Ich habe die Ernährungsstandards hier vor mir. Gemüse: 150 Gramm. Grütze: 30 und 15 Gramm (30 für die Grütze und 15 für die Brühe). Fett: 10 Gramm. Rohes Fleisch: 45 Gramm, oder 65 Gramm Fisch. Zucker: 150 Gramm pro Monat. Wer sich amüsieren will, kann versuchen, daraus drei Mahlzeiten zuzubereiten. Bei der ersten Mahlzeit sollte es einen halben Liter Suppe und 100 Gramm Grütze geben; bei der zweiten wurde nur ein halber Liter Brühe zum Arbeitsplatz gebracht. Und die dritte Mahlzeit? Abermals Suppe, die gleiche Portion, mit Grütze und Fleisch oder Fisch. Wiederum 100 Gramm. Das zeigt deutlich, dass man aus 15 Gramm Grütze, 150 Gramm Gemüse – fast ausschließlich Kohl, manchmal mit einer Möhre als Zugabe – und 10 Gramm Fett anderthalb Liter Suppe zubereiten musste, und aus 30 Gramm Grütze eine 200-Gramm-Portion. Wenn zum Mittagsessen die sogenannte Pscheno – also Hirse – serviert wurde, schwamm auf unserem Teller eine seltsame gelbe Masse, überzogen mit einer bräunlichen Soße, die nach etwas roch, das vage an Fleisch erinnerte. Bei Fisch, der normalerweise portioniert wurde, war es besser: Da blieb wenigstens etwas von seinem Geschmack am Gaumen haften. Und dem muss man noch 650 Gramm Brot hinzufügen.
Lassen Sie mich die Kalorien einmal zusammenzählen. In der von mir selbst aufgestellten Tabelle sind nur die Mengen von Rindfleisch, Kartoffeln, Speck und Speiseöl oder Butter verzeichnet. Am häufigsten bekamen wir Rindfleisch, aber das Gewicht wurde einschließlich der Knochen berechnet. Vom Fleisch selbst waren es also weniger als 45 Gramm, und nach dem Kochen schrumpfte die Portion auch noch um etwa die Hälfte. Außerdem war das Fett ausschließlich schmutziges Kombischir: eine seltsame Mischung aus Rindertalg, Margarine und noch irgendetwas anderem. Das Schwarzbrot war in der Regel nicht ganz ausgebacken. Andere Angaben als diese, die sich auf hochwertige Produkte beziehen, habe ich nicht. Zusammen mit dem Brot und den fünf Gramm Zucker komme ich also pro Tag auf genau 1615 Kalorien. Dazu muss man wissen, dass ein Mann bei einer sitzenden Tätigkeit 2600 Kalorien und bei schwerer Arbeit 4000 Kalorien zu sich nehmen sollte. Eine Frau braucht weniger: nur 3200 Kalorien. Diese Zahlen sprechen für sich. Es sind rein theoretische Zahlen, denn in der Praxis bekam der Häftling immer weniger, weil alle immer etwas von seinen Portionen zu stehlen versuchten: die Magazinverwalter, die Köche, die höheren und niederen Lagerbehörden; und der arme Sek stand ganz unten auf der Leiter und wurde zu einem hungrigen Dochodjaga. Eine Rekordration ergatterten nur die gesündesten und stärksten Häftlinge. Aber selbst diese Ration hatte nicht mehr als 2200 Kalorien. So sah unser Alltag aus.
Ein Sek denkt Tag und Nacht an seine Ration. Er versucht ständig etwas zu organisieren. Vielleicht wird ihm der Koch eine doppelte Portion geben, vielleicht ist jemand dazu bereit, etwas aus seinem Päckchen mit ihm zu teilen, vielleicht schafft er es, sich nebenbei etwas zu verdienen, indem er die Sachen anderer wäscht, näht oder repariert, einfach jemandem zu Diensten ist. Der ewig hungrige Sek verwandelt sich oft in einen Schestjorka96. Schestjorka – ich habe lange über den Ursprung dieses seltsamen Namens gegrübelt. Woher stammt er? In der Lagersprache ist ein Schestjorka ein unterwürfiges Subjekt, das dir in die Augen schaut und darauf erpicht ist, dich auf deinen Wink hin zu bedienen. Ein Schestjorka schwirrt um den Vorarbeiter herum, der natürlich ein Urka ist, hilft ihm beim Ausziehen seiner Schuhe, trocknet seine Walenki, wäscht seine Verbände, bringt ihm den Tee, rennt los, wenn jemand herbeigerufen werden muss – er ist ein Dienstbote, der selbst für sehr lästige Aufgaben eingesetzt werden kann. Ein Schestjorka tut alles und lehnt nichts ab. Er schaut einem allzu liebenswürdig in die Augen: vielleicht wenigstens ein paar Krümel Brot, vielleicht ein Restchen Suppe? Wenn der Vorarbeiter begütert und großzügig ist, bekommt er sogar die ganze Suppe. Er wird die Arbeit von sechs Butlern übernehmen, wenn es nötig ist, und man hat mehr von ihm als von den sprichwörtlichen sechs Köchinnen97. Der Vorarbeiter lenkt ihn wie eine sechsspännige Kutsche: »Mischka, hilf mir, meine Prochоrja anzuziehen, und dreh mir eine Bankrutоtschka!« (Prochоrja sind Schuhe in der Sprache der Urki; eine Bankrutоtschka ist offensichtlich eine Zigarette oder besser gesagt: eine in ein grobes Stück Zeitungspapier gerollte Machorka. Die Iswestija taugt dafür nicht, das Papier ist zu glatt, mit der Prawda geht es schon besser. Die Sewernaja Prawda und andere Regionalzeitungen waren die beliebtesten Papierchen.)
Machorоtschka, Bankrutоtschka – wenn er in generöser Stimmung ist, mag der Urka Verkleinerungsformen. Er sagt dann nicht »Lagerleiter«, sondern »Lagerleiterchen« – natürlich mit der Betonung auf dem »a«. Die Wörter sind so gefühlvoll, als würde der Akkordeonspieler sein Lied anstimmen und allein schon mit seinem »Du bist mein Sonnenschein« die Seele des Sek erfüllen. Die Lagersprache ist es wert, eigens analysiert zu werden. In unserer Sprache spiegeln sich gleichsam unser Alltag, unser Mangel, unsere Sorgen, unsere Ängste und unser Ärger wider. Aber der gefühlvolle Ton der Sprache ist oft nur eine Maske – im süßen Lächeln erscheint der messerscharfe Reißzahn, den man jederzeit in einen verhassten, feindseligen Körper rammen möchte, egal in wessen Körper, den eines Wärters, eines Lagerleiters oder eines anderen Häftlings. Du Saukerlchen, du Bleichgesichtchen, flüstert der Urka fast liebevoll, während er einem mit dem Messer den tödlichen Stich versetzt. Da sind das Flüstern und die Liebenswürdigkeit einer Schlange, aber auch, wie so oft, das Flüstern einer blutenden Seele, die von etwas Besserem träumt, aber bereits gedemütigt und gebrochen ist und weiß, dass dieses Glück der Freiheit unerreichbar ist. Ich würde eine Baskenmütze aufsetzen, mir einen Schal um den Hals binden, so träumt so manche Tamara und Natascha.
Die Sprache ist zuweilen abstoßend, aber wer kann daran Anstoß nehmen? Die zotige Sprache ist hier in ihrem Element. Schimpfwörter und Flüche dienen hier mitunter als Beweis der eigenen Macht, manchmal sind sie auch Ausdruck der eigenen Ohnmacht. Sie sind die universellste russische Umgangssprache, in jedem Dialekt vorzufinden. Man kann sie mit korrekter und mit ganz seltsamer Betonung hören, mit jenen charakteristischen Akzenten, die der Sprache unserer Nachbarn eigen sind. Manche dehnen das »o«, das sind die Mordwinen, andere, die Nazmeny98, konjugieren ihre Verben überhaupt nicht, wie Kali im Roman Durch Wüste und Wildnis99. Die Ukrainer sprechen melodiös. Die Aussprache der Moskauer ist korrekt, aber ziemlich hart. Die Leningrader haben ein bisschen Mitleid mit ihnen. Sie denken gemeinhin, dass sie das schönste Russisch sprechen, dass sie die Elite der Nation sind. Und obwohl wir, die Polen, es fließend sprechen und auch mittlerweile mit den Ausdrücken der Urki vertraut sind, gebrauchen wir es in der Regel nicht. Es passt auch nicht zu uns. Wir tun unser Bestes, um korrekt zu sprechen, aber es gelingt uns nicht, einigen Konsonanten die nötige Weichheit zu verleihen, wir sprechen sie zu prononciert und zu hart aus. Aber ist es in diesem Wirrwarr von Nationalitäten und Gemeinschaften überhaupt möglich, die Sprache korrekt zu lernen? Unsere Sprache ist vom Stigma der Lagerstandards geprägt. All diese Redeweisen sind uns nicht fremd, sie werden immer wieder wiederholt, wie Refrains, die die Endlosigkeit der Zeit und die Endlosigkeit der deprimierenden Tage unterstreichen. Hinter dem Sarkasmus des Lagercodes verbirgt sich oft nichts anderes als völlige Resignation oder regelrechte Verzweiflung.
Mehrfach wurde ich Zeugin von Streitereien unter Urki. Ihr Repertoire an Worten war eher begrenzt. Die Frauen fluchten nicht weniger heftig als die Männer, und das mit noch größerer Grausamkeit in der Stimme. Die Frauen sind nämlich noch grausamer als die Männer – sie können jemanden vor lauter Hass in Stücke reißen. Die rasenden Weiber sind wie eine unbezwingbare Naturgewalt. Das ist ein amüsanter Anblick: zwei Dämchen, die sich gegenseitig die Haare ausreißen, während sie sich, miteinander ringend, am Boden wälzen. Aus ihren Mündern schießen Schimpfwörter in allen erdenklichen Tonlagen und den seltsamsten Kombinationen. Jemand holt einen Eimer mit kaltem Wasser und schüttet ihn über die Frauen, die sich wie zwei Kampfhunde aufeinandergestürzt haben. Sie schütteln das Wasser ab, rappeln sich auf, und nach einer Stunde sehe ich sie zusammen auf einer Pritsche sitzen, eine Zwiebel essen und eine Ration teilen, die sie garantiert selbst gestohlen haben. Die Spannung zwischen ihnen ist komplett verflogen, und in diesem Moment verstehe ich, dass Worte hier wenig bedeuten und leer sind. Sie sind nicht in der Lage, zu berühren, aufzuregen, zu verärgern, Protest auszulösen, Wut zu erzeugen, Gefühle oder das Selbstwertgefühl zu ersticken. Sie werden einfach aus Langeweile in den Raum geworfen. Wo ist die Waagschale für die Worte? Wo ist die Verantwortung für das Sprechen? Diese Menschen scheinen nicht zu verstehen, dass ein Wort verletzend sein kann, dass ein Wort sogar schlimmer sein kann als eine Ohrfeige. »Finden Sie«, sagt jemand, »dass ich Sie beleidigt habe? Wie merkwürdig.« Genau, wie merkwürdig, ja, wie merkwürdig ist es für uns, aber nicht für sie! Jemanden auszuschimpfen bedeutet nichts, das sind nur leere Worte – ein Mensch muss etwas loswerden können, seinen Ärger an jemandem auslassen können. Sich das zu Herzen zu nehmen ist idiotisch.
So werden die Worte ihres Inhalts beraubt. Man kann den Worten nicht trauen, weder den guten noch den schlechten, weder den herzlichen noch den hasserfüllten. Die meisten dieser Worte erfüllen ohnehin nur eine rein rituelle Funktion, denn das Gulagzeremoniell fordert nun einmal, in einer bestimmten Situation so und nicht anders zu sprechen. Und am Ende fliegen uns die Worte ohne Inhalt um die Ohren. Denn was bedeutet einem Gefangenen schon die große Inschrift: DAS VATERLAND IST EINE SACHE DER EHRE, DES MUTES UND DER ARBEIT100? Welche Bedeutung hat für ihn die Ehrengalerie, in der der Name des Stachanowisten101 und der Prozentsatz, den seine Brigade erreicht hat, mit Kreide verzeichnet sind? Da steht der Name dann oder auch nicht – wenn keine bessere Ration damit verbunden ist, spielt das alles eh keine Rolle. Diese monotone Litanei, diese Phrasen, die jeder Anführer einer Eskorte, die eine Kolonne von Seki aus der Zone begleitet, immer wieder aufsagt, haben eine rituelle Bedeutung. Achtung, Gefangene, Achtung und so weiter. Diese Drohungen (Ein Schritt nach links, ein Schritt nach rechts, und die Eskorte schießt ohne Vorwarnung!) erzeugen bei uns schon lange kein Schaudern und keine Gänsehaut mehr. Wir wissen, dass sie schießen würden, falls jemand fliehen sollte, aber ansonsten … Obwohl verkündet wird, dass es strikt verboten ist, sich auszustrecken und miteinander zu reden, wenn die Kolonne abfährt, strecken sich die Frauen auffallend aus und plappern drauflos. Eine gute Eskorte schenkt dem keine Beachtung, und auch der Anführer hat es inzwischen satt, jeden Tag zweimal das Gleiche sagen und diese nutzlose Pflicht erfüllen zu müssen. Nur wenn man hin und wieder auf einen Zeloten, einen Speichellecker oder einfach einen Sadisten traf, der bei den Märschen für Ordnung sorgen musste, hielten wir uns an die Vorschriften, um nicht im Schlamm oder in einer Pfütze stehen zu müssen.
Die rituellen Worte kamen von allen Seiten.
»Wie geht es euch, Mädchen?«, fragt ein Lagerleiter. »Gut?«
»Gut«, antworten sie, denn was sollten sie sonst sagen.
»Wie ist das Leben?«
»Besser als das von anderen.«
»Seid ihr gesund?«
»Gesund.«
Und so geht es in einem fort. Das alles sind Worte ohne Konsequenzen. Etwas anderes zu sagen, zu klagen, etwas zu fordern – warum sollte man das tun? Das Einzige, was das alles bringt und bewirkt, ist Zufriedenheit beim Lagerleiter. Er weiß ganz genau, dass er keine anderen Antworten auf seine Fragen bekommen wird, aber er stellt sie trotzdem, und damit wird das Ritual vollzogen. Worte können Masken sein oder leere Hülsen. Worte sind manchmal wenig sinnvoll, hohl und ohne jegliche Bedeutung. Die Gesänge, die die Ukrainer nachts in ihren Baracken anstimmen, sind da inhaltsreicher. Sie singen über den Kosaken Hryc und die untergehende Sonne. Es gibt so viele dieser sehnsuchtsvollen Lieder, die sie auswendig kennen, mit einer fließenden, weit ausholenden Melodie, die die ganze Traurigkeit dieses vom Schicksal überrannten Volkes enthält. Sie sind unglaublich musikalisch und singen ausgezeichnet. Schon wenn sie zu dritt sind, ob Männer oder Frauen, stimmen sie einen dreistimmigen Gesang an, der wie ein ganzer Chor mit drei verschiedenen Harmonien von ineinander verwobenen Stimmen klingt. Im Vergleich zu uns Polen, auf deren Ohren ein Elefant herumgetrampelt ist, ist die angeborene Musikalität dieser Menschen etwas Außergewöhnliches. Für sie ist Singen wie Atmen. Bevor wir in den Baracken eingeschlossen werden und die Lichter für die Nacht gelöscht werden, erklingen diese Lieder, und in ihren menschlichen Stimmen und ihrer Sprache finde ich wieder meinen wahren Sinn.
An einem gewöhnlichen Wochentag gibt es keinen Platz für Traurigkeit. Sich seinem Kummer hinzugeben kommt dem Untergang gleich. Und so wird der Weckruf eher von Flüchen als von Traurigkeit begleitet: »Verdammt noch mal, kaum ist man eingeschlafen, muss man schon wieder aufstehen.« Ob Eiseskälte, Hitze, Dunkelheit oder eine klare Polarnacht – das Wecken um fünf Uhr morgens ist immer wieder gnadenlos. Manche Frauen haben nicht die Kraft aufzustehen. Aber ich liebe diese Morgen, auch die, an denen man in den ersten Momenten nach dem Verlassen der Baracke von einem eisigen Windstoß getroffen wird, der einem die Kehle zuschnürt und irgendwo tief im Hals auf den Kehlkopf drückt, sodass man kein Wort herausbekommt. Schlagartig füllen sich zugleich die Lungen, die von dem stickigen Mief in der Baracke betäubt waren, mit frischem Sauerstoff. Während die Sterne verblassen, erscheint der Schnee zunächst leicht purpurfarben, mit einem bläulichen Schimmer, der satter und zu einem immer helleren Himmelblau wird, um sich kurz darauf mit einer blaugrauen Blässe zu überziehen und schließlich in reines Weiß zu verwandeln. Vor dem schneeweißen Hintergrund zeichnen sich immer deutlicher die Wachtürme ab.
In diesen ersten Minuten der Stille, noch bevor die Menschen aus der Baracke strömen, ist der einzige Laut, den man hören kann, der Ruf nach Aufmerksamkeit, der von mehreren Wachtürmen ertönt: Achtung, Achtung …
Morgens – so ist es nun einmal – muss man meistens auf die Toilette. Unsere Toilette steht draußen: eine mit Brettern bedeckte Latrine. Auf den Brettern, die über eine tiefe Grube gelegt sind, liegt eine glänzende Eisschicht. Sie sind höllisch glitschig, selbst mit Walenki ist es schwierig, sich aufrecht zu halten. Also bestreuen wir die Bretter mit Asche. Die Hose herunterzulassen gelingt noch, weil die Hände – man hat gerade erst die Baracke verlassen – noch warm sind. Man lässt die Hose herunter und sofort erfasst eine erbarmungslose Kälte die entblößten Körperteile. In Sekundenschnelle dringt diese Kälte irgendwo in die Tiefen der Eingeweide ein. Dann stellt sich das Problem, die Hose wieder schließen zu müssen. Schon nach Sekunden weigern sich die erstarrten Finger zu gehorchen. Es sind schließlich etwa zwanzig Grad unter null, manchmal sogar dreißig oder vierzig Grad unter null. Also gehen wir immer zu zweit – die zweite begleitet einen nur und hilft anschließend beim Hochziehen und Festhalten der Hose. Mit noch nicht zugeknöpfter Hose geht es dann zurück in die Baracke. Dort muss man sich die Hände gut warm reiben, um die Morgentoilette zu beenden. Dies ist der traurigste Moment des Tages, und er ist unvermeidlich.
Frauen leiden regelmäßig an Eierstockentzündungen, chronisch sogar, unheilbar, und außerdem: Selbst wenn die Entzündung nicht unheilbar wäre, womit könnte man sie hier kurieren? Unsere Frauenleiden werden immer schlimmer. Unsere Körper sind geschwächt, die Arbeit ist hart, und dazu kommt noch das ständige Waschen des nackten Körpers bei eisigen Temperaturen.
Hygieneartikel gab es nicht. Manchmal versorgte uns eine gute Krankenschwester heimlich mit einem kleinen Vorrat an Watte. Die Frauen rissen manchmal Watte aus einem Buschlat, aber die Watte ist schmutzig. Wir stehlen Stücke alter Decken aus der Nähwerkstatt, alles, was uns nützlich sein könnte. Wer im Krankenhaus arbeitet, ist, was dies angeht, privilegiert. Viele von uns haben während ihrer Periode starke Schmerzen. Die Ärzte haben jedoch nicht das Recht, jemanden von uns aus einem so trivialen Grund von der Arbeit freizustellen. Und wieder hängt alles von den Mitmenschen ab. Es gibt Vorarbeiter, die einem aus Böswilligkeit auch noch dazu drängen, die schwersten Balken zu schleppen. Und es gibt andere, die dir erlauben, ein Lagerfeuer zu machen und Reisig und Äste zu sammeln. Man darf sich dann auf einen Stamm setzen, die Beine zum Feuer ausstrecken, mit den Armen seinen Bauch drücken und warten, bis der Schmerz ein wenig nachlässt. Und er geht letztlich vorbei. Alles geht vorbei.
Frauen sind vorausschauend und zu vielem imstande. Was sie nicht alles schaffen! Aus dem Flachs, der zum Dämmen von Wänden auf eine Baustelle gebracht worden war, machen sie eine Art Wolle, und schon entstehen auf ihren Stricknadeln Pullover und Strümpfe. Aus dem Stück eines zerrissenen Stoffsacks machen sie ein Deckchen mit Ajourstichen, die sie auf eine Tumbotschka, also auf eine Art Nachttisch, legen, in dem man Brot oder Zucker aufbewahren kann – falls jemand so etwas hat – oder auch Ersatzunterwäsche. Gaze, die mit einem roten Faden aus einem alten, sich auflösenden Pullover bestickt ist und über die Pritsche gehängt wird, verleiht dieser einen Hauch von Sauberkeit und Intimität. Es ist verboten, Strick- und Häkelnadeln zu besitzen, aber fast alle Frauen haben mehrere davon. Wie kommen sie an Garn? Auch für mich ist das ein Mysterium. Ich beobachte, wie sie alte Hemden und Strumpfhosen auftrennen, aber sie haben auch buntes Garn und sogar Seide; ich vermute, dass es manchmal in Päckchen eingeschmuggelt oder von den freien Bürgern herangeschafft wird. Wir bekommen neue Kleider, denn es steht eine neue Saison an, und die alten sind völlig abgenutzt. Wir werden alle in das gleiche Marineblau gekleidet. Aber schon am nächsten Tag bekommen die Kleider, die wie ein Sack an unseren Körpern herunterhängen, einen anderen Schnitt und gestickte Verzierungen an Kragen und Ärmeln. In diesen müden, oftmals hungrigen und erschöpften Frauen steckt ein unbändiger Drang, dem öden Material, mit dem sie arbeiten, eine ästhetische Form zu geben. Sie wollen ihm Schönheit verleihen und es herausputzen. Wir haben kein Papier, keine Notizbücher, keine Hefte und keine Fotos. Strengstens verboten! Und so dient ein gesticktes Häuschen mit dem Wort Wanuscha oder Tamarka – dem Namen des Ehemanns, des Sohnes, der kleinen Tochter, der Schwester – als Fotoersatz. Es ist auch immer erfreulicher und angenehmer, wenn man einen kleinen Überzug auf das mit Sägespänen gefüllte Kopfkissen – so hart wie unsere Ziegelsteine – legen und eine kleine Stoffblume an das Gestell der Pritsche hängen kann. Die Frauen sind sauber, putzen ständig und scheuen weder Kosten noch Mühen, um ihre Decken und Strohmatratzen (die ebenfalls mit Holzspänen gefüllt sind) in Ordnung zu halten. In den Abteilungen, in denen die 58er – also die politischen Gefangenen – untergebracht sind, herrscht keine Unordnung.
Ich erinnere mich aber auch daran, wie es war, als ich gleich nach dem Transport aus unserem kleinen Hospital in Woiwosch in eine Abteilung voller Urki gebracht wurde. Es kostete mich die größte Willensanstrengung, nicht zurückzuzucken und meine Abscheu zu verbergen. Ich hatte damals noch nicht genug Lagererfahrung. Es war ein schrecklicher Saal. Der Gestank traf einen wie ein Schlag ins Gesicht. Dreckige, verschlissene Decken, denn die besseren waren längst gestohlen worden. Durchgeschwitzte, ausgeleierte Lumpen. Abgenutzte Schuhe, von denen der Schlamm noch nicht abgewaschen worden war. Eine überfüllte Baracke. Es herrschte ein Tumult, ein unbeschreibliches Geschrei – jemandem wurden alle möglichen Anschuldigungen an den Kopf geworfen. Noch bevor ich meine Tasche – die mit neidischen Blicken bedacht wurde – auf die Pritsche gestellt hatte, wurde ich schon in eine andere Abteilung gebracht: die der politischen Gefangenen, die übrigens auch voller Urki war, doch die hatten wenigstens einen gewissen Anspruch, denn sie arbeiteten als Buchhalter, Krankenschwestern und Köche. Das war eine andere Welt. Wie konnten zwei unterschiedliche Welten so nahe beieinander existieren? Wie konnte unsere vierte Abteilung, die Pridurok-Abteilung, neben dieser Meute bestehen? Warum kamen sie nicht einfach zu uns, um uns zu bestehlen? Das konnte ich zunächst nicht begreifen. Erst später verstand ich, wie sehr die Urki mit ihren ganzen Ansprüchen diese andere, wilde Welt voller Diebstähle im Griff hatten. Von ihnen hing es ab, wer eine größere Ration bekam und wen sie zu leichterer Arbeit schickten. Und so wurden ständig Konflikte zwischen verschiedenen schwarzhaarigen Sonkas und rothaarigen Walkas und dergleichen ausgefochten. Doch Jewdokija Ossipowna gegenüber empfanden alle nichts als Hochachtung. Jewdokija verbot es, zur vierten Abteilung zu kommen: dass bloß nichts aus der vierten verschwindet! Jewdokijas Lagerehemann war niemand Geringeres als der Narjadtschik höchstpersönlich. Ihr nicht zu gehorchen bedeutete Deportation in den entlegensten Lagerpunkt, um dort zu verhungern.
Ich hatte Glück, aber wie deprimierend war doch das Los der Frauen, die ständig von einem Lager zum anderen geschickt wurden. Sie konnten keine freundschaftlichen Bande knüpfen und fanden sich stets in der Masse der unbeliebtesten Häftlinge wieder, deren sich jeder Lagerleiter entledigen wollte. Auch er zog die Ruhe vor und wollte seinen Plan erfüllen. Wen sonst sollte er wegschicken, sobald sich die Gelegenheit bot, sobald ein anderer Lagerpunkt ein neues Kontingent anforderte, als die Kranken und die zänkischen Frauen, die Allerschwächsten der dritten Kategorie und die Stärksten, die unausstehlich sind, die weder arbeiten noch sich mit irgendjemandem einlassen wollen und die die Gulagdisziplin verletzen? Es ist nicht so, dass die Lagerleiter die kleine Welt dieses Gesindels mochten, sie fürchteten sich vielmehr davor. Der Urka, gesetzt den Fall, dass er sich hochgearbeitet hat und nun als Narjadtschik, Kommandant oder Vorarbeiter für die Ehre des Lagers arbeitet, ist ein gern gesehener Gast, denn er wird besser für Ordnung sorgen als hundert Lagerwärter zusammen. Dem Rücksichtslosen gelingt es, Gehorsam zu erzwingen. Für den Ungehorsamen ist sein Messer bereits gewetzt. Aber die Urka ist eine freie Banditin, die selbst nichts arbeiten will, sie ist ein lautes und vulgäres Weibchen, das ständig Streit sucht und gefährlich ist, weil sie sich darauf versteht, mit einem Messer umzugehen. Sie ist ein Albtraum für das Lager. Einige unserer armen Frauen verbrachten ganze Jahre damit, von Kolonie zu Kolonie, von einem Lagerpunkt zum nächsten zu ziehen. Diese waren nicht weit entfernt voneinander und lagen in der Regel auf dem Weg zu einem großen Bauprojekt wie dem in Taschjet102. Dabei haben die Frauen alles verloren: Schuhe, Pullover, Decken – alles wurde ihnen von den Urki abgenommen. Manchmal versuchten sie sich in größeren Gruppen zu wehren. Manchmal kam es zu einem Kräftemessen mit diesem halb verwilderten Pöbel. Was blieb ihnen auch sonst übrig?
Zum Banditenmilieu gehörten vor allem Russinnen. Sie stammten hauptsächlich aus den großen Städten. Mitunter waren sie in einem Waisenhaus aufgewachsen, aus dem sie Reißaus genommen hatten, als sie erwachsen geworden waren. Aus diesen kleinen Gefängnissen gingen sie in die Freiheit, wo sie sich mit den schlimmsten Gestalten am Rande der Gesellschaft einließen. Einige hatten bereits mehrere Verurteilungen auf ihrem Konto. Ihre Brüste, Oberschenkel und Hände waren voller Tätowierungen. Die Zeit in den verschiedenen Lagern hatte ihre Zähne völlig verfaulen lassen – die meisten von ihnen hatten gar keine Zähne mehr. Gelegentlich gab es auch eine Urka, die stolz eine stählerne Zahnkrone zur Schau stellte – das Nonplusultra ihrer Träume und ein Beweis ihrer raffinierten Eleganz. Unsere jungen Männer betrachteten diese Frauen mit unverhohlener Verachtung. Die Kluft zwischen ihrer Unwissenheit – einer geradezu primitiven Unmoral, die sich durch ein hohes Maß an Gleichgültigkeit und Verachtung gegenüber anderen, der Umgebung und jeglicher Art von Regelung auszeichnete – und unseren christlichen moralischen Prinzipien, über die selbst ungebildete Frauen verfügten, war unüberbrückbar.
Der Leser sollte an einige Fakten erinnert werden. Bis 1948 wurden kriminelle und politische Gefangene zusammen inhaftiert. Im Frühjahr 1948 kam die Nachricht von der Freilassung der Polen. Wir lebten zu dieser Zeit in großer Anspannung. In unserem zentralen OLP in Uchta gab es nur drei polnische Frauen und etwa hundertzwanzig polnische Männer. Der erste Transport erwies sich als Enttäuschung. Nur wer zu fünf Jahren Haft und nach Artikel 58, 10 oder 12 verurteilt worden war, durfte wirklich gehen. Das traf auf keine der Frauen und nur auf ein paar Dutzend Männer zu. Das war alles. Während die Vorbereitungen für den Transport liefen, hörten wir hinter einer Trennwand die Stimmen anderer Polen und erfuhren so von einem großen Transport, der gerade zusammengestellt wurde und offensichtlich in Richtung Polen gehen sollte. Die Männer wurden nicht kahl geschoren, anscheinend bekamen sie etwas anständigere Kleidung, und sie wurden auch besser verpflegt. Irgendwann im Juni gab es einen zweiten Transport. Da keimte in uns Hoffnung auf, denn nun brachen auch Häftlinge mit Zehnjahresstrafen auf, zu denen unter anderem zwei meiner Frauen gehörten. Wir blieben noch mit zwanzig Leuten zurück. Das war tatsächlich ein großer Transport, und ich freute mich über das Glück meiner Freunde und Bekannten, doch irgendwo in meiner Seele nagte auch das Bedauern, dass ich nicht dabei war. Umso schmerzlicher war die Tatsache, dass ich mich von meinen besten Lagerfreunden verabschieden musste, von Freunden, mit denen ich mich oft, sogar fast täglich traf. Wer ebenfalls aufbrach, war unser Münzmeister, unser Gönner S., der uns manchmal half und insgeheim Ratschläge in verschiedenen zivilen Angelegenheiten der freien Bürger gab. Er war besser als die russischen Anwälte. Deshalb versuchten die freien Bürger immer, ihm auf die eine oder andere Weise ihre Dankbarkeit auszudrücken, und sei es nur mit einer Dose geschmortem Schweinefleisch. Es ist wohl unnötig zu erwähnen, dass das gesamte Gerichtsverfahren im Geheimen stattfand. Der Gönner schrieb die Schriftsätze und Berufungsanträge, die der freie Anwalt dann paraphrasierte. Danach gingen auch unser sympathischer Arzt, der König unter den Urki, die lächelnde Roma und Frau J., die für mich und Roma köstlichen Spinat aus Brennnesseln zubereitet hatte. Ich blieb allein zurück. Die Russen, die im Planungsbüro unseres Lagers arbeiteten, versicherten mir, dass ein weiterer Transport vorbereitet werde und ich zweifellos auf der Liste stehe. Zur selben Zeit, in der zweiten Oktoberhälfte, wurde plötzlich – ohne dass es in der Terminplanung vorgesehen war – ein allgemeines Gesundheitskomitee eingerichtet. Es setzte sich aus freien Bürgern zusammen – aus Ärzten, die wir nicht kannten. Anhand der Kategorien konnte man sehen, dass tatsächlich ein großer Transport bevorstand. Die Arbeitslosen wurden der Kategorie 3 zugeordnet; wer bereits die Kategorie 3 hatte, wurde nun der Kategorie 2 oder sogar 1 zugeordnet. Zweifellos wollte sich das Lager der Schwächsten entledigen. Bezeichnend war, dass die höheren Kategorien vor allem den politischen Häftlingen zugewiesen wurden, und obgleich sie vor den Richtern des Areopag103 zu erscheinen hatten, mussten sie doch alle bleiben.
Ganz am Ende des Oktobers fielen die Wachen und der Narjadtschik – dieses Rudel Wölfe – schon vor dem Wecken mit lautem Geschrei bei uns ein. Viele von uns bekamen den Befehl, sofort ihre Sachen zu packen. Wenn ein Transport stattfand, verfiel die Lagerleitung in einen Zustand des Wahnsinns. Der Sek wurde schrecklich herumgescheucht, er hatte keine Zeit, richtig zu packen oder von jemandem Abschied zu nehmen. Die unerfahrenen Häftlinge gerieten sofort in Panik. Ich kannte dieses Prozedere bereits, aber dass ich ausgerechnet zu diesem Transport aufgerufen wurde, zusammen mit einer ganzen Schar russischer, ukrainischer und lettischer politischer Häftlinge, verhieß nichts Gutes. Das war gewiss kein Transport nach Polen. Angesichts des brutalen Geschreis unserer Kommandanten stand ich, eher vor Wut als vor Verzweiflung, zitternd da. Kaum dass ich meine Sachen zusammengepackt hatte, landete ich schon mit einer ganzen Reihe Frauen auf dem Waschplatz des Lagers, wo wir einer peniblen Sanobrabotka unterzogen wurden, was bedeutete, dass uns die Haare überall abrasiert wurden, außer auf dem Kopf. Wir blieben bis zum Einbruch der Dunkelheit auf dem Waschplatz. Nach dem morgendlichen Überfall und der Hektik lagen wir auf unseren Säcken und warteten ab, wie es weitergehen würde. Am Abend wurden wir zur Entsendestelle gebracht. Sie war schon voller Frauen, alles 58er. Es war eine aus vielen Nationalitäten bunt zusammengewürfelte Truppe, die aus verschiedenen OLPs und Lagerpunkten unseres nördlichen Lagerkönigreiches zusammengeführt worden war. Es kursierten die unterschiedlichsten Gerüchte. Warum wurden wir von den anderen getrennt? Vielleicht brachten sie uns an einen Ort, wo es besser war? Vielleicht wurde der besondere Status des politischen Gefangenen endlich anerkannt? Naivität. Sicher, dieser Status wurde anerkannt, aber nur, um uns einem noch härteren Regime zu unterwerfen.
Die Pritschen waren alle schon belegt, also musste man sich einen Platz auf dem Boden suchen. Ich bemerkte einige Frauen, die einen intelligenten Eindruck auf mich machten, und ging auf sie zu. Wir wechselten ein paar höfliche Worte, aber sie schienen nicht sehr begierig darauf zu sein, mich in ihre Gruppe aufzunehmen. Es waren russische Frauen, die wie immer jedem Fremden gegenüber misstrauisch waren. Ich hielt mich daraufhin abseits, denn die Frauen, die aus unserem OLP kamen, kannte ich kaum, und ich hatte auch keine hohe Meinung von ihnen. Es waren hauptsächlich einfache ukrainische Landfrauen sowie ein paar litauische, lettische und estnische Frauen. Es bildeten sich Gruppen nach nationaler Zugehörigkeit, polnische Frauen fand ich jedoch nirgends. Es gab einige intelligente Frauen, darunter auch Russinnen (ich hatte bei früherer Gelegenheit noch beobachtet, dass sie ihre freien Nächte in den Baracken der Männer verbrachten), doch ich hatte wenig Lust, ihre Gesellschaft zu suchen. Schließlich brach die Nacht herein.
Als ich am nächsten Morgen hinausging, sah ich einige Männer, die ich kannte. Da wurde mir etwas leichter zumute. Ich würde nicht mehr so allein sein. Sie erkannten mich. Es waren auch noch andere Polen und freundliche Ukrainer unter ihnen, und dann kamen noch Landsleute aus verschiedenen OLPs dazu – sie wurden alle in anderen Baracken untergebracht. Bis der Transport losging, blieb ich bei den Frauen. Ihm ging wie üblich eine Kontrolle voraus, die diesmal von einer Eskorte durchgeführt wurde, also nicht mehr von den regulären Wärtern, sondern von den fast schon Pensionierten, den Soldaten, die sich um nichts kümmerten und ihre Aufgaben hastig und nachlässig erledigten. Diesmal war es eine Eskorte von echten MWDlern, die uns unsere Mützen abnahmen, Zucker, Mehl und Tabak verstreuten und miteinander vermischten und unsere Holzköfferchen rabiat aufbrachen und nicht selten kaputt machten. Zum Glück hatte ich außer meinem Köfferchen auch noch eine genähte Tasche, die ich als eine Art Rucksack benutzte. Die Kontrolle dauerte unerträglich lange. Fotos, Briefe, kleine Souvenirs aus der Heimat wurden uns abgenommen, ebenso Spiegel, Nadeln, Fäden und Metalllöffel (man durfte nur Holzlöffel besitzen). Meine Fotos von zu Hause, die ich ganz unten in meine Tasche eingenäht hatte, fanden sie nicht. Das Holzköfferchen, das ich im Hospital im Tausch gegen ein paar Brotrationen erworben hatte, öffnete ich selbst, damit sie ihre Wut nicht daran auslassen konnten. Endlich begann das Verladen, wie üblich vierzig Personen pro Viehwaggon. Ich schaffte es, direkt in die oberste Pritsche an einem Fenster zu kriechen. So konnte ich später hinausschauen und sehen, wohin sie uns brachten. Kotlas, Wologda, Perm (oder besser gesagt: Molotow104): Wir überquerten den Ural. Vor uns erstreckte sich die grenzenlose sibirische Weite.
Solschenizyn fragte sich lange Zeit, wer diese neuen Lager mit einem strengeren Regime brauchte: die sogenannten Speziallager, die Spezlagerja in der offiziellen Nomenklatur, die Ende 1948 in rasantem Tempo hochgezogen wurden. Seiner Ansicht nach bestand ihr Zweck darin, verhasste Menschen noch härter zu unterdrücken, sie noch mehr zu demütigen, und vielleicht auch darin, letztlich eine Massenvernichtung durchzuführen. Damit hatte er sicherlich recht, wenn auch nur zum Teil. In Russland ist alles dialektisch miteinander verflochten. Wer weiß schon, ob nicht irgendein Staatsanwalt die Aussonderung der politischen Gefangenen nicht so sehr deshalb befohlen hat, um ihr Leben zu verschlechtern oder zu verbessern, sondern um sie von den Kriminellen zu trennen und so Letztere vor dem schädlichen Einfluss der Feindpropaganda zu bewahren. Denn der Bandit und der Mörder werden irgendwann wieder in die freie Gesellschaft zurückkehren, und was wird dann von ihrer Umerziehung übrig bleiben, wenn sie vom Gift der Konterrevolutionäre verseucht wurden? Außerdem war es in den gewöhnlichen ITL-Lagern leicht, zu freien Bürgern Kontakt zu bekommen. Gewöhnlich arbeiteten in einem Lager viele freie Bürger, die sich mit eigenen Augen davon überzeugen konnten, dass es sich bei den nach Artikel 58 Inhaftierten um völlig unschuldige Menschen handelte, um Menschen, die sich in ein Netz komplexer Kriegssituationen verstrickt hatten, um intelligente, neugierige, gebildete Menschen und um Patrioten, die für die Freiheit ihres Landes gekämpft hatten. Wie hätte man begreifen können, warum sie sich hier befanden? Ich vermute, dass solche Gedanken hinter unserer Aussonderung gestanden haben könnten.
So viele gefährliche Subjekte an einem Ort zu versammeln, das erforderte besondere Vorsichtsmaßnahmen. Ein Spezlag, das verlangt ein spezielles Lagerregime. Vor den Fenstern sind Gitter angebracht (zuvor gab es keine, denn warum auch: Man befand sich in der Zone, die man betreten durfte, und diese Zone war vollständig von Stacheldraht umzäunt). Im Spezlag werden die Baracken nachts abgeschlossen; es wird nur eine Parascha neben die Tür gestellt. Und weil der Sek kein Recht hat, nachts heimlich von Baracke zu Baracke zu ziehen, müssen auch die Fenster gesichert werden. Der Sek hat außerdem seinen Namen eingebüßt, er ist jetzt nur noch eine Nummer. Auf den Kleidern von uns Frauen ist vorne und hinten ein Stück weißer Stoff aufgenäht, auf den mit einem dicken Kopierstift eine Nummer geschrieben wird. Wir tragen sie darüber hinaus hinten auf unseren gesteppten Pullovern und Westen, auf unseren wattierten Hosen, und die Männer tragen sie auch auf ihren Mützen. Die Nummer hängt auch an einem Brett über jedem Schlafplatz. Der Wärter ruft uns nicht mehr mit Namen oder Vornamen, sondern nur noch mit der Nummer. MW 190, komm her! In der Praxis werden wir aber immer noch mit unserem Nachnamen angesprochen, weil wir meist nicht auf die Nummer reagieren, was den diensthabenden Wärter sehr verärgert. Wir werden auch häufiger kontrolliert. Ich spreche nicht von den normalen Kontrollen beim Verlassen der Zone, auf dem Hin- und Rückweg zur Arbeit. Das war ein tägliches Ritual, dem wir keine Beachtung mehr schenkten. Ich spreche von großen Kontrollen, die vor jedem größeren Feiertag stattfinden, und so werden wir am Tag vor dem 7. November105 und dem 1. Mai, gleich bei welchem Wetter, mit all unseren Habseligkeiten nach draußen befördert. Nur seine Matratze darf man zurücklassen. Zuerst führen die Wachen und Soldaten eine sehr sorgfältige Inspektion in der Zone durch, dann nehmen sie sich uns vor. Das Ganze endet zwischen fünf und sechs Uhr abends. Dann gibt es Abendessen, und da der nächste Tag ein Feiertag ist, schleppen sie zu unserer Unterhaltung eine mobile Kinoanlage herbei. Vorher müssen wir jedoch noch die Baracke aufräumen, unsere Sachen verstauen, und wenn es geregnet hat, die Sachen erst noch trocknen. Die Kontrollen haben noch andere tiefergehende Gründe, und der schlimmste davon ist der Eifer unserer Lagerleitung.
Innerhalb des Gefängnisses haben wir zwei weitere Gefängnisse: die Isolierzelle und den Bur106. Der Bur ist leichter. Die Tür wird gleich nach der Rückkehr von der Arbeit zugeknallt, und anderntags wird man kurz vor dem Morgenapell wieder freigelassen. Dort bekommt man auch eine normale Ration, man lebt also nicht auf Strafration wie in der Isolierzelle. Und man hat auch immer die Arbeitsstunden, in denen man nicht eingesperrt ist und mit den anderen zusammenlebt. Das Spezlag hat also eine abgestufte Bestrafung eingeführt. Die Isolierzelle ist die unterste Stufe. Der Bur ist schon etwas besser. Und im Vergleich dazu ist die normale Zone fast ein Sanatorium. So kommt es zumindest denjenigen vor, die schon eine ganze Reihe von Strafen erhalten haben.
Von nun an sind wir nicht mehr nur von einem Zaun, von Stacheldraht und Wachtürmen umgeben. Davor erstreckt sich nun auch noch eine zweigeteilte, von Stacheldraht umzäunte Sperrzone. Es handelt sich um einen streng bewachten Streifen, auf dem man jeden Fußabdruck sehen kann, falls ein Draufgänger es wagen sollte, ihn zu betreten. Außerdem wird die Sperrzone nachts von hellen Lichtmasten beleuchtet. In der Sowjetunion ist Strom ständig Mangelware, doch für die Bewachung gefährlicher Elemente gibt es immer Strom. Wir werden auch mehrmals am Tag gezählt. Nach dem Wecken (um zu sehen, ob es nicht jemandem gelungen ist, sich nachts durch ein solide vergittertes Fenster zu zwängen), vor dem Aufbruch zur Arbeit, in der Arbeitszone, vor dem Rückweg von der Arbeit, vor dem Wiedereintritt in die Zone. Und dann gibt es noch einmal abends eine allgemeine Kontrolle für alle. Und danach, um den Tag endgültig abzuschließen, noch eine kurze Kontrolle, bevor wir uns für die Nacht in unsere Baracke zurückziehen. In unsere Bardak107, wie unsere Frauen sagen. Sieben Mal! Wie viel Zeit das gekostet hat, vor allem wenn man die Rechenkünste unserer Lagerwachen und unserer Eskorte bedenkt! Wir konnten sicher sein, dass niemand verschwunden war, dass sich niemand plötzlich in Luft aufgelöst hatte. Denn schließlich dachte auch niemand an Flucht. In Balqasch gibt es nur eine Eisenbahnlinie. Ringsherum ist Steppe, in der nichts wächst, in der kein Tropfen Wasser und keine Nahrung zu finden sind. Die nächstgelegene Stadt ist achthundert Kilometer entfernt. Ein Wald kann einen ernähren, aber in der Steppe ist man ohne Waffen, ohne Wasservorrat dem Tode geweiht.
Es war verboten, den Inhalt der zugesandten Päckchen in den Baracken aufzubewahren, und das galt auch für die persönlichen Dinge, mit Ausnahme einer Ersatzunterhose. Aber wer hatte denn so etwas überhaupt? Nur die, die Päckchen bekamen. Uns polnischen Frauen war das nicht erlaubt. Also liefen wir anfangs in Staatsuniformen herum. Im Winter gaben sie uns ein Baumwollhemd und eine Unterhose, die wir alle zehn Tage, wenn wir zum Waschen gingen, wechseln durften. Ich weiß nicht, wie die anderen Frauen das geregelt bekamen, wir hatten jedenfalls immer zwei Hemden und zwei Hosen, die alle paar Tage eifrig gewaschen wurden. Um die Kleidungsstücke, die wir am Waschplatz bekamen, scherten wir uns eigentlich nicht. Der Gedanke, die Unterwäsche einer anderen anzuziehen, selbst wenn sie gut gewaschen gewesen wäre, war uns unerträglich. Jede von uns besaß außerdem ein dunkles Kleid aus Wolle von Cheviot-Schafen, eine wattierte Hose, eine Fufaika und einen Buschlat sowie eine Mütze mit Ohrenklappen. Dass wir Handschuhe und einen Schal besaßen, hatten wir uns selbst zu verdanken – wir beschafften sie uns vielfach auf einfallsreiche Weise. Im Herbst bekamen wir Schnürschuhe, die uns außerordentlich elegant vorkamen. Im Winter liefen wir in unseren Walenki herum; ob es neue, alte, sehr alte oder schon fast völlig zerschlissene waren, hing von den eigenen Beziehungen ab. Wenn man gute Beziehungen hatte, trug man die allerneuesten Walenki. Wenn wir zum Raswod aufbrachen, sahen wir in all den Lumpen, die wir trugen, wie plumpe, dicke Kugeln aus. Und doch fanden die Frauen dank eines phantasievollen geknoteten Schals, der Kubanka108, die leicht kokett aufgesetzt wurde, und der sorgfältig auf dem Rücken kalligraphierten Nummer, sie seien nach der letzten Mode gekleidet. Im Sommer, während der Hitzewellen, trugen wir Kleider und leichte, offene Schuhe – wir kamen uns fast wie Stilikonen vor. In einem dieser Sommer kaufte der Offizier, der uns versorgte, ein sehr fröhlicher Kerl, der an der Front gekämpft hatte (das waren immer die besseren Jungs), für diese zweitausend Frauen Dutzende Rollen Perkal109 in allen möglichen Farben. Den höheren Instanzen gegenüber erklärte er, nirgendwo genügend Stoff in einer Farbe bekommen zu haben. Obgleich die Schneiderinnen die Kleider nach einem festgelegten Muster nähten, konnte man den Schnitt noch anpassen und sogar die Farbe wählen. Bei der nächsten Inspektion erschienen wir vor den verblüfften Lagerleitern wie eine blühende Blumenwiese.
Die allgemeinen Lager waren »koedukativ«, und trotz der Anwesenheit der Urki war das Leben dort leichter. Im Spezlag waren Männer und Frauen hingegen strikt voneinander getrennt, aber wie immer herrschte dort Chaos und fehlte es an Vorbereitung: Die Japaner waren gerade erst abgezogen, die gesamte Lagerorganisation war neu, und daher waren wir in den ersten acht Monaten noch mit den Männern zusammen inhaftiert. Die getrennten Bereiche für Frauen und Männer wurden wohl erst im April eingerichtet, nachdem der Bau einer großen Trennmauer aus Lehmziegeln abgeschlossen war. Das Hospital stand auf der anderen Seite. Diese andere Zone war ohnehin größer. Unsere Frauenzone erschien uns anfangs zu eng, zu gedrängt, vor allem im Vergleich zu den großen Lagern im Norden. Die Baracken standen parallel in zwei Reihen und schienen so eine Straße zu bilden. Und dahinter, etwas links von ihnen, befanden sich die verbotene Zone und die Trennmauer. Rechts von den Baracken lag eine große Freifläche, wo man eine Küche, ein Versammlungshaus, einen Lagerraum für persönliche Gegenstände und eine Wäscherei baute. Es gab auch einen nicht allzu großen Streifen, der als Garten durchgehen konnte und in dem einige Kürbisse, Melonen, Gurken und Tomaten für die Patienten des Hospitals angepflanzt wurden. Ich habe es nie geschafft, irgendetwas zu essen, was auf diesem Stück Land gewachsen war.
Es gab genau genommen ein einziges angenehmes Fleckchen in diesem Lager. Direkt neben dem Garten wurden Lehmziegel produziert. Die Seitenränder der ausgehobenen Gruben, die in diesem Klima immer trocken waren, eigneten sich hervorragend, um bequem darauf zu sitzen. Im Rücken hatte man ganze Stapel ordentlich aufgeschichteter Lehmziegel, die zum Trocknen in der Sonne lagen. Die Aussicht: der kleine Grünstreifen des Gartens, der Stacheldraht und dahinter die endlose Steppe mit schemenhaften Berggipfeln irgendwo in der Ferne. Die Sonne ging hinter diesen Gipfeln unter. Man konnte den Blick nur schwer von der Steppe abwenden, die nur im Frühjahr ein klein wenig grün war, im Sommer aber von den ständigen Böen und Windstößen des Buran grau vor Staub und von der Sonne ausgedörrt und versengt war. Die Steppe war völlige Leere. Es gab natürlich niemanden, der in der Steppe stand und schrie, doch wenn doch jemand geschrien hätte, hätte es niemand hören können.
Über die K-W TSCH (Kulturno-Wospitatelnaja Tschast) hörte man nie etwas Gutes. Wie hätte es auch anders sein können, saßen dort doch die treuesten Anhänger des politischen Regimes, die Politruki110, Denunzianten und alle möglichen Lagerfieslinge zusammen. Immerhin aber gibt es in der K-W TSCH Zeitungen, ein Mensch muss schließlich wissen, was in der Welt vor sich geht. Es gibt auch eine Bibliothek. Die Sammlung kann als ziemlich seltsam bezeichnet werden: Man sieht, dass sie aus Schenkungen und einem Amalgam älterer Sammlungen besteht; daher finden sich hier lauter Bücher, die in der Gesellschaft nicht mehr im Umlauf sein dürfen. Hier bei uns werden sie von niemandem kontrolliert, und so gibt es Schriftsteller zu entdecken, über die der Bann ausgesprochen wurde, wie Aldanow, Mereschkowski und Jessenin (seine Gedichte standen damals auf der schwarzen Liste). Es gibt Gedichtausgaben von Bunin und Balmont. Manchmal kann man auch etwas von den großen russischen Klassikern finden. In Uchta vertiefte ich mich in Dostojewski, der in der freien Gesellschaft auch nicht allzu positiv gesehen wurde, und ich verschlang außerdem Gogol, Turgenjew, Korolenko und Mamin-Sibirjak. Sogar durch Gorki kämpfte ich mich hindurch. Die Bibliothek enthielt darüber hinaus einige Theaterstücke, die für die Laienspielgruppe bestimmt waren. Diese Stücke waren meine Lieblingslektüre und verschafften mir immer gute Laune. Sie drehten sich meist um die bedeutendsten Ereignisse der russischen Geschichte. Es ging entweder um irgendeinen Helden, der sich der Inthronisierung von Władysław IV.111 widersetzte, oder um den Rasin-Aufstand112, den Sieg über die französische Armee 1812 (weniger dank Kutusows Manövern113, sondern eher dank des Mutes einfacher Bauernsöhne), die Revolution oder den letzten Krieg. Die Russen waren stets die Sieger. Die anderen verloren immer wegen taktischer Manöver, und die Russen besaßen ein Monopol auf Edelmut, Heldentum und Weisheit. Die Polen wurden in diesen Stücken in der Regel als Schurken dargestellt, als schlaue Füchse, als elegante, aber charakterlose Gestalten, als Ausbeuter, als Herren, die hohe Schuhe mit Sporen trugen, und die dem treuen russischen Volk mit Peitschen zu Leibe rückten (wie wir aber wissen, waren Peitschen anderswo in Mode). Auf Grundlage dieser Lektüre ließe sich einiges über das Bild schreiben, das ein durchschnittlicher Moskauer von den Polen hatte, und nicht nur von den Polen. Das ist ein trauriger Umstand, denn diese Büchlein müssen in Bauern- und Arbeitervereinen weitverbreitet gewesen sein und einen primitiven und engstirnigen Nationalismus propagiert haben.
Die K-W TSCH bot auch ein Surrogat für Musik an, denn manchmal kam jemand und spielte Akkordeon und gelegentlich sogar Geige. In Uchta gab es einige ziemlich versierte Orchestergeiger. Sie bildeten ein großes Sinfonieorchester, das jeweils zur Hälfte aus Verbannten und Häftlingen bestand. Allerdings spielten sie nur außerhalb der Zone, im Stadttheater. Bei uns, im ersten OLP, traten sie höchstens ein- oder zweimal, an einem freien Tag und in einem überfüllten Saal, auf. Ihr Repertoire war eher als leicht zu bezeichnen und bestand hauptsächlich aus Opernouvertüren. Die K-W TSCH gründete zudem einen Chor, in dem viele Mitglied wurden. Es wurden auch Spektakel organisiert, die in der Regel aus einer Kombination aus Tanz, Chor und Solodarbietungen von ziemlich guten Sängern bestanden.
Das bringt mich zur Geschichte von Marina A., einer armenischen Frau in den Vierzigern und einer großartigen Mezzosopranistin. Sie war zusammen mit ihrem Mann 1941 verhaftet worden. Die beiden hatten sich geweigert, sich aus Moskau evakuieren zu lassen: Er war für die Fertigstellung irgendeines dringenden Bauprojekts verantwortlich und konnte das nicht aus der Ferne erledigen, und sie wollte bei ihrem Mann bleiben. Sie glaubten nicht, dass die Deutschen in die Hauptstadt einmarschieren würden. Und die Deutschen waren auch nicht einmarschiert. Dennoch beschuldigte man das Paar, sie hätten zu den Deutschen überlaufen wollen. Sie wurden zu fünfzehn bzw. zehn Jahren Haft verurteilt. Marina landete in Uchta. Es war Kriegszeit, eine fürchterliche Zeit. Die gefrorenen Leichen wurden möglichst sorgfältig zu Haufen aufgeschichtet; man wartete, bis die Erde auftaute, um sie begraben zu können. Im Lager grassierte die Pellagra. Marina wurde sofort zur allgemeinen Arbeit beordert. Ein ausdrückliches Verbot, irgendeine leichtere Arbeit zu verrichten, hing wie ein Mühlstein um ihren Hals. Sie erkrankte schwer, irgendein Nierenleiden, und landete im Hospital. Zufälligerweise stand das damals unter der Leitung von Aganes Alexandrowitsch. Die Armenier sind, wie alle nationalen Minderheiten, untereinander solidarisch. Unser Chefarzt behielt Marina so lange wie möglich im Hospital, bis sie auf dem Weg der Besserung war und wieder mehr oder weniger auf ihren Beinen stehen konnte. Der Krieg ging zu Ende, das Regime wurde gelockert. Marina bekam die Erlaubnis, in der Zone zu arbeiten, obwohl sie als arbeitsuntauglich galt. Und dann entdeckte jemand ihre Stimme – plötzlich wurde, wie von Zauberhand, alles anders. Das erst kurz zuvor wieder ins Leben gerufene Stadttheater in Uchta machte sich die Talente der Häftlinge begierig zunutze und erhielt unter anderem die Erlaubnis, Marina anzuwerben. Ich verwende das Wort »anwerben« und muss darüber ein wenig schmunzeln. Denn von einem Arbeitsvertrag, einer offiziellen Anstellung oder einer Bezahlung konnte natürlich keine Rede sein. Sie wurde einfach auf die Liste der Häftlinge gesetzt, die jeden Morgen mit einer Eskorte die Zone verließen, um sich auf den Weg zu den Proben im Stadttheater zu machen. Sie kamen gegen drei Uhr nachmittags zurück, viel früher als die anderen Brigaden. Sie aßen die garantierte Mindestportion Suppe und Haferflocken und verließen um fünf Uhr schon wieder die Zone, um zur Aufführung zurückzukehren: die Brigade der Künstler, Sänger, Musiker und Schauspieler. Ihre Verpflegung war miserabel, aber die freien Bürger hatten hinter den Kulissen immer etwas für sie herbeigeschmuggelt. Zum Personal des Theaters gehörten auch Exilanten und einige freie Bürger, die sich – man weiß nicht, warum – in dieser abgelegenen Stadt aufhielten. Nach einiger Zeit bekamen die Schauspieler sogar einen Passierschein. Von nun an durften sie die Zone auf eigene Faust verlassen und direkt zum Theater gehen. Traf man sie jedoch in anderen als den ihnen erlaubten Straßen an, büßten sie nicht nur den Passierschein ein, sondern wurden auch aus der privilegierten Brigade ausgeschlossen.
Die örtlichen Theaterbesucher wussten genau, wer ein Sek und wer ein freier Bürger war. Die Stadt war klein, jeder kannte jeden. Was aber nicht bedeutete, dass dort eine gemütliche Atmosphäre herrschte.
Irgendwann im Winter 1947 galt es unerwartete Gäste willkommen zu heißen. Sie waren nur auf der Durchreise durch unsere Stadt. Da der Weg aber lang und mühsam war, beschlossen die drei, doch Station zu machen, zumal ihr Auftrag darin bestand, mehrere regionale Theater zu inspizieren, und sie auch die Möglichkeit einer Opernaufführung in Workuta zu prüfen hatten. Einer der Herren war der Direktor eines großen Theaters in Moskau. Die anderen waren Beamte oder Sekretäre der Kulturabteilung des Zentralkomitees und des Ministeriums. An diesem Tag wurde ein Konzert zu Ehren von Tschaikowsky gegeben. Die Gäste nahmen im Zuschauerraum Platz, sie blieben inkognito. Das Konzert verlief ruhig: zuerst die Ouvertüre, dann die Musik zum Ballett, Solodarbietungen von Bässen und Tenören von nicht allzu hoher Qualität. Und dann kam der Moment, in dem Marina auftrat. Die drei klatschten so laut, dass sie die Aufmerksamkeit der anderen Zuschauer auf sich zogen. Nach der Aufführung begaben sie sich direkt in die Garderobe der Künstlerin.
Marina liebte es, diese Geschichte immer wieder zu erzählen. Sie hatte schon von der Bühne aus gesehen, wie diese Männer aufstanden und applaudierten, und sie war nicht überrascht, als die drei auf sie zukamen und sie mit Komplimenten überhäuften. »Was tun Sie hier, gnädige Frau? Warum vergeuden Sie Ihre Karriere in diesem abgelegenen Theater? Wir werden sofort einen Vertrag für das Bolschoitheater aufsetzen. Gnädige Frau, Sie sind besser als Obuchowa114! Es ist ein Verbrechen, dass Sie hier in so einem Nest sitzen!«
»Und was dann?«, fragte ich.
»Was dann? Nun, ich antwortete, dass ich einverstanden sei, sofern der Mann, der hinten stehe, das zulassen würde. Besagter Mann war der Hauptmann unserer Eskorte, der nicht ausreichend für Ordnung gesorgt und nicht bemerkt hatte, dass drei der freiesten aller freien Bürger in diesen für sie verbotenen Raum eingedrungen waren. Ihr hättet die Gesichter dieser Herrchen sehen sollen und wie eilig sie sich aus dem Staub machten. Und was noch hinzukommt: Sie taten das nicht nur eilig, sondern auch ängstlich. Was für eine Genugtuung das für mich war!«
Marina lachte darüber, ebenso wie ihre Freundinnen vom Theater, die Zeugen dieses Vorfalls gewesen waren. Dieses Vordringen hinter die Kulissen kam das Trio zunächst jedoch noch teuer zu stehen. Die Männer wurden zum Büro des Intendanten und später mit einem Lastwagen direkt zum Hauptquartier des örtlichen MWD-Kommandanten gebracht, denn in den Augen des Oper handelte es sich um einen unerlaubten Versuch, Kontakt zu einem Sek zu knüpfen. Dafür konnte man sogar zehn Jahre bekommen. Im Lager wurde anschließend über die Frage gestritten, ob sie noch am selben Tag oder doch erst am nächsten Tag freigelassen worden waren (schließlich war es bereits Nacht gewesen und somit schwierig, eine Verbindung mit Moskau herzustellen). Auf jeden Fall verließ das Trio unsere Region erst zwei Tage später. Das sagte zumindest der Theaterdirektor, der sie zum Bahnhof gebracht hatte. Geschieht ihnen recht, diesen Mistkerlen – nun wussten sie, in was für einem Land sie lebten und wie eine Haftstrafe schmeckte.
Es wurde gelacht, und gleichzeitig war eine gewisse Empörung zu spüren. Sie galt nicht den Menschen, die die Gäste empfangen hatten, sondern den Gästen selbst. Hatte es die Jahre 1935 und 1937 und die Kriegsjahre denn nicht gegeben? Was hatten sie sich denn gedacht? Dass sich jemand aus freien Stücken im Hohen Norden aufhielt? Und für wen wollten sie denn dort eine Oper aufführen? Für die Eskorte und die Wärter? Für die Tausenden von NKWDs, die in Workuta auf der anderen Seite des Stacheldrahts saßen und dort Hunderttausende Menschen im Auge behielten, die beste Art von Sowjetmenschen? Oder wie die russischen Frauen sie nannten: die wahren »Ideekommunisten«? Denn nur hier gab es die Kommunisten, die, ohne mit der Wimper zu zucken, bereit waren, ihre eigene Freiheit für die Idee zu opfern. Und so wuchs die Verbitterung.
Marina reagiert jedoch anders. Sie glaubt nicht an den Kommunismus, sie ist schließlich Armenierin, und sie ist in einer Villa ihres Vaters auf der Krim aufgewachsen. Er war selbst Musiker und Komponist, und nach seiner Tochter zu urteilen, muss er ein kultivierter, zivilisierter Mann gewesen sein. Sie empfindet keine Wut oder Bitterkeit, sondern lacht vor allem über die Absurdität der ganzen Situation. Über die Absurdität der Wirklichkeit, die hier eine symbolische Bedeutung bekommt. Denn bedeutete die Geste dieser Herren nicht, dass sie den Wert von Marinas Kunst anerkannten? Das taten sie gewiss. Hatten sie nicht gezeigt, wie sinnlos Marinas Aufenthalt an diesem abgelegenen Ort war und dass sie anderswo mehr von Nutzen gewesen wäre? Von Nutzen – und das gerade für die Nation, die sie verurteilt, fortgeschickt und all ihre Werte negiert hatte?! Aber so ergeht es allen: Jeder wird irgendwo an einen entlegenen Ort verpflanzt, und die oberen Chargen wissen genau, dass diese Verpflanzung keine Aussicht auf Erfolg hat, dass sie nichts anderes ist als die Zurückweisung von Millionen von Menschen, die in der Gesellschaft die größte Wertschätzung verdienen. Welche Nation beraubt sich in dieser Weise ihres eigenen Reichtums?
Marina findet die Naivität der Gäste amüsant. Sie haben sich selbst weisgemacht, dass sie zu so vielem fähig seien, sie gehören zur Oberschicht der Gesellschaft und entscheiden über die Kultur des ganzen Landes, doch gegen die einzige wirkliche Macht, das MWD, sind sie völlig machtlos. Es ist daher nicht erstaunlich, dass sie Angst bekamen, ein solches erstes Aufeinandertreffen erzeugt Angst. Und die Angst lebt noch stärker in den Herzen derer, die zwar schon wissen, aber noch nicht begreifen, was auf sie zukommen kann. Nur der Sek hat davor keine Angst mehr, denn er befindet sich bereits auf der anderen Seite der Grenze. Er hat die Initiation bereits miterlebt. Angst erregt vor allem das, was noch unbekannt ist. Marina zuckt mit den Schultern, als jemand sie fragt, ob die Gäste Mitleid mit ihr empfunden hätten. Nein, sie war es, die Mitleid mit ihnen empfand, denn sie durchlebten einen Moment des Schreckens, sie sahen sich plötzlich mit einer Gefahr konfrontiert, wenn auch nur für einen Moment. Sie war ihnen sogar dankbar, denn trotz der Demütigungen, denen wir hier tagtäglich ausgesetzt waren, fühlte sie sich für kurze Zeit wieder als Mensch. Das Komische ist, dass es just dieselben Lagerautoritäten waren, die dazu beigetragen hatten, dass Marina diesen Moment des Triumphes erleben konnte.
Einer der Wärter in der Eskorte ist übrigens ein Musikliebhaber. Wenn er einmal mit Marina allein unterwegs ist oder an der Tür ihrer Garderobe wartet, bringt er aufrichtig seine Bewunderung zum Ausdruck: »Du, Schönheit, du bist besser als alle, die dich verurteilt haben.« Diese Worte schmecken für sie wie ein moralischer Sieg.
Marina singt nicht gern vor den freien Bürgern. Doch das muss sie, zumindest wenn sie leben will. Sie singt jedoch gerne für uns, in der Zone. Nur wenige Male wurden solche Konzerte organisiert. Ich habe das in Erinnerung behalten, weil eines dieser Konzerte unter ungewöhnlichen Umständen stattfand. Marina war wieder krank. Abermals waren es die Nieren. Sie lag im Hospital auf der neunten Station und genoss die hingebungsvolle Pflege von Olga Chainowna, einer Krankenschwester und freundlichen Wolgadeutschen, die sich allen gegenüber herzlich verhielt. Ich besuchte sie gern abends, nach meiner Schicht, in einem kleinen Zimmerchen, in dem sie gemeinsam schliefen: die Kranke und die Krankenschwester. Dafür hatte sie von Aganes Alexandrowitsch eine Sondergenehmigung erhalten. Als Marina auf dem Weg der Besserung war, fing sie an, Deckchen mit Kreuzchen zu besticken (woher sie das Garn bekam, war ein Geheimnis), und sie erzählte von der Krim, von ihrem Vater, von ihrer Schwester, die Dichterin war und armenische Gedichte ins Russische übersetzte. Mehr als einmal lasen wir diese Gedichte, alte Gedichte im Stil der phantastischen orientalischen Märchen, voll zarter Poesie. Einmal kam auch Marta mit ihrem Akkordeon vorbei. Und dann versuchte Marina zu singen, zunächst leise, um die anderen Kranken nicht zu stören. Doch die Kranken hörten die Klänge des Akkordeons, und einige der gesünderen Kranken baten darum, die Tür zum Gang zu öffnen. Selbst die, die nicht mehr lange zu leben hatten, baten darum. Und so begann Marina, Lieder von Schubert und Mahler zu singen. Ich sehe es noch vor mir: der Gang voller kauernder Kranker in gelblichen, verwaschenen Pyjamahosen und -hemden, die grauen Gesichter mit tief liegenden Augen, die plötzlich durch die Tränen hindurch zu glänzen begannen.
Doch kehren wir zur K-W TSCH zurück. Nach Balqasch – als wir unser Versammlungshaus bereits ausgebaut hatten: ein großes Gebäude mit einem Theatersaal, einer Bühne und kleinen, aber ausreichend großen Kulissen, um den Bedürfnissen unserer Künstler zu genügen (Autodidakten von minderer Qualität, denn Persönlichkeiten vom Range Marinas gab es sonst keine). Dort organisierten wir an freien Tagen Bälle. Semjonowa spielte Akkordeon, und wir Frauen tanzten bis zum Umfallen. Semjonowa war eine Denunziantin, und jeder wusste das. Aber wir verziehen ihr diese Schwäche. Schließlich richtete sie kaum Schaden an, und in ihren Händen verwandelte sich ein Akkordeon in ein wahres Jazzorchester. Es wird sicher viele überraschen, dass wir immer noch Lust zum Tanzen hatten. Ja, wir hatten Lust. Und wie! Und wir liebten es, dabei zuzuschauen, wie Maschka Syrnewa sich an den Kosakentanz wagte oder wie Marijka die Lesginka tanzte.
Hinter den Kulissen hatte Olga Konstantinowna für sich ein Malatelier eingerichtet. Dort lag ein ganzer Stapel langer Bretter bereit. Olga kalligraphierte auf ihnen mit bunter Farbe die unterschiedlichsten erbaulichen Losungen. Eine Sammlung geeigneter Losungen wurde von einem Führer der K-W TSCH, einem freien Offizier, zur Verfügung gestellt. Ich vermute aber, dass auch Semjonowa einige für Olga erfand und dabei auf Gorki, Lenin und andere sowjetische Literatur zurückgriff. Olga war darüber hinaus für die »Ehrengalerie« zuständig, desgleichen für alle notwendigen Inschriften: Zutritt strengstens untersagt, Verbotene Zone und so weiter. Diese Beschriftungen mussten gut lesbar sein, auch von weitem. Wann immer sie eine Pause von diesen ambitionierten künstlerischen Aufgaben hatte, widmete sich unsere Malerin leidenschaftlich dem Malen von Porträts unserer Lagerleiter, ihrer Frauen und Kinder, der Wärter und der gesamten Lagerverwaltung. Jeder träumte von seinem eigenen Porträt. Für die, die nicht das Recht hatten, die Zone zu betreten, malte Konstantinowna ein Porträt nach einem Foto. Die Porträts hatten immer einen phantasievollen Hintergrund, der vom Auftraggeber gewählt worden war: Berge oder Felsen, manchmal auch das Meer oder etwas ganz anderes, etwa riesige Wolkenkratzer. Einige dieser Gemälde waren Familienporträts: Omas und Opas, Enkelkinder, der Soldatensohn mit all seinen Ehrenabzeichen. Wunderbare hingekleckste Werke, die mehr als einmal unsere Lachmuskeln reizten, der armen Olga aber ein zusätzliches Stück Brot oder eine Dose Karpfen einbrachten. Für kleine Landschaftsbilder, wie Olga sie manchmal mit wenigen Pinselstrichen zauberte, durfte dagegen keine Farbe verschwendet werden, und Olga versteckte sie lange Zeit hinter Regalen, als könnte sie sich nicht von ihnen trennen. Eines Tages wurden sie gefunden. Olga Konstantinowna musste zehn Tage in der Isolierzelle verbringen. Als sie wieder herauskroch, konnte sie sich kaum auf den Beinen halten und litt an einem schweren Herzleiden. Sie wäre sicherlich in die andere Welt hinübergegangen, wenn der Oberst – der sie gebeten hatte, ein Bild seiner Frau zu malen – nicht gewesen wäre. Sie wurde ins Hospital gebracht, und nachdem sie sich etwas erholt hatte, wurde sie streng ermahnt, nie wieder solche »Vorbereitungen zu Fluchtversuchen« zu treffen. Dann ließ man sie zwischen ihren Staffeleien und Regalen in Ruhe. Wie diese Landschaftsbilder mit ihren sanften Farben zur Flucht dienen sollten, war schleierhaft. Nahmen sie etwa an, dass Olga in dieser ausgelaugten Steppe zufällig auf einen Kasachen gestoßen war, der ein Gemälde kaufen wollte? Dass ein entflohener Häftling, der dazu verdammt war, Tausende von Kilometern zu Fuß in der Steppe zurückzulegen, dabei auch noch Leinwände und Bretter tragen könnte? Dass ein aus dem Lager entflohener Häftling – etwas, was übrigens einem Wunder gleichkäme und ein absolut unwirkliches Ereignis wäre – anstelle von Brot Gemälde mitnehmen würde? Vielleicht sahen sie in diesen Bildern einen Beweis für unsere Existenz, einen Hinweis darauf, wo sich das Lager befand? Ein solcher Hinweis müsste dann aber doch jemandem übergeben werden können, nur wem und wo? Aus Balqasch selbst sind die Engländer, die hier in den zwanziger Jahren die Minen und Metallfabriken errichtet haben, schon lange abgezogen. Nur noch eine Legende unter den alten Kasachen erinnert an die weiß gekleideten und Korkhelme tragenden Fremden. Die Stadt, die ich am Horizont sehen kann, wenn ich auf das Dach der Ziegelfabrik klettere, ist fast ausschließlich von Exilanten bewohnt. Und Exilanten dürfen sich ohne einen speziellen Pass in diesem riesigen Land nicht frei bewegen. Es gibt dort auch wirklich freie Bürger, sofern eine solche Bezeichnung hier überhaupt passend ist. Das sind die Leute, die das Sagen haben und die Kontrolle ausüben. Wer von ihnen würde mit einem Sek irgendeine Art von Beziehung eingehen wollen? Ihm ein Stück Brot geben, einen Brief für ihn aufgeben – das wäre gerade noch möglich. Mehr aber auch nicht. Der Oper befragte die arme Olga mehrere Stunden lang bis zur Erschöpfung und wollte immer wieder wissen, warum sie diese seltsamen Symbole gemalt habe, zu welchem Zweck, für wen, was sie damit ausdrücken wolle, wer mit ihr in diese Verschwörung verwickelt sei, wer zur Organisation gehöre. Er schien nicht begreifen zu können, dass ein Mensch aus dem Bedürfnis heraus malen kann, seinen Träumen und seiner Sehnsucht Ausdruck zu verleihen. Das ging über den Horizont des Oper hinaus.
Bei Olga Konstantinowna trifft man mitunter auch die Ärztin Maria Petrowna an. Sie ist eine ältere Frau, klein und zart, und sie geht leicht gebückt. Wie Olga leidet sie an Angina Pectoris, manchmal kann sie sich nur mit Mühe fortbewegen. Sie sitzt schon viele Jahre ein. Und wie Olga verbüßt sie nicht ihre erste Strafe. Es geht das Gerücht, dass die beiden Trotzkisten waren. Sie waren etwa zur selben Zeit verhaftet worden, kurz nach dem Sturz Trotzkis, als Stalin dazu überging, die Anhänger seines Rivalen zu liquidieren. Maria Petrowna musste zu diesem Zeitpunkt sieben Jahre absitzen, Olga fünf Jahre. Eine Handvoll Vorkriegsjahre konnten sie dann in Frieden und Freiheit verbringen, doch sobald die Deutschen in Russland einfielen, wurden alle »gefährlichen Elemente« peinlich genau aus dem öffentlichen Leben eliminiert, und Maria Petrowna fand sich erneut für die nächsten fünfzehn Jahre in einem Lager wieder, ohne Prozess, ohne Urteil, allein aufgrund eines Sonderbeschlusses. Ähnlich erging es Olga Konstantinowna, allenfalls etwas später und etwas kürzer. Die Anklagepunkte? Es gab keine. Ich fragte beide Frauen, ob sie sich als Trotzkisten betrachteten. Sie zuckten mit den Schultern. Wie sich herausstellte, war ein Verwandter, dem Maria Petrowna sehr zugetan war, Mitglied einer trotzkistischen Gruppe. Das reichte aus, um einen Menschen einundzwanzig Jahre lang in Haft zu halten.
Ich sehe mich um und frage mich: Wofür sitzen all diese Frauen ein? Wir, die polnischen Frauen, wurden wegen der AK verurteilt, das ist klar. Das galt auch für die litauischen und estnischen Frauen, die ähnliche, aber weniger umfangreiche Widerstandsorganisationen hatten. Die ukrainischen Frauen wiederum waren Banderisten115. Aber was bedeutet das eigentlich: ein Banderist zu sein? Über mir schläft Orysia. Sie stammt aus der Gegend von Stanislaw. Einer ihrer Brüder war bei der AK, der andere gehörte zu Bandera. Sie kamen nachts zu ihr, sowohl der eine als auch der andere, und sie gab ihnen Brot und Speck. Sie liebte sie alle beide. Beide Brüder starben bei einem Scharmützel, vielleicht war es sogar Brudermord. Und dann kamen die Russen und ließen den Rest der Familie für fünfundzwanzig Jahre einsperren.
Das Schicksal jeder einzelnen dieser Frauen könnte die Vorlage für einen Roman abgeben. Aber wir sind bereits abgestumpft, und uns überrascht nichts mehr, abgesehen von etwas wirklich Außergewöhnlichem, das anderen noch nicht passiert ist. Hinzu kommt, dass eigentlich niemand wirklich etwas darüber erzählt, was er mitgemacht hat. Manchmal kann man die Geschichte eines Menschen anhand seiner abgebrochenen Sätze nachvollziehen. Die Geschichten wiederholen sich, was nicht bedeutet, dass sie dadurch ihre tragische Bedeutung verlieren. Aber so ist es nun einmal: Der Tod eines einzigen Menschen trifft uns härter als der Tod von Tausenden, und das Unglück eines Menschen, den wir kennen und der uns etwas bedeutet, trifft uns härter als das Unglück ganzer Nationen. Um sich etwas zu Herzen zu nehmen, muss man auf eine individuelle Gegebenheit stoßen. In der Masse beginnt alles zu zerfließen, das Elend bekommt etwas Monotones, etwas Gewöhnliches, etwas, was einen nicht mehr berührt und nicht mehr abschreckt: Das Unglück wird zur Alltäglichkeit. Wir stehen den Erfahrungen der anderen gleichgültig gegenüber, und wir erkundigen uns nicht mehr danach, nicht nur weil im Lager Diskretion geboten ist, sondern auch aus mangelndem Interesse.
Gleichgültigkeit. Wir alle werden immer härter, immer unfähiger zu Mitgefühl. Auf Weinen reagieren wir mit Ungeduld. Auf Klagen reagieren wir mit einem Schulterzucken. Von dem verzweifelten Blick eines anderen wenden wir uns ab. Wir fliehen vor denen, die in traurigen Erinnerungen schwelgen. Wir gehen lieber zur K-W TSCH, um ein bisschen zu tanzen. Wie sonst hätten wir diese Tage, diese Wochen, diese Jahre überleben können?
Allzu oft bin ich auf unsere Lagerdenunzianten gestoßen, und mehr als einmal erwiesen sie sich als intelligente, kultivierte Menschen. Allzu oft überkam mich dann das Erstaunen: Warum machten sie das? Einige, so scheint es, denunzierten aus patriotischem Pflichtgefühl gegenüber der Sowjetunion. Die Loyalsten unter den Fanatikern hatten einen so unerschütterlichen Glauben an das System, dass sie – blind für die Tatsachen, für ihr eigenes Schicksal, für das Schicksal der anderen, für die ganze Realität, die sie selbst miterlebten – der Überzeugung waren, es immer nur mit einer Abweichung zu tun zu haben. Ich persönlich glaube, sie rechneten eher mit Gnade, mit Strafminderung, mit einem Akt der Barmherzigkeit, der es ihnen ermöglichen würde, die eigene Haut zu retten. Sie mussten sich jedoch nur einmal umschauen, um zu begreifen, dass es keine Befreiung geben würde. Warum also sollte man sich dann so besudeln und sich derart mit Schuld beladen? Lag das an der typischen russischen Unterwürfigkeit gegenüber der Macht?
Es gab einige, die ihre Seele für leichtere Arbeit, eine zusätzliche Ration und eine Schachtel Zigaretten verkauften. Hunger und ein schwacher Charakter machten sie zu Denunzianten. Es war eine unkluge Entscheidung. In einem großen Lager konnte sie der plötzliche Tod unter dem Hackbeil eines Urka ereilen. In einem Spezlag verlor der entlarvte Denunziant seine Privilegien und wurde zur härtesten Arbeit geschickt. Denunzianten ließ man also nur einen Moment lang zu Atem kommen. Aber die menschliche Schwäche ist eine nicht zu überwindende Kraft.
Genügt das alles als Erklärung? Denunzianten sind schließlich überall zu finden. Sie umgeben uns auch in unserem normalen Leben. Hier, in diesem Augenblick, während ich dies schreibe, wimmelt es von diesem Gelichter. Es gibt immer mehr solcher kleinen und großen Schufte, Menschen, für die das Denunzieren eine Leidenschaft oder eine Berufung ist, Folterknechte und Sadisten. Wie viele Menschen befinden sich in einem solchen moralischen Morast? Sicherlich viel mehr, als im Lager waren. Doch ich habe das Gefühl, dass ich damals trotz allem von einer reinen Atmosphäre umgeben war. Der gefallene Mensch kam durch einen irrationalen Glauben daran zu Fall, dass die Freiheit seine Belohnung sein würde, oder durch Schwäche, einen Mangel an Willenskraft, dem täglichen Trott die Stirn zu bieten. Er suchte Trost, allerdings ungeschickt, und er verschätzte sich, was die möglichen Folgen anbetraf, doch er war ein Ertrinkender auf der Suche nach Rettung. Die Denunzianten waren keine Zyniker, auch wenn man sie durchaus als Verräter an der Lagergemeinschaft bezeichnen kann. Sie waren Menschen, an deren Herzen und Schamgefühl das Unglück genagt hatte – oder die Angst davor. Sie waren nicht selbstgefällig, sondern fürchteten sich davor, entlarvt zu werden, und diese Entlarvung ließ nie lange auf sich warten.
Oh, glauben Sie nicht, dass ein Denunziant in mir Mitleid zu erwecken begann und ich bereit war, ihm im christlichen Sinne zu vergeben. Nein, es hat mehr mit einer Gewöhnung an das Böse zu tun, mit einer Gewöhnung an das, was eigentlich Abscheu hervorrufen sollte, mit einer Gleichgültigkeit gegenüber Gemeinheit und Elend. Es gibt zu viel Boshaftigkeit, und wir stumpfen ihr gegenüber irgendwann ab. Sie beeindruckt uns nicht mehr und kommt uns schon nicht mehr so schrecklich vor. Heute sehe ich besser als damals, dass diese Lagerplage wirklich eine Plage war, dass wir alle langsam gegen das Böse immun wurden und nicht mehr darauf reagierten.
Es genügt, sich heute umzusehen. Die Spione von heute kämpfen nicht um ihr Leben – es gibt also keine Rechtfertigung für das, was sie tun. Sie sind in der Regel kleine Wichte, die unter einem Minderwertigkeitskomplex leiden und gleichzeitig zu feige sind, offen zu agieren. Sie ziehen es vor, im Verborgenen zu bleiben. Sie ziehen eine stille Genugtuung aus der Macht, die sie über andere haben, über andere, die meist besser sind als sie, die Respekt verdienen und als Autoritäten in der Gesellschaft anerkannt sind. Wie angenehm ist es, gerade diesen Menschen ein Schnippchen zu schlagen, ihr Leben von der eigenen Willkür, diesem oder jenem trivialen kleinen Willen abhängig zu machen. Wie angenehm ist es, sich straflos zu wähnen, weil man von höherer Hand stets beschützt wird, und sich nützlich zu fühlen, weil man eine Rolle ausfüllt, die andere nicht übernehmen wollen. Wie angenehm ist es, in aller Ruhe Anschuldigungen und Verleumdungen zu verbreiten, repressive Praktiken zu nutzen und über fast unbegrenzte Möglichkeiten zu verfügen. Das Opfer weiß nicht – vielleicht hat es nicht einmal den geringsten Verdacht –, wer ihm eine Falle gestellt hat. Seinem Opfer von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten, es offen anzugreifen, dazu hat der Denunziant weder die Lust noch den Mut. Erst wenn sein Opfer schon wehrlos und der Gnade und Gnadenlosigkeit anderer völlig ausgeliefert ist, kommt er und versetzt ihm einen Fußtritt.
Wir sind überrascht, dass es so viele von ihnen gibt. Dabei handelt sich um ein natürliches Phänomen. In jeder Gesellschaft gibt es Feiglinge und Menschen, die sich von der Macht angezogen fühlen. Eine gesunde Gesellschaft versucht solchen Menschen in ihrem Handeln Grenzen zu setzen. Doch eine totalitäre Macht baut ihren Repressionsapparat auf ihnen auf und bietet diesen Widerlingen gerade besonders großartige Perspektiven. Ein stiller Appell der Machthaber genügt, damit solche Spinnen aus allen Ecken hervorkriechen, ihre Netze weben und ihre Beute ersticken. In ihre Netze verstricken sie schließlich sogar die Macht, aus der sie selbst hervorgehen.
Diese Situation an sich führt zu einer Zunahme von Operis und Denunzianten, von Informanten und Geheimagenten. Wer verpflichtet ist, mit ihnen mitzuschwimmen, muss sich einen Panzer der Gleichgültigkeit zulegen. Und tragen wir heute nicht alle einen solchen Panzer? Warum sollte man sich also über den armen Sek wundern? Wie hätte sich der Sek, der gegen seinen Willen in diesem Sammelbecken allen Übels gelandet ist, sonst verhalten sollen? Wer kein sauberes Wasser mehr sieht, gewöhnt sich allmählich an den Gestank. So stört es uns auch nicht, dass Semjonowa denunziert, da sie doch so gut Akkordeon spielt.
Und so verlieren wir nach und nach unsere Seele. Tag für Tag sickert mit dem Hunger, mit der Arbeit, die unsere Kräfte übersteigt, und mit der Hoffnungslosigkeit der Zeit etwas in uns ein, Tropfen für Tropfen, etwas, was beim Namen genannt werden muss. Was in uns einsickert, ist die Akzeptanz des Bösen. Wir können uns nicht mehr darum kümmern, wir zucken dabei nur noch mit den Schultern. Ein rechtschaffener Mensch, auf den man vertrauen kann – nur das würde uns überraschen! Das ist es also, wozu die sowjetische Umerziehung führt, die düster stimmende Bedrohung des täglichen Lebens im Lager.