(Manche erinnern wie Nadal oder Serena Williams eher an Comic-Superhelden als an reale Menschen.)
Als Federer bei dem oben erwähnten Einzelinterview nach Beispielen anderer Sportler gefragt wird, deren Leistungen er »schön« nennen würde, erwähnt er zuerst Jordan, dann Kobe Bryant und schließlich »einen Fußballspieler wie – Männer, die quasi total entspannt spielen wie Zinédine Zidane oder so: Er schafft wahnsinnig viel, macht aber nie den Eindruck, als müsste er sich dafür überhaupt anstrengen«.
Federers Antwort auf die Anschlussfrage, was er denn davon halte, wenn Sportpäpste, aber auch andere Spieler sein Spiel als »schön« beschrieben, ist vor allem interessant, weil sie – wie Federer selbst – sympathisch, intelligent und entgegenkommend ist, ohne eigentlich wirklich etwas zu besagen (aber mal ehrlich, was soll man denn auch sagen, wenn andere einen als schön beschreiben? Was würden Sie denn sagen? Letztlich ist es eine dämliche Frage):
»Es geht immer darum, was den Leuten als Erstes auffällt – das ist für sie das, wo man ›am besten‹ ist. Wissen Sie, als Sie McEnroe das erste Mal gesehen haben, was haben Sie da gesehen? Sie haben einen Mann mit unglaublichem Talent gesehen, denn so wie der gespielt hat, hat sonst niemand gespielt. Bei ihm drehte sich alles um das Gefühl für den Ball. Und dann schauen Sie sich Boris Becker an und wissen auf Anhieb, Sie haben einen starken Spieler vor sich, wissen Sie?* Wenn Sie mich spielen sehen, sehen Sie quasi einen ›schönen‹ Spieler – und danach sehen Sie quasi, dass er auch schnell ist, dass er vielleicht eine gute Vorhand hat, und dann sehen Sie vielleicht noch seinen guten Aufschlag. Wissen Sie, als Erstes hat man eine Grundlage, und das find ich quasi auch großartig, wissen Sie, ich kann ja echt froh sein, dass ich grundsätzlich ›schön‹ genannt werde, wissen Sie, also mein Spielstil jetzt. Andere gelten erst mal als ›Hacker‹, andere als ›Power-Spieler‹ oder als ›der Schnelle‹. Ich gelte eben als ›der schöne Spieler‹, und das ist doch cool.«
* (Federers Gesprächsfloskeln sind notabene »quasi« und »wissen Sie«. Letztlich sind diese Floskeln hilfreich, denn sie erinnern daran, wie entsetzlich jung er eigentlich ist. Falls Sie so was interessiert: Der beste Tennisspieler der Welt trägt eine weiße Aufwärmhose und ein langärmliges weißes Mikrofaserhemd, vielleicht von Nike. Aber kein Jackett. Sein Händedruck ist noch erträglich kräftig, die Hand selbst erinnert allerdings an eine Schreinerraspel (Tennisspieler haben aus naheliegenden Gründen sehr verhornte Hände). Er ist etwas größer, als er im Fernsehen wirkt – breitschultriger und mit mehr Brustkorb. Neben ihm steht ein Tisch, der mit Mützenschirmen und Stirnbändern bedeckt ist, die er mit einem Edding signiert hat. Er hat die Beine übereinandergeschlagen, lächelt freundlich und wirkt total entspannt; er spielt nie mit dem Edding rum. Der Gesamteindruck ist, dass Roger Federer entweder ein wahnsinnig netter Kerl ist oder ein Mann, der wahnsinnig gut mit den Medien kann – wahrscheinlich stimmt beides.)
Argumentative Schützenhilfe aus dem Einzelinterview mit dem großen Mann persönlich: »Das ist interessant, wissen Sie, diese Woche hat nämlich Ančić [Komma Mario, der kroatische Top-Ten-Hüne, den Federer im Viertelfinale am Mittwoch geschlagen hat] auf dem Centre-Court gegen meinen Freund gespielt, wissen Sie, den Schweizer Wawrinka [Komma Stanislas, Federers Doppelpartner beim Daviscup], und wissen Sie, ich wollte von da zusehen, wo meine Freundin Mirka [Vavrinec, eine ehemalige Top-100-Spielerin, die verletzungsbedingt ausscheiden musste und heute quasi als Federers Alice B. Toklas fungiert] immer sitzt, und da hab ich quasi – also zum ersten Mal, seit ich nach Wimbledon komme, hab ich mir ein Match auf dem Centre-Court angesehen, und ich war auch überrascht, wissen Sie, wie schnell der Aufschlag quasi ist und wie schnell man reagieren muss, um den Ball zurückzuschlagen, besonders wenn jemand wie Mario [Ančić, der für seine brutalen Aufschläge bekannt ist] Aufschlag hat, wissen Sie. Aber wenn Sie dann selbst auf dem Court stehen, ist das was ganz anderes, wissen Sie, dann haben Sie quasi nur noch den Ball im Auge und merken gar nicht, wie schnell der ist …«
Der Einfachheit halber gehen wir bei diesen Berechnungen davon aus, dass der Ball schnurgeradeaus fliegt. Bitte schicken Sie keine korrigierenden Leserbriefe. Wenn Sie berücksichtigen wollen, dass der Aufschlag aufspringt, und dann die gesamte vom Ball zurückgelegte Strecke als Summe der beiden kürzeren Seiten eines schiefwinkligen Dreiecks* berechnen wollen, dann tun Sie sich keinen Zwang an – am Ende haben Sie zwei bis fünf Hundertstelsekunden mehr, was den Kohl auch nicht fett macht.
* (Je langsamer der Belag eines Courts, desto näher müssen Sie einem rechtwinkligen Dreieck kommen. Auf schnellem Gras hat der Abprallwinkel nie neunzig Grad.)
Das Konditionstraining ist auch wichtig, aber vor allem weil körperliche Müdigkeit als Erstes den kinästhetischen Sinn außer Gefecht setzt. (Weitere Widersacher sind Angst, Befangenheit und Wut; labile Psychen sind im Profitennis daher eine Seltenheit.)
Die beste Analogie für Laien besteht wahrscheinlich im Vergleich mit einem geübten Autofahrer, der all die kleinen Entscheidungen und Anpassungen guten Fahrens vornimmt, ohne darauf bewusst achten zu müssen.
(vorausgesetzt, das »mit schwerem Topspin« der Legende bezieht sich auf »dominieren« und nicht auf »schlagstarke Spieler«, was es kann, aber nicht muss – Grammatik ist knifflig)
(auf die weder Connors noch McEnroe erfolgreich umsatteln konnte – beider Spiel war noch an vormoderne Schläger gebunden)
In puncto Form kann Lendl mit seiner Peitschenvorhand, seinen tödlichen Einhändern und dem unbarmherzigen Umgang mit Kurzbällen als Vorläufer von Federer gelten. Aber der Tscheche war auch steif, kalt und brutal; sein Spiel war Ehrfurcht gebietend, aber nicht schön. (Mein Unipartner im Doppel sagte immer, Ivan Lendl beim Spielen zuzuschauen, wäre eine Art Triumph des Willens in 3D.)
Schauen Sie sich beispielsweise die anhaltende Effektivität derselben Serve-and-Volley-Technik (hauptsächlich in den modifizierten, äußerst as- und tempoabhängigen Formen eines Sampras oder Rafter) auf schnellen Courts der Neunzigerjahre an.
Eine Veranschaulichung ist auch, dass das Wimbledon-Finale von 2002 das letzte Finale vor Anbruch der Federer-Ära war.
Im dritten Satz des Finales 2006, nach insgesamt drei Games und einem Punktstand von 30:15, serviert Nadal Federer den zweiten Aufschlag hoch auf die Rückhand. Er hat eindeutig eingeschärft bekommen, hoch und schwer auf Federers Rückhand zu spielen, und das macht er jetzt eben, Punkt für Punkt. Federer schnippelt den Return in die Mitte und einen halben Meter zu kurz – nicht kurz genug, dass dem Spanier ein Winner gelänge, aber kurz genug, um ihn etwas in den Court hineinzuziehen, wo Nadal ausholt und die ganze Kraft seiner Vorhand in einen harten, schweren Schlag auf (erneut) Federers Rückhand legt. Das Tempo, das er dem Ball verleiht, zeigt, dass Nadal immer noch zu seiner Grundlinie zurückrudert, als Federer in die Höhe springt und eine superharte Topspin-Rückhand die Linie lang in Nadals Einstandsseite schmettert, die Nadal – am falschen Platz, aber weltklasseschnell – erwischt und einhändig tief auf (abermals) Federers Rückhand retournieren kann, aber dieser Ball eiert langsam, Federer hat Zeit für einen Seitenwechsel und nimmt ihn mit einem Inside-out-Vorhandschlag, einer der härtesten im ganzen Turnier zu beobachtenden Vorhände, die gerade genug Topspin mitbringt, um in Nadals Vorteilsseite zu landen, und der Spanier kommt zwar noch hin, kann den Ball aber nicht mehr retournieren. Rauschender Beifall. Auch hier war ein scheinbar überwältigender Winner von der Grundlinie aus in Wirklichkeit vom ersten ausgebufften halbkurzen Slice vorbereitet worden, aber auch von der Berechenbarkeit, wo Nadal stehen und wie hart er jeden Ball schlagen würde. Die letzte Vorhand hat Federer allerdings so richtig übers Feld gedroschen. Die Leute sehen sich an und applaudieren. Das Besondere an Federer ist, dass er Mozart und Metallica in Personalunion ist, und die Harmonie von beiden ist einfach vom Feinsten.
Nebenbei bemerkt, kommen dem Beobachter hier oder beim nächsten Ballwechsel drei verschiedene Gedanken, die ineinandergreifen. Erstens empfindet er es als großes persönliches Privileg, am Leben zu sein und dieses Spiel verfolgen zu können; zweitens denkt er, dass auch William Caines jetzt wahrscheinlich irgendwo in der Menschenmenge vom Centre-Court sitzt und vielleicht zusammen mit seiner Mum das Spiel verfolgt. Drittens erinnert er sich urplötzlich daran, mit welchem Ernst der Fahrer vom Turnierpressebus genau diese Erfahrung vorhergesagt hat. Denn es ist eine Erfahrung. Es lässt sich schwer beschreiben – es ist wie ein Gedanke, der auch ein Gefühl ist. Man möchte den Mund nicht zu voll nehmen oder die Balance als nur recht und billig ausgeben; das wäre absurd. Aber die Wahrheit lautet: Egal welche göttliche Instanz, Wesenheit, Energie oder auch nur zufällige genetische Fügung kranke Kinder zur Welt kommen lässt – sie hat auch Roger Federer hervorgebracht, und jetzt schauen Sie ihn sich an. Schauen Sie ihn sich bloß an.
Im Folgenden als »D.J.« abgekürzt.
Diese Formeln sind für Schreibprogramme, was Gebetsrufe für Moscheen sind.
Aus Platzgründen und Fragen der rechtlichen Verantwortung verzichte ich darauf, Ihnen in allen Einzelheiten die hartnäckige Legende zu erzählen, wie zwei aufgewühlte junge MFA-Anwärter an einer anonym belassenen Bildungsanstalt eine von der medizinischen Hochschule ausgeliehene einbalsamierte Leiche als ihre Stellvertreterin in einem Schreibworkshop einschrieben, sie jede Woche vor dem Klingeln in den Seminarraum schmuggelten, auf ihren Sitz schnallten, ihr einen Bleistift in die weiße Faust steckten und sie mit leicht starrer Miene guten Mutes ins Leere starren ließen. Der Titel der Legende lautet »Die Leiche, die eine 2 bekam«.
Suchen Sie sich Tolstoi, Schopenhauer oder Richards aus und fügen Sie hier nach Belieben »Gefühl«, »Freiheit von der Welt der Phänomene« oder »relevanten psychischen Bedingungen« ein.
»Wittgenstein als Philosoph der Kultur. Alltäglichkeit als Heimat«, aus dem Amerikanischen von Reiner Ansén, 97–126 in: Stanley Cavell, Nach der Philosophie. Essays, Berlin: Akademie-Verlag 2001, S. 98.
Zit. nach Norman Malcolm, Erinnerungen an Wittgenstein, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1987, S. 137.
… die dem Risiko der meisten Parodien nicht widersteht und die Quintessenz von Leibniz’ bester aller möglichen Welten absolut missversteht.
Das von Wittgenstein als Beispiel für Familienähnlichkeiten verwendete Wort ist »Spiel«: Was haben Fußball, Monopoly und Patiencen allen Unterschieden zum Trotz gemeinsam, was es erlaubt, sie alle unter denselben fünfbuchstabigen Begriff zu rubrizieren? [Philosophische Grammatik, § 75, 118]