Alltag: das Lager

Ich habe die Ernährungsstandards hier vor mir. Gemüse: 150 Gramm. Grütze: 30 und 15 Gramm (30 für die Grütze und 15 für die Brühe). Fett: 10 Gramm. Rohes Fleisch: 45 Gramm, oder 65 Gramm Fisch. Zucker: 150 Gramm pro Monat. Wer sich amüsieren will, kann versuchen, daraus drei Mahlzeiten zuzubereiten. Bei der ersten Mahlzeit sollte es einen halben Liter Suppe und 100 Gramm Grütze geben; bei der zweiten wurde nur ein halber Liter Brühe zum Arbeitsplatz gebracht. Und die dritte Mahlzeit? Abermals Suppe, die gleiche Portion, mit Grütze und Fleisch oder Fisch. Wiederum 100 Gramm. Das zeigt deutlich, dass man aus 15 Gramm Grütze, 150 Gramm Gemüse – fast ausschließlich Kohl, manchmal mit einer Möhre als Zugabe – und 10 Gramm Fett anderthalb Liter Suppe zubereiten musste, und aus 30 Gramm Grütze eine 200-Gramm-Portion. Wenn zum Mittagsessen die sogenannte Pscheno – also Hirse – serviert wurde, schwamm auf unserem Teller eine seltsame gelbe Masse, überzogen mit einer bräunlichen Soße, die nach etwas roch, das vage an Fleisch erinnerte. Bei Fisch, der normalerweise portioniert wurde, war es besser: Da blieb wenigstens etwas von seinem Geschmack am Gaumen haften. Und dem muss man noch 650 Gramm Brot hinzufügen.

Lassen Sie mich die Kalorien einmal zusammenzählen. In der von mir selbst aufgestellten Tabelle sind nur die Mengen von

Ein Sek denkt Tag und Nacht an seine Ration. Er versucht ständig etwas zu organisieren. Vielleicht wird ihm der Koch eine doppelte Portion geben, vielleicht ist jemand dazu bereit, etwas aus seinem Päckchen mit ihm zu teilen, vielleicht schafft er es, sich nebenbei etwas zu verdienen, indem er die Sachen anderer wäscht, näht oder repariert, einfach jemandem zu Diensten ist. Der ewig hungrige Sek verwandelt sich oft in einen Schestjorka96. Schestjorka – ich habe lange über den Ursprung dieses seltsamen Namens gegrübelt. Woher

Machorоtschka, Bankrutоtschka – wenn er in generöser Stimmung ist, mag der Urka Verkleinerungsformen. Er sagt dann nicht »Lagerleiter«, sondern »Lagerleiterchen« – natürlich mit der Betonung auf dem »a«. Die Wörter sind so gefühlvoll, als würde der Akkordeonspieler sein Lied anstimmen und allein schon mit seinem »Du bist mein Sonnenschein« die Seele des Sek erfüllen. Die Lagersprache ist es wert, eigens analysiert zu werden. In unserer Sprache

Die Sprache ist zuweilen abstoßend, aber wer kann daran Anstoß nehmen? Die zotige Sprache ist hier in ihrem Element. Schimpfwörter und Flüche dienen hier mitunter als Beweis der eigenen Macht, manchmal sind sie auch Ausdruck der eigenen Ohnmacht. Sie sind die universellste russische Umgangssprache, in jedem Dialekt vorzufinden. Man kann sie mit korrekter und mit ganz seltsamer Betonung hören, mit jenen charakteristischen Akzenten, die der Sprache unserer Nachbarn eigen sind. Manche dehnen das »o«, das sind die Mordwinen, andere, die Nazmeny98, konjugieren ihre Verben überhaupt nicht, wie Kali im Roman Durch Wüste und Wildnis99. Die Ukrainer sprechen melodiös. Die Aussprache der Moskauer ist korrekt, aber ziemlich hart. Die Leningrader haben ein bisschen Mitleid mit ihnen. Sie denken gemeinhin, dass sie das schönste Russisch sprechen, dass sie die Elite der Nation sind. Und

Mehrfach wurde ich Zeugin von Streitereien unter Urki. Ihr Repertoire an Worten war eher begrenzt. Die Frauen fluchten nicht weniger heftig als die Männer, und das mit noch größerer Grausamkeit in der Stimme. Die Frauen sind nämlich noch grausamer als die Männer – sie können jemanden vor lauter Hass in Stücke reißen. Die rasenden Weiber sind wie eine unbezwingbare Naturgewalt. Das ist ein amüsanter Anblick: zwei Dämchen, die sich gegenseitig die Haare ausreißen, während sie sich, miteinander ringend, am Boden wälzen. Aus ihren Mündern schießen Schimpfwörter in allen erdenklichen Tonlagen und den seltsamsten Kombinationen. Jemand holt einen Eimer mit kaltem Wasser und schüttet ihn über die Frauen, die sich wie zwei Kampfhunde aufeinandergestürzt haben. Sie schütteln das Wasser ab, rappeln sich auf, und nach einer Stunde sehe ich sie zusammen auf einer Pritsche sitzen, eine Zwiebel essen und eine Ration teilen, die sie garantiert selbst gestohlen haben. Die Spannung zwischen ihnen ist komplett verflogen, und in diesem Moment verstehe ich, dass Worte hier wenig bedeuten und leer sind. Sie sind nicht in der Lage, zu berühren, aufzuregen, zu verärgern, Protest auszulösen, Wut zu erzeugen, Gefühle oder das Selbstwertgefühl zu

So werden die Worte ihres Inhalts beraubt. Man kann den Worten nicht trauen, weder den guten noch den schlechten, weder den herzlichen noch den hasserfüllten. Die meisten dieser Worte erfüllen ohnehin nur eine rein rituelle Funktion, denn das Gulagzeremoniell fordert nun einmal, in einer bestimmten Situation so und nicht anders zu sprechen. Und am Ende fliegen uns die Worte ohne Inhalt um die Ohren. Denn was bedeutet einem Gefangenen schon die große Inschrift: DAS VATERLAND IST EINE SACHE DER EHRE, DES MUTES UND DER ARBEIT100? Welche Bedeutung hat für ihn die Ehrengalerie, in der der Name des Stachanowisten101 und der Prozentsatz, den seine Brigade erreicht hat, mit Kreide verzeichnet sind? Da steht der Name dann oder auch nicht – wenn keine bessere Ration damit verbunden ist, spielt das alles eh keine Rolle. Diese monotone Litanei, diese Phrasen, die jeder Anführer einer Eskorte, die

Die rituellen Worte kamen von allen Seiten.

»Wie geht es euch, Mädchen?«, fragt ein Lagerleiter. »Gut?«

»Gut«, antworten sie, denn was sollten sie sonst sagen.

»Wie ist das Leben?«

»Besser als das von anderen.«

»Seid ihr gesund?«

»Gesund.«

Und so geht es in einem fort. Das alles sind Worte ohne Konsequenzen. Etwas anderes zu sagen, zu klagen, etwas zu fordern – warum sollte man das tun? Das Einzige, was das alles bringt und bewirkt, ist Zufriedenheit beim Lagerleiter. Er weiß ganz genau, dass er keine anderen Antworten auf seine Fragen bekommen wird, aber er stellt sie trotzdem, und damit wird das Ritual vollzogen. Worte können Masken sein oder leere Hülsen. Worte sind manchmal wenig sinnvoll, hohl und ohne jegliche Bedeutung. Die Gesänge, die die Ukrainer nachts in ihren Baracken anstimmen, sind da

An einem gewöhnlichen Wochentag gibt es keinen Platz für Traurigkeit. Sich seinem Kummer hinzugeben kommt dem Untergang gleich. Und so wird der Weckruf eher von Flüchen als von Traurigkeit begleitet: »Verdammt noch mal, kaum ist man eingeschlafen, muss man schon wieder aufstehen.« Ob Eiseskälte, Hitze, Dunkelheit oder eine klare Polarnacht – das Wecken um fünf Uhr morgens ist immer wieder gnadenlos. Manche Frauen haben nicht die Kraft aufzustehen. Aber ich liebe diese Morgen, auch die, an denen man in den ersten Momenten nach dem Verlassen der Baracke von einem eisigen Windstoß getroffen wird, der einem die Kehle zuschnürt und irgendwo tief im Hals auf den Kehlkopf drückt, sodass man kein Wort herausbekommt. Schlagartig füllen sich zugleich die Lungen, die von dem stickigen Mief in der Baracke betäubt waren, mit frischem Sauerstoff. Während die Sterne verblassen, erscheint der Schnee zunächst leicht purpurfarben, mit einem bläulichen Schimmer, der satter und zu einem immer helleren Himmelblau wird, um sich kurz darauf mit einer blaugrauen Blässe zu überziehen und schließlich in reines Weiß zu verwandeln. Vor

In diesen ersten Minuten der Stille, noch bevor die Menschen aus der Baracke strömen, ist der einzige Laut, den man hören kann, der Ruf nach Aufmerksamkeit, der von mehreren Wachtürmen ertönt: Achtung, Achtung …

Morgens – so ist es nun einmal – muss man meistens auf die Toilette. Unsere Toilette steht draußen: eine mit Brettern bedeckte Latrine. Auf den Brettern, die über eine tiefe Grube gelegt sind, liegt eine glänzende Eisschicht. Sie sind höllisch glitschig, selbst mit Walenki ist es schwierig, sich aufrecht zu halten. Also bestreuen wir die Bretter mit Asche. Die Hose herunterzulassen gelingt noch, weil die Hände – man hat gerade erst die Baracke verlassen – noch warm sind. Man lässt die Hose herunter und sofort erfasst eine erbarmungslose Kälte die entblößten Körperteile. In Sekundenschnelle dringt diese Kälte irgendwo in die Tiefen der Eingeweide ein. Dann stellt sich das Problem, die Hose wieder schließen zu müssen. Schon nach Sekunden weigern sich die erstarrten Finger zu gehorchen. Es sind schließlich etwa zwanzig Grad unter null, manchmal sogar dreißig oder vierzig Grad unter null. Also gehen wir immer zu zweit – die zweite begleitet einen nur und hilft anschließend beim Hochziehen und Festhalten der Hose. Mit noch nicht zugeknöpfter Hose geht es dann zurück in die Baracke. Dort muss man sich die Hände gut warm reiben, um die Morgentoilette zu beenden. Dies ist der traurigste Moment des Tages, und er ist unvermeidlich.

Frauen leiden regelmäßig an Eierstockentzündungen, chronisch sogar, unheilbar, und außerdem: Selbst wenn die Entzündung nicht unheilbar wäre, womit könnte man sie hier kurieren? Unsere Frauenleiden werden immer schlimmer. Unsere Körper sind geschwächt, die Arbeit ist hart, und dazu kommt noch das ständige Waschen des nackten Körpers bei eisigen Temperaturen.

Hygieneartikel gab es nicht. Manchmal versorgte uns eine gute

Frauen sind vorausschauend und zu vielem imstande. Was sie nicht alles schaffen! Aus dem Flachs, der zum Dämmen von Wänden auf eine Baustelle gebracht worden war, machen sie eine Art Wolle, und schon entstehen auf ihren Stricknadeln Pullover und Strümpfe. Aus dem Stück eines zerrissenen Stoffsacks machen sie ein Deckchen mit Ajourstichen, die sie auf eine Tumbotschka, also auf eine Art Nachttisch, legen, in dem man Brot oder Zucker aufbewahren kann – falls jemand so etwas hat – oder auch Ersatzunterwäsche. Gaze, die mit einem roten Faden aus einem alten, sich auflösenden Pullover bestickt ist und über die Pritsche gehängt wird, verleiht dieser einen Hauch von Sauberkeit und Intimität. Es ist verboten, Strick- und Häkelnadeln zu besitzen, aber fast alle Frauen haben mehrere davon. Wie kommen sie an Garn? Auch für mich ist das ein Mysterium. Ich beobachte, wie sie alte Hemden und Strumpfhosen auftrennen, aber sie haben auch buntes Garn und sogar Seide; ich vermute, dass es manchmal in Päckchen eingeschmuggelt oder von den freien Bürgern herangeschafft wird. Wir bekommen neue

Ich erinnere mich aber auch daran, wie es war, als ich gleich nach dem Transport aus unserem kleinen Hospital in Woiwosch in eine Abteilung voller Urki gebracht wurde. Es kostete mich die größte Willensanstrengung, nicht zurückzuzucken und meine Abscheu zu verbergen. Ich hatte damals noch nicht genug Lagererfahrung. Es war ein schrecklicher Saal. Der Gestank traf einen wie ein Schlag ins Gesicht. Dreckige, verschlissene Decken, denn die besseren waren längst gestohlen worden. Durchgeschwitzte, ausgeleierte Lumpen. Abgenutzte Schuhe, von denen der Schlamm noch nicht abgewaschen worden war. Eine überfüllte Baracke. Es herrschte ein Tumult, ein unbeschreibliches Geschrei – jemandem wurden alle

Ich hatte Glück, aber wie deprimierend war doch das Los der Frauen, die ständig von einem Lager zum anderen geschickt wurden. Sie konnten keine freundschaftlichen Bande knüpfen und fanden sich stets in der Masse der unbeliebtesten Häftlinge wieder, deren sich jeder Lagerleiter entledigen wollte. Auch er zog die Ruhe vor und wollte seinen Plan erfüllen. Wen sonst sollte er wegschicken, sobald sich die Gelegenheit bot, sobald ein anderer Lagerpunkt ein neues Kontingent anforderte, als die Kranken und die zänkischen Frauen, die Allerschwächsten der dritten Kategorie und die Stärksten, die unausstehlich sind, die weder arbeiten noch sich

Zum Banditenmilieu gehörten vor allem Russinnen. Sie stammten hauptsächlich aus den großen Städten. Mitunter waren sie in einem Waisenhaus aufgewachsen, aus dem sie Reißaus genommen hatten, als sie erwachsen geworden waren. Aus diesen kleinen Gefängnissen gingen sie in die Freiheit, wo sie sich mit den schlimmsten Gestalten am Rande der Gesellschaft einließen. Einige hatten bereits mehrere Verurteilungen auf ihrem Konto. Ihre Brüste,

Der Leser sollte an einige Fakten erinnert werden. Bis 1948 wurden kriminelle und politische Gefangene zusammen inhaftiert. Im Frühjahr 1948 kam die Nachricht von der Freilassung der Polen. Wir lebten zu dieser Zeit in großer Anspannung. In unserem zentralen OLP in Uchta gab es nur drei polnische Frauen und etwa hundertzwanzig polnische Männer. Der erste Transport erwies sich als Enttäuschung. Nur wer zu fünf Jahren Haft und nach Artikel 58, 10 oder 12 verurteilt worden war, durfte wirklich gehen. Das traf auf keine der Frauen und nur auf ein paar Dutzend Männer zu. Das war alles. Während die Vorbereitungen für den Transport liefen, hörten wir hinter einer Trennwand die Stimmen anderer Polen und erfuhren so von einem großen Transport, der gerade zusammengestellt wurde und offensichtlich in Richtung Polen gehen sollte. Die Männer wurden nicht kahl geschoren, anscheinend bekamen sie etwas anständigere Kleidung, und sie wurden auch besser verpflegt. Irgendwann im Juni gab es einen zweiten Transport. Da keimte in uns Hoffnung auf, denn nun brachen auch Häftlinge mit Zehnjahresstrafen auf, zu denen unter anderem zwei meiner Frauen gehörten. Wir blieben noch mit zwanzig Leuten zurück. Das war tatsächlich ein großer Transport, und ich freute mich über das Glück meiner

Die Pritschen waren alle schon belegt, also musste man sich einen Platz auf dem Boden suchen. Ich bemerkte einige Frauen, die einen

Als ich am nächsten Morgen hinausging, sah ich einige Männer, die ich kannte. Da wurde mir etwas leichter zumute. Ich würde nicht mehr so allein sein. Sie erkannten mich. Es waren auch noch andere Polen und freundliche Ukrainer unter ihnen, und dann kamen noch Landsleute aus verschiedenen OLPs dazu – sie wurden alle in anderen Baracken untergebracht. Bis der Transport losging, blieb ich bei den Frauen. Ihm ging wie üblich eine Kontrolle voraus, die diesmal von einer Eskorte durchgeführt wurde, also nicht mehr von den regulären Wärtern, sondern von den fast schon Pensionierten, den Soldaten, die sich um nichts kümmerten und ihre Aufgaben hastig und nachlässig erledigten. Diesmal war es eine Eskorte von echten MWDlern, die uns unsere Mützen abnahmen, Zucker, Mehl und Tabak verstreuten und miteinander vermischten und unsere Holzköfferchen rabiat aufbrachen und nicht selten kaputt machten. Zum Glück hatte ich außer meinem Köfferchen auch noch eine genähte Tasche, die ich als eine Art Rucksack benutzte. Die Kontrolle dauerte unerträglich lange. Fotos, Briefe, kleine Souvenirs aus der Heimat wurden uns abgenommen, ebenso

Solschenizyn fragte sich lange Zeit, wer diese neuen Lager mit einem strengeren Regime brauchte: die sogenannten Speziallager, die Spezlagerja in der offiziellen Nomenklatur, die Ende 1948 in rasantem Tempo hochgezogen wurden. Seiner Ansicht nach bestand ihr Zweck darin, verhasste Menschen noch härter zu unterdrücken, sie noch mehr zu demütigen, und vielleicht auch darin, letztlich eine Massenvernichtung durchzuführen. Damit hatte er sicherlich recht, wenn auch nur zum Teil. In Russland ist alles dialektisch miteinander verflochten. Wer weiß schon, ob nicht irgendein Staatsanwalt die Aussonderung der politischen Gefangenen nicht so sehr deshalb befohlen hat, um ihr Leben zu verschlechtern oder zu verbessern, sondern um sie von den Kriminellen zu trennen und so Letztere vor dem schädlichen Einfluss der Feindpropaganda zu bewahren. Denn der Bandit und der Mörder werden irgendwann wieder in die freie Gesellschaft zurückkehren, und was wird dann von ihrer Umerziehung übrig bleiben, wenn sie vom Gift der Konterrevolutionäre

So viele gefährliche Subjekte an einem Ort zu versammeln, das erforderte besondere Vorsichtsmaßnahmen. Ein Spezlag, das verlangt ein spezielles Lagerregime. Vor den Fenstern sind Gitter angebracht (zuvor gab es keine, denn warum auch: Man befand sich in der Zone, die man betreten durfte, und diese Zone war vollständig von Stacheldraht umzäunt). Im Spezlag werden die Baracken nachts abgeschlossen; es wird nur eine Parascha neben die Tür gestellt. Und weil der Sek kein Recht hat, nachts heimlich von Baracke zu Baracke zu ziehen, müssen auch die Fenster gesichert werden. Der Sek hat außerdem seinen Namen eingebüßt, er ist jetzt nur noch eine Nummer. Auf den Kleidern von uns Frauen ist vorne und hinten ein Stück weißer Stoff aufgenäht, auf den mit einem dicken Kopierstift eine Nummer geschrieben wird. Wir tragen sie darüber hinaus hinten auf unseren gesteppten Pullovern und Westen, auf unseren wattierten Hosen, und die Männer tragen sie auch auf ihren Mützen. Die Nummer hängt auch an einem Brett über jedem Schlafplatz. Der Wärter ruft uns nicht mehr mit Namen oder Vornamen, sondern nur noch mit der Nummer. MW 190, komm her! In der Praxis werden wir aber immer noch mit unserem Nachnamen angesprochen, weil wir meist nicht auf die Nummer reagieren, was den diensthabenden Wärter sehr verärgert. Wir werden auch häufiger

Innerhalb des Gefängnisses haben wir zwei weitere Gefängnisse: die Isolierzelle und den Bur106. Der Bur ist leichter. Die Tür wird gleich nach der Rückkehr von der Arbeit zugeknallt, und anderntags wird man kurz vor dem Morgenapell wieder freigelassen. Dort bekommt man auch eine normale Ration, man lebt also nicht auf Strafration wie in der Isolierzelle. Und man hat auch immer die Arbeitsstunden, in denen man nicht eingesperrt ist und mit den anderen zusammenlebt. Das Spezlag hat also eine abgestufte Bestrafung eingeführt. Die Isolierzelle ist die unterste Stufe. Der Bur ist schon etwas besser. Und im Vergleich dazu ist die normale Zone fast ein Sanatorium. So kommt es zumindest denjenigen vor, die schon eine ganze Reihe von Strafen erhalten haben.

Es war verboten, den Inhalt der zugesandten Päckchen in den Baracken aufzubewahren, und das galt auch für die persönlichen Dinge, mit Ausnahme einer Ersatzunterhose. Aber wer hatte denn so etwas überhaupt? Nur die, die Päckchen bekamen. Uns polnischen

Die allgemeinen Lager waren »koedukativ«, und trotz der Anwesenheit der Urki war das Leben dort leichter. Im Spezlag waren Männer und Frauen hingegen strikt voneinander getrennt, aber wie immer herrschte dort Chaos und fehlte es an Vorbereitung: Die Japaner waren gerade erst abgezogen, die gesamte Lagerorganisation war neu, und daher waren wir in den ersten acht Monaten noch mit den Männern zusammen inhaftiert. Die getrennten Bereiche für Frauen und Männer wurden wohl erst im April eingerichtet, nachdem der Bau einer großen Trennmauer aus Lehmziegeln abgeschlossen war. Das Hospital stand auf der anderen Seite. Diese andere Zone war ohnehin größer. Unsere Frauenzone erschien uns anfangs zu eng, zu gedrängt, vor allem im Vergleich zu den großen Lagern im Norden. Die Baracken standen parallel in zwei Reihen und schienen so eine Straße zu bilden. Und dahinter, etwas links von ihnen, befanden sich die verbotene Zone und die Trennmauer. Rechts von den Baracken lag eine große Freifläche, wo man eine Küche, ein Versammlungshaus, einen Lagerraum für persönliche Gegenstände und eine Wäscherei baute. Es gab auch einen nicht allzu großen Streifen, der als Garten durchgehen konnte und in dem einige Kürbisse, Melonen, Gurken und Tomaten für die Patienten des Hospitals angepflanzt wurden. Ich habe es nie geschafft, irgendetwas zu essen, was auf diesem Stück Land gewachsen war.

Es gab genau genommen ein einziges angenehmes Fleckchen

 

Über die K-W TSCH (Kulturno-Wospitatelnaja Tschast) hörte man nie etwas Gutes. Wie hätte es auch anders sein können, saßen dort doch die treuesten Anhänger des politischen Regimes, die Politruki110, Denunzianten und alle möglichen Lagerfieslinge zusammen. Immerhin aber gibt es in der K-W TSCH Zeitungen, ein Mensch muss schließlich wissen, was in der Welt vor sich geht. Es gibt auch eine Bibliothek. Die Sammlung kann als ziemlich seltsam bezeichnet werden: Man sieht, dass sie aus Schenkungen und einem Amalgam älterer Sammlungen besteht; daher finden sich hier lauter Bücher, die in der Gesellschaft nicht mehr im Umlauf sein dürfen. Hier bei uns werden sie von niemandem kontrolliert, und so gibt es Schriftsteller zu entdecken, über die der Bann ausgesprochen wurde, wie Aldanow, Mereschkowski und Jessenin (seine Gedichte

Die K-W TSCH bot auch ein Surrogat für Musik an, denn manchmal kam jemand und spielte Akkordeon und gelegentlich sogar Geige. In Uchta gab es einige ziemlich versierte Orchestergeiger. Sie bildeten ein großes Sinfonieorchester, das jeweils zur Hälfte aus Verbannten und Häftlingen bestand. Allerdings spielten sie nur außerhalb der Zone, im Stadttheater. Bei uns, im ersten OLP, traten sie höchstens ein- oder zweimal, an einem freien Tag und in einem überfüllten Saal, auf. Ihr Repertoire war eher als leicht zu bezeichnen und bestand hauptsächlich aus Opernouvertüren. Die K-W TSCH gründete zudem einen Chor, in dem viele Mitglied wurden. Es wurden auch Spektakel organisiert, die in der Regel aus einer Kombination aus Tanz, Chor und Solodarbietungen von ziemlich guten Sängern bestanden.

Das bringt mich zur Geschichte von Marina A., einer armenischen Frau in den Vierzigern und einer großartigen Mezzosopranistin. Sie war zusammen mit ihrem Mann 1941 verhaftet worden. Die beiden hatten sich geweigert, sich aus Moskau evakuieren zu lassen: Er war für die Fertigstellung irgendeines dringenden Bauprojekts verantwortlich und konnte das nicht aus der Ferne erledigen, und sie wollte bei ihrem Mann bleiben. Sie glaubten nicht, dass die Deutschen in die Hauptstadt einmarschieren würden. Und die Deutschen waren auch nicht einmarschiert. Dennoch beschuldigte man das Paar, sie hätten zu den Deutschen überlaufen wollen. Sie wurden zu fünfzehn bzw. zehn Jahren Haft verurteilt. Marina landete in Uchta. Es war Kriegszeit, eine fürchterliche Zeit. Die gefrorenen Leichen wurden möglichst sorgfältig zu Haufen aufgeschichtet; man wartete, bis die Erde auftaute, um sie begraben zu

Die örtlichen Theaterbesucher wussten genau, wer ein Sek und wer ein freier Bürger war. Die Stadt war klein, jeder kannte jeden. Was aber nicht bedeutete, dass dort eine gemütliche Atmosphäre herrschte.

Irgendwann im Winter 1947 galt es unerwartete Gäste willkommen zu heißen. Sie waren nur auf der Durchreise durch unsere Stadt. Da der Weg aber lang und mühsam war, beschlossen die drei, doch Station zu machen, zumal ihr Auftrag darin bestand, mehrere regionale Theater zu inspizieren, und sie auch die Möglichkeit einer Opernaufführung in Workuta zu prüfen hatten. Einer der Herren war der Direktor eines großen Theaters in Moskau. Die anderen waren Beamte oder Sekretäre der Kulturabteilung des Zentralkomitees und des Ministeriums. An diesem Tag wurde ein Konzert zu Ehren von Tschaikowsky gegeben. Die Gäste nahmen im Zuschauerraum Platz, sie blieben inkognito. Das Konzert verlief ruhig: zuerst die Ouvertüre, dann die Musik zum Ballett, Solodarbietungen von Bässen und Tenören von nicht allzu hoher Qualität. Und dann kam der Moment, in dem Marina auftrat. Die drei klatschten so laut, dass sie die Aufmerksamkeit der anderen Zuschauer auf sich zogen. Nach der Aufführung begaben sie sich direkt in die Garderobe der Künstlerin.

Marina liebte es, diese Geschichte immer wieder zu erzählen. Sie hatte schon von der Bühne aus gesehen, wie diese Männer aufstanden und applaudierten, und sie war nicht überrascht, als die drei auf sie zukamen und sie mit Komplimenten überhäuften. »Was tun Sie hier, gnädige Frau? Warum vergeuden Sie Ihre Karriere in diesem abgelegenen Theater? Wir werden sofort einen Vertrag für das Bolschoitheater aufsetzen. Gnädige Frau, Sie sind besser als

»Und was dann?«, fragte ich.

»Was dann? Nun, ich antwortete, dass ich einverstanden sei, sofern der Mann, der hinten stehe, das zulassen würde. Besagter Mann war der Hauptmann unserer Eskorte, der nicht ausreichend für Ordnung gesorgt und nicht bemerkt hatte, dass drei der freiesten aller freien Bürger in diesen für sie verbotenen Raum eingedrungen waren. Ihr hättet die Gesichter dieser Herrchen sehen sollen und wie eilig sie sich aus dem Staub machten. Und was noch hinzukommt: Sie taten das nicht nur eilig, sondern auch ängstlich. Was für eine Genugtuung das für mich war!«

Marina lachte darüber, ebenso wie ihre Freundinnen vom Theater, die Zeugen dieses Vorfalls gewesen waren. Dieses Vordringen hinter die Kulissen kam das Trio zunächst jedoch noch teuer zu stehen. Die Männer wurden zum Büro des Intendanten und später mit einem Lastwagen direkt zum Hauptquartier des örtlichen MWD-Kommandanten gebracht, denn in den Augen des Oper handelte es sich um einen unerlaubten Versuch, Kontakt zu einem Sek zu knüpfen. Dafür konnte man sogar zehn Jahre bekommen. Im Lager wurde anschließend über die Frage gestritten, ob sie noch am selben Tag oder doch erst am nächsten Tag freigelassen worden waren (schließlich war es bereits Nacht gewesen und somit schwierig, eine Verbindung mit Moskau herzustellen). Auf jeden Fall verließ das Trio unsere Region erst zwei Tage später. Das sagte zumindest der Theaterdirektor, der sie zum Bahnhof gebracht hatte. Geschieht ihnen recht, diesen Mistkerlen – nun wussten sie, in was für einem Land sie lebten und wie eine Haftstrafe schmeckte.

Marina reagiert jedoch anders. Sie glaubt nicht an den Kommunismus, sie ist schließlich Armenierin, und sie ist in einer Villa ihres Vaters auf der Krim aufgewachsen. Er war selbst Musiker und Komponist, und nach seiner Tochter zu urteilen, muss er ein kultivierter, zivilisierter Mann gewesen sein. Sie empfindet keine Wut oder Bitterkeit, sondern lacht vor allem über die Absurdität der ganzen Situation. Über die Absurdität der Wirklichkeit, die hier eine symbolische Bedeutung bekommt. Denn bedeutete die Geste dieser Herren nicht, dass sie den Wert von Marinas Kunst anerkannten? Das taten sie gewiss. Hatten sie nicht gezeigt, wie sinnlos Marinas Aufenthalt an diesem abgelegenen Ort war und dass sie anderswo mehr von Nutzen gewesen wäre? Von Nutzen – und das gerade für die Nation, die sie verurteilt, fortgeschickt und all ihre Werte negiert hatte?! Aber so ergeht es allen: Jeder wird irgendwo an einen entlegenen Ort verpflanzt, und die oberen Chargen wissen genau, dass diese Verpflanzung keine Aussicht auf Erfolg hat, dass sie nichts anderes ist als die Zurückweisung von Millionen von Menschen, die in der Gesellschaft die größte Wertschätzung

Marina findet die Naivität der Gäste amüsant. Sie haben sich selbst weisgemacht, dass sie zu so vielem fähig seien, sie gehören zur Oberschicht der Gesellschaft und entscheiden über die Kultur des ganzen Landes, doch gegen die einzige wirkliche Macht, das MWD, sind sie völlig machtlos. Es ist daher nicht erstaunlich, dass sie Angst bekamen, ein solches erstes Aufeinandertreffen erzeugt Angst. Und die Angst lebt noch stärker in den Herzen derer, die zwar schon wissen, aber noch nicht begreifen, was auf sie zukommen kann. Nur der Sek hat davor keine Angst mehr, denn er befindet sich bereits auf der anderen Seite der Grenze. Er hat die Initiation bereits miterlebt. Angst erregt vor allem das, was noch unbekannt ist. Marina zuckt mit den Schultern, als jemand sie fragt, ob die Gäste Mitleid mit ihr empfunden hätten. Nein, sie war es, die Mitleid mit ihnen empfand, denn sie durchlebten einen Moment des Schreckens, sie sahen sich plötzlich mit einer Gefahr konfrontiert, wenn auch nur für einen Moment. Sie war ihnen sogar dankbar, denn trotz der Demütigungen, denen wir hier tagtäglich ausgesetzt waren, fühlte sie sich für kurze Zeit wieder als Mensch. Das Komische ist, dass es just dieselben Lagerautoritäten waren, die dazu beigetragen hatten, dass Marina diesen Moment des Triumphes erleben konnte.

Einer der Wärter in der Eskorte ist übrigens ein Musikliebhaber. Wenn er einmal mit Marina allein unterwegs ist oder an der Tür ihrer Garderobe wartet, bringt er aufrichtig seine Bewunderung zum Ausdruck: »Du, Schönheit, du bist besser als alle, die dich verurteilt haben.« Diese Worte schmecken für sie wie ein moralischer Sieg.

Marina singt nicht gern vor den freien Bürgern. Doch das muss sie, zumindest wenn sie leben will. Sie singt jedoch gerne für uns, in der Zone. Nur wenige Male wurden solche Konzerte organisiert. Ich habe das in Erinnerung behalten, weil eines dieser Konzerte unter ungewöhnlichen Umständen stattfand. Marina war wieder krank.

Doch kehren wir zur K-W TSCH zurück. Nach Balqasch – als wir unser Versammlungshaus bereits ausgebaut hatten: ein großes Gebäude mit einem Theatersaal, einer Bühne und kleinen, aber ausreichend großen Kulissen, um den Bedürfnissen unserer Künstler zu genügen (Autodidakten von minderer Qualität, denn Persönlichkeiten vom Range Marinas gab es sonst keine). Dort organisierten wir an freien Tagen Bälle. Semjonowa spielte Akkordeon, und wir Frauen tanzten bis zum Umfallen. Semjonowa war eine Denunziantin, und jeder wusste das. Aber wir verziehen ihr diese Schwäche.

Hinter den Kulissen hatte Olga Konstantinowna für sich ein Malatelier eingerichtet. Dort lag ein ganzer Stapel langer Bretter bereit. Olga kalligraphierte auf ihnen mit bunter Farbe die unterschiedlichsten erbaulichen Losungen. Eine Sammlung geeigneter Losungen wurde von einem Führer der K-W TSCH, einem freien Offizier, zur Verfügung gestellt. Ich vermute aber, dass auch Semjonowa einige für Olga erfand und dabei auf Gorki, Lenin und andere sowjetische Literatur zurückgriff. Olga war darüber hinaus für die »Ehrengalerie« zuständig, desgleichen für alle notwendigen Inschriften: Zutritt strengstens untersagt, Verbotene Zone und so weiter. Diese Beschriftungen mussten gut lesbar sein, auch von weitem. Wann immer sie eine Pause von diesen ambitionierten künstlerischen Aufgaben hatte, widmete sich unsere Malerin leidenschaftlich dem Malen von Porträts unserer Lagerleiter, ihrer Frauen und Kinder, der Wärter und der gesamten Lagerverwaltung. Jeder träumte von seinem eigenen Porträt. Für die, die nicht das Recht hatten, die Zone zu betreten, malte Konstantinowna ein Porträt nach einem Foto. Die Porträts hatten immer einen phantasievollen Hintergrund, der vom Auftraggeber gewählt worden war: Berge oder Felsen, manchmal auch das Meer oder etwas ganz anderes, etwa riesige Wolkenkratzer. Einige dieser Gemälde waren Familienporträts: Omas und Opas, Enkelkinder, der Soldatensohn mit all seinen Ehrenabzeichen. Wunderbare hingekleckste Werke, die mehr als einmal unsere Lachmuskeln reizten, der armen Olga aber ein zusätzliches Stück Brot oder eine Dose Karpfen einbrachten. Für kleine Landschaftsbilder, wie Olga sie manchmal mit

Bei Olga Konstantinowna trifft man mitunter auch die Ärztin Maria Petrowna an. Sie ist eine ältere Frau, klein und zart, und sie geht leicht gebückt. Wie Olga leidet sie an Angina Pectoris, manchmal kann sie sich nur mit Mühe fortbewegen. Sie sitzt schon viele Jahre ein. Und wie Olga verbüßt sie nicht ihre erste Strafe. Es geht das Gerücht, dass die beiden Trotzkisten waren. Sie waren etwa zur selben Zeit verhaftet worden, kurz nach dem Sturz Trotzkis, als Stalin dazu überging, die Anhänger seines Rivalen zu liquidieren. Maria Petrowna musste zu diesem Zeitpunkt sieben Jahre absitzen, Olga fünf Jahre. Eine Handvoll Vorkriegsjahre konnten sie dann in Frieden und Freiheit verbringen, doch sobald die Deutschen in Russland einfielen, wurden alle »gefährlichen Elemente« peinlich genau aus dem öffentlichen Leben eliminiert, und Maria Petrowna fand sich erneut für die nächsten fünfzehn Jahre in einem Lager wieder, ohne Prozess, ohne Urteil, allein aufgrund eines Sonderbeschlusses. Ähnlich erging es Olga Konstantinowna, allenfalls etwas später und etwas kürzer. Die Anklagepunkte? Es gab keine. Ich fragte beide Frauen, ob sie sich als Trotzkisten betrachteten. Sie zuckten mit den Schultern. Wie sich herausstellte, war ein Verwandter, dem Maria

Ich sehe mich um und frage mich: Wofür sitzen all diese Frauen ein? Wir, die polnischen Frauen, wurden wegen der AK verurteilt, das ist klar. Das galt auch für die litauischen und estnischen Frauen, die ähnliche, aber weniger umfangreiche Widerstandsorganisationen hatten. Die ukrainischen Frauen wiederum waren Banderisten115. Aber was bedeutet das eigentlich: ein Banderist zu sein? Über mir schläft Orysia. Sie stammt aus der Gegend von Stanislaw. Einer ihrer Brüder war bei der AK, der andere gehörte zu Bandera. Sie kamen nachts zu ihr, sowohl der eine als auch der andere, und sie gab ihnen Brot und Speck. Sie liebte sie alle beide. Beide Brüder starben bei einem Scharmützel, vielleicht war es sogar Brudermord. Und dann kamen die Russen und ließen den Rest der Familie für fünfundzwanzig Jahre einsperren.

Das Schicksal jeder einzelnen dieser Frauen könnte die Vorlage für einen Roman abgeben. Aber wir sind bereits abgestumpft, und uns überrascht nichts mehr, abgesehen von etwas wirklich Außergewöhnlichem, das anderen noch nicht passiert ist. Hinzu kommt, dass eigentlich niemand wirklich etwas darüber erzählt, was er mitgemacht hat. Manchmal kann man die Geschichte eines Menschen anhand seiner abgebrochenen Sätze nachvollziehen. Die Geschichten wiederholen sich, was nicht bedeutet, dass sie dadurch ihre tragische Bedeutung verlieren. Aber so ist es nun einmal: Der Tod eines einzigen Menschen trifft uns härter als der Tod von Tausenden, und das Unglück eines Menschen, den wir kennen und der uns

Gleichgültigkeit. Wir alle werden immer härter, immer unfähiger zu Mitgefühl. Auf Weinen reagieren wir mit Ungeduld. Auf Klagen reagieren wir mit einem Schulterzucken. Von dem verzweifelten Blick eines anderen wenden wir uns ab. Wir fliehen vor denen, die in traurigen Erinnerungen schwelgen. Wir gehen lieber zur K-W TSCH, um ein bisschen zu tanzen. Wie sonst hätten wir diese Tage, diese Wochen, diese Jahre überleben können?

Allzu oft bin ich auf unsere Lagerdenunzianten gestoßen, und mehr als einmal erwiesen sie sich als intelligente, kultivierte Menschen. Allzu oft überkam mich dann das Erstaunen: Warum machten sie das? Einige, so scheint es, denunzierten aus patriotischem Pflichtgefühl gegenüber der Sowjetunion. Die Loyalsten unter den Fanatikern hatten einen so unerschütterlichen Glauben an das System, dass sie – blind für die Tatsachen, für ihr eigenes Schicksal, für das Schicksal der anderen, für die ganze Realität, die sie selbst miterlebten – der Überzeugung waren, es immer nur mit einer Abweichung zu tun zu haben. Ich persönlich glaube, sie rechneten eher mit Gnade, mit Strafminderung, mit einem Akt der Barmherzigkeit, der es ihnen ermöglichen würde, die eigene Haut zu retten. Sie mussten sich jedoch nur einmal umschauen, um zu begreifen, dass es keine Befreiung geben würde. Warum also sollte man sich dann so besudeln und sich derart mit Schuld beladen? Lag das an der typischen russischen Unterwürfigkeit gegenüber der Macht?

Genügt das alles als Erklärung? Denunzianten sind schließlich überall zu finden. Sie umgeben uns auch in unserem normalen Leben. Hier, in diesem Augenblick, während ich dies schreibe, wimmelt es von diesem Gelichter. Es gibt immer mehr solcher kleinen und großen Schufte, Menschen, für die das Denunzieren eine Leidenschaft oder eine Berufung ist, Folterknechte und Sadisten. Wie viele Menschen befinden sich in einem solchen moralischen Morast? Sicherlich viel mehr, als im Lager waren. Doch ich habe das Gefühl, dass ich damals trotz allem von einer reinen Atmosphäre umgeben war. Der gefallene Mensch kam durch einen irrationalen Glauben daran zu Fall, dass die Freiheit seine Belohnung sein würde, oder durch Schwäche, einen Mangel an Willenskraft, dem täglichen Trott die Stirn zu bieten. Er suchte Trost, allerdings ungeschickt, und er verschätzte sich, was die möglichen Folgen anbetraf, doch er war ein Ertrinkender auf der Suche nach Rettung. Die Denunzianten waren keine Zyniker, auch wenn man sie durchaus als Verräter an der Lagergemeinschaft bezeichnen kann. Sie waren Menschen, an deren Herzen und Schamgefühl das Unglück genagt hatte – oder die Angst davor. Sie waren nicht selbstgefällig, sondern fürchteten sich davor, entlarvt zu werden, und diese Entlarvung ließ nie lange auf sich warten.

Oh, glauben Sie nicht, dass ein Denunziant in mir Mitleid zu erwecken begann und ich bereit war, ihm im christlichen Sinne zu

Es genügt, sich heute umzusehen. Die Spione von heute kämpfen nicht um ihr Leben – es gibt also keine Rechtfertigung für das, was sie tun. Sie sind in der Regel kleine Wichte, die unter einem Minderwertigkeitskomplex leiden und gleichzeitig zu feige sind, offen zu agieren. Sie ziehen es vor, im Verborgenen zu bleiben. Sie ziehen eine stille Genugtuung aus der Macht, die sie über andere haben, über andere, die meist besser sind als sie, die Respekt verdienen und als Autoritäten in der Gesellschaft anerkannt sind. Wie angenehm ist es, gerade diesen Menschen ein Schnippchen zu schlagen, ihr Leben von der eigenen Willkür, diesem oder jenem trivialen kleinen Willen abhängig zu machen. Wie angenehm ist es, sich straflos zu wähnen, weil man von höherer Hand stets beschützt wird, und sich nützlich zu fühlen, weil man eine Rolle ausfüllt, die andere nicht übernehmen wollen. Wie angenehm ist es, in aller Ruhe Anschuldigungen und Verleumdungen zu verbreiten, repressive Praktiken zu nutzen und über fast unbegrenzte Möglichkeiten zu verfügen. Das Opfer weiß nicht – vielleicht hat es nicht einmal den geringsten Verdacht –, wer ihm eine Falle gestellt hat. Seinem Opfer von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten, es offen anzugreifen, dazu hat der Denunziant weder die Lust noch den Mut. Erst wenn sein Opfer schon wehrlos und der Gnade und Gnadenlosigkeit anderer völlig ausgeliefert ist, kommt er und versetzt ihm einen Fußtritt.

Wir sind überrascht, dass es so viele von ihnen gibt. Dabei

Diese Situation an sich führt zu einer Zunahme von Operis und Denunzianten, von Informanten und Geheimagenten. Wer verpflichtet ist, mit ihnen mitzuschwimmen, muss sich einen Panzer der Gleichgültigkeit zulegen. Und tragen wir heute nicht alle einen solchen Panzer? Warum sollte man sich also über den armen Sek wundern? Wie hätte sich der Sek, der gegen seinen Willen in diesem Sammelbecken allen Übels gelandet ist, sonst verhalten sollen? Wer kein sauberes Wasser mehr sieht, gewöhnt sich allmählich an den Gestank. So stört es uns auch nicht, dass Semjonowa denunziert, da sie doch so gut Akkordeon spielt.

Und so verlieren wir nach und nach unsere Seele. Tag für Tag sickert mit dem Hunger, mit der Arbeit, die unsere Kräfte übersteigt, und mit der Hoffnungslosigkeit der Zeit etwas in uns ein, Tropfen für Tropfen, etwas, was beim Namen genannt werden muss. Was in uns einsickert, ist die Akzeptanz des Bösen. Wir können uns nicht mehr darum kümmern, wir zucken dabei nur noch mit den Schultern. Ein rechtschaffener Mensch, auf den man vertrauen kann – nur das würde uns überraschen! Das ist es also, wozu die sowjetische Umerziehung führt, die düster stimmende Bedrohung des täglichen Lebens im Lager.