus einer anderen Ecke als ihre und ist weniger komplex. Ich kritisiere an der Schrottliteratur nicht, dass sie prollig ist, und was ihren Aufstieg angeht, interessiert es mich auch nicht die Bohne, ob der postindustrielle Liberalismus als Übeltäter in der Geschichte hockt und die Schrottliteratur zwangsläufig aus der Taufe heben musste. Ich kritisiere an der Schrottliteratur auch nicht, dass sie vulgäre Kunst oder ärgerlich bescheuerte Kunst ist, sondern: Wenn Literatur überhaupt Kunst ist, dann kritisiere ich am Schrott, dass er einfach unwirklich und leer ist und dass er (unterstützt von Rezeptionsgewohnheiten, die aus dem Fernsehen stammen) den Markt, den Schriftsteller brauchen, und die Kultur, die Schriftsteller braucht, von allem weglockt, was wirklich, erfüllt und bedeutsam ist.

Auch der schnöseligste junge Künschtler wird Schrottliteraten wahrscheinlich nicht persönlich gram sein; alle Welt ist schließlich auch der einhelligen Meinung, dass Prostitution eine für alle Beteiligten üble Sache ist, aber kaum jemand wird der einzelnen Prostituierten Vorwürfe machen oder ihr übelwollen. Das mag weit hergeholt klingen, ich behaupte aber, dass es genau die richtige Analogie ist. Gegen Bezahlung ermöglicht eine Prostituierte einem anderen Menschen die Form und die Sinneseindrücke sexueller Intimität ohne die komplexen Emotionen oder Verbindlichkeiten, die die körperliche Intimität zwischen zwei Menschen zu einer kostbaren und sinnstiftenden Erfahrung machen. Die Prostituierte »gibt«, aber da sie keine vergleichbar wertvolle Gegenleistung fordert, pervertiert sie den Akt des Gebens, wodurch eine potenzielle Offenbarung zu einem Geschäftsvorgang wird. Der Schrottliterat bietet seinem Kunden – oft mit bewundernswertem Geschick – eine narrative Struktur, eine Dynamik und einen Inhalt, die den Leser mitreißen – kitzeln, abstoßen, erregen, verzücken –, ohne ihm die intellektuellen, spirituellen oder künstlerischen Reaktionen abzuverlangen, die den sprachlichen Verkehr zwischen Autor und Leser zu einer wichtigen oder eben wirklichen Tätigkeit machen. Wenn unsere Altvorderen in unseren Literaturseminaren also erzählten (und das taten sie mit viel Vergnügen), die Dichtung und der Schrott würden in den Achtzigern einen Krieg um die Seele der Literatur als Kunst austragen – dann horchten wir bei dieser Warnung auf, sie gab uns zu denken. Zumal Fernsehen und Werbung uns darauf abgerichtet haben, den Nettowert mit menschlichem Wert gleichzusetzen. Sidney Sheldon, ein begnadeter Schrottmeister, besitzt Flugzeuge; Gedichte werden in diesem Land von mehr Menschen geschrieben als gelesen; das jährliche Literaturbudget des National Endowment for the Arts beträgt weniger als ein Drittel der jährlichen US-Ausgaben für Militärkapellen und weniger als ein Zehntel der jährlichen Ausgaben der drei großen Fernsehanstalten für die Entwicklung neuer Formate.

Wo wir grad dabei sind: Sidney Sheldon war der kreative Entwicklungskopf hinter sowohl Bezaubernde Jeannie als auch Hart aber herzlich. Voller Bewunderung erkundigte sich Oprah Winfrey nach dem Geheimnis seines Erfolgs in »zwei so total unterschiedlichen Medien«. Als ich das gesehen hab, hab ich bloß gedacht »Ha«.

 

Die eindeutigsten Vorteile haben universitäre Creative-Writing-Programme in ökonomischer Hinsicht. Veröffentlichte Schriftsteller können (vorausgesetzt, sie haben ihrerseits Abschlüsse in Creative Writing) mit dem Leiten von Schreibseminaren genug verdienen, um sich und ihre eigene Literatur querzufinanzieren, ohne geisttötenderen oder zeitraubenderen Beschäftigungen nachgehen zu müssen. Auf der anderen Seite stehen so gut wie allen Studierenden Stipendien (in manchmal absurder Höhe) sowie bezahlte Assistentenstellen im Lehrbetrieb zur Verfügung. Schreibprogramme sind in der Regel fette Pfründen.

Und heute gibt es in diesem Land mehr solche Studiengänge als je zuvor irgendwo auf der Welt. Der einstige Solitär des Workshops in Iowa hat erstklassige Kreativabteilungen an Orten wie Stanford, Houston, Columbia, Johns Hopkins, Virginia, Michigan, Arizona usw. hervorgebracht. Die Mehrheit der anerkannten Hochschulen in den USA hat heute zumindest ein rudimentäres Lehrangebot für Studierende, die eine Berufsausbildung im literarischen Schreiben anstreben. Das alles ist ein Phänomen der letzten fünfzehn Jahre. Das hat es noch nie gegeben, und beispiellos sind auch die Folgen dieses Trends für die junge Literatur der USA. Unter den D.J. Autoren, die ich oben erwähnt habe, hat jeder einzelne an Schreibprogrammen auf Bachelor- oder Master-Ebene teilgenommen. Die meisten haben Abschlüsse als Master of Fine Arts. Einige arbeiten derzeit an ihren sogenannten »kreativen Dissertationen«. Noch nie konnte eine »literarische Generation« eine so gründliche formale Ausbildung vorweisen, und noch nie hat ein so großer Prozentsatz ehrgeiziger Literaten universitätsferne Lehrzeiten gemieden und die Brüste einer Alma Mater gesucht.

Und die Beiträge des höheren Bildungswesens zum Aufstieg der amerikanischen Literatur reichen über den finanziellen Aspekt hinaus. Den Schreibprogrammen wird zu Recht die neue »Renaissance der amerikanischen Kurzgeschichte« gutgeschrieben, die sich in den späten Siebzigern mit Autoren wie dem verstorbenen Raymond Carver ankündigte (Dozentur in Syracuse), Jayne Anne Phillips (MFA aus Iowa) oder dem verstorbenen Breece Pancake (MFA aus Virginia). Literarischen Kurzformen widmen sich heute mehr Zeitschriften denn je, die entweder von Schreibprogrammen gefördert werden oder deren Herausgeberstäbe jüngst erworbene MFAs vorweisen können. Auch bei relativ unbekannten Autoren rentieren sich Kurzprosasammlungen so halbwegs, und die Verlage haben sich vom Fleck weg auf den neuen Trend eingestellt.

Wichtiger ist es für junge Schriftsteller, dass Schreibprogramme ihnen Zeit, akademische Legitimität (und damit Existenzberechtigungsnachweise den Eltern gegenüber) verschaffen und überdies ein Milieu, in dem sie am Feinschliff ihrer Kunstfertigkeit arbeiten und wachsen und auf diese Weise schließlich ihre Stimme finden können[134] usw. Für Studierende haben ernsthafte Gleichgesinnte, mit denen sie sich austauschen können, große Vorteile. Wie in mancherlei Hinsicht auch das Schreibseminar selbst. Jugendliche, die in New Yorker Lofts vielleicht jahrelang Tricks und Kniffe im Alleingang ausprobiert haben, lernen in Workshops vergleichsweise schnell grundlegende Techniken und Verfahren. Die Seminaratmosphäre strenger konstruktiver Kritik stählt die zartbesaiteten Gemüter junger Autoren und bereitet sie auf die unterschiedlichen Reaktionen vor, mit denen sie es in der Welt echter Leser zu tun bekommen können. Und das Beste ist, dass Studierende in einem guten Schreibkurs gezwungen werden, die Werke ihrer Kollegen regelmäßiger, schlüssiger und stringenter Kritik zu unterziehen; das hat fast unweigerlich zur Folge, dass sie ein Gespür für die Stärken und Schwächen der eigenen Texte entwickeln.

Das Schwert der Schreibprogramme ist aber eine zweischneidige Angelegenheit, die meiner Meinung nach auch die aktuelle Verdrossenheit des Literaturbetriebs angesichts der D.J. Schriftsteller rechtfertigt. Die dunkle Seite des Creative-Writing-Trends existiert und wächst; und dabei geht es um weit mehr als nur ein Beispiel des ›Theoretisch genial, aber praktisch nicht umsetzbar‹-Dilemmas. Lassen wir die ganzen hässlichen Aspekte mal beiseite – Institutspolitik und Machtkämpfe zwischen den Fakultäten, bei denen man unwillkürlich an Haifische denkt, die sich um die Vorherrschaft in der Badewanne balgen; das entmutigende Zischen von Egos beim Aufblähen oder Verpuffen; die schlichtweg unerschütterliche Mentalität des Veröffentlichens um jeden Preis, die ein Erscheinen in gedruckter Form mit Talent oder Verheißung gleichsetzt. Das mögen individuelle Erfahrungen eines Studenten sein. Gewisse immanente Probleme der Strukturen und Zielsetzungen solcher Programme sind aber alles andere als individueller Natur. Zum einen ist die pädagogische Beziehung zwischen Literaturprofessor und Literaturstudent ab ovo ungesund. Schreiblehrer sind auserkorene Schriftsteller und nicht Lehrer. Die meisten lehren nicht um der Lehre willen, sondern um sich eine andere und zwanghafte Tätigkeit zu ermöglichen, und diese Tatsache muss man ebenso akzeptieren wie ihre Folgen: Jede Minute, die sie im Seminar oder in Institutsgremien verbringen, ist für Angehörige des Lehrkörpers eine Minute, in der sie keine eigene Kunst erschaffen, und wird mehr oder weniger ungern abgezweigt. Die besten Lehrer bekennen sich zum Konflikt zwischen ihren Berufungen, schließen eine Art inneren Kompromiss und machen weiter. Je nach ihren Fähigkeiten unterdrücken die anderen entweder ihre Ressentiments oder sorgen dafür, dass sie nur das gerade noch vertretbare Minimum an Zeit und Arbeit aufwenden, damit ihre Haupteinnahmequelle nicht versiegt. So gut wie alle lassen ihre Ressentiments aber an den Seelen ihrer Schüler aus, denn Schüler stehen für vergeudete künstlerische Zeit und repräsentieren die Investition von Literaturenergie ohne Literaturproduktion seitens des Lehrers. Das ist alles absolut verständlich. Wenn sich ein Student aber als Last und als Behinderung echter Kunstproduktion empfinden muss, wird das seine Entwicklung nicht gerade fördern, und von seiner Begeisterung reden wir lieber gar nicht erst. Ganz zu schweigen auch von seiner grundsätzlichen Bereitschaft, mit dem Dozenten in den dynamischen Austausch einzutreten, den jede echte kreative Ausbildung erfordert, denn eine Lehrperson, die jedes Anspruchsdenken als Störung empfindet, dürfte gerade unauffällige, lammfromme und anspruchslose Schüler bevorzugen, rekrutieren, fördern und weiterbringen.

Mit anderen Worten: Die Tatsache, dass Creative-Writing-Dozenten zwei Hüte tragen, hat unglückselige Konsequenzen für die Qualität (a) der MFA-Kandidaten und (b) ihrer Schreibausbildung. Und es ist unklar, ob jemandem und, wenn ja, wem Vorwürfe zu machen sind. Es ist verdammt schwer, das Schreiben von Literatur gut zu lehren. Der gewissenhafte Lehrer muss nicht nur sehr kritisch und emotional sensibel sein, scharfsichtig bei der Lektüre und imstande, seinen Scharfsinn auf den Punkt zu bringen: Alle diese Elemente muss er darüber hinaus noch in einer Seminargruppe kommunizieren und diskutieren können. Und das verzerrt zwangsläufig die Gewichtung der naheliegenden Themen, zu denen sich ein rundes Dutzend Menschen kohärent äußern kann: die schlichte Mechanik traditioneller Literaturproduktion wie etwa Einhaltung der Erzählperspektive, Stimmigkeit von Tempus und Stilregister, Figurenentwicklung, Wirklichkeitsnähe der Schauplätze usw. Mängel oder Vorzüge, die nicht bis zum Pausengong identifiziert und diskutiert werden können – Details wie Interessantheit, Vorstellungskraft, Originalität, politische Thesen und Haltungen, die Frage, ob Abweichungen von der Norm in manchen Fällen okay sind –, müssen aus handfesten fachpädagogischen Gründen ignoriert oder verhindert werden. Um behilflich sein zu können und bei Verstand zu bleiben, muss der professionelle Schriftsteller/Lehrer außerdem bewusst oder unbewusst eine ästhetische Doktrin parat haben, eine gleichbleibende Reihe von Antworten auf die Frage, wie eine »gute« Erzählung funktioniert. Anderenfalls muss er bei jedem von Studierenden eingereichten Text wieder aus dem Bauch heraus bei null anfangen, und auf die Weise wird man schnell zum gestandenen Spirituosenliebhaber. Aber überlegen Sie mal, worauf das hinausläuft: Der Dozent muss die Praxis einer Kunst lehren, deren Wandlungsfähigkeit mit den Regeln ihrer Praxis, also einem statischen Regelsystem, zumindest teilweise von Haus aus im Clinch liegt. Ein solches erzwungenes Augenverschließen vor den Möglichkeiten zukünftiger Literatur dürfte der literarischen Entwicklung der meisten Dozenten nicht gerade guttun. Und ihren Studierenden tut es auch nicht gut, die in der Regel schon mindestens sechzehn Schuljahre hinter sich haben und wissen, wie dieser schulische Hase läuft: (1) Erkenne, was dein Ausbilder will, und (2) füttere ihn fortan damit. Die meisten Schreibprogramme bringen daher zwei Typen von Studierenden hervor. Es gibt einige wenige, die – ob nun besonders begabt oder nicht – genug Interesse und Glauben an ihre literarischen Instinkte mitbringen, um hie und da von den Rezepten der Professoren abzuweichen. Vielen dieser Studierenden zeigt man die Tür, sie steigen aus oder beißen ein paar Jahre lang die Zähne zusammen, bekommen aber ständig die Tür gezeigt, an der »Fin. Unterstützung nicht verfügbar« steht. Diese sind glimpflich davongekommen. Der zweite Typ pflanzt sich auf den Seminarstuhl und verinnerlicht – ob nun aus Unsicherheit, schulischer Programmierung oder echter Zustimmung (selten) – augenblicklich die Dikta des Dozenten; er duckt sich, statt zu mucken, hält sich leise und stabil an die Regeln und produziert leise und stabile Prosa, die sich größtenteils punktgenau in Schnarchsackhausen Nr. 3 ansiedelt, nette, adrette, langweilige Seminarprosa, Erzählungen, bei denen es gleichermaßen schwerfällt, technische Defekte zu entdecken wie sich nach dem Weglegen an sie zu erinnern. Hier liegen die rougegeschminkten Leichen für Dr. Gass’ Friedhof. Workshops mögen Leichen. Das müssen sie. Denn jedes Seminar, und sei auch »Kreativität« sein oberstes Ziel, legt höchsten Wert darauf, keine Fehler zu machen. Und Leichen mögen ihre Mängel haben, aber sie bauen keinen Mist.[135]

Wahrscheinlich erzähle ich Ihnen nichts Neues, aber vielleicht ist es wenigstens erschreckend. Creative-Writing-Programme mögen noch so sehr in gutem Glauben behaupten, sie bildeten professionelle Schriftsteller aus – im Endeffekt bilden sie nur neue Dozenten für Creative Writing aus. Ein Master of Fine Arts qualifiziert einen einzig und allein zur Lehre … der Schönen Künste. So gut wie alle heutigen Literaturprofessoren haben einen MFA. Genau wie die meisten Chefredakteure von Literaturzeitschriften. Die meisten MFA-Absolventen, die in der Branche bleiben, lehren oder lektorieren später. Kein Wunder, dass so viele ältere Kritiker in so viel aktueller D.J. Literatur die Tweedbrise spüren, die einen ausgewachsenen Sturm der Langeweile ankündigt: Wenn Sie sich trauen, stellen Sie sich mal eine sorgfältige und versierte Nationalliteratur vor, fehlerfrei und fugenlos wie gut verlegtes Parkett; eine Literatur, die sich mit Normen als Werten beschäftigt, statt sich als Diener von Werten zu verstehen; Literatur von Akademikern, die von Akademikern unterrichtet wurden und Möchtegernakademiker unterrichten; Roman auf kritikresistenten Roman über Festanstellungsangst, Wohnheimlust und -leid, Cafeteriaschmerz.

Gegen beschränkte Themenwahl und ausgereizte Stile zu wettern, ist das Eine. Wichtiger ist die Frage, ob Schreibprogramme mit ihren alle drei Wochen vom knirschenden Fließband plumpsenden Erzählungen über kurz oder lang alle Standards einebnen und ein mehrheitsfähiges literarisches Mittelmaß zur Norm machen, erzählerische Pendants zum von Donald Hall so genannten »McGedicht«. Wenn diese Studiengänge noch beliebter werden und die Pose der »Ausbildung« nicht zugunsten einer bescheideneren und ehrlicheren Selbsteinschätzung aufgeben – etwas wie literarische Schirmherrschaft oder eine partnerschaftliche Zusammenarbeit im Literaturbetrieb –, dann könnten wir am Ende mit einer McStory-Kette dastehen, die selbst Ray Kroc in den Schatten stellt, fürchte ich. Es geht ja nicht nur um die ungesunden Programmstrukturen und die verqueren Einschränkungen der Kreativität, die sie Ausbildern und Studierenden gleichermaßen auferlegen – es geht um den Studententyp, der sich von solchen Konstellationen angezogen fühlt. Die schafsköpfige Bereitschaft zu spuren, bloß weil das die bequemste Überlebenschance bietet, ist bei jedem Studierenden zu verachten. Aber die Studierenden sind nur Symptome. Die eigentliche Krankheit ist folgende: In puncto Sorgfalt, Anspruch und intellektuelle sowie emotionale Vorbedingungen sind viele Creative-Writing-Programme ein schlechter Witz. Nur wenige fordern von ihren Bewerbern substanzielle Vorkenntnisse in Geschichte, Literatur, Kritik, Komposition, Fremdsprachen, Kunst oder Philosophie; noch weniger versuchen auch nur, diese Bereiche in ihre Lehrpläne zu integrieren oder sie bei der Abschlussprüfung vorauszusetzen.

Dieses Problem ist teilweise politischer Natur. Die Universitätsfächer Creative Writing und konventionelle Literaturwissenschaft verachten sich oft gegenseitig, ein Zustand, den der Student, der Studiengang und die Leser ernsthafter Literatur bereuen werden, wenn er noch lange anhält. Viel zu viele Studierende werden mit einem Abschluss in die freie Wildbahn entlassen und wollen sich auf aussagekräftige Weise an vorderster Front einer Kunstdisziplin betätigen, von deren Fundamenten, Geschichte und größten Leistungen sie im Allgemeinen keine Ahnung haben. Der obligatorische Überblick über »Schriftsteller, die für Sie wichtig sind« zu Beginn jedes Semesters unterstellt, dass Homer und Milton, Cervantes und Shakespeare, Maupassant und Gogol – von der Bibel ganz zu schweigen – im Nebel der konventionellen Literaturgeschichte versunken sind; dass für viel zu viele Angehörige dieser Generation Salinger das Rad erfunden hat, Updike den Verbrennungsmotor und Carver, Beattie und Phillips die Rennwagen darstellen, mit denen man mithalten möchte. Vergessen Sie Allan Blooms Zähneknirschen darüber, dass der Ehrgeiz von Schülern nicht über eine tilgbare Hypothek hinausreicht – von uns wird erwartet, dass wir Schriftsteller sein wollen. Als Generation laufen wir Gefahr, Eliots irrwitzigste Thesen zu bestätigen, wenn wir dank einer Melange aus universitärem Stillstand und intellektuellem Desinteresse beim Rest der Welt Unmut erzeugen, weil Kultur für uns entweder kumulativ oder tot ist, leer auf beiden Seiten einer gesellschaftlichen Gegenwart, die weder Leidenschaft in Bezug auf die Zukunft noch Neugier auf die Vergangenheit erlaubt.

 

Die Tatsache, dass wir, die ehrgeizigen Stimmen einer neuen Generation, keinerlei intellektuelle Neugier aufbringen, ist am allerwenigsten zu verteidigen. Es ist allerdings gut möglich, dass genau das, was unseren Antiintellektualismus so obszön macht, auch das ist, was ihn am schnellsten wird veralten lassen. Der Knackpunkt ist doch: Unsere Generation hat das Glück, in einem Kunstklima auf die Welt gekommen zu sein, das so stürmisch und aufregend ist, wie die Welt es nicht mehr gesehen hat, seit Pound und Konsorten die vorletzte Welt auf den Kopf gestellt haben. Die letzten Generationen amerikanischer Schriftsteller haben das relativ laue Lüftchen des New Criticism und einer angelsächsischen Ästhetik geatmet, die von kontinentaleuropäischen Winden unbeeindruckt blieb. Das Klima der »nächsten« Generation der amerikanischen Literatur – sofern wir uns für das Einatmen anstelle des Erstickens entscheiden sollten – wird von der längst überfälligen Anerkennung der bizarren Leistungen von Aliens wie Husserl, Heidegger, Bachtin, Lacan, Barthes, Poulet, Gadamer und de Man aufgewirbelt. Der Niedergang des Strukturalismus hat die Perspektive der Welt auf Sprache, Kunst und literarische Diskurse verändert, und der zeitgenössische Künstler kann es sich einfach nicht mehr leisten, so zu tun, als hätte das Werk von Kritikern, Theoretikern oder Philosophen – wie stratosphärisch dünne Luft sie auch zu atmen scheinen – mit seinen Anliegen nichts zu tun.

Salopp gesagt, ist die Vorstellung, Literatursprache sei eine Art neutrales Medium für den Transfer von [136] vom Künstler zum Publikum oder ein regloses Werkzeug, das passiv daliege und auf die gute oder schlechte Benutzung durch einen Sinnkommunikator warte, auf reichhaltige und gravierende Weise infrage gestellt worden. Damit muss auch die hartnäckig weiter vertretene romantische Vorstellung von Literatur als einem Spiegel, der sich von der gespiegelten Wirklichkeit nur durch seine Beweglichkeit und gnadenlos »objektive« Deutlichkeit unterscheidet, den Kopf hinhalten. Unterscheidungen von Form und Inhalt sind heute flache Planeten. Die Karriere der Sprache vom Spiegel zum Auge, vom organikos zum Organischen, ist Schnee von gestern (außer in den beiden einsamen Außenposten, dem Fernsehen und dem Creative-Writing-Seminar), seit die Wogen von Poststrukturalismus, Marxismus, Feminismus, Freudianismus, Dekonstruktivismus, Semiotik, Hermeneutik und wie die Ismen und Iken alle heißen, durch die (»konventionelle«) US-amerikanische Universität und ins Bewusstsein des bewussten amerikanischen Erwachsenen fluten.

Die Malaise ist: Wenn die Mimesis noch nicht tot ist, hängt sie an der Herz-Lungen-Maschine, was sie Leuten zu verdanken hat, denen dasselbe blüht.

Und welch einen Zoff können die D.J. Autoren unter ihren Erben beobachten! Nur rund achtzig Jahre, nachdem es in der bildenden Kunst zu Bewegungen wie Dada und Kubismus kam, die an die Stelle der »referenziellen« Kunst traten (sehen Sie? – keine Kameraerfindungen, die die Souveränität der literarischen Mimesis bedroht hätten), kommt die Literatur des Referenten, des ›psychologischen Glühens‹ und der Illusion schließlich aus so verschiedenen wie verwirrenden Ecken ebenfalls unter konstruktiven Beschuss. Die Lichtbrechungen von Proust und Musil, Schulz und Stein, Borges und Faulkner sind in der Nachkriegsliteratur zu Lichtbeugungen explodiert, ein merkwürdig lang gezogenes Manhattan Project, dessen Personal aus Robbe-Grillet, Grass, Nabokov, Sorrentino, Bohl, Barth, McCarthy, García Márquez, Puig, Kundera, Gass, Fuentes, Elkin, Donoso, Handke, Burroughs, Duras, Coover, Gombrowicz, LeGuin, Lessing, Acker, Gaddis, Coetzee und Ozick bestand. Um nur wenige zu nennen. Wir, die Möchtegernerben eines glorreichen Chaos, sind Zeugen von Aufstieg und Fall von Nouveau Roman, Postmodernismus, Metafiktion, der Neuen Lyrik, dem Neuen Realismus, Minimalismus, Ultraminimalismus und Performance-Theorie. Es ist ein verdammter Mahlstrom, und der D.J. Autor, der gelegentlich noch gern liest, fühlt sich zwangsläufig zerrissen: Während das Schreibprogramm ihn mit seiner Stasis in den Wahnsinn treibt, hält die reale Welt der E-Literatur einfach nicht still.

Wenn man eine kräftige Dosis Vereinfachung verträgt, schält sich allerdings in aller avancierten Literatur, die mit der Revolution nach Hiroshima in Einklang steht, ein Grundmerkmal heraus, und das ist ihr Sturz in die Zeit, ein Verlust der Unschuld der Sprache, die doch ihr A und O ist. Ihr unerschrockenes Erkennen der Tatsache, dass die Beziehungen zwischen Autor, Literatursprache und Werk weit komplexer und mächtiger sind, als bisher angenommen. Und die Unerschrockenheit wird von der Einsicht belohnt, dass zukunftsorientierter und fruchtbarer literarischer Wert durchaus gerade in diesen vielschichtigen Beziehungen zu finden sein könnte.

Das heißt nicht, Metafiktion und Minimalismus, die beiden schonungslosesten und selbstreflektiertesten Bewegungen, die die skeptische und aufgeregte neue Aufmerksamkeit der Menschen auf Sprache ausloten, wären die einzigen Richtungen oder würden auch nur anzeigen, in welche Richtungen sich die E-Literatur »ganzer neuer Generationen« entwickeln könnte. Beide Formen halte ich für schlichte Apparate der Selbstreferenz (in der Metafiktion unverhohlen, im Minimalismus etwas kaschierter); sie sind primitiv, plump und haben, zentripetal um sich selbst kreisend, anscheinend schon die Implosion ihrer Möglichkeiten erreicht – Selbstreferenz ist nur mehr eine winzige und eingeschrumpelte Teilmenge der Über-etwas-heit. Ich bin aber durchaus überzeugt davon, dass sie nur erste Symptome einer dunklen neuen Aufklärung sind und dass schon bald kein seriöser D.J. Autor mehr so tun kann, als wäre die Verwendung literarischer Ausdrucksmittel für die Konstruktion von Illusionen ein geradliniges Projekt. Wir sind Opfer einer Klinge, die sich auf noch nie da gewesene Weise selbst stechen kann, und alle Creative-Writing-Auszeichnungen und noch so viele Wiederholungen der Mary Tyler Moore Show können nicht verstecken, was wir für immer und ewig in den Händen halten.

 

Aufregendes ist auch verwirrend, und ich würde jedem D.J. Schnösel misstrauen, der zu wissen vorgibt, wohin die Literatur im Lauf der Lebensarbeitszeit dieser Generation unterwegs ist. Es stimmt offenbar, dass die Revolution, von der ich gerade geschwafelt habe, neue Perspektiven hervorgebracht hat, die bis auf Weiteres vorwiegend destruktiv sind: Illusionen werden zerstört, Überzeugungen erschüttert, lieb gewordene Vorurteile entlarvt. Es hat den Anschein, als hätten wir unsere literarische Unschuld verloren, ohne dafür etwas Substanzielles gewonnen zu haben. Eine Zwischenzeit. Es gibt hierzu ein wunderschön passgenaues Heidegger-Zitat, aber das erspar ich Ihnen.

Die kühne Schlussfolgerung lautet hier also, dass die vernetzte Neue Generation, mit der die Kritiker gegenwärtig spröde Geliebte spielen, offenbar nur Verwirrung eint. Und deshalb passt ein so großer Teil der schlechtesten D.J. Literatur vielleicht so gut in die drei Schubladen, in denen die Rezensenten sie ablegen: Seminarhermetik, weil in verwirrenden Zeiten Sorgfalt vernünftig ist; Katatonie, weil in verwirrenden Zeiten das bloße Minimum leicht erscheint; Yuppie-Nihilismus, weil die Massenkultur, in der der Yuppie lebt und die er inkarniert, bestenfalls leer und schlimmstenfalls urböse ist – und in verwirrenden Zeiten hat sogar die Offenbarung des Offensichtlichsten noch einen gewissen Wert.

Fragt sich nur, wie hoch dieser Wert ist. Es ist natürlich richtig, dass beispiellos viele junge Amerikaner über hohe Einkommen verfügen, einen kultivierten Geschmack mitbringen, schöne Dinge und kompetente Steuerberater haben, Zugang zu exotischen Drogen und attraktiven Sexpartnern, und trotzdem sind sie todunglücklich. Sei’s drum. Es gibt gute Literatur, die diesem Offensichtlichen einen gnadenlos pulverbeschmierten Spiegel vorgehalten hat. An der Tatsache, dass einfach immerzu neue Literatur entsteht, die trotz Goldcard nur Furcht und Zittern enthält, beunruhigt mich hauptsächlich eines: Wenn es trotz der Umwälzungen im populärkulturellen, akademischen und intellektuellen Leben noch Menschen mit intakten lang gehegten Überzeugungen gibt, dann sollte es auch ein Glaubensartikel sein und bleiben, dass der pflichtbewusste, begabte und erfolgreiche Künstler jedweden Alters immer noch die Macht hat, Veränderungen zu bewirken. Und wenn Marx (sorry – letztes Namedropping) spottete, die Intellektuellen seiner Zeit hätten die Welt nur verschieden interpretiert, es komme aber darauf an, sie zu verändern, dann scheint der Spott heute umso angebrachter, wo sich viele unserer bekanntesten D.J. Schriftsteller anscheinend damit begnügen, das Interpretieren noch aufs Jammern zu reduzieren. Und mich frustriert an diesen Jammerathleten, dass gerade die allgemeine Lage der Dinge, die eine nihilistische künstlerische Perspektive erklärt, auch geradezu dringend fordert, dass die Kunst nicht dem Nihilismus verfällt. Meiner Meinung nach gebührt der ›Mimesis um der Mimesis willen‹ schon allein darum der Vorrang, weil Amerika für einen jungen Literaturschaffenden, den es durch Neigung und Berufung dazu zieht, sich anzuschauen, wie das Leben im Jahr 1987 um ihn herum gelebt wird, nicht gerade die beste aller Welten ist. Die letzte geschlossene literarische Generation bildete ihr Bewusstsein in der vergleichsweise schwarz-weißen Ära des Vietnamkriegs heraus. Wir dagegen sind die Kinder von Watergate, haben unsere Kindheit vor dem Fernseher verbracht, bilden Reagans Rekrutierungspotenzial und den Markt für alle Welt. Wir haben unsere Mehrheit in einer grotesken Zeit erreicht, in der Maximen galten wie »Falsch ist richtig«, »Gier ist gut« und »Lieber gut aussehen als sich gut fühlen« – und in der man beim abgedroschenen Thema des Gutseins schon unwillkürlich das Gesicht verzog. Das alles scheint nur der laute Nachhall dessen zu sein, was der Werbefritze Mayer in den Fünfzigern sagte: »In einer Welt, in der die private Erfüllung zum höchsten Wert wird, sind alle Katzen grau.«

Bis auf die Kunst, und da liegt der Hase im Pfeffer. Ernsthafte, reale, gewissenhafte, wache und ehrgeizige Kunst ist nicht grau. Sie war nie grau und ist auch heute nicht grau. Deshalb ist Literatur in grauen Zeiten vielleicht nicht grau. Und deshalb werden – mit wenigen Ausnahmen – selbst die besten Titel des 08/15-Nihilismus bei gebildeten Menschen, die Erzählliteratur wegen ihres Wirklichkeitsgehalts lesen, schon bald zum Sprachverlust führen.

Und mal abgesehen von meiner Befangenheit infolge der Bekanntschaft mit vielen jungen Schriftstellern, die noch nicht dezidiert genug und Ihnen daher unbekannt sind, kann ich Ihnen deshalb flüstern: Mindestens ein paar und vielleicht ganz schön viele Angehörige der Ganzen Neuen Generation werden Kunst erschaffen, werden vielleicht große Kunst erschaffen, und ganz vielleicht werden sie sogar verändern, was große Kunst ist. Auf eines können sie sich bei dieser Jugend des Jahres 1987 nämlich verlassen: Wenn wir bereit sind, etwas unser Leben zu widmen, dann dürfen Sie sicher sein, dass wir darauf abfahren. Und an den Gründen, aus denen Schriftsteller schreiben, die nicht des Geldes wegen schreiben, hat sich nichts geändert: Es geht um Kunst, und Kunst ist Sinn, und Sinn ist Macht: die Macht, Katzen bunt zu färben, das Chaos zu ordnen, aus der Leere Boden unter den Füßen und aus Schulden Schätze zu machen. Die besten »Stimmen einer Generation« wissen das natürlich schon; mehr noch, sie lassen sich davon inspirieren. Es ist gut möglich, dass keiner der Besten bisher unter den Dezidierten ist. Einige könnten sogar … Autodidakten sein. Aber gerade jetzt muss sich keiner von denen Sorgen machen. Wenn Mode, Trends und die Unis für Magermilch sorgen, heißt das wenigstens, dass sich die Sahne oben absetzen muss. Ich würde mich auf was gefasst machen.

1988