Die Russen lieben das Theater sehr. Sie haben hervorragende Regisseure und Schauspieler sowie viele talentierte Bühnenbildner. Sie haben großartige Theoretiker wie Meyerhold136 oder Stanislawski, was sie nicht davon abhielt, Meyerhold in ein Lager zu werfen. Stanislawski schätzten sie gleichwohl sehr, vor allem wegen seiner Theorie über die »Kunst des Erlebens«137, die sie weiter perfektioniert haben – und das nicht nur auf der Bühne.
Ich habe diese Aufführungen schon mehrfach kommentiert, in denen Regisseure verschiedener Ministerien und vor allem des NKWD ihr künstlerisches Handwerk auf ganze Massen anwandten und fast wie Eisenstein auf seiner berühmten Treppe in Odessa138 unvergessliche Bilder kreierten, die so akribisch bis zur Perfektion ausgearbeitet waren, als würden sie Kunst um der Kunst willen schaffen. Die Theaterstücke waren unterschiedlicher Art und ad hoc verfasst. Sie wurden nach den Prinzipien der Commedia dell’Arte gespielt, je nach Nachfrage und Bedarf, auch wenn sie mitunter lang und sorgfältig vorbereitet worden waren. Manchmal handelte es sich um kleine Kammerspiele, bei denen nur wenige Personen auf der Bühne standen und Zeit und Raum eine Einheit bildeten. Ein anderes Mal handelte es sich um große Spektakel, an denen hundert oder gar tausend Schauspieler teilnahmen. Ihnen allen hatte man präzise Rollen zugewiesen, aber es kam auch vor, dass die Schauspieler enttäuschten, sich von der Macht des Regisseurs zu befreien versuchten und gegen den Geist des Kunstwerks angingen. Dann nahm der Regisseur seine Maske ab. Wer nicht spielen wollte, wurde auf abscheuliche Weise bestraft.
Die Russen sind »Soz-Realisten«. Die Vorsilbe soz ist äußerst wichtig. Schließlich geht es in der Kunst nicht um Realismus im üblichen Sinne. Die Kunst dient nicht dazu, die armselige Realität hinter den Kulissen mit ihrer Angst, ihren Tränen und ihrem täglichen Grau in Grau, kurzum, die gesamte Existenz der armen und unterwürfigen Sowjetbürger darzustellen. Soz verleiht den Ereignissen ihre Relevanz, den Menschen ihre Erhabenheit und den Bildern ihre Großartigkeit. Auf der Bühne bewegen wir uns mit einer gewissen Grandeur und sprechen mit Pathos. Alles wird dort kraftvoller, ganz im Einklang mit der großen Idee. Hinter den Kulissen rennt man, auf der Bühne schreitet man voran. Hinter den Kulissen geht man geradewegs auf ein konkretes Ziel zu, auf der Bühne wird ein Mensch von langfristigen Plänen bewegt, die über das Individuum hinausgehen. Hinter den Kulissen lieben sich die Menschen oder mögen sich einfach nur, hier dagegen gehen sie ganz in der Gemeinschaft auf. Hinter den Kulissen klagen die Menschen über Armut, hier aber tosen »die Jahre des Wachstums und des Wohlstands, des ökonomischen und kulturellen Aufbruchs«. Dort herrschen Unterdrückung und Einschränkungen, hier »die Umerziehung des Menschen im Geiste des Sozialismus«. Wie gut haben wir schon in dieses Spiel hineingefunden, wie gut haben wir es uns zu eigen gemacht, wie ungeduldig werden wir mit denen, die das Spiel nicht zu spielen vermögen, die sich hölzern und ohne jede Eleganz auf der Bühne bewegen!
Die gesellschaftlichen Rollen zeichnen sich klar und eindeutig ab. Ein guter Soldat hat immer eine zusätzliche Kugel für sich selbst, für den Fall, dass er umzingelt wird. Er würde aus seiner Rolle fallen, wenn er diese Kugel nicht zum richtigen Zeitpunkt verwenden würde. Ein guter Verschwörer, ein Held der Sowjetunion, ein Partisan, der von den Deutschen gefangen genommen wird, muss nach einem Leidensweg sterben. Das sind die Szenarien. Was passiert mit den Menschen, die ihren Text vergessen? Für die gibt es zum Glück noch den Gulag, der ihrem Gedächtnis auf die Sprünge hilft.
Ich habe viele solcher Inszenierungen gesehen, allzu oft war ich Zeugin davon. Einige kenne ich nur vom Hörensagen. Ist das alles wirklich geschehen, wurden die Tatsachen getreu wiedergegeben? Ich weiß es nicht. Wer seine Geschichten erzählte, tat dies mit einer eigentümlichen Andacht, als handelte es sich um eine Beichte. Denn wie schon erwähnt, teilte in den Lagern niemand mit anderen, was er erlebt hatte, man erzählte nicht, was einen erwartete, wie man verhaftet worden war, wie die eigene Lebensgeschichte aussah. Meist genügte das Jahr der Verhaftung oder der Artikel. Der Erlass vom 7. August 1932, und man wusste genug: Man wusste, dass jemand seinen Hof aller Wahrscheinlichkeit nach zu eifrig bewirtschaftet oder ein paar Getreidehalme zu viel von seinem Feld mitgenommen hatte. Das Dekret von 1934 über den Verrat am Vaterland: eine ernstere Angelegenheit, vielleicht hatte der Betreffende Kritik an der Kollektivierung geübt. Ab 1936 begann der Kirowski Potok139. 1937 setzte dann wirklich die Große Säuberung ein. Und so weiter.
Entschied sich dennoch jemand, seine Geschichte zu erzählen, dann musste er in seinem Herzen ein großes Bedürfnis danach verspüren. Ich spreche hier natürlich von den Russen oder, weiter gefasst, von den Bürgern des glücklichsten Landes der Welt. Das Schicksal der Polen, Litauer oder Ukrainer war gemeinhin fast identisch, die Inszenierung folgte den gleichen Prinzipien. Sie beginnt mit einer schönen sowjetisch-polnischen Regelung, ihr folgen die Umzingelung, die Einkreisung, die Entwaffnung und die Verhaftung und so weiter. Es handelte sich um ein bekanntes dramatisches Muster, aber das Problem war, dass wir damals noch nicht gelernt hatten, wie wir es korrekt spielen sollten, und statt unseren Befreiern Blumen zu bringen, versuchten wir Widerstand zu leisten. Der Theaterproduzent, der über unser Verhalten verwundert und über unsere Unwissenheit fassungslos war, nahm seine Maske ab und schickte uns an diesen Ort, an dem schlechte Schauspieler wieder zu sich selbst finden sollten: den Gulag.
Über ein Theaterstück muss ich allerdings mehr erzählen. Es handelt sich um eine Szene, in der sich ein polnisches Drama abspielte – die Polen waren die diensthabenden Schauspieler. Die Geschichte dieser Begebenheit war kurz und wurde mir in fieberhafter Eile mitgeteilt. Wir hatten so wenig Zeit und einander so viel zu erzählen! Mein Cousin Stefan wurde einen Monat vor mir verhaftet. Er wurde nach allen Regeln der NKWD-Kunst gequält und schikaniert. Er verbrachte lange Zeit in der Isolierzelle und zog sich eine schwere Lungenentzündung zu. Dennoch wurde der Familie nicht erlaubt, ihm auch nur ein einziges Päckchen zu schicken. Auf ihre Frage, wo er sich befinde, hieß es ein ums andere Mal: »Wir wissen von nichts. Hier ist er nicht.« Als er im Dezember von seinem ersten in sein zweites Gefängnis verlegt wurde, lief er bei eisigen Temperaturen von bis zu 20 Grad unter null in denselben Sommersachen, in denen er abgeholt worden war, durch die Straßen: mit Sommerschuhen, nackten Beinen, kurzen Hosen und einem völlig zerrissenen Hemd. Auf den Kopf hatte er ein Taschentuch gelegt – mit Knöpfen an den vier Ecken –, als ob er am Strand gelegen hätte und seinen Kopf vor der Sonne schützen wollte. Das alles erzählte er mir, völlig zerlumpt, als wir uns kurz auf der Gefängnistoilette sehen konnten. Ich hatte mich freiwillig gemeldet, um dort den Boden zu schrubben, und er trug gemeinsam mit einem Freund die Parascha aus seiner Zelle. Damals hörte ich zum ersten Mal etwas über den Prozess gegen Okulicki und seine Kameraden.140 Mein Cousin war als Zeuge mit dem Flugzeug nach Moskau gebracht worden. Man hatte ihm dafür extra anständige Kleidung gegeben, sie ihm aber bei seiner Rückkehr im Gefängnis sofort wieder abgenommen, als wäre es ein Theaterkostüm – zurück in seine Lumpen. Ganze drei Tage lang saß er vor dem Saal, in dem die Anhörung stattfand, und wartete auf den Moment, in dem er zu Wort kommen sollte, um die wahre Version der Tatsachen zu schildern. Doch dazu kam es nicht. Man sah letztlich davon ab, die vielen angekarrten Zeugen tatsächlich aufzurufen. Sie waren nicht richtig vorbereitet worden. Sie hatten sich noch nicht ausreichend in die Materie vertieft und hätten womöglich überflüssige Dinge erzählt. »Das war kein Prozess«, flüsterte er. Es war eine kriminelle Inszenierung, Theater für Ausländer, der Anschein von Legalität, hinter dem sich die brutale Gesetzlosigkeit verbarg. Ich bin mir heute nicht mehr sicher, welche Worte er damals gebrauchte, aber an ihre Bedeutung erinnere ich mich noch gut. Er war völlig erschüttert von der Schamlosigkeit internationalen Ausmaßes, von der Verlogenheit, die gigantische Proportionen annahm, von den Lügen, die auf zynische Weise und mit einem Gefühl absoluter Unantastbarkeit verkündet wurden. Wenn die Russen es sich leisten konnten, eine solche Farce zu veranstalten, ohne dass dies einen weltweiten Protest auslöste, welche Zukunft konnte man sich dann für uns noch ausmalen? Wir waren völlig isoliert: keine Zeitungen, kein Radio; Nachrichten sickerten nur über Häftlinge zu uns durch, die erst kürzlich verhaftet worden waren. Berichte verbreiteten sich im Gefängnis schnell, aber sie mussten mit großer Vorsicht behandelt werden. Sie durften nicht als Gewissheit betrachtet werden. Deshalb erwarteten wir weiterhin, dass sich etwas verändern würde. Man konnte Menschen doch nicht wegen ihrer Aufopferung im Kampf gegen die Deutschen ins Gefängnis stecken und verurteilen! An diese naive Annahme klammerten wir uns trotz aller Erfahrungen, die wir bei Verhören und vor Gericht gemacht hatten, sehr lange fest. Doch mit dem Prozess gegen Okulicki verflüchtigten sich alle unsere Illusionen. Mein Cousin und ich standen nebeneinander und unterhielten uns über die ausgewaschene Parascha hinweg, angetrieben von dem ungeduldigen Wachmann, der dieses Treffen gegen eine Schachtel Zigaretten ermöglicht hatte. Aus meinem Cousin brach alles heraus: wie sie ihn zu brechen versucht hatten, zu welchen Aussagen sie ihn gezwungen hatten und was er selbst während des Verhörs auf keinen Fall erzählen wollte. Aber woher sollte er wissen, ob andere unter dem Druck nicht eingeknickt waren und eine ähnliche Rolle gespielt hatten wie die Zeugen in den Prozessen von 1937? Er wusste nicht, was die Angeklagten alles erzählten und wie sie sich verhielten. Er ging davon aus, dass sie ihre Würde zu wahren wussten. Er war nicht mit allen Angeklagten vertraut; er kannte auch die anderen Zeugen nicht außer denen, die mit ihm im selben Flugzeug gesessen hatten. Er nannte eine ganze Reihe von Namen. Vor einigen warnte er mich – sie erschienen ihm verdächtig, obgleich er sich irren konnte. Auf Niedźwiadeks141 zehnjährige Haftstrafe reagierte er – er, der selbst fünfundzwanzig Jahre bekommen hatte – bloß mit einem Schulterzucken. So funktioniere das System nun einmal: Wer weiter unten stehe, werde in der Regel schlechter behandelt und härter bestraft als seine Anführer. Denn internationale Organisationen falle es schließlich leichter, sich für eine Führungspersönlichkeit oder einen bekannten Intellektuellen einzusetzen, doch beim Unglück Hunderttausender einfacher Menschen gingen sie einfach zur Tagesordnung über. Das verhieß nicht viel Gutes und war ein Vorbote des Elends. Wir umarmten uns zum Abschied und sahen uns nie wieder.
Nachdem ich in meine Zelle zurückgekehrt war, veranstalteten wir eine Sammelaktion für meinen Cousin. Jeder von uns gab, was er entbehren konnte: ein Handtuch, Strümpfe, einen Schal, ein Hemd, einen Pullover, um ihn wenigstens etwas besser zu kleiden. Mit Hilfe eines bestochenen Wachmanns gelang es uns auch, das Päckchen tatsächlich zu verschicken. Aber Stefans Gesundheit war schon durch die Isolierzelle ruiniert. Er starb irgendwo in den Lagern um Archangelsk. Offenbar hatte er sich erneut eine Lungenentzündung zugezogen – beim zweiten Mal wurde ihm die Krankheit zum Verhängnis.
Ich erinnere mich noch an andere Berichte über den Prozess der Sechzehn, vielleicht sogar genauere, da meine Gesprächspartner tatsächlich dabei gewesen waren. Sie erzählten mir, wie diese ganze Farce ausgesehen hatte, wie viele ausländische Journalisten anwesend waren, wie einer von ihnen einen der Gefangenen auf der Anklagebank angesprochen und ihm und den anderen, die dort auch noch saßen, versichert hatte, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie friedlich in ihr Land zurückkehren könnten. Wie viel Wahrheit in diesen Geschichten steckte und wie viel Verzerrung, lässt sich heute schwer sagen. Aber als ich mir das anhörte, musste ich an die Worte meines Cousins denken. Auf die Frage, was er von der westlichen Reaktion halte, antwortete er: »Weißt du, eine kleine Lüge kommt immer an die Oberfläche. Doch eine große Lüge trägt eine enorme Überzeugungskraft in sich. Es ist leichter, daran zu glauben, gerade weil es so schwer vorstellbar ist, dass offizielle Stellen zu solch einer unerhörten Mystifizierung übergehen. Der Westen ist fest davon überzeugt, dass die Russen recht haben. Und überdies: Ist Polen für den Westen heute noch etwas anderes als eine innere Angelegenheit der Sowjetunion?«
Ich bringe dieses Gespräch mit meinem Cousin nochmals in Erinnerung, weil es für mich, und übrigens nicht nur für mich, eine wichtige Phase in meiner politischen Bildung darstellte. Wir waren noch im Land, und trotz des Gerichtsverfahrens schwelte noch immer ein Fünkchen Hoffnung in uns. Diese Hoffnung ist mit diesem Gespräch völlig erloschen.
Die Lüge. Manchmal überfällt mich das Erstaunen darüber, dass sich Menschen in derart konstruierte, schlichtweg überflüssige, im Grunde für niemanden notwendige Inszenierungen flüchten. Schon während des Verhörs im Gefängnis wurde eine neue Gefangene in unsere Zelle gepfercht. Es gab keinen Strom. Auf den Gängen brannten ein paar kleine Kerzen. In der Zelle war es stockfinster. Die verängstigte Frau musste sich dort hinsetzen, wo ein wenig Platz war, natürlich auf den Boden. Sie fragte ständig, wo sie sei, in welcher Stadt sie sich befinde. Konnte der Schock sie so verwirrt haben? Sie musste doch wissen, dass sie sich in einem Gebäude befand, das alle Einwohner von Vilnius sehr gut kannten. Aber sie fragte weiter nach dem Namen der Stadt und war überrascht, dass wir Polnisch sprachen.
»Seid ihr denn keine Tschechen?«, fragte sie. »Sind wir nicht in Prag?«
»Prag? Prag, wie kommst du denn darauf?«
»Wien vielleicht?«, fragte sie erneut.
Letztlich klärte sich die Sache auf. Die unglückliche Frau war eine Jüdin, die dank der Hilfe von Bauern der Vernichtung entkommen war. Aber anscheinend hatte es in der Stadt kürzlich einen Aufruf gegeben: Juden mit Blutsverwandten in Palästina konnten sich anmelden. Die Reise ins Heilige Land war teuer, aber ihre Familie (relativ klein: ein Ehemann und zwei Kinder, die wie durch ein Wunder alle noch am Leben waren) beschloss, die Reise zu unternehmen. Sie verschuldeten sich, verkauften ihren gesamten Besitz, tauschten ihre letzten Goldrubel ein und meldeten sich zu der Reise an. Abends vor dem Hotel wurde die ganze Emigrantengruppe von adrett wirkenden Organisatoren in Taxis gesetzt und zum Flughafen gebracht. Das Flugzeug wartete bereits. Die Zeit war gekommen. Sie stiegen ein, und kurz darauf befanden sie sich in der Luft. Sie flogen fast zwei Stunden. Dann wurde ihnen mitgeteilt, dass sie in irgendeiner Stadt landen würden, um aufzutanken. Nach der Landung stellten sie zu ihrer Überraschung fest, dass auf dem Flughafen kein Licht brannte. In Wirklichkeit wartete dort ein Lastwagen auf sie, dessen Ladefläche mit einer Plane abgedeckt war. Es hieß, sie sollten für die Nacht in ein Hotel gebracht werden. Sie waren ein wenig beunruhigt über die Art, wie sie behandelt wurden, doch man versicherte ihnen, dass das Hotel, obwohl die Stadt während des Krieges sehr gelitten habe, genügend Komfort bieten werde. Die hermetisch geschlossene Plane verhinderte, dass sie sich überhaupt orientieren konnten. Sie ahnten nicht das Geringste, denn wer hätte schon den Irrsinn vermuten können, dass sie fast zwei Stunden lang über demselben Flughafen im Kreis geflogen waren. Als sie in einem kleinen Innenhof ankamen und in ein Büro gebracht wurden, das voller Mitarbeiter des NKWD war, begriffen sie nicht, wie ihnen geschah. Nach einer eingehenden individuellen Inspektion wurde ihnen das Geld und das wenige, was sie noch bei sich trugen, abgenommen. Dann wurde unsere Mitgefangene von ihren weinenden, verängstigten Kindern und ihrem Mann getrennt. Und so war sie in unserer Zelle gelandet, verstört, unfähig, wieder zu sich zu kommen, unfähig, unseren Worten und der Tatsache, dass sie sich immer noch in derselben Stadt befand, Glauben zu schenken. Am nächsten Morgen stellten wir sie ans Fenster, damit sie sich selbst davon überzeugen konnte. Ein Blick auf die markante Silhouette einer nicht allzu weit entfernten Kirche genügte, um ihr jegliche Kraft zu rauben. Jetzt konnte sie nur noch an ihre Kinder denken. Den ganzen Krieg im Untergrund zu überleben, die Gestapo zu überlisten, um dann auf so idiotische Weise zugrunde zu gehen und sich so fürchterlich täuschen zu lassen! Nach einigen Tagen wurde sie aus unserer Zelle abgeholt. Ich weiß nicht, was mit ihr geschehen ist. Aber ich habe später in den nördlichen Lagern eine andere Jüdin getroffen, die fast genau das Gleiche erleben musste. Man hatte ihr alles weggenommen, danach landete sie vor der OSO142, bekam zehn Jahre und wurde nach Russland deportiert.
Auf diese Weise wollte man die geretteten Juden bis zum letzten Atemzug ausbeuten. Der alte russische Antisemitismus lebte wieder auf, und mehr als einmal kam ich im Lager damit in Berührung. Die Juden galten als Reiche. Sollten die Bolschewiki es den Deutschen übel nehmen, nicht mehr für sie übrig gelassen zu haben? Warum überhaupt die merkwürdige Inszenierung, die Taxis, das Flugzeug, die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht? Aus Liebe zum Theater? Wäre es nicht einfacher gewesen, diese Leute einfach zu verhaften? Das alles lässt sich nur durch den Willen erklären, noch mehr Menschen zu täuschen, die nächste Gruppe naiver Auswanderer. Ich frage mich, wie viele es insgesamt waren. Hat jemand jemals Zahlen gesammelt oder diese Ereignisse dokumentiert? Ich frage mich auch, was mit den Kindern dieser unglücklichen Frau geschehen ist. Hat sie sie wiedergefunden? Ist sie überhaupt noch am Leben? Ist es ihr gelungen, 1956 zusammen mit ihrem Mann nach Polen zurückzukehren?
Ihre Augen verfolgten mich noch lange Zeit, und selbst heute sehe ich sie noch deutlich vor mir mit ihren schwarzen, großen, völlig erloschenen Augen, ohne einen Funken Leben, als hätte die Welt aufgehört, sich in ihnen zu spiegeln. Als sie begriff, was geschehen war, brachte sie kaum noch ein Wort heraus, als ob ihr die Stimme nicht mehr gehorchen wollte. Doch sie wollte uns mitteilen, was ihr am wichtigsten erschien, und so erzählte sie uns stammelnd, wie die Leute vom NKWD das Lachen nicht unterdrücken konnten, weil sie das alles als großen Witz ansahen. Sie machten sich über sie und ihren Mann lustig. »Ihr wolltet Palästina? Dann bekommt ihr Palästina nun hier.« Entsetzen schwang in ihrer Stimme mit, und dann verstummte sie wieder. Sie saß eine Weile da, ohne ein Wort zu sagen, und dann flüsterte sie: »Warum bin ich nicht mit meiner Mutter mitgegangen?«
»Wohin?«, fragte jemand.
»Nach Paneriai.«
Paneriai war der Ort unterhalb von Vilnius, an dem die Deutschen die Juden erschossen hatten.143
Wenn ich heute an dieses Ereignis zurückdenke, bin ich noch stärker erschüttert als damals, als ich Zeuge davon war. Das Unglück beschlich uns von allen Seiten, es heftete sich an uns, sodass etwas mehr oder weniger Unheil uns kaum noch beeindruckte. Dennoch hatte gerade dieser Vorfall für uns eine tiefere Bedeutung. Denn jede neue Figur weihte uns tiefer in die Geheimnisse der bolschewistischen Welt ein. Wir erfuhren, was hinter den Kulissen vor sich ging, hatten aber gleichzeitig die Möglichkeit, uns das Geschehen auf der Bühne genau anzuschauen. Wir konnten beobachten, dass die Kostüme bereits verschlissen waren, dass die schöne Szenerie offensichtlich nur aus billiger Pappe bestand. Kurzum: Wir lernten das Theater vom Kern her, von innen heraus kennen, wir sahen sein wahres Gesicht. Es dämmerte uns, wozu es fähig war und wie es funktionierte. Das Schicksal dieser Frau war eine dieser neuen Erfahrungen, eine dieser neuen Masken, die wir zu sehen bekamen.
In der Welt der Lüge wird die Lüge als Waffe in die Schlacht geworfen. Wie viel Mühe wird nicht darauf verwendet, die Lüge möglichst gut vorzubereiten! Und doch wird es immer etwas geben, über das jemand stolpert, wird sich etwas den Blicken entziehen. Dann ist es schwierig, alles unter der Decke zu halten, immer gibt es Beobachter – und meistens die unerwünschtesten –, die etwas bemerken. Aber in dieser Welt gibt es das Wort »kompromittieren« nicht: Die Reaktion auf eine Enthüllung dient niemals dazu, Dinge zu erklären, die Lüge zu rechtfertigen oder irgendein Fehlverhalten einzugestehen. Nein, Gott behüte! Der Lügner wird seine Lügen dann noch lauter wiederholen, auf seiner Lüge beharren, die proportional mit dem zunehmenden Unglauben wächst. Die Ungläubigen, die die Lüge aufgedeckt haben, werden tief in einem Lager versteckt werden, wenn der Lügner Macht über sie hat. Hat er diese Macht nicht, wird er jede Form der Diffamierung, jede mögliche Beleidigung einsetzen – alles, um das Gewicht ihrer Zeugenschaft zu verringern. In dieser Welt wird die allerkleinste Kritik, der kleinste Zweifel an den gewaltigen Werten, auf die sich diese Welt stützt, als Verbrechen angesehen, und zwar nicht nur als politisches, sondern auch als moralisches Verbrechen. Etwas gegen die Sowjets vorzubringen, ist pure Bosheit, eine Beleidigung des ersten sozialistischen Landes der Welt.
Infolgedessen erschienen uns einige Begründungen der Urteile ausgesprochen merkwürdig: Er wusste zu viel. Deshalb sollte er in einem Lager untergebracht werden. Umerziehung. Genau das haben sie auch zu Halka gesagt. Wenn du erst mal sitzt, wirst du gewisse Dinge vergessen. Halka schlief über mir. Sie arbeitete irgendwo als Buchhalterin, sie war jung, intelligent, hübsch und hatte einen großartigen Sinn für Humor. Sie brachte von draußen einen ganzen Strauß von Anekdoten in die Zone, mit denen sie Musa und mich abends amüsierte. Manchmal kam sie sturzbetrunken zurück. Ich weiß nicht, mit wem sie trank und wie sie es geschafft hat, der Isolierzelle zu entkommen. Aber gerade ihre Trunkenheit erlaubte es mir, sie zu entlarven. Ich kehrte abends aus dem Hospital zurück und sah, wie sie vor der Frauenzone auf wackeligen Beinen ging und es nicht bis zum Tor schaffte. Ich nahm sie am Arm und fragte sie, wo sie sich so hatte gehen lassen. Bei ihrem Versuch, eine Antwort zu formulieren, begann sie zu fluchen, und zwar auf Polnisch, was belegte, dass sie meine Muttersprache ziemlich gut beherrschte. Als ich sie am nächsten Tag hartnäckig danach fragte, woher sie Polnisch könne, offenbarte sie mir ihre Geschichte mit einer erstaunlichen Nonchalance. Sie stammte aus Moskau. Ihre Eltern waren hochrangige Staatsbeamte. Ich hatte den Eindruck, dass ihr Vater sogar beim NKWD arbeitete. Sie studierte Polnische Sprach- und Literaturwissenschaft, wozu sie auch von ihren Eltern ermutigt wurde. Der Krieg war noch voll im Gange, und ihr Studium verlief etwas stockend – es fehlte an Lehrern und Büchern. Ihre Ausbildung kam erst 1946 richtig in Schwung, doch da erhielt sie auf einmal ein verlockendes Angebot. Sie sollte eine besondere Schulung erhalten und als Repatriierte nach Polen gehen, um dort eine Zeit lang zu leben und eine geeignete Rolle im öffentlichen Leben zu übernehmen. Sie könne ein hohes Amt bekleiden und viel Geld verdienen. Zudem könne sie Reisen ins Ausland unternehmen. In der Tat ein verlockendes Angebot, eine Menge Kohle, Reisen – es wäre schwierig gewesen, noch eine bessere Stelle zu finden. Es gab nichts, was sie wirklich in Moskau hielt. Sie war neugierig auf eine andere Welt. Sie sagte zu. Die Schulung fand in einem alten Schloss irgendwo in der Ostukraine statt. Den Kursteilnehmern war es verboten, sich mit einem Außenstehenden zu treffen. Sie befassten sich nicht nur mit Sprache und der polnischen Literatur. Halka lernte auch den Stadtplan des alten Warschaus auswendig, die Straßennamen, die Cafés, die Namen all der nicht mehr existierenden Läden in der Umgebung ihres zukünftigen Zuhauses. Sie lernte die Mazurka und den Kujawiak zu tanzen. Denn es war bekannt, dass vor dem Krieg kein Ball ohne diesen letztgenannten Tanz hätte abgehalten werden können. Sie bekamen sogar Kinderbücher zu lesen. Halka gefiel Makuszyńskis Büchlein Die zwei Monddiebe144 sehr gut. Das Buch Wie Wicek Warszawiak dem Tod Angst einjagte145 kannte sie wiederum nicht. »Schade«, sagte ich, »sonst hättest du etwas Wahres über den Krieg Anfang der zwanziger Jahre erfahren.«146
Es war eine ziemlich gründliche Ausbildung, die aber immer noch zahlreiche Lücken aufwies. Dadurch entstand ein seltsames Bild von den Polen. Die übertriebene Höflichkeit, die gekünstelten Ehrenbezeugungen, die feierlichen Anredeformen wie ehrwürdiger Herr in der Umgangssprache ließen Halkas Art zu reden und zu handeln unnatürlich wirken – besonders für eine jungen Studentin. Ich sagte es ihr, und das betrübte sie wirklich.
»Du würdest in kürzester Zeit enttarnt werden. Jeder würde vor dir wie vor einer ansteckenden Krankheit davonlaufen.«
»Aber ich habe mich so bemüht, euch nachzuahmen«, verteidigte sie sich.
»Du würdest dich bei der nächstbesten Gelegenheit betrinken und dann auf Russisch fluchen.«
Ja, das war in ihrem Fall gut möglich. Sie war unerhört leichtsinnig und für den Beruf der Geheimagentin völlig ungeeignet. Auf ihren Leichtsinn war es denn auch zurückzuführen, dass sie erwischt wurde. Sie erhielt die Erlaubnis, Urlaub bei ihren Eltern zu machen. Und ihr, der zukünftigen NKWD-Agentin, fiel nichts Besseres ein, als sich in einen Beamten der polnischen Botschaft zu verlieben, dem sie zufällig über den Weg gelaufen war. Leichtsinnigerweise erzählte sie ihm von all ihren Zukunftsplänen. Doch der betreffende Beamte – offenbar ein junger, gut aussehender Mann – erwies sich den sowjetischen Behörden gegenüber als loyaler als sie. Er meldete die Angelegenheit, und Halka wurde inhaftiert. Das NKWD musste auf ihre Dienste verzichten, aber dabei blieb es nicht. Denn schließlich hatte sie schon zu viele geheime Inszenierungen aus der Nähe mitbekommen. »Du wirst eine Weile sitzen, und dann wirst du das wohl vergessen«, bekam sie beim Verhör zu hören.
»Verdammt, du kannst mich mal.« (Sie liebte solche Schimpfwörter über alles.) »Das werde ich nie vergessen. Wenn ich meine Strafe verbüßt habe, werde ich weglaufen, meinen Weg finden und eines Tages erzählen, wie sie Agenten ausbilden. Außer für uns fanden die gleichen Kurse für Tschechoslowaken und Ungarn statt. Ich weiß, dass Geheimagenten für alle baltischen Länder und auch für Deutschland ausgebildet wurden.«
Ich befürchtete, dass sie trotz ihrer geringen Strafe (sie bekam nur fünf Jahre) niemals hier rauskommen würde. »Du redest zu viel, und du trinkst mit jedem.«
»Ich trinke mit dem Oper«, gab sie demütig zu. »Er fragt mich immer aus, was im OLP passiert, und ich erzähle es ihm.«
»Du bist also eine Denunziantin. Das hat gerade noch gefehlt!«
»Nein, ich erzähle ihm erfundene Geschichten über einige seiner Denunzianten und über die bescheuerten Wachen. Sag mir einfach, wen du nicht magst, und ich erzähle ihm auch was von ihnen.«
Ich glaube, dass sie die Wahrheit gesagt hat, denn auf unerklärliche Weise wurde einer der bekannten Denunzianten plötzlich in ein Straflager geschickt, und dann verschwand auch noch der schlimmste Wärter, der Schrecken der ganzen Zone. Sie war sozusagen unser eigener Konrad Wallenrod147, aber in der russischen Variante.
Geschichten über Gespenster, Prophezeiungen und Visionen sind typisch für das Gefängnis- und Lagerleben. Dafür entwickelte sich in uns gleichsam ein sechster Sinn. Wir waren für jede Veränderung außerordentlich sensibel geworden. Vorahnungen nahmen wir sehr ernst. Als Frau Lastienie Michail Danilowitsch, der gerade zur Untersuchung der Kranken in die Ambulanz des dritten OLP ging, bat, ein Auge auf einen Litauer namens Merkis zu haben, denn das sei ihr Mann, schaute Michail sie an, als wäre sie von Sinnen. Die arme Frau Lastienie. Sie war vor nicht allzu langer Zeit selbst im dritten OLP gewesen, ihren Mann hatte sie dort aber nicht angetroffen. Außerdem wusste sie nur zu gut, dass der Transport, der ihn aus Kaunas weggebracht hatte, in eine ganz andere Richtung gefahren war. Der bestochene Wachmann, dem sie heimlich fünf Goldrubel zugesteckt hatte – es war ihr gelungen, sie vor einer Kontrolle in Sicherheit zu bringen –, hatte ihr versichert, dass der Transport nach Karaganda aufgebrochen war.
Frau Lastienie wartete den ganzen Tag gespannt auf die Rückkehr des Arztes. Und als er dann endlich zurückkam, fragte sie in aller Seelenruhe: »Und, haben Sie mit ihm gesprochen?« Michail nickte. Ich dachte, er wolle es ihr nicht noch schwerer machen. Doch nichts hätte der Wahrheit ferner liegen können, denn Merkis war tatsächlich zu uns in den Norden gebracht worden.
»Woher wussten Sie das?«, fragte sie der Arzt.
»Ich wusste es nicht. Er erschien mir im Schlaf und sagte, dass er da sei und ich ihn suchen solle. Ich konnte ihn deutlich sehen, mit diesen Baumstümpfen im Hintergrund, in der Nähe der Ambulanz im dritten OLP.«
Im Gulag auf den eigenen Mann zu treffen, war keine alltägliche Erfahrung. Es gelang uns, Herrn Merkis ins Hospital aufzunehmen und ihn drei Wochen lang dortzubehalten. Das Ehepaar konnte endlos und nach Belieben miteinander sprechen, auch wenn es dies mit der notwendigen Vorsicht tat, damit seine Verbindung nicht entdeckt wurde. Offiziell trugen sie unterschiedliche Nachnamen, aber das NKWD in Kaunas hatte – anders als bei uns in Uchta – durchaus begriffen, wie die Dinge lagen. Ihr Geheimnis war erst ans Licht gekommen, als sie beide erpresst worden waren.
Es stellte sich heraus, dass sie am selben Tag festgenommen worden waren: Sie war zu Hause verhaftet worden, er auf der Straße. Das hatten ihnen die Verhörer jedoch verschwiegen. Und dann hatten sie von ihnen verlangt, ihre Sünden einzugestehen – andernfalls würden sie ihren Lebenspartner verhaften. Frau Lastienie war lange Zeit davon überzeugt gewesen, dass sich ihr Mann noch irgendwo versteckt hielt. Er hingegen hatte gedacht, dass sie noch auf freiem Fuß sei. Um diese Geschichte noch glaubhafter zu machen, hatten beide Päckchen erhalten, angeblich von ihrem Partner, in Wirklichkeit aber von den Verhörern selbst. Das hatte sie natürlich in ihren irrigen Annahmen bestärkt. Die Verhörer hatten bei der Vorbereitung der Päckchen weder Kosten noch Mühen gescheut und dazu geeignete Gegenstände aus dem ausgeplünderten Haus des Paares ausgewählt. Nach einer Weile waren sie dieses Spielchens jedoch überdrüssig geworden, da sie erkannten, dass es kaum etwas brachte. Lastienie war schließlich darüber in Kenntnis gesetzt worden, dass ihr Mann inhaftiert worden sei. Gleiches hatte man ihm über seine Frau mitgeteilt. Die Päckchenlieferung war eingestellt und das Verhör war beendet worden. Das Urteil vor einem Militärtribunal war schnell gefällt worden. Vor der Anhörung hatten sie kein Wort miteinander wechseln dürfen. Sie waren voneinander ferngehalten und unmittelbar nach dem Urteilsspruch vollständig voneinander getrennt worden. Hatten die Machthaber etwa Angst, dass ihre eigenen unergründlichen Taten enthüllt würden? Nun entwirrten die Eheleute Faden für Faden dieses geheimen Geflechts.
Im Hospital gab es nur ein einziges Isolierzimmer, in das wir einen Geisteskranken gelegt hatten. Herr Merkis wurde von Michail Danilowitsch folglich in einem Doppelzimmer untergebracht, gemeinsam mit einem alten Russen, der eigentlich gar nicht so besonders alt, aber beängstigend gebrechlich war. Wir vertrauten ihm, da er ohnehin den ganzen Tag kaum etwas anderes tat, als inbrünstig zu beten. Und tatsächlich behielt er, als ungebetener Zeuge der heimlichen ehelichen Gespräche, ihr Geheimnis für sich und sprach mit niemandem darüber. Ich erinnere mich nicht mehr an den Namen dieses Kranken. Eines Tages starb er still und leise. Nierenversagen. Ich habe mehrere Gespräche mit ihm geführt, immer wenn er das Bedürfnis hatte, etwas zu erzählen. Er redete jedes Mal vom Winterkrieg.148 »Dieser Krieg hat mich gerettet«, fügte er dann hinzu.
»Du meinst, der Krieg hat deine Gesundheit ruiniert«, antwortete ich.
»Nein, er hat mich gerettet«, flüsterte er. »Jetzt habe ich keine Angst mehr zu sterben.«
Eines Tages erzählte er uns seine Geschichte. Ob sie wahr war, spielt keine Rolle. Die Folgen, die sie nach sich zog, waren allerdings wichtig. Er erzählte mit monotoner Stimme, ruhig, wobei er seine Worte sorgfältig abwog. Er hatte nie eine Ausbildung genossen, ein Bauernsohn. Schon in den ersten Tagen der Revolution schloss er sich den Bolschewiki an. Er meldete sich als Freiwilliger bei der Tscheka und nahm an mehreren Aktionen teil. Er war an mehreren Hinrichtungen beteiligt. Seine Arbeit als Scharfrichter verrichtete er ohne Skrupel, ja, er war sogar stolz darauf. Er wurde beauftragt, jeden zu verfolgen, der schlecht über die Partei sprach. Und das tat er auch. »Über die Partei schlecht zu reden, ist natürlich nicht erlaubt«, sagte er. Er besuchte sogar einige Lehrgänge und stieg bis zum Feldwebel auf.
Dann brach der Winterkrieg aus. Als zuverlässiger Tschekist bekam er den Auftrag, das Gebiet von verdächtigen Personen zu säubern. Das ist ein verbreitetes Phänomen: Die Umzingelung von 1941149, die Schlacht von Stalingrad – all das hinterließ im Gedächtnis der sowjetischen Soldaten weniger Spuren als der Winterkrieg. Sie erzählten immer wieder von den weißen Teufeln, die auf ihren Skiern wie aus dem Nichts auftauchten, um nach einer erfolgreichen Aktion ebenso schnell wieder zu verschwinden. Die Besessenheit dieser weißen Teufel, ihr Geschick und ihre Intelligenz riefen Respekt und Hass hervor. Gefangene Finnen wurden entsetzlich behandelt.
»Wir waren nicht weit von der Frontlinie entfernt«, erzählte der Kranke. »Eines Tages wurden zwei junge Kerle hereingebracht. Wir mussten sie gefangen nehmen. Sie waren höchstens fünfzehn Jahre alt. Sie waren beide verwundet: dem einen ging es sehr schlecht, aus seinem Bein strömte Blut; der andere hatte eine kleine Schusswunde an der Hand. Er hätte sicherlich fliehen können, wollte aber seinen Kameraden nicht zurücklassen. Wir wollten sie schnell wieder loswerden. Wir haben sie hinter eine Scheune geführt, und das war’s. Der Jüngere, der Schwächere, weinte und flehte uns an, ihn nicht umzubringen. Er brabbelte noch etwas in seiner Sprache, aber wer konnte ihn schon verstehen? Er kniete im Schnee und betete. Dann hab ich geschossen. Er war mir auf die Nerven gegangen. Zum ersten Mal schoss ich daneben. Ich musste noch einmal anlegen.«
Den Kranken plagte offensichtlich sein schlechtes Gewissen, denn er kam immer wieder auf dieses Thema zurück. Die anderen Patienten, die seinen Geschichten gerne zuhörten, versuchten ihn auf ihre Weise aufzumuntern. Was gibt es da zu sagen. Es ist, wie es ist. Es war Krieg. So viele Kriegsgefangene wurden umgebracht. Oft wurden sie vorher noch gefoltert. Ein normales Soldatenschicksal. Ein Soldat kennt keine Gnade. Diese finnischen Jungen waren grausam; sie dienten als Kundschafter. Der Kranke seufzte, ohne überzeugt zu sein, und fuhr fort, seine Geschichte zu erzählen.
Etwa einen Monat später wurde ihre Einheit aufgelöst. Er flüchtete mit einem Kameraden, doch der wurde verwundet und starb unterwegs. Er blieb allein im Wald zurück und wusste selbst nicht recht, in welche Richtung er laufen sollte. Drei Tage irrte er umher. Er wanderte durch den tiefen Schnee, in dem er oft bis zu den Hüften einsank. Er hungerte, litt unter der furchtbaren Kälte und wurde immer schwächer und schwächer. Tagsüber hatte er Angst weiterzulaufen. Er grub eine Mulde in den Schnee, wie das bei den finnischen Soldaten üblich war. Diese Mulde bedeckte er mit Zweigen von Nadelbäumen und dann hockte er dort, bis es Abend wurde. Die Tage waren – wie im Hohen Norden typisch – sehr kurz, die Nächte waren lang und eisig. Gelegentlich vernahm er das Geheul von Wölfen. Sollten sie ihn aufspüren, wäre es um ihn geschehen. Er hatte nur noch wenig Munition. Immer öfter stürzte er. Es fiel ihm immer schwerer, sich aus den Schneewehen herauszuziehen. Langsam verlor er die Hoffnung. Als er am dritten Tag vor einer seiner selbst gegrabenen Mulden stand und seine eigene Spur wiedererkannte, begriff er, dass es für ihn keine Rettung mehr gab. Er war die ganze Zeit im Kreis gelaufen. »Brüder«, stöhnte er. »Brüder, der Teufel hat mich zum Narren gehalten. Es gibt kein Entkommen.« Doch noch gab er nicht auf.
Er konnte nicht mehr sagen, an welchem Tag seines Herumirrens es geschehen war. Es war dunkel, und er hatte nicht mehr die Kraft, unter seinen Tannenzweigen, die ihn einigermaßen vor den immer stärker werdenden Schneeböen schützten, hervorzukriechen. Die Purga. Ein Schneesturm. Wer den Norden nicht kennt, weiß nicht, wie schrecklich dieses Wort klingt. Man kann um sein eigenes Haus herumgehen und sich dabei trotzdem verirren, im Schnee stecken bleiben, einschlafen und erfrieren. Er war von Mutlosigkeit übermannt und hatte keine Kraft mehr weiterzukämpfen. Der eisige Schnee verklebte seine Augen, und in seinem Kopf tauchten alle möglichen Visionen auf. Plötzlich wurde er einer seltsamen Helligkeit gewahr, die immer deutlicher und klarer wurde. Sie kam auf ihn zu, und dann sah er eine Frau, die an der Hand des erschossenen finnischen Jungen ging. Er begann vor Angst zu zittern, aber sie verkündete feierlich: »Er hat dir vergeben.« Und dabei zeigte sie auf den Jungen. Danach befahl sie ihm, geradeaus zu gehen, und schenkte ihm eine kleine Halskette. Er kam wieder zu Bewusstsein und kroch unter seinen Tannenzweigen hervor. Der Schneesturm schien ein wenig nachgelassen zu haben. Er sah etwas im Schnee liegen, hob es auf und steckte es in seine Tasche. Er ging oder besser gesagt, er kroch vorwärts. Und nach etwa hundert Schritten stieß er auf einen Waldweg. Kaum dass er diesen erreicht hatte, sprangen plötzlich Soldaten aus dem Gebüsch. Es waren seine eigenen Kameraden: Russen!
Danach hat er noch lange in einem Hospital gelegen. Die eisige Kälte hatte seine Beine furchtbar zugerichtet. Er kämpfte sich durch, nur seine Nieren erholten sich nicht mehr davon. »Und das Kettchen?«, fragten die Patienten. Das trug er immer um den Hals. Es war untrennbar mit ihm verbunden. Aber dieses Kettchen wurde auch zum Grund seiner Verhaftung. Man forderte ihn auf, es abzulegen, doch er weigerte sich. »Wieso denn?«, versuchten sie ihn umzustimmen. »Du bist doch im Komsomol, du bist ein Sowjetmensch, du glaubst doch nicht an solche Dummheiten.« Er antwortete nicht. Man versuchte es ihm mit Gewalt zu entreißen, doch er wehrte sich. Daraufhin wurde er verhaftet. Seine Strafe saß er ab. Wegen Bigotterie wurde er zudem aus der Partei ausgeschlossen – womit er ohne Protest einverstanden war. Schließlich wurde er einem Militärtribunal überstellt und wegen Verbreitung feindseliger religiöser Propaganda und Rebellion gegen Autoritätspersonen verurteilt. Er bekam zehn Jahre. Das Kettchen war ein gewöhnlicher Rosenkranz mit grob geschnitzten Holzperlen und einem unverhältnismäßig großen Kreuz. Im Hospital erfuhr er von jemanden, dass man die einzelnen Perlen festhalten und dazu beten solle. Doch er kannte keine Gebete, und deshalb sprach er nur mit sich selbst über das, was ihn quälte.
Diese Geschichte wäre, wie viele andere, für sich genommen nicht besonders bemerkenswert oder erzählenswert, würde sie nicht, in unterschiedlichen Versionen, auch von anderen Soldaten erzählt, insbesondere von Soldaten, die am Winterkrieg teilgenommen hatten. Mehr als einmal wurde ich Zeugin, wie einfache Leute im Hospital oder an einem gewöhnlichen freien Tag im OLP genau solche Erinnerungen hervorkramten. Einige hatten das Jesuskind gesehen, das barfuß über den Schnee lief, doch in den meisten Fällen war es die Mutter Gottes, die ihnen erschienen war, immer umgeben von Lichtstrahlen, einem goldenen Schein, als wäre sie direkt einer Ikone entsprungen, die in der Ecke ihres Elternhauses hing. Der Erzähler zeigte ein kleines Birkenkreuz oder einen Rosenkranz, den er als Kleinod verborgen hielt, meist ohne zu wissen, wozu es diente. Die Naivität dieser Geschichten war rührend, ebenso wie die Zuhörer, die jedes Wort davon glaubten. Was bewog diese Soldaten, Widerstand zu leisten, obwohl sie wussten, dass ihnen eine mehrjährige Haftstrafe drohte? Woher nahmen sie den Mut, sich einen Rosenkranz oder ein Kreuz um den Hals zu hängen, was ohnehin schon gegen die Grundprinzipien des Komsomol verstieß? Ihre Geschichten zeugten von Angst und Leid, aber auch von Gewissensbissen wegen ihrer Gewalttaten, von dem Wunsch, Buße zu tun, und der Hoffnung, dass ihnen eines Tages alles vergeben würde. Vor allem aber zeugten diese Geschichten von dem normalen religiösen Bedürfnis extrem erschöpfter Menschen.
Überall auf der Welt kommt es vor, dass jemand aufgrund von falschem belastendem Beweismaterial, unehrlichen Zeugenaussagen und dergleichen zu Unrecht inhaftiert wird. Sobald der Irrtum aufgeklärt ist, verlässt der Inhaftierte das Gefängnis, ohne dass dies irgendwelche rechtlichen Konsequenzen für ihn hat. Im Land unseres gewaltigen Bruders ist dies jedoch nicht eine so einfache Sache, erst recht wenn es um Artikel 58 des Strafgesetzes geht. Denn wer einmal das Königreich des NKWD betreten hat, kann es nur schwer wieder verlassen. Bevor er ins Paradies zurückkehren kann, auch wenn dieses nur wenig paradiesisch ist, muss er sich einer reinigenden Buße unterziehen. Warum? Was heißt hier »warum«? Schon die schlichte Tatsache, dass er verdächtigt wurde, etwas getan zu haben, genügt als Vergehen. Wenn der Inhaftierte dann in seiner Naivität auch noch das mühsam vorbereitete Szenario über den Haufen wirft und all den Bemühungen und dem Einfallsreichtum seiner Verhörer nicht Rechnung trägt und sich widerspenstig verhält, statt sich brav in seine Rolle zu fügen, darf er keinesfalls mit Milde rechnen.
An manchen Abenden gesellt sich Professor Mendelejew zu Marina Alexandrowna, Olga Chainowna und mir. Er lacht herzlich über armenische Anekdoten oder über Marinas Imitationen armenischer Marktfrauen. Der Professor war früher einmal in Jerewan gewesen, er kannte die Atmosphäre der östlichen Basare. Einige seiner unvollendeten Sätze lassen mich vermuten, dass er schon mehrmals in Polen war, und das nicht nur wegen des Ersten Weltkriegs. Er plaudert gern, und aus seinen Erzählungen, die meist von jemandem handeln, den er einmal kennengelernt hat, und von den kleinen Abenteuern während seiner Reisen oder Studentenjahre, kann ich mir allmählich ein Bild von seinem Lebensweg herausfiltern. Als die Revolution ausbrach, war er etwa vierzig Jahre alt. Er hatte eine wichtige Position an der Universität in Leningrad inne, nachdem er zuvor im Ausland, vielleicht in London, studiert hatte. Politische Ökonomie. Das war sein Fachgebiet. Er muss auch jemand gewesen sein, der der jungen Sowjetmacht gegenüber völlig treu ergeben und loyal gewesen war. Er reiste zu wissenschaftlichen Konferenzen und begleitete als Wirtschaftsexperte – das nahm ich zumindest an – auch offizielle Delegationen. Meine Vermutungen wurden eines Tages von ihm bestätigt, als er uns von den Umständen seiner Verhaftung erzählte. Offenbar hatten wir nun sein Vertrauen hinreichend gewonnen, vielleicht lag es aber auch an der Stimmung des Augenblicks oder an dem Wunsch, die Verbitterung von sich abzustreifen (auch wenn er amüsiert und mit einer gewissen Humorigkeit und Leichtigkeit davon sprach, als ginge es nicht um ihn). Ich erinnere mich noch sehr gut daran, dass ich mich vor Lachen schüttelte, als handelte es sich um eine der besten Anekdoten, die ich je gehört hatte. Heute hingegen, während ich dies schreibe, ist mir die Lust zu lachen vergangen. Damals reagierte man offenbar anders. Verhaftet zu werden war für jeden von uns ein alltägliches Ereignis, keine Tragödie. Und wenn eine Verhaftung unter so unwahrscheinlichen Umständen stattgefunden hatte, erschien uns das damals besonders komisch.
Der Professor hatte den gesamten Krieg in Leningrad verbracht. Er lebte mit einer seiner Schwestern, die ebenfalls Akademikerin war, in seiner großen Wohnung, die einst schon seinen Eltern gehört hatte. Die Tatsache, dass er die Wohnung hatte behalten dürfen, zeugte von der absoluten Verlässlichkeit der ganzen Familie. Weder unter dem Hunger noch unter der unbarmherzigen Kälte, dem Mangel an Lebensmitteln und Brennholz in der Stadt hatte er allzu sehr gelitten. Seine Mittel waren natürlich beschränkt gewesen, jedoch nicht gar so sehr wie die anderer. Er erhielt besondere Zuwendungen. Für ihn war das ganz selbstverständlich gewesen. Er hatte immer zur Elite gehört. Er war ein Professor, ein bekannter Experte, ein verdienter Mann – ihm stand nun einmal eine besondere Versorgung zu. Und dann plötzlich, einige Monate nach dem Krieg, als er seine normalen Pflichten wieder aufnahm, als er gerade mit der Organisation einer äußerst wichtigen Konferenz beschäftigt war, wurde er in der Nacht durch brutales Hämmern an der Tür geweckt. Sein altes Dienstmädchen, an das er übrigens mit großer Zärtlichkeit zurückdachte, öffnete die Tür. Noch bevor er aus dem Bett gekrochen war und seinen Morgenmantel angezogen hatte, drangen einige Männer in sein Zimmer ein. Sie scherten sich nicht um seine Einwände und seine Empörung, drängten ihn in eine Ecke und begannen mit einer gründlichen Inspektion. Er fragte sie, was das Problem sei, doch sie machten sich nicht einmal die Mühe, ihm zu antworten. Er hörte, wie sie die Möbel in den anderen Zimmern verschoben, wie sie fluchten und Witze rissen. Er stand erschrocken und verwirrt in seiner Ecke und verstand nichts von alledem. Sie wussten, wer er war, denn manchmal drehten sie sich zu ihm um und sprachen ihn mit »Professor« an, wobei sie diesem Wort einen äußerst ironischen Unterton verliehen. Das alles dauerte lange. Seine Schwester war nicht zu Hause. Sie war zu einer Reise nach Moskau aufgebrochen. Er war also allein mit seinem vor Angst erstarrten Dienstmädchen. Schließlich kam die Inspektion zu einem Ende. Es wurde deutlich, dass sie nichts hatten finden können. Etliche NKWDler gingen noch mehrmals in den Keller, kehrten aber stets mit leeren Händen zurück. Äußerst unzufrieden flüsterten sie miteinander und mit dem großen, breitschultrigen Oberst. Der Oberst hatte sogar die Papiere auf dem Schreibtisch, das Manuskript eines druckfertigen Buches, die Schreibmappen und Gutachten, die in Stapeln in den Regalen lagen, durchgesehen. Der Professor verspürte eine überwältigende Müdigkeit, doch man untersagte ihm, sich auf einen Stuhl zu setzen. Sie erlaubten ihm auch nicht, auf die Toilette zu gehen. Schließlich setzte er sich halb tot auf den Boden in seiner Ecke, wo er immer noch festgehalten wurde, und wartete auf das Ende dieser absurden Inspektion.
Als man ihm befahl, sich anzuziehen, dämmerte bereits der Morgen herauf. Begleitet von zwei Beamten, die ihn keinen Augenblick aus den Augen ließen, ging er zum Badezimmer. Sie forderten ihn auf, die notwendigsten Toilettenartikel wie Zahnbürste und Kamm mitzunehmen. Sie scherzten, dass er Seife wohl vor Ort bekommen werde. Er zog sich an – einen dicken Pullover und eine Jacke. Er hatte auch zwei lange Unterhosen und zwei Hemden angezogen, denn er spürte am Verhalten der NKWDler, dass ihm etwas Schlimmes bevorstand. Noch hatte er die Zuversicht und die Hoffnung, dass alles gut ausgehen könnte, nicht verloren, doch er war ein zu erfahrener Mensch, und er erinnerte sich noch zu gut an das Jahr 1937, um nicht auf alles gefasst zu sein. Er nahm eine größere Geldsumme mit. Erst gegen Abend wurde er schließlich zusammen mit seinem Dienstmädchen aus seiner Wohnung abgeholt. Er wurde in einen dunklen schwarzen Verschlag gesperrt und hatte keine Ahnung, wohin sie fuhren. Zu einem der Gefängnisse, vermutete er. Als man ihn aufforderte auszusteigen, stellte er zu seiner Überraschung fest, dass er sich auf dem Flughafen befand. Er begriff, dass sie ihn nach Moskau brachten.
Und so begann ein merkwürdiges und tragisches Schauspiel: Lubjanka150, eine Einzelzelle, der tägliche Freigang strikt untersagt, völlige Isolation von den anderen Gefangenen und natürlich: die Untersuchung. Die Verhöre dauerten die ganze Nacht über bis in die frühen Morgenstunden und sogar noch länger. Sie waren voller seltsamer Fragen, die er nicht verstand. Wo hatte er in diesem oder jenem Jahr in London gewohnt? In welchem Hotel hatte er damals welches Zimmer bezogen? Wer hatte ein Zimmer nebenan gehabt? Wen hatte er dort getroffen? Wohin war er damals gegangen? Er tat sein Bestes, um sich an Details zu erinnern, die in seinem Gedächtnis längst verblasst waren. Wie sollte er sich noch daran erinnern, wie hätte er noch wissen können, ob er sich damals an diesem oder jenem Ort aufgehalten hatte, ob es das Astoria oder das Bristol oder irgendein anderes Hotel gewesen war, das die sowjetische Delegation manchmal angemietet hatte? Er war fast immer in einer Gruppe gereist, zusammen mit anderen Kollegen. Sie wurden offenbar als Zeugen aufgerufen oder waren vielleicht selbst inhaftiert worden. Die NKWDler hatten eine Menge Informationen, aber diese waren wie immer unvollständig; es war die Art von Informationen, die eine Person viele Jahre nach der Tat liefert, wenn eine unbedeutende Tatsache bereits fast vollständig aus ihrem Gedächtnis gelöscht ist.
Plötzlich wechselten sie das Thema und begannen Fragen über die Türken, die Perser, über seine Kontakte in Teheran und Istanbul zu stellen – Städte, die er in seinem ganzen Leben nie besucht hatte. Man stellte ihm Fragen über ein Hotel in Saloniki und über die dortige sowjetische Botschaft, über seine Kontakte zu den örtlichen Beamten. Später ging es plötzlich um Malta, das er ebenfalls überhaupt nicht kannte. Die NKWDler bezweifelten das jedoch. »Das lässt sich doch leicht überprüfen, es genügt ein Blick auf die Visa in meinem Reisepass«, verteidigte er sich. Und dann folgte eine Frage nach den Decknamen, die er angenommen habe. Und eine Frage, wer ihm die nötigen gefälschten Dokumente besorgt habe. Anhand der vielen Namen und Orte, die erwähnt wurden, begriff er allmählich, dass er der schweren Spionage verdächtigt wurde. Geheimnisvolle Verschwörungen, geheime Codes, Kontaktpersonen – immer mehr wurden solche Dinge zum Inhalt der drängend gestellten Fragen. Er fühlte sich völlig niedergeschmettert von der Sinnlosigkeit dieser Anschuldigungen. Ihn beschlich furchtbare Angst.
Die Untersuchung zog sich fast ein halbes Jahr hin. Er verlor zusehends an Gewicht und fühlte sich immer schlechter. Er wusste, dass sein Blutdruck ungewöhnlich hoch war und alles jeden Moment tragisch enden konnte. Es gelang ihm nicht, seine Peiniger von seiner vollkommenen Loyalität zu überzeugen. Beweis mal, dass du kein Kamel bist, wie die Russen sagen. Sie wollten, dass er sich ehrlich zu seiner nicht vorhandenen Schuld bekannte, und er war kurz davor, dieser Forderung nachzugeben und den entsprechenden Text der Ermittler aufzusagen – alles nur, um dieser Folter ein Ende zu setzen. Und gerade als er mit einer Geschichte aufwarten wollte, die der Gesamtheit der Vorwürfe und Anschuldigungen entsprach, wurde er zu einer Gegenüberstellung vorgeladen: Otschnaja stawka in NKWD-Sprache. In Anwesenheit der gesamten Ermittlertruppe traf er auf einen ihm völlig unbekannten Mann von etwa vierzig Jahren. Der Fremde sah aus, als wäre er bereits einige Zeit lang gefoltert worden. Er hatte einen etwas verwirrten Blick, ein geschwollenes Gesicht infolge anhaltender Schlaflosigkeit, er bewegte sich schwerfällig, als ob all seine Muskeln schmerzten. Als er hörte, dass er vor Professor Mendelejew stand, stieß er einen unterdrückten Schrei aus. Der Professor konnte zunächst nicht verstehen, worum es überhaupt ging. Erst als sich der andere Mann auf die Knie warf und zu schreien begann – »Herr Professor, verzeihen Sie, ich dachte, Sie leben nicht mehr. Sie waren schon so alt. Ich bin es, Sascha« –, erinnerte sich der Professor allmählich an den kleinen zehnjährigen Jungen, der noch vor der Revolution hin und wieder im Garten der Mendelejews gespielt hatte. Der Professor, der in jenen fernen Jahren in der Blüte seines Lebens gestanden hatte, muss in den Augen dieses Jungen damals schon ein alter Mann gewesen sein. Jetzt erinnerte er sich sehr gut. Manchmal hatte er ihm ein Bonbon oder einen Apfel aus dem Garten geschenkt. Der Junge war der Sohn einer armen Englischlehrerin. Sie hatte in der Nähe gewohnt, in einem kleinen Nebengebäude. Während der Revolution war sie verschwunden, und er hatte vergessen, dass es sie gab.
Nun lauschte er erstaunt der Erklärung seines Bekannten von früher. Der Mutter war es gelungen, in den Süden und von dort über das Schwarze Meer auf den Balkan und bis nach Griechenland zu gelangen. Danach lebte sie in Saloniki unter den zahlreichen russischen Emigranten. Sascha ging dort zur Schule, verlor seine Mutter und engagierte sich in verschiedenen Organisationen der Weißen151, bis er schließlich für einen Geheimdienst zu arbeiten begann. Für welchen Dienst? Das ging den Professor nichts an. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er irgendwo auf dem Balkan verhaftet, gefoltert und immer wieder nach seinen Kontakten zu Russland befragt. Er hielt es nicht mehr aus. Er gab Mendelejews Namen an, damit sie ihn in Ruhe ließen. Er rechnete sich aus, dass der ältere Herr, als den er ihn damals empfunden hatte, sicher schon tot sein würde. Er saugte sich eine ganze Geschichte aus den Fingern, wie er mit Mendelejew in Malta, in Istanbul und in Saloniki in Kontakt gestanden habe. Über London hatte er allerdings nichts erzählt, da er diese Stadt nicht kannte. Nun zog er, erschrocken über die Konsequenzen, alle seine Aussagen zurück – sie waren erzwungen worden. Die NKWDler schäumten vor Wut. Ihre gesamten Ermittlungen fielen wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Die Unschuld des Professors war offensichtlich. Er musste freigelassen werden und eine Entschuldigung erhalten. »Ich habe Sascha nichts übel genommen«, erinnerte sich der Professor. »Ich verstand ihn nur zu gut. Ich war selbst kurz davor, eine ähnliche Geschichte zu erfinden. Er wollte sich selbst retten. Es war meine Schuld, dass ich nicht rechtzeitig gestorben war, dass ich noch am Leben war. Ich reichte ihm zum Abschied die Hand und wünschte ihm Mut und Kraft. Ich kehrte in meine Zelle zurück und war überzeugt, dass es meine letzte Nacht darin sein würde. Eine Illusion …«
Der Professor blieb noch einen weiteren Monat in Haft. Auf seine Proteste und seine Forderung, den Staatsanwalt sehen zu wollen, reagierte man nicht. Am Ende stand er eines Tages vor irgendeinem hohen NKWD-Beamten, der ihm mitteilte, dass alle Anschuldigungen wegen Spionage fallen gelassen worden seien. Da der Professor aber schon so lange im Gefängnis gesessen hatte, konnte man ihn nicht einfach wieder freilassen. Dank einer Sonderkommission (der OSO) wurde er als verdächtiges Element zu fünf Jahren Lagerarbeit verurteilt, woraufhin der Beamte mit einem herzlichen Lächeln hinzufügte: »Wenn Sie Ihre Strafe verbüßt haben, können Sie ohne Probleme zu Ihren Beschäftigungen in Leningrad zurückkehren. Natürlich nur, wenn Sie bis dahin nicht krepiert sind.«
In Balqasch fand ich in Schenja eine gute Freundin. Sie kam auch aus Leningrad. Gerade unsere Erinnerungen an Professor Mendelejew brachten uns einander näher. Sie hatte an der Universität studiert und noch Seminare bei ihm besucht. Seinerzeit mochte sie ihn nicht besonders. Er galt damals als jemand, der in der Sowjethierarchie hoch geschätzt wurde. Allem Anschein nach war er eng mit dem Aufbau des Sowjetstaates befasst und diente dabei keinem Geringeren als Lenin selbst als Berater. Ob das stimmt oder nicht, habe ich nie in Erfahrung bringen können. Auf jeden Fall bestätigten sich einige der Behauptungen des Professors, zum Beispiel über seine Wohnung. Es handelte sich um eine gewöhnliche Villa mit Garten, in der ein Stockwerk allerdings von einem anderen hochrangigen Beamten bewohnt wurde. Ansonsten stimmte alles: der Garten, die Wohnung, das Dienstmädchen, die Auslandsreisen. Schenja erinnerte sich daran, dass Mendelejew kurz vor dem Krieg, als das akademische Jahr begann, wahrscheinlich war es 1938, einige Wochen zu spät kam, weil er noch auf einer Reise in den Westen gewesen war.
Schenja hatte den Krieg auf der Krim verbracht. Dort hatte die Mutter ihres Mannes einen festen Wohnsitz. Diese Mutter war persischer Herkunft, aber längst in Russland eingebürgert. Als sie diese im Juni 1941 besuchten, schafften sie es nicht mehr, von dort zurückzukehren. Auf den Straßen der Krim herrschte Chaos, die Kommunikationswege waren unterbrochen, und hinzu kam noch, dass der Ehemann einberufen und als Ingenieur für Kommunikationstechnik einer Heereswerkstatt unweit von Kertsch152 zugewiesen worden war. All das veranlasste Schenja und ihren Mann, bei ihrer Schwiegermutter zu bleiben.
Die deutsche Armee marschierte ein. Sie schafften es nicht zu fliehen. Die Evakuierung der Werkstätten kam zu spät in Gang, und so kamen die drei unter die Aufsicht der Besatzungsmacht. Es waren keine einfachen Zeiten für sie. Schenja arbeitete in der Küche eines Restaurants. Ihr Mann musste untertauchen. Beide schlossen sich einer Untergrundbewegung an, deren Organisation jedoch schwerfällig verlief. Ich bekam keine klare Vorstellung davon, ob es sich um eine große Widerstandsorganisation handelte. Schenja sprach mit Stolz davon, allerdings ohne wirklich ins Detail zu gehen. Ich vermute, dass es sich um eine nicht allzu große Gruppe handelte, wahrscheinlich sogar eine kleine, und dass sie aus eher locker miteinander verbundenen Abteilungen bestand. Schenjas Mann schmuggelte einen Funksender aus der Werkstatt und versuchte Moskau zu kontaktieren. Diese Situation zog sich über einige Zeit hin. Im Winter 1944 wurde er in der Nähe seiner Wohnung verhaftet, und auch die Mutter und Schenja wurden abgeführt.
Die Zelle, in der Schenja landete, befand sich im Keller. Sie war nicht groß und stark überbelegt. Das kleine Fenster bot weder Licht noch Sauerstoff. Die Kälte war erbarmungslos. Von dem Zementboden stieg eine durchdringende Feuchtigkeit auf. Einige Frauen saßen dort mehrere Monate ein, andere blieben nur recht kurz in der Zelle. Sie wurden morgens gerufen, und es war klar, dass sie nie wieder nach Hause zurückkehren würden. Alle lauschten den Schritten auf dem Gang und dem leisen, metallischen Klirren der Waffen. Sie wurden nicht vor Gericht gestellt – die Ermittlung war meist kurz und sehr brutal. Die ganze Kunst bestand darin, die Verhöre auszudehnen, sie in die Länge zu ziehen, um die Verhörer dazu zu motivieren, weitere Fakten zu ermitteln. Doch die Deutschen zeigten kein besonderes Interesse. Die Inhaftierten wurden schematisch behandelt. Wer stark und gesund war, hatte noch eine Chance, zum Arbeiten nach Deutschland geschickt zu werden. Wer schwach und verdächtig war, ging seiner Exekution entgegen. Schenja zitterte vor Angst um das Schicksal ihrer Schwiegermutter und ihres Mannes. Es gelang ihr, fast bis April durchzuhalten. Und dann, eines Nachts, hörte sie wieder Schritte, das Rufen von Namen in der Nachbarzelle, wobei sie auch ihren eigenen Namen zu hören glaubte. Das musste wohl das Ende sein. »Ich erinnere mich«, sagte sie, »dass ich mich plötzlich nicht mehr auf den Beinen halten konnte und in eine Ecke auf dem Boden direkt neben der Tür setzte. Mir direkt gegenüber saß eine kranke, nicht mehr ganz junge Frau mit grauem Haar. Sie hatte Tuberkulose und hustete Blut – sie war schon sehr geschwächt. Sie setzte sich aufrecht hin, um zu hören, was auf dem Korridor vor sich ging. Alles ging ganz schnell. Plötzlich öffneten sich die Türen. Schenjas Name wurde gerufen. Und dann hörte sie ganz kurz: »Das bin ich.« Es war die kranke Frau, die das sagte. Schenja schrie auf, aber eine starke Hand drückte sie wieder zu Boden. Die Gestapo ging mit der Kranken hinaus, ohne zu bemerken, dass ein Personenverwechslung stattgefunden hatte. Sie wollte sie noch zurückrufen, an die Tür klopfen, doch die anderen Frauen verboten es ihr. »Du bist noch jung«, sagten sie. »Du hast noch ein ganzes Leben vor dir. Die andere würde keinen Monat mehr durchhalten.« Dann kam der April: die Flucht der Deutschen, die Befreiung aus dem Gefängnis, und Schenja war frei, nur um festzustellen, dass ihr Haus völlig ausgeplündert worden war. Das Grauen der Suche in dem völlig demolierten Haus stand ihr jedoch noch bevor: Sie fand ihre Schwiegermutter und ihren Mann. Während der Beerdigung hatte sie nicht einmal mehr die Kraft zu weinen. Ich fragte sie, ob sie versucht habe, die Familie dieser älteren, kranken Frau zu finden. Immerhin kannte sie ihren Namen. Ja, sie hatte diese Familie ausfindig gemacht, aber sie fand nur noch die Nachbarn der Frau. Sie erzählten ihr, dass sie Witwe gewesen sei und ihr einziger Sohn im Winterkrieg gefallen sei. Sonst hatte sie wahrscheinlich niemanden mehr. War es eine Art Selbstmord oder ein Akt der Selbstaufopferung zugunsten der Jugend und der Hoffnung gewesen?
Wie es mit Schenja weiterging? Sie kehrte nach Leningrad zu ihrer Mutter zurück. Sie wollte ihr Studium fortsetzen. Leider. Eines Nachts wurde sie verhaftet und zu zehn Jahren Haft verurteilt. Alles, was ihr bei den Ermittlungen vorgeworfen und als Begründung für die Verurteilung angeführt wurde, war Folgendes: Warum haben die Deutschen dich nicht abgeknallt? Offenbar hast du uns verraten! Keine Erklärung oder flehentliche Bitte, Zeugen zu suchen, konnte ihr mehr helfen. Denn eines stand schließlich fest: Ein ehrlicher sowjetischer Patriot, der verhaftet oder gefangen genommen worden war, hätte sterben müssen.
Wie viel Courage und Beharrlichkeit muss man besitzen, um die Szenen zu verwerfen, die Kulissen in Brand zu stecken, den Schauspielern die Kostüme und Masken abzunehmen? Welchen Mut muss man dann noch haben, um sich zu weigern, das Stück mitzuspielen! Und was für eine großartige Sache ist es nicht zuletzt, dass dieser Kampf mit dem Theater oft von denen aufgenommen wurde, die am meisten gedemütigt wurden: den armen Seki. Vielleicht flammte dieser Wille in ihnen stärker auf als bei anderen, weil sie nicht mehr viel zu verlieren hatten und es besser wussten. Alle Geheimnisse der Inszenierung wurden während der Ermittlungen, in den Gefängnissen und bei der Lagerarbeit enthüllt. Solschenizyn beschreibt, wie die Integration der Seki nach der Öffnung der Spezlagerja nur langsam folgte, wie sich der Widerstand gegen die Wärter verstärkte, wie das politische Bewusstsein der Häftlinge zunahm und damit auch das Solidaritätsgefühl. Gerade diese Prozesse, angefangen mit den kleinsten, im Leben eines jeden Häftlings aber so wichtigen Dingen wie zum Beispiel das Ausbleiben von Diebstahl, die Möglichkeit, in seinem Schränkchen ein Päckchen Machorka oder seine gesamte Ration bis zum Abend aufzubewahren, gaben Anlass, eine interne Reorganisation im Kampf für bessere Lebensbedingungen und sogar für die Revision einiger Prozesse zu versuchen. Eine kleine Flamme der Freiheit begann in den Lagern zu flackern und entwickelte sich in einigen Fällen zu einem heftig emporlodernden Feuer.
In Balqasch blieb es lange Zeit ruhig. Das Kontingent der Frauen veränderte sich kaum. Uns erreichten keine Neuigkeiten aus anderen Lagern. Aus der Männerzone hinter der großen Lehmmauer hingegen schon. In einem über die Mauer geworfenen Brief schrieb manchmal jemand an seine Geliebte, dass in der Mine wieder ein Denunziant unschädlich gemacht worden sei. Das waren die ersten Anzeichen dafür, dass man das Gesetz selbst in die Hand nahm. Wir betrachteten unsere Denunzianten mit einer gewissen Milde, solange sie keinen besonderen Schaden anrichteten. Die Frauen, jedenfalls die politischen Gefangenen, waren selten zu einem Mord imstande. Nur ein einziges Mal habe ich von einem solchen Vorfall in Uchta gehört. Wir hatten ja schließlich auch andere Möglichkeiten, mit unliebsamen Menschen zu verfahren und sie unschädlich zu machen. Als Beispiel kann Nadjas Geschichte dienen. Nadja war eine Ungarin, die nur schlecht Russisch sprach. Dennoch hinderte sie die Sprache nicht an ihren schändlichen Taten. Ich bekam es damals mit ihr zu tun, als sie als Metallarbeiterin zu unserer Ziegelei geschickt wurde. Sie arbeitete gut, in dieser Hinsicht konnte man ihr nichts nachsagen. Aber sie hatte einen maßlosen Hang zu Romanzen, auch wenn sie nicht gerade eine Schönheit war. Es gab nicht einen Eskortenführer, der nicht sein Glück bei ihr versuchte. Ich habe selbst einmal miterlebt, wie ein usbekischer Unteroffizier, der für seine strenge Haltung gegenüber den Seki bekannt war, heimlich in die Schmiede ging. Wie sie ihn zu bezirzen verstand, wie sie mit ihm Kontakt aufgenommen hatte, blieb mir schleierhaft. Als ein junger Praktikant in der Fabrik ankam, ein Techniker, ein freier Bürger natürlich und zudem ein ziemlich gut aussehender Mann, der sich uns gegenüber hochmütig verhielt, wie es sich für ein Komsomolmitglied gehörte, begann sie ebenfalls sofort, überfreundlich um ihn herumzuscharwenzeln.
Gleichzeitig denunzierte sie auch. Vielleicht hatten die Mitglieder der Eskorte den Auftrag erhalten, Informationen aus ihr herauszuholen. Zunächst war uns nicht klar, aus welcher Ecke uns die Gefahr drohte. Aber einige Vorfälle lenkten unsere Aufmerksamkeit zunehmend auf sie. Es ging dabei um Anschuldigungen, die nicht nur traurig, sondern auch gefährlich waren. Drei freie Fahrer, die Briefe bei sich hatten, fielen ihr zum Opfer – ohne ersichtlichen Grund wurden sie auf der Wache der Ziegelei einer Kontrolle unterzogen. Sie wurden von ihrer Arbeit abgezogen und in die Mine versetzt. Damit wurde eine der kostbaren Verbindungen zur Welt, zu unseren Angehörigen, abrupt unterbrochen. Später wurden zwei Vorarbeiter unter der Anschuldigung in die Isolierzelle geworfen, heimlich Ziegelsteine an Fahrer verkauft zu haben. Hätte das tatsächlich bewiesen werden können, hätte ihnen dafür eine zweite Verurteilung gedroht. Zum Glück bezeugte unser Igor Matwejewitsch, dass in der Ziegelei keine Engpässe festgestellt worden seien. Als wir wieder vor Ort waren, nach der Rückkehr in die Zone, wurde eine der Frauen noch vom Oper selbst auf die Wache mitgenommen. Sie musste später zudem aufgrund des eindeutig falschen Vorwurfs der Sabotage in die Isolierzelle. Damit war für uns das Maß voll. Die Inhaftierte war eine so ruhige junge Frau, nur ein einziges Mal hatte ich sie wütend erlebt. Man frage mich nicht, warum, jedenfalls hatte sie schon damals Nadja vorgeworfen, eine Denunziantin zu sein.
Es musste etwas passieren. Jemand kam auf die Idee, dass wir leichter mit ihr fertig werden könnten, wenn sie nicht immer nur Tagschichten hätte, sondern auch Nachtschichten machen müsste. Das war etwas, was sich einrichten ließ. Unter dem Vorwand, dass es für die Materialverwaltung notwendig sei, bat ich die Direktion der Ziegelei heimlich um die nächtliche Anwesenheit eines Schlossers in der Werkstatt. Sie stimmten meiner Bitte zu, und Nadja wurde der Brigade zugeteilt, die immer mit mir zur Arbeit ging, ganz gleich ob bei Tag oder bei Nacht.
Nun galt es auf eine gute Gelegenheit zu warten, um ein Spektakel in Szene zu setzen. Es musste eine Inszenierung sein, die sowohl wirkungsvoll als auch realistisch war und mit der Vorsilbe »soz« in Einklang stand, sodass sie der Oper anerkennen würde und Nadja, allen Bestimmungen entsprechend, von der Bildfläche entfernen würde. Die Rollen wurden aufgeteilt, wir warteten, bis der richtige Moment gekommen war. Und dieser Moment kam schließlich. Einer der freien Vorarbeiter erkrankte, und als Ersatz wurde der junge Praktikant eingesetzt. Es war bereits drei oder vier Tage in seiner neuen Position. Ich war an der Formpresse, als mir einer der Vorarbeiter mitteilte, Nadja habe sich mit dem Praktikanten im Magazin eingeschlossen. Nun war schnelles Handeln gefragt. Im Magazin wurde Papier gelagert, das man zu bestimmten Zeiten zum Abdecken der Stapel der noch zu brennenden Ziegel im Hoffmann-Ofen benötigte. Die Frauen, die dort arbeiteten, waren noch nicht an der entsprechenden Stelle angekommen, aber als der Vorarbeiter ihnen erklärte, worum es ging, beeilten sie sich; und andere (die eigentlich die Waggons beladen sollten) halfen ihnen, sodass wir nach zehn Minuten in aller Ruhe zum Magazin gehen konnten. Die Tür war von innen verschlossen. Wir begannen zu klopfen. Wir bildeten absichtlich eine Gruppe, weil es schwieriger ist zu entkommen, wenn es so viele Zeugen gibt. Zuerst erhielten wir keine Antwort. Wir riefen: »Sascha, schlaf nicht.« »Mach die Tür auf.« »Wir brauchen Papier, sonst steht die Produktion still.« Schließlich begann er hinter der Tür zu brummeln, als hätten wir ihn tatsächlich geweckt.
»Verdammt, mach doch auf!«
Er wollte nicht. Er meinte, wir könnten einen Zyklus machen, ohne das Papier einzulegen.
»Bist du verrückt geworden? Schlägst du uns etwa vor, Sabotage zu betreiben? Bis du so eine Art Vorarbeiter?«
Er gab auf. Er schlich sich vorsichtig aus dem Magazin und schloss die Tür wieder hinter sich ab.
»Ich werde mal kontrollieren, ob das wirklich nötig ist«, rief er und ging zum Hoffmann-Ofen. Wo er von einer Gruppe wartender Frauen mit einer Salve spitzer Bemerkungen empfangen wurde.
»Ein Vorarbeiter, der den Arbeitsprozess nicht im Blick hat! Wir kommen in Verzug. Beeil dich!« Ergänzt wurde das Ganze von ein paar deftigen Schimpfwörtern, um dem jungen Mann noch einzuheizen und ihm vielleicht auch etwas Angst einzujagen. Und als er dann zum Magazin zurückkam, fand er uns dort immer noch unbeirrt wartend vor.
»Geht ihr mal wieder an die Arbeit zurück, ich bringe das Papier gleich«, sagte er. Aber wir kannten keine Gnade.
»Sei nicht albern, mach doch die Tür auf.«
Er drehte den Schlüssel im Schloss und wollte allein hineingehen, doch wir schoben ihn zur Seite. Jemand tastete nach dem Schalter, das Licht ging an. Hinter einer großen Rolle des Industriepapiers hockte Nadja in ihrem Versteck.
»Ach so!«, rief ich. »Ein Vorarbeiter, noch dazu ein freier Mann, hat intime Kontakte zu einer Gefangenen! Mal sehen, was der Artikel soundso dazu sagt. So was habe ich ja noch nie gesehen. Leider muss ich euch beide melden.«
Ich weiß nicht, ob ich in meiner neuen Rolle als Denunziantin überzeugend war, aber der Jubel und Applaus, den ich von den verschiedenen Brigaden erhielt, war enorm. Der Praktikant flehte mich an zu schweigen. Aber uns ging es nicht um diesen eigensinnigen und unangenehmen Jungspund, sondern um Nadja und unsere geheimen Interessen in der Ziegelei. Wir konnten nicht zulassen, dass einer von uns noch ein weiteres Strafverfahren aufgebrummt wurde. Das Ende unserer Strafe stand zu kurz bevor. Beim Wachposten vor der Zone meldete ich deshalb, sehr zum Erstaunen der Wache, dass ein Treffen mit dem Oper notwendig sei. Gegen Mittag wurde ich zum Oper gerufen. Meine Erklärung war kurz, aber voller Pathos und großer Worte, wie es sich für die Rolle eines wütenden Prorab gehörte, der jemanden in flagranti bei der Verletzung der heiligen Lagerordnung erwischt hatte. »Früher einmal«, begann ich, »haben Sie, als bevollmächtigter Bürger, mir vorgehalten, Sie nicht über etwas informiert zu haben, was sich in der Fabrik abgespielt und gegen die Ordnung verstoßen hatte. Damals war alles in Ordnung, und ich hatte nichts zu melden. Doch jetzt bin ich hier, um etwas zu melden, denn ich kann nicht zulassen, dass die ehrliche Arbeit, die wir hier leisten, in Verruf gebracht wird.« Und ich erzählte, wie ich völlig zufällig und zu meiner großen Überraschung Nadja in dieser eindeutigen Situation mit dem Praktikanten angetroffen hätte.
»Als Prorab in der sozialistischen Produktionskette kann ich so etwas nicht dulden«, schloss ich.
Ich konnte die Wut in seinen Zügen erkennen. Für ihn würde es nicht leicht sein, wieder eine so gute Denunziantin wie Nadja zu finden. Aber nichts zu unternehmen, war für ihn unmöglich. Eine kompromittierte Denunziantin war wertlos. Nadja wurde aus der Ziegelei abgeführt. Dieser Tag war ein echter Triumph für uns. Und auch der Praktikant verschwand. Er wurde nicht inhaftiert, sondern bekam nur einen ordentlichen Anpfiff. Gott sei mit ihm. Für uns war es am wichtigsten, dass in der Ziegelei wieder Ruhe einkehrte.
Auch wir konnten also das Spiel spielen, wenn es nötig war, und uns nach den Prinzipien des berühmten Stanislawski ganz in eine Rolle hineinversetzen. Manchmal war Theater im Kampf gegen Denunzianten ein besseres Mittel als ein Messer in ihren Rücken, obwohl in anderen Lagern bei diesem Spiel immer häufiger ein Messer zum Einsatz kam. Schon vor Stalins Tod machte ein geheimes Gerücht von Mund zu Mund, von Lager zu Lager die Runde: Die politischen Häftlinge nähmen Widerstand und Verrat nicht mehr mit demütiger Resignation hin. Wie zuvor die Urki flüsterten sie nun auch: Tod dem Denunzianten! Und nicht nur dem Denunzianten, sondern auch dem strengen Wärter, dem Gnadenlosen, dem Sadisten, dem, der uns nie in Ruhe lässt, der uns schikaniert, der immer etwas sucht, der eine Kontrolle nach der anderen durchführt, der sich beim Lagerleiter beschwert, der uns oft schubst und uns manchmal, mein Gott, eine Ohrfeige verpasst.
Schlagen war verboten. Während der Verhöre wurde geschlagen, aber nicht in den Lagern. Ein ITL-Wächter, der seine Hand gegen einen Sek erhob, war noch in derselben Nacht fällig. Ein Urka nahm dann Rache. Der Wärter wusste das, und die höheren Lagerautoritäten ebenfalls. Daher das Verbot. Man darf einen Häftling in die Isolierzelle werfen, man darf ihm zu einem schlimmen Komandirowka schicken, aber das Reglement lässt nicht zu, dass man ihn schlägt. Man darf ihn mit einem Morast von Worten überziehen, ihn anschreien, so viel man will, ihn die halbe Nacht wegen einer Inspektion wachhalten. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, ihn in die Erschöpfung zu treiben, doch es gibt keine härtere Strafe, als ihn zu einer härteren Arbeit zu schicken, bei der die Anforderungen hoch und die Rationen gering sind. Das genügt, um ihn gefügig zu machen und von jeglicher Rebellion abzuhalten.
Es schien so, als hätten sich die älteren Gefangenen in all den Jahren mit ihren Ketten versöhnt, als wären sie folgsam geworden und hätten aufgegeben. Aber nichts könnte der Wahrheit ferner sein. Gerade in ihnen loderte das Feuer der Rebellion und wartete nur darauf, mit einer Stichflamme zu explodieren. Im Männerlager in Norilsk kamen immer wieder neue Transporte aus dem Süden an, die erstaunliche Geschichten mitbrachten. Irgendwo in einem Lager war ein Streik ausgebrochen. Irgendwo war es ihnen gelungen, für die Rechte der politischen Gefangenen zu kämpfen.
Das allgemeine Bewusstsein für solche Ereignisse war gering. Doch langsam lag etwas in der Luft: Klatsch, Aufregung, die Geschichten der Neuankömmlinge, die Informationen, die die Frauen durch Briefe erreichten.
In Norilsk gab es vier Speziallager für Männer. Die anderen Lager waren für Kriminelle. Das einzige Frauenlager zählte etwa fünftausend Gefangene. In einem langen Rechteck erstreckte es sich zwischen der Tundra und Gebieten, die näher an der Stadt lagen. Von den Dächern der Stadthäuser aus war das Lager gut zu sehen. Ein Teil der kürzeren Seite des Rechtecks grenzte an die Arbeitszone der Männer. Die gegenüberliegende Seite grenzte an einen kleineren Bereich mit einer Isolierzelle. Das Lager verfügte über zwei Wachposten. Einer befand sich direkt neben dem Stacheldraht, der die Männer- und die Frauenzone voneinander trennte, sodass die Frauen, die auf ihrem Weg zur Arbeit an ihm vorbeikamen, genau beobachten konnten, was sich im Lager abspielte. Der zweite Wachposten auf der Stadtseite befand sich ganz am Ende einer Längsseite des Rechtecks.
Norilsk. Nach allem, was man hört, klingt der Name richtig ausgesprochen wie Nórilsk – mit Betonung auf dem o. Aber im Lager betonten die Leute immer das i, sodass das o wie ein a klang.153 Die Stadt liegt im Norden, nördlich von Workuta, weit jenseits des Polarkreises und bot einen Zugang zum Nordpolarmeer und zum Hafen von Dudinka. Im Sommer segelten die Menschen über den Jenissei dorthin. Im Winter konnte man die Stadt nur mit dem Flugzeug erreichen. Und um die Stadt lag die Tundra, mit viel Kupfer und Kohle, die durch Stollen an die Oberfläche gebracht wurden, mit einer Betonfabrik, einer Ziegelei und einer großen Baustelle – an Arbeit für die Seki mangelte es gewiss nicht.
Es begann eines Nachmittags, um den 22. Juni herum. Wie es im Lager üblich war, versammelten sich die Frauen nach der Arbeit nach einer kargen Mahlzeit, bevor die Türen der Baracken mit ihren schweren Riegeln verschlossen wurden, am Stacheldraht beim Männerlager, und sei es nur, um einem jungen Mann kurz zuzulächeln und Neuigkeiten zu hören, umso mehr, als diese Neuigkeiten immer interessanter wurden. Nach dem Tod des großen Führers begann sich in Bolschewistan etwas zu bewegen.
Fröhliche Worte warf man sich über den Stacheldraht zu, als plötzlich ein Soldat von seinem Wachturm aus zu rufen begann. »Geht auseinander, Häftlinge. Reden ist verboten!«
Ein Rekrut, der noch grün hinter den Ohren war. Zu seinem Geburtsjahr brauchte man offensichtlich nicht allzu weit in die Vergangenheit zurückzugehen. Er kannte die Lagergepflogenheiten noch nicht. Die Vorschriften erlaubten solche Gespräche in der Nähe des Stacheldrahts tatsächlich nicht, aber die älteren Wachen und Eskorten und vor allem die Frontowiki, die immer eine Demobilisierung erwarteten (obwohl der Krieg schon acht Jahre vorbei war) und schon viel miterlebt hatten, waren an die Seki gewöhnt und drückten bei diesen kleinen Verstößen ein Auge zu. Ach, dieser junge Grünschnabel von einem Wächter – soll er sich doch heiser schreien, dieser Hurensohn! Wer schert sich schon um ihn. Einer der Männer bedachte ihn sogar mit einer längeren Schimpftirade. Und dann fiel ein Schuss. Im ersten Augenblick verstand niemand, was geschehen war. Man lief auseinander. Und dann erschallte ein weiterer Schuss. Zwei junge Männer blieben tot liegen, drei weitere wurden schwer verwundet. Noch bevor die Toten und Verletzten geborgen wurden, brach in beiden Zonen Unruhe aus. So etwas war noch nie passiert: Schüsse in Richtung der Zone? Warum? Wegen eines albernen Geplauders? Podlezy!154 Sie haben solche ideologisch verblendete Neulinge in die Wachtürme gesteckt, die uns als Konterrevolutionäre zu hassen gelernt haben. Wir haben genug von diesen Bastarden, genug von der Arbeit!
In der Männerzone beschlossen sie noch in derselben Nacht, in den Hungerstreik zu treten und nicht zur Arbeit zu gehen. Ein Teil der Frauenbrigaden fasste den gleichen Beschluss. Morgens blieben sie also in der Zone. Die anderen, die nicht wussten, was entschieden worden war (die Baracken waren nachts geschlossen, was die Kommunikation erschwerte), waren zwar zur Arbeit gegangen, erfuhren aber außerhalb der Zone von den freien Bürgern oder den Brigaden der Kriminellen von dem Streik. Am nächsten Tag kündigten alle Teillager des Speziallagers an, sich dem Protest anzuschließen. Es wurde eine Kommission aus Moskau gefordert; bis zu deren Eintreffen sollten alle Wachleute aus der Zone ausgesperrt bleiben.
Das NKWD war sichtlich überrascht. Der Lagerkommandant fügte sich den Wünschen der Häftlinge. Zum ersten Mal seit vielen Jahren wurden die Baracken über Nacht nicht verschlossen. Spontan bildeten sich Gruppen aus den energischsten und entschlossensten Frauen, die die interne Lagerordnung aufrechterhielten. Die Disziplin war außergewöhnlich hoch. Es folgten seltsame Tage. Die Frauen standen auf, zogen sich an und saßen in den Baracken zusammen. Sie berieten sich und verfassten Texte mit ihren Beschwerden und Forderungen. Die Tage schleppten sich langsam dahin, und die Situation wurde immer schwieriger. Sie nahmen keine Nahrung zu sich. Der Kommandant kam hin und wieder in die Zone und versuchte sie zur Beendigung des Streiks zu überreden. In der Küche wurde das Essen wie üblich zubereitet, und wie es schien, wurde dort sogar besser gekocht. Eine Kommission, die sich aus ständig wechselnden Frauen zusammensetzte, sorgte dafür, dass das Essen vollständig an die in der Zone gehaltenen Schweine verfüttert wurde. Der Kommandant und die Kommission unterzeichneten ein Formular, das bestätigte, dass das Essen vernichtet worden war. Nur die Arbeitsunfähigen durften essen. Sie waren zu geschwächt, um zusammen mit den anderen zu hungern. In der Zone herrschte eine ungewöhnliche Stille. Die Kräfte der Seki ließen sich nicht mit denen normaler, wohlgenährter Menschen vergleichen. Nachdem sie viele Jahre lang Fett und Eiweiß entbehrt hatten, verspürten die Streikenden einen enormen Hunger. Selbst den Frauen, die in der Regel widerstandsfähiger waren als die Männer, fiel es zunehmend schwer, diese selbst gewählte Form des Fastens durchzuhalten. Sie suchten in aller Heimlichkeit Rettung, sodass niemand von der Lagerleitung etwas mitbekam. Manchmal stahlen sie Pferdehafer aus dem Lagerstall. Manchmal gelang es ihnen, einen Eimer Suppe oder Haferbrei aus der Küche vor der »Weggießkommission« zu verstecken. Solch ein Eimer wurde nachts jedes Mal in einer anderen Baracke miteinander geteilt. Die Krankenschwestern aus dem Krankenhaus stahlen dort auch Vitamine und Lebertran und verteilten diese Schätze, so gut sie konnten, aber was war das schon angesichts von fünftausend Mündern! Das Lazarett war sehr klein und hatte nur fünfzehn Betten. Die Zeit verging, der Juli begann, und sie blieben hartnäckig bei ihrer Entscheidung, wie übrigens auch die Männer. Sie verließen die Baracken nicht mehr, lagen regungslos auf ihren Pritschen und versuchten, nicht die geringste Energie zu verschwenden. Glücklich war, wer Schlaf finden konnte. Aber in ihren Träumen erschienen ihnen Visionen von Brotstapeln und Grütze, sodass sie ihre Augen wieder öffneten und in das nicht erlöschende Licht der Polarnacht starrten.
Die Liste der Forderungen war erstellt. Sie wurde vom gesamten Frauenlager einstimmig angenommen, und sie war auch mit der Männerzone abgestimmt worden. Die Forderungen waren vielfältig. Einige betrafen die Anpassung bestimmter Regeln der Speziallager. Andere Forderungen thematisierten viel wichtigere Dinge: das Entfernen der Nummern von der Kleidung, das Nichtverschließen der Baracken in der Nacht, die Erlaubnis, monatlich (und nicht nur zweimal im Jahr) Briefe zu schreiben, freie Sonntage, die Verkürzung der Arbeitszeit auf acht Stunden, die Einführung von Bargeldzahlungen für geleistete Arbeit und die Eröffnung eines Kaufladens im Lager. Außerdem forderte man die Wiederaufnahme aller Prozesse, die sofortige Entlassung der sogenannten Minderjährigen (d.h. der minderjährigen Häftlinge), den Transport aller Arbeitsunfähigen in Lager im Süden, wo das Klima günstiger war, die Beendigung der schweren Zwangsarbeit und schließlich die Zusage, dass die Sicherheit sowohl der Streikkommission als auch aller Häftlinge in vollem Umfang gewährleistet sei.
Wie groß muss die Solidarität im Lager zu dem Zeitpunkt wohl gewesen sein, dass auf all diese Forderungen eingegangen wurde? Am 4. Juli kündigte der Kommandant die Ankunft einer Kommission aus Moskau an. Er wollte, dass die Frauen ihre Vertreterinnen für die Gespräche benannten, aber die Frauen widersetzten sich dieser Forderung. Alle Frauen sollten bei den Gesprächen anwesend sein, und diejenigen, die das Wort ergriffen, sollten inmitten aller anderen Frauen stehen. Sie vertrauten der Lagerleitung nicht – sie waren viele Jahre lang inhaftiert gewesen und wussten nur zu gut, dass man dem NKWD nicht trauen durfte. Zwei Tage später traf die Kommission ein. Ihre Ankunft in der Zone wurde von fünftausend Augenpaaren beobachtet. Plötzlich ertönten Rufe: »Man hat uns belogen, ihr Lügner. Wir kennen euch gut. Ihr seid aus dem Gulag von Krasnojarsk.« Die alten Häftlinge aus Norilsk erkannten einige der Leiter der zentralen Verwaltung der Gulags, zu denen auch Norilsk gehörte, denn diese waren zuvor mehrmals zu Zwischenkontrollen gekommen. Mit ihnen zu reden, wäre unnütz. Sie kehrten in ihre Baracken zurück, setzten ihren Streik fort und waren fest entschlossen, bis zum Ende zu kämpfen.
Am 7. Juli traf die eigentliche Kommission aus Moskau ein – Generäle, Offiziere, das NKWD. In der Mitte der Zone wurde ein Tisch aufgestellt, an den sie sich setzten. Die Frauen standen in einem Kreis um sie herum. Sie waren außerordentlich höflich und sogar gutmütig. Sie kündigten Änderungen an und gestanden die falschen Vorgehensweisen ein. Nun, da sie gewisse Missstände im Gulag aufgedeckt hätten, würden sie systematisch verschiedene Erleichterungen einführen und auch eine Wiederaufnahme der Strafverfahren in Angriff nehmen. Sie versprachen, die Baracken nicht mehr zu verschließen und die arbeitsunfähigen und minderjährigen Häftlinge mitzunehmen – was tatsächlich fast sofort umgesetzt wurde. Außerdem garantierten sie die vollständige Sicherheit aller Seki.
Die Ergebnisse der Vereinbarungen waren vielversprechend. Noch am selben Tag begann die Küche mit der Zubereitung spezieller Mahlzeiten für die Hungerstreikenden. Sie erhielten eine angepasste Ernährung, um Darmprobleme oder andere Beschwerden zu vermeiden. Zum ersten Mal seit vielen Tagen aßen die Frauen langsam ihren Grießbrei mit ein wenig Fett darin.
Ins Lager kehrte wieder das normale Leben zurück. Nach einer zweitägigen Ruhepause begannen die Brigaden wieder zur Arbeit zu gehen. Abends versammelten sich die Frauen wie zuvor in der Nähe des Stacheldrahts, um mit den Männern zu reden. Nachdem die Lichter in den Baracken gelöscht worden waren, durften sie sogar draußen auf den Sandhügeln sitzen und in den klaren Julihimmel schauen. Die Baracken wurden nicht mehr verschlossen. Dieser Zustand hielt einige Zeit an. Doch plötzlich wurde eine der Frauen, die während des Streiks am aktivsten war, angefordert, um den Fußboden des Wachpostens zu putzen, und kehrte nicht mehr in die Zone zurück. Danach verschwanden eine zweite, eine dritte und eine vierte Frau auf unerklärliche Weise. Nach einer Woche wurden bereits zehn bekannte, kämpferische und geschätzte Gefangene vermisst. Aus der Männerzone erreichten uns ähnliche Geschichten. Die Verhaftungen fanden nie im Beisein von Zuschauern statt. Unter verschiedenen Vorwänden wurden die ins Visier genommenen Häftlinge einzeln aufgefordert, die Zone zu verlassen – eine zum Putzen, eine andere, weil der Oper etwas benötigte, oder sogar, um nachts bei irgendeinem Engpass in der Küche zu helfen – nur um sich dann in Luft aufzulösen. Wie immer war alles eine grobe Lüge. Die Versprechungen hatten nur dazu gedient, die Gemüter zu beruhigen und den Gegner zu entwaffnen, um dann zu einem günstigeren Zeitpunkt zuzuschlagen.
Die Seki hatten genug von diesen Lügen, genug von den perfiden Praktiken. Sie wollten, dass diese Gulagleiter endlich ihr wahres Gesicht zeigten, ohne Masken, dass sie die Lügen hinter sich ließen, sie konnten doch niemandem mehr etwas vormachen! In allen Zonen wurde ein Streik ausgerufen, diesmal ohne Hungerstreik. Man forderte, dass die entführten Häftlinge freigelassen und ins Lager zurückgebracht würden. Über den Zonen wehten weithin sichtbar schwarze Flaggen. Sie sollten das Symbol des Kampfes um Leben und Tod sein. Mehrere Tage lang blieb es ruhig. Die Küche wurde noch beliefert, aber die Wachen und der Lagerkommandant waren verschwunden. Eines Nachts wurde das gesamte Lager von der Armee und Zivilisten umstellt. Die Anführer dieser Einkesselung forderten uns über installierte Megaphone auf, die Zone zu verlassen. Sie schnitten sogar den Stacheldraht am Rande der Tundra durch und forderten alle, denen ihr Leben lieb sei, auf, die Zone zu verlassen. Niemand wollte sich jedoch in Bewegung setzen. Es folgte ein erster Angriff, zunächst auf die Männerzone. Die Truppen waren bewaffnet und schießbereit. Doch beim Anblick der auf die Masse der wartenden Seki gerichteten Waffen begannen die Frauen furchtbar zu schreien. So heftig, dass die Soldaten, ein wenig verwirrt, ein wenig erschrocken, ihre Aktion stoppten. Sie wichen zurück. Doch dann kam ein neuer Angriffsbefehl, und wieder hielt das Gebrüll der Frauen die anstürmenden Soldaten auf. Fünftausend Kehlen brachten ein so markerschütterndes Geheul hervor, dass die Leute in der Stadt auf ihre Dächer kletterten, um zu sehen, was da vor sich ging. Mit diesem Gebrüll haben die Frauen ihre männlichen Gefährten verteidigt. Die Armee musste sich vom Zaun entfernen. Die Frauen und Männer wurden in Ruhe gelassen.
Sieben Tage lang sah es so aus, als würde Waffenstillstand herrschen. Der Streik dauerte an, und die Lagerleitung versuchte weiterhin, die Frauen zum Verlassen der Zone zu bewegen. Schließlich wurde bekannt gegeben, dass die deutschen, ungarischen und tschechischen Frauen in andere, bessere Lager gebracht werden sollten. Diese Ankündigung löste einige Bestürzung aus. Man war sich nicht sicher, was man davon halten sollte. Es schien, als ob eine Repatriierung für diese Nationalitäten vorbereitet würde. Die Streikkommission riet den Ausländern, dem Aufruf zu folgen und sich wie gefordert hinter den Stacheldraht zu begeben, und zwar in die neue, von den Soldaten errichtete kleine angrenzende Zone neben dem Lager, wo in wenigen Tagen eine nicht allzu große Baracke hochgezogen worden war. Einige Tage später verließen auch Dutzende von Pridurki – hauptsächlich russische und ukrainische Frauen aus der Ostukraine – auf Aufforderung der Führung die Zone. Die verbliebenen Frauen – Litauerinnen, Polinnen, Russinnen, Estinnen, Koreanerinnen, Ukrainerinnen, Kalmückinnen und Chinesinnen – blieben solidarisch, sie arbeiteten zusammen und hatten eine Art Kommission mit Vertreterinnen der einzelnen Nationalitäten gebildet. Sie arbeiteten damals eifrig weiter: Sie bereiteten eine Kiste mit Glasscherben vor, sammelten Steine, Stöcke und Eisenteile. Sie machten sich bereit zur Verteidigung.
Zur Stadtseite, hinter der hohen Palisade, erstreckten sich eilends errichtete Soldatenbaracken. Eines Tages versammelten sich alle Soldaten mitsamt ihren Waffen und ihrer Munition auf dem Platz. Es erfolgte eine Warnung, dass die Soldaten nun zu schießen beginnen würden, wenn die Frauen nicht durch den durchgeschnittenen Stacheldraht in Richtung Tundra gehen würden. Die Frauen reagierten mit Schweigen. Und plötzlich begann die hohe Palisade zu wackeln, sie begann zu brechen, und schließlich fiel sie mit einem lauten Knall um. Dahinter kamen seltsam aussehende Zivilisten, schreiend und mit verwirrten Blick, als wären sie sturzbetrunken, mit Stöcken bewaffnet hervor, gefolgt von Soldaten mit Maschinengewehren. Schreie ertönten, aber die Frauen wichen nicht zurück, obwohl sie von dem kalten Wasser, mit dem sie bespritzt wurden und das sie endlich dazu bewegen sollte, sich zu ergeben, klatschnass wurden. Sie versuchten hinter Rollen von Dachpappe und Brettern in Deckung zu gehen, obwohl diese als Schutz nicht viel taugten. Aus dieser Deckung heraus versuchten sie ihre Gegner mit Steinen und Glas zu bewerfen. In dem Moment begann der Angriff. Es ist seltsam, aber sie zuckten nicht vor den Schusswaffen der Soldaten zurück. Sie wichen erst dem Druck der Meute der Zivilisten, die wild mit losgerissenen Brettern, Stöcken und Stangen um sich schlugen.
Sie wurden in die Tundra getrieben, liefen einen nicht allzu großen Hügel hinauf und stürmten dann schreiend hinunter, um sich plötzlich in einem Hinterhalt wiederzufinden. Sie waren völlig von der Armee umzingelt. Es gab kein Entkommen mehr. Sie kauerten sich so eng wie möglich zusammen und waren sich sicher, dass gleich geschossen werden würde und keine Aussicht mehr auf Hilfe bestand. Aber nichts geschah. Die Abend brach herein, dann kam die Nacht – eine kühle Nacht. Die Kälte durchdrang ihre nassen Kleider. Sie wurden von Mücken, diesen Ungeheuern der Tundra, belagert. Ermüdet setzten sie sich auf den feuchten Boden. Sie hatten nicht mehr die Kraft, noch länger Widerstand zu leisten. Erst am nächsten Tag, nach dieser schrecklichen Nacht ohne Wasser, ohne Brot, wurden sie in ein nahe gelegenes Tal gebracht. Dort stand ein Tisch, und an diesem Tisch saßen der Oper, der Kommandant und einige Pridurki, die die Zone früher verlassen hatten. Die Selektion begann: die einen nach rechts, die anderen nach links. Auf der linken Seite landeten etwa siebenhundert Frauen. Sie erwartete nichts Gutes. Nach der Selektion wurden sie in eine neu gebaute kleine Baracke gebracht. Sie erhielten die Erlaubnis, die allgemeine Zone zu betreten, um ihre Sachen zu holen. Die anderen Frauen ließ man in der Zone.
Damit war der Aufstand in Norilsk beendet. Was kam danach? Diese siebenhundert Frauen hatten außerordentlich großes Glück. Sie wurden in ein anderes Lager in Norilsk gebracht, wahrscheinlich mit einem besonders strengen Regime und sehr harter Arbeit, aber sie trafen dort einen wunderbaren Kommandanten an, der ihren Kampf sehr bewunderte. Er tat, was er konnte, sodass es ihnen nicht allzu schlecht erging. Außerdem war er nicht der Einzige, der sie freundlich behandelte. Die Einwohner von Norilsk warfen ihnen, wenn sie ihnen irgendwo auf dem Weg zur Arbeit begegneten, manchmal Brot zu, manchmal sogar ein Stück Speck oder Wurst, Zigaretten oder Machorka. Man konnte gut sehen, wie sehr sie von den tapferen Seki beeindruckt waren.
Für die Männer verhängten die Führer härtere Sanktionen. Bis heute weiß niemand, wie viele von ihnen erschossen wurden und wie viele eine neue Strafe erhielten. Über die Opfer von Norilsk kursieren verschiedene Geschichten, und sie werden noch lange fortbestehen – noch so lange der Gulag lebt.