„Ich wünsche mir, dass es diese schlimmen Dinge bei ihm nicht gab.“

Klaus Ladurner*, Sohn, und Franziska Ladurner**, Enkelin

Klaus, in deiner Fotogalerie im Wohnzimmer hängt ein Bild deines Vaters in SS-Uniform.

Das Bild gehört zum Leben meines Vaters. Es ist nicht zu leugnen, dass er bei der SS war. Das hat jetzt nichts damit zu tun, dass ich darauf stolz wäre. Früher wurden die Leute immer als Soldaten fotografiert. Ich hänge als Bundeswehrsoldat unweit davon und darüber hängt der Opa meiner Frau, ebenfalls in Uniform. Ich würde mich schämen, wenn ich leugnen würde, dass mein Vater bei der SS war. Ich muss es aushalten. Eins meiner Lieblingsfächer in der Schule war Geschichte und wir haben die Zeit des Dritten Reichs, die Nazizeit, durchgenommen. Da fängst du an, dich dafür zu interessieren, was dein Vater damals gemacht hat. Mein Vater und ich hatten durchaus konträre Meinungen darüber, wie das damals war. Als Sohn wird man da berechtigterweise ein bisschen zum Revoluzzer. In der Oberstufe hatte ich Geschichte als Leistungskurs und da ging das weiter. Ich war von der damaligen Zeit unglaublich fasziniert. Und so habe ich meinen Vater mit Fragen konfrontiert. Bevor es in der Schule Thema wurde, hatte es mich eigentlich nicht interessiert.

Wie war das, als in der Schule über SS und Holocaust gesprochen wurde und du an deinen Vater dachtest?

Ich war nicht stolz darauf, dass mein Vater bei der SS gewesen war. Ich habe immer wieder, wenn über das Thema gesprochen wurde, Reaktionen erlebt, wo ich gesagt bekam, da war dein Vater ja ein Kriegsverbrecher. Das ist etwas, das du weder als Kind noch als Erwachsener schön findest. Da übernimmt man automatisch eine gewisse Schutzfunktion, auch wenn man selbst die Dinge sehr kritisch sieht. Aber dadurch, dass ich mich dann viel mit der Nazizeit und dem Holocaust beschäftigt habe, bekam ich Verständnis dafür, dass einer so was sagt. Dabei habe ich festgestellt, dass es da nicht diese eine richtige Meinung, diese eine richtige Sicht gibt. In meinem Bekanntenkreis, in meiner Verwandtschaft, speziell dann natürlich bei meinem Vater, habe ich diesbezüglich ganz unterschiedliche Facetten erlebt. Es wurde ja auch so unglaubliches Leid über die Menschen gebracht, speziell durch die SS, dass ich verstehen konnte, dass erst einmal alle Beteiligten unter einen Generalverdacht gestellt wurden. Ich habe insgesamt dann viel über das Dritte Reich gelesen. Speziell hat mich die Person Hitler fasziniert. Fasziniert in dem Sinne, dass ich mich fragte, wie jemand die Macht haben kann, ein Volk in eine bestimmte Richtung zu bringen, ohne dabei auf echten Widerstand zu stoßen. Auch die Rolle der Industriellen, wie zum Beispiel Krupp, interessierte mich. Ich las Haffners „Anmerkungen zu Hitler“ und Fests „Hitler – Eine Biographie“.89 Ich wollte auch wissen, was es mit der SS, mit der Waffen-SS auf sich hatte und ob es da einen Unterschied gab. Es war dann 2008, als ich die Archive anschrieb und auch nach Berlin fuhr. Erst da fand ich heraus, dass mein Vater schon mal verheiratet gewesen war, was er mir nie erzählt hatte. Dort fand ich auch sein Ansuchen um die Genehmigung, als SS-Mann heiraten zu dürfen. Also alles, was du in der Schule nicht glauben konntest, dass das tatsächlich mal so war. Als ich dann „Urteil Kreisgericht Wels“ gelesen habe, dachte ich, mein Gott, was hat er angestellt? Dass das dann nachher dieses Scheidungsurteil war, das hat mich sehr beruhigt.

Wie war das für dich, Franziska? Du hast ja deinen Großvater nicht kennengelernt.

Mein Vater hat viel mit uns über unseren Opa und darüber, dass er in der SS war, gesprochen. Schon bevor das Thema in der Schule zur Sprache kam. Auch waren wir regelmäßig in Südtirol bei unserer Verwandtschaft. Da kam bei uns bald die Frage auf, warum der Opa dort weggegangen war. Mit zunehmendem Alter und durch die Schule wurde mein Interesse dann größer. Ich denke aber, dass meine Generation schon früher als die Generation meines Vaters mit Freunden darüber gesprochen hat, wo die Großeltern überall während des Krieges waren. Für mich fühlt es sich so an, als wenn ich meinen Opa gekannt hätte. Wir sind in allen Ferien immer nur in Südtirol gewesen, nie irgendwo anders, und mit der Zeit bekam ich fast das Gefühl, ihm schon mal begegnet zu sein. Papa hat immer sehr liebevoll von ihm erzählt. Dazu kamen die lustigen Geschichten seiner Cousinen und durch das alles entstand so etwas wie eine Beziehung zu ihm.

Klaus, wie war das in diesem Zusammenhang mit deiner Mutter?

Meine Mutter hat bis zu ihrem sechzehnten Lebensjahr im heutigen Tschechien, relativ nahe an der Grenze zu Österreich, gelebt. Als die Russen näher kamen, ist meine Oma mit meiner Mutter und meiner Tante geflohen. Ihnen war klar, dass es keine gute Idee gewesen wäre zu bleiben. Das hat sich auch im Erleben von ihren Freundinnen und Bekannten, die nicht weggegangen sind, bestätigt. Da sind schlimme Sachen passiert. Meine Mutter ist dann in Österreich weiter zur Schule gegangen und hat dort Abitur gemacht und irgendwann meinen Vater kennengelernt. Als ich später während meiner Schulzeit meinen Vater wegen der Kriegsverbrechen und der Judenvernichtung angriff, nahm sie ihn immer in Schutz. Ich hatte in der Schule tolle Lehrer und uns wurde die ganze Bandbreite des Schreckens aufgezeigt. Wenn ich zu Hause gar zu aufmüpfig war, hat sie sich schützend vor ihn gestellt. Sie war eine selbstbewusste Frau und durchaus gleichberechtigt. Sie war zu der Zeit auch selbstständig und hatte ein eigenes Geschäft. Eigentlich war sie der Meinung, dass es mir auch nicht zustand, ihm solche Vorwürfe zu machen. Ihr Vater war bei Ende des Krieges noch beim Volkssturm gewesen. Meine Mutter ist in sehr gut situierten Verhältnissen aufgewachsen. Sie hatten ein Weingut, ein Lebensmittelgeschäft und einen Kohlehandel und durch die Flucht haben sie alles verloren. Die ganze Familie wurde von jetzt auf gleich bettelarm. Für meine Mutter war diese Geschichte zeit ihres Lebens eine Katastrophe und sie konnte den Tschechen das auch niemals verzeihen. Sie war so tief verletzt. Und wenn ich meinen Vater mal härter angegangen bin, hat ihr das nicht gefallen. Ich habe ihm dann die Judenvernichtung vorgeworfen und dass sie das auch gewusst haben. Sie könnten nicht einfach sagen, sie hätten da nichts mitgekriegt. Egal wie nah man dieser Sache war, irgendwann hat jeder irgendwo was gewusst. Das hat mein Vater auch zugegeben. Aber unheimlich viel hat bei ihm irgendwie nicht zusammengepasst. Dass er zum Beispiel die Familie von diesem jüdischen Kind Peter Salvatori in Berlin besuchen wollte. Er hatte den Auftrag, Fahrzeuge bei Mercedes abzuholen, und ging dann in das jüdische Viertel. Ich sag jetzt mal Ghetto, wobei es ja kein echtes Ghetto war, aber wo halt viele Juden gelebt haben. Er hat sich nichts dabei gedacht, dort in seiner SS-Uniform durchzulaufen. Für mich spricht das dafür, dass er in jungen Jahren noch nicht wirklich wusste, was da läuft.

Franziska, hast du selbst auch versucht, zur SS oder zum Dritten Reich zu lesen?

Erst mit Beginn meines Studiums. Das meiste weiß ich über Papa, der viel geforscht und herausgefunden hat. Er hat uns alles erzählt, weil er wollte, dass wir darüber Bescheid wissen. Da fing es eigentlich erst mit dem Lesen für mich an. Natürlich kam auch mir mal der Gedanke, ob der Opa womöglich in mehr verwickelt war, ob es da mehr gab. Auch von Freunden kamen diesbezüglich Fragen, sobald sie wussten, dass mein Opa bei der SS war. Dann habe ich Papa gefragt. Er sagte, soweit er wüsste, nicht. Aber intensive Ängste hatte ich nicht.

Klaus?

Schon meine Antwort „Soweit ich weiß, nicht“ sagt eigentlich viel aus. Ich habe meinen Vater in dieser Zeit nicht gekannt. Ich kann verstehen, wenn Menschen schlimme Dinge gerne verdrängen. Ich wünsche mir, dass es diese schlimmen Dinge bei ihm nicht gab. Aber ich kann es natürlich nicht mit absoluter Sicherheit sagen. Ich weiß nicht, ob er es mir erzählt hätte. Wir haben zwar über vieles gesprochen, aber von seiner ersten Ehe hat er auch nie erzählt. Wir sind eigentlich sehr offen miteinander umgegangen. Mein Vater ist gestorben, als ich dreiundzwanzig war. Aber ich glaube, es gibt Dinge, auf die niemand stolz ist, und die würde mein Vater wahrscheinlich auch nicht erzählt haben. Ich weiß nicht, ob ich solche Dinge meinen Kindern erzählen würde. Ich kann dafür die Hand weder für mich noch für meinen Vater ins Feuer legen. Ich weiß noch, wie ich bei der Bundeswehr war und mich das erste Mal damit auseinandergesetzt habe, unter Umständen auf Menschen schießen zu müssen. Du musst dir die Frage stellen, ohne sie wirklich beantworten zu können. Das weißt du erst, wenn es so weit ist. Mich hat das sehr beschäftigt. Für mich hatte ich es so beantwortet, dass ich es in bestimmten Situationen könnte. Aber das waren eher so hehre Gedanken, die man hatte in der Ost-West-Konfrontation, auch die Heimat, die Familie zu verteidigen. Das war kein Problem. Bei anderen Sachen bin ich froh, dass ich das nie beantworten musste.

Wie würdest du deinen Vater als Menschen beschreiben?

Viele Dinge, die für die SS eine Rolle gespielt haben, waren auch für ihn bedeutend. Er war sehr ordnungsliebend. Er war sehr pflichtbewusst. Er war aber vor allen Dingen mir gegenüber sehr liebevoll und fürsorglich. Wenn ich krank war, kam er und hat sich um mich gekümmert. Wenn ich irgendetwas brauchte, hat er es immer möglich gemacht. Er war eine Vertrauensperson, wo man sagen konnte, Blut ist dicker als Wasser. Für ihn war die Familie extrem wichtig und ich glaube, dass es daher kam, dass er seine so früh verloren hat, dass alles auseinandergerissen wurde. Seine Mutter hat er extrem geliebt. Er hatte zu ihr das viel engere Verhältnis als zu seinem Vater. Leider ist sie jung gestorben und er hat sie sehr vermisst. Ihm war wichtig, dass seine Familie ein sicherer Hafen ist. Ich hatte immer das Gefühl, ich kann mit allem zu ihm kommen. Ich war ja auch beim Militär. Er war nie so, wie man sich jemanden mit so einem militärischen Hintergrund vorstellt. Wahrscheinlich hätte er mit vielen Dingen Probleme gehabt, die heute ganz normal sind. Hätte ich statt einer Frau einen Mann nach Hause gebracht, wäre das sicherlich nicht einfach gewesen. Da war er schon in eine bestimmte Richtung eingefahren. Aber für mich war er die wichtigste Person meines Lebens. Abgesehen von meiner eigenen Familie. Ich habe mich an ihm gerieben und wir hatten viele Auseinandersetzungen. Aber ich habe immer gespürt, dass da eine ganz große Liebe, eine Zuneigung ist, die ich nicht kaputt machen konnte.

Wie war das Verhältnis deines Vaters zu deiner Schwester?

Meine Schwester ist zwölf Jahre älter und ich glaube, dass die zwei zueinander ein anderes Verhältnis hatten. Allerdings gilt das auch für sie und meine Mutter. Meine Mutter stand mir persönlich näher als ihr. Vielleicht liegt es daran, dass ich mich für die Familie so verantwortlich fühle. Wobei das keine Leistung von mir ist, das habe ich in meiner DNA.

Hat dein Vater auch von sich aus mit dir das Gespräch über den Zweiten Weltkrieg, die SS und den Holocaust gesucht?

Es liefen damals viele Kriegsfilme im Fernsehen. Mein Vater hat die sich zusammen mit mir angeschaut. Dann haben wir darüber geredet und er fragte mich zum Beispiel, ob ich glauben würde, dass sich das früher so abgespielt habe. Da hat er das Gespräch nicht gemieden. Da war mein Vater ganz anders als mein Onkel. Der Schwager meiner Mutter war Jahrgang 1919 und bei der Wehrmacht gewesen. Er war von Anfang an den ganzen Krieg an der Front. Er konnte so Filme gar nicht sehen und hat immer sofort angefangen zu weinen.

Habt ihr die Fernsehserie „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiß“ gesehen? Das war eine amerikanische Produktion von 1978.

Ja, über diese Geschichten haben wir auch gesprochen. Ich war schon in Dachau gewesen und ich will irgendwann mal gerne nach Auschwitz. Franziska möchte es auch gern. Ich möchte mir unbedingt Auschwitz anschauen. Das hatte ich ihm damals auch gesagt. Er hat erzählt, dass er Filme über den Holocaust in der Gefangenschaft gezeigt bekommen hat. Mein Vater hat gesagt, wenn er die nicht gesehen hätte, hätte er es niemals geglaubt, dass man Menschen wie Vieh zum Ofen transportiert, das hätte er sich niemals vorstellen können. Anfänglich hat man ja gedacht, alles abzustreiten. Etwa mit „Und es gab doch gar nicht so viele Juden“ usw. Irgendwann ging man dazu über, sich der enormen Schuld bewusst zu sein, die man auf sich geladen hat. Mich hat das alles interessiert und so konnte er nur schlecht ausweichen. Aber auch die Verbrechen der Vertreibung wie der Brünner Todesmarsch90 haben mich interessiert. Ich hatte in der Oberstufe zum Glück eine Geschichtslehrerin, die uns die ganze Bandbreite darstellte. Sie hat dabei nicht ein Unrecht gegen das andere aufgerechnet. Was ich grundsätzlich schrecklich finde. Das eine Unrecht hat mit dem anderen nichts zu tun. Unrecht bleibt immer Unrecht. Die Gespräche mit meinem Vater waren für uns beide interessant. Ich war gut informiert und wir haben dann immer über konkrete Sachen gesprochen. Es gab ja auch die Besuche meiner Mutter in ihrer Heimat. Diese Sudetendeutschentreffen, die ja auch immer in Richtung der Ewiggestrigen gingen. Im Großen und Ganzen wurden bei uns halt alle Themen angesprochen. Ob sie immer wirklich bis ins Letzte diskutiert wurden, kann ich nicht sagen. Aber es gab bei uns keine Tabuthemen.

Hat sich dein Vater antisemitisch geäußert?

Das Einzige, ich weiß gar nicht mehr, in welcher Unterhaltung, das war diese Mär vom internationalen Finanzjudentum. Aber konkret? Nein, er hat nichts gegen Juden gehabt.

Wie würdest du seine politische Haltung nach dem Krieg beschreiben?

Ich glaube, er hat immer die CDU gewählt. Er hat mir mal gesagt, er möchte in keinen Verein mehr eintreten, außer in die Feuerwehr. Er war total enttäuscht, was aus seiner anfänglichen Begeisterung geworden war. Was er später aus seinem Leben gemacht hat und auch die Bundesrepublik, das hat ihm gut gefallen. Er wollte nicht mehr irgendwelche Befehle befolgen. Er wollte sein Leben frei leben.

Welche seiner Geschichten aus dem Krieg sind dir besonders in Erinnerung geblieben?

Die eindrücklichste Geschichte war nach dem Attentat auf Heydrich diese Aktion in Prag. Er war dabei, als die Kirche, in der sich die Attentäter verschanzt hatten, umstellt wurde. Einer seiner Kameraden, ein achtzehnjähriger SS-Mann, wurde dabei aufs Dach eines anliegenden Hauses geschickt, als Scharfschütze. Der Achtzehnjährige hat dabei in einer Wohnung eine goldene Taschenuhr mitgehen lassen. Am nächsten Tag mussten sie antreten. Dann schritt die tschechische Frau die Reihen ab und deutete auf den jungen SS-Mann. Fünf Minuten später musste mein Vater ihn zum Erschießen fahren. Da wurde dieses „Meine Ehre heißt Treue“ und „Auf Diebstahl steht die Todesstrafe“ das erste Mal real für ihn und er hat angefangen, an diesen Dingen zu zweifeln. Also ich glaube, das war das Eindrücklichste, was er mir erzählt hat. Das war für ihn furchtbar.

Hat dein Vater jemals etwas zu den Sühnemaßnahmen nach dem Heydrich-Attentat gesagt?

Nein.

Das heißt, er hat von der Jagd auf die Attentäter erzählt und nichts von der Vernichtung von Lidice? Hat er das nicht mitbekommen?

Doch, das hat er mitbekommen. Darüber haben wir nie gesprochen, aber das hat er mitbekommen. Er hat gesagt, dass die Maßnahmen, die ergriffen wurden, immer vollkommen übers Ziel hinausgeschossen sind, auch in Jugoslawien. Sie hatten natürlich extrem gelitten, wenn da ein Wachposten nachts massakriert wurde, und hatten große Wut. Aber wie dann reagiert wurde, das sprengte jede Verhältnismäßigkeit. Sowohl in Jugoslawien als auch in Prag. Er wusste, dass das passiert ist, und fand es unglaublich. Ich hoffe, dass die Auszeichnung, die er in Jugoslawien bekam, nicht dafür war, dass er irgendwelche Leute erschossen hat.

Gibt es persönliche Erfahrungen mit deinem Vater, die du besonders mit seiner Geschichte in Zusammenhang bringst?

Du hast mir mal erzählt, dass er dich nur einmal geschlagen hat.

Das war, als ich nachts abgehauen bin. Ich hatte mir eine Strickleiter gebastelt und war bei einem Freund ein paar Häuser weiter im Garten. Wir waren so zwölf und haben dort im Zelt gesessen. Dann kam ein Gewitter, sodass ich nicht nach Hause konnte. Als es endlich vorbei war, sah ich, dass unser Haus hell erleuchtet war. Er hat sich so aufgeregt, dass ich das einzige Mal in meinem Leben von ihm ordentlich auf die Löffel gekriegt habe. Aber dann ist meine Mutter dazwischengegangen und hat gesagt, jetzt lass den Jungen in Ruhe.

Hattest du Angst vor deinem Vater, wenn du ihm widersprochen oder dich widersetzt hast?

Nein. Wir hatten schon hitzige Debatten, aber da war nie eine lose Hand gewesen.

Welche Anteile von dir bringst du mit deinem Vater in Zusammenhang?

Es ist schwierig, da etwas hervorzuheben. Aber er war in meinem Leben der größte Einfluss.

„Pflicht, Gehorsam, Subordination“. Kannst du diese Begriffe zu ihm in Beziehung setzen?

Pflicht war ihm extrem wichtig. Gehorsam? Also Unterordnung? Das würde ich nicht sagen. Aber ihm war es schon wichtig, dass man funktioniert hat. Er sah es auch lieber, wenn wir unsere Gefechte intern austrugen. Er hätte es nicht gut gefunden, wenn ich ihn vor anderen Leuten bloßgestellt hätte. Das hätte er nicht gemocht. Aber in unseren internen Diskussionen war er sehr belastbar. Da musste ich nie Angst haben. Es war ihm auch wichtig, dass ich ein Pflichtbewusstsein habe. Mein Vater hat zu mir auf dem Sterbebett gesagt, dass ich mich um meine Mutter kümmern sollte. Das war für ihn ganz wichtig und ich habe mich dem auch verpflichtet gefühlt. Ich hätte mir durchaus vorstellen können, später das Haus hier mal zu verlassen. Aber es gibt Dinge im Leben, die verspricht man, und dann sollte man sich daran halten. Das ist für mich, glaube ich, ein Wesenszug, den ich mit Sicherheit von ihm übernommen habe.

„Meine Ehre heißt Treue.“ Siehst du da deinen Vater?

Mit Sicherheit war das am Anfang etwas für ihn. Er erzählte mir einmal von seiner Musterung. Damals war er noch kein Hitler- und auch kein SS-Fan. Da kam ein SS-Mann und fragte die Rekruten, wer freiwillig zur SS kommen wolle. Keiner hat sich gemeldet. Daraufhin hat der SS-Mann einen Witz erzählt. Er war blond und groß und hatte schöne Zähne. So wie man es sich klassisch vorstellt. Mein Vater hat gelacht und dann war er dabei. Mit der Zeit hatte es für ihn immer weniger Bedeutung. Treue wäre ja Treue zum Führer gewesen und er war schon der Meinung, dass sie eigentlich verführt worden waren.

„Du bist nichts, dein Volk ist alles.“

Damit kann ich nichts anfangen.

Hatte der Vater einen Volksbegriff, Südtiroler oder Deutscher, war das für ihn von Bedeutung?

Auch wieder sehr ambivalent. Mein Vater hat zeit seines Lebens Stress gehabt mit dem italienischen Staat. Er war aber in Deutschland in seiner Firma für die ganzen Gastarbeiter zuständig und hat sich herausragend um sie gekümmert. Er hat auch unheimlich gern Italienisch gesprochen, was diese Generation auch perfekt konnte. Er ist später von seinen Chefs als Simultandolmetscher zu irgendwelchen Verhandlungen mitgenommen worden. Aber sobald es staatlich wurde, hat er einem Carabiniere noch nicht mal eine Antwort gegeben. Er hat dann gesagt, er verstehe kein Italienisch, und hat lieber die Strafe bezahlt. Er hat den italienischen Staat in gewisser Weise gehasst. Er hat auch das, was man den Südtirolern angetan hat, nicht nachvollziehen können. Auch das mit den damaligen Freiheitskämpfern, die Italiener nennen sie Terroristen. Aber er hat diese Dinge immer dem italienischen Staat angelastet, niemals dem einzelnen Italiener.

Hast du in deinem Erwachsenenleben Anerkennung oder Kritik von Menschen bekommen, wenn du gesagt hast, der Vater war bei der SS?

Insgesamt eher Kritik. Aber es gab in meinem Bekanntenkreis auch Leute, deren Vater ebenfalls in der SS war und die irgendwie darauf stolz waren. Nicht auf das, was die SS angerichtet hat. Aber das Gefühl war da: „Wir sind die Elite.“ Das habe ich auch in Südtirol in Gesprächen gehört. „Wir waren ja auch die Besten.“ Es schien schon klar zu sein, dass von der SS unendliches Unheil verursacht wurde, aber trotzdem schwang mit, dass sie im Prinzip ja tolle Jungs gewesen sind. Dazu passt auch der Spruch von meinem Vater, als er bei einem Besuch meinen Spind bei der Bundeswehr inspizierte, dass ich mit meiner Ordnung in der SS keine Chance gehabt hätte.

Machst du deinem Vater Vorwürfe für die Dinge, die er getan hat?

Da ich nicht weiß, was er möglicherweise getan hat, habe ich ihm nie einen Vorwurf für seine Soldatenzeit gemacht. Er hat sich freiwillig gemeldet. Er hätte auch zur Wehrmacht gehen können, aber ich weiß gar nicht, ob einem das zu dem Zeitpunkt auch wirklich so bewusst war. Wenn ich mir Algund zu dem Zeitpunkt anschaue, die drei Höfe, die es da gab, der wusste nicht viel von dem, was in der großen, weiten Welt passierte. Ich denke, es war am Anfang die Faszination von jungen Kerlen, die was ganz Tolles machen wollten und die der Meinung waren, sie müssten für Deutschland kämpfen. Ich glaube nicht, dass sie wussten, was die SS wirklich war.

Was kann man aus der Geschichte deines Vaters lernen?

Ich bin mittlerweile unsicher, ob wir in Deutschland wirklich etwas daraus gelernt haben. Für meinen Vater war es ein wunderbarer Gedanke, zu wissen, dass sich so was nicht wiederholen wird. Heute wäre er entsetzt. Er dachte, allein durch die Medien, durch die Informationen usw. könne so etwas nicht mehr passieren. Wenn ich diese Aufmärsche sehe, wenn ich mir überlege, dass dreißig Prozent möglicherweise für eine Partei sind, die zumindest in großen Teilen gesichert rechtsextrem ist … Ich denke auch, dass die AfD unsere Medienlandschaft missbraucht und versucht, die Menschen für ihre Ziele zu manipulieren. Das macht mir schon Angst. Die Lehre ist, aufzustehen und zu argumentieren und nicht müde zu werden. Aber es gibt heute keine Sicherheit, dass das nicht mehr passieren kann. Unsere Demokratie ist viel fragiler und empfindlicher, als wir uns das so vorstellen.

Franziska, hast du etwas aus der Geschichte deines Opas gelernt? Und was denkst du und was denken deine Freunde über Politik?

Viele meiner Freunde interessieren sich sehr dafür, wenn ich von Opa erzähle. Sie erzählen dann auch von ihrer Familie und fragen nach Büchern, die ich gelesen habe. Ich habe Freunde, die sind Türken. Die finden es total interessant, dass Opa im Krieg und bei der SS war. Mit denen hätte ich den ganzen Abend darüber reden können. Was Papa angesprochen hat mit der aktuellen Situation, besorgt uns sehr. Besonders die Freunde aus der Türkei haben gerade Angst und fragen sich, ob sie noch lange in Deutschland bleiben werden.

Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Passt das zum Vater?

Ich glaube, es gibt Situationen, die die Menschen zu bestimmten Handlungen veranlassen, und Krieg ist so eine Situation. Ich glaube weniger an die zwei Gesichter von Menschen, sondern eher, dass es eine große Bandbreite bei uns allen gibt und dass wir immer daran arbeiten müssen, uns für die gute Seite zu entscheiden. Jeder von uns könnte im Prinzip ein Mörder sein oder zumindest jemanden anderen töten, wenn die Situation entsprechend wäre. Sich für das Gute entscheiden, darum geht es, oder wie Marcel Reif91, dessen Vater den Holocaust überlebte, gesagt hat: „Sei ein Mensch.“

Würde es dich ängstigen, wenn du etwas rausbekämst, was du noch nicht weißt, was schlimm wäre, etwa dass dein Vater in einem Vernichtungslager war?

Das ist jetzt eine ganz emotionale Geschichte. Ich glaube nicht, dass mein Vater das erlebt hat. Er wäre sonst mit seinem restlichen Leben nicht so klargekommen. Das macht auch etwas mit jemandem. Wenn heute so lapidar gesagt wird, die hätten damals die Befehle verweigern sollen. Ich habe mich immer gefragt, was ich gemacht hätte. Ich glaube, ich hätte geschossen. Ich glaube, ich wäre kein Held gewesen. Aber das Allerschlimmste wäre jetzt für mich, und ich denke da auch an meinen Vater, dass du davor nicht weglaufen kannst. Du kannst versuchen, es zu leugnen. Du kannst es verschweigen, aber du kannst niemals davor weglaufen. Ich bin froh, dass ich das nie entscheiden musste. Ich glaube nicht, dass ich ein Märtyrer gewesen wäre. Ich glaube nicht, dass mein Vater direkt mit Menschenrechtsverbrechen zu tun hatte. Aber für mich wäre es eine Katastrophe, wüsste ich das. Dann wäre mein Bild ein anderes.

  * Klaus Ladurner, *1962 in Frankfurt am Main, wohnt seit seiner Geburt in Hattersheim im Rhein-Main-Gebiet, verheiratet, drei Kinder.

 ** Franziska Ladurner, *1996, wohnt in Wiesbaden, Studium in Brixen/Südtirol, arbeitet als Grundschullehrerin.