4.6 Virale Social-Video-Kampagnen
90 % der Videos auf YouTube verbreiten sich durch gegenseitige Empfehlung der User. Die Videos werden an Freunde und Bekannte per E‐Mail gesendet oder vor allem auf den eigenen Social-Media-Profilen geteilt, und die Freunde teilen das Video wiederum mit ihren Freunden usw. Diesen Weiterempfehlungseffekt nennt man virale Verbreitung. Das Video verbreitet sich durch digitale Mundpropaganda und hat eine hohe Sharebility. Wenn man ein Video viral verbreiten möchte, sind einige wichtige Regeln zu beachten, denn sie unterscheiden sich von klassischen TV-Kampagnen. Social Videos sind kurz, manchmal nur ein paar Sekunden lang. Virale Videos weisen außerdem sehr viele Kommentare auf. An der Anzahl der Kommentare erkennen Sie häufig, ob sich ein Video »natürlich« viral verbreitet hat oder ob eine Firma beauftragt wurde, Views zu generieren. Malcolm Gladwell leitet in seinem Buch »Tipping Point« die Erfolgsfaktoren Virus, Vermittler und Nährboden ab. Der Tipping Point ist laut Gladwell, »die Biografie einer Idee, und die Idee ist sehr einfach: Sie besagt, dass man die dramatische Verwandlung von unbekannten Büchern in Bestseller oder den Anstieg des Rauchens unter Teenagern oder das Phänomen der Mundpropaganda oder eine ganze Anzahl von anderen geheimnisvollen Veränderungen im Alltagsleben am besten versteht, wenn man sie sich als Epidemie vorstellt. Ideen und Produkte und Botschaften und Verhaltensweisen verbreiten sich genauso wie ein Virus.«
4.6.1 Das Virus
Das »Virus« ist die Videobotschaft, eine Geschichte, ein Interview usw. Das Virus muss so interessant sein, dass sich der Betrachter dazu aufgefordert fühlt, das Video weiterzuempfehlen. Der Inhalt des Videos kann überraschend, humoristisch, sinnstiftend, bedeutungsvoll, erschreckend, vergleichend, inspirierend usw. sein. Wenn das Video die Zuschauer überzeugt, erzeugt es einen sogenannten Stickiness-Faktor, d. h., die User bleiben gewissermaßen an dem Video »kleben«, schauen es sich mehrmals an und leiten es an ihre Freunde weiter.
4.6.2 Die Vermittler
Die Vermittler dienen als Verstärker und sorgen dafür, dass sich das Video verbreitet. Die Vermittler sind sehr gut in unterschiedlichsten sozialen Gruppen vernetzt. Durch ihre Interessen und ihre ausgeprägte Kommunikationsfähigkeit schaffen sie es, Informationen innerhalb kürzester Zeit an die richtigen Personen zu kommunizieren.
4.6.3 Der Nährboden
Den Nährboden bilden die User. Sie bestimmen letztlich, ob sich das Video viral verbreitet oder nicht. Jede noch so gute Geschichte kann trotz Weiterempfehlungen und Videoseeding sein Zielpublikum verfehlen, wenn dieses den Inhalt des Videos ablehnt. Möchten Sie ein Video viral verbreiten, sollten Sie diese drei Faktoren beachten: Inhalt, Zielpublikum und Weiterempfehlungen, d. h., Sie sollten genügend Möglichkeiten zur Teilhabe bieten.
Virale Verbreitung on the go
Beim Videokonsum spielen insbesondere die Endgeräte eine Rolle, auf denen die Videos angeschaut werden. Smartphones ermöglichen es den Menschen, die Inhalte jederzeit und an jedem Ort anzuschauen. U-Bahn, Pausenhof und Parkbank sind die neuen »Wohnzimmer«, von denen aus die Videoplattformen angesteuert werden. Mit Smartphones und deren integrierter Videokamera in mittlerweile sehr hoher Auflösung ist es außerdem leichter geworden, eigene Videoinhalte schnell und einfach auf Videoplattformen hochzuladen.
4.6.4 FIRST KISS: Eines der viralsten Videos aller Zeiten
Der Moment, in dem sich zwei Menschen zum ersten Mal küssen, ist einmalig, aufregend und manchmal auch ein bisschen komisch. Der erste Kuss ist das Sahnehäubchen in jeder Hollywood-Schmonzette. Er funktioniert aber auch als Werbefilm für ein Fashion-Label. Das beweist das virale Video »FIRST KISS« des Mode-Labels Wren (siehe Abbildung 4.8). Die junge Modedesignerin Melissa Coker, die 2007 mit dem Label Wren startete, schuf 2014 gemeinsam mit Filmemacherin Tatia Pilieva einen wirklich viralen YouTube-Hit.
In »FIRST KISS« küssen sich fremde Menschen vor laufender Kamera zum allerersten Mal. Anfangs noch zaghaft, vorsichtig und schüchtern, küssen sie sich nach einigen Sekunden sehr leidenschaftlich, manche teilweise enthemmt, ohne die Kamera überhaupt noch wahrzunehmen. Musikalisch untermalt wird das Video mit dem Song »We might be dead by tomorrow« von der Musikerin Soko, die übrigens auch im Video mitspielt. Jeder, der das Video sieht, ist entzückt, gerührt und verzaubert.
Abbildung 4.8 »FIRST KISS« – ein Paradebeispiel für Viralität auf YouTube (Quelle: http://youtu.be/IpbDHxCV29A)
Viele Nutzer im Netz waren jedoch völlig entzaubert, als herauskam, dass das Video nicht einfach nur der Film einer begabten Regisseurin ist, sondern das Werk des Fashion-Labels Wren. Melissa Coker warb damit für ihre kommende Herbstkollektion bei der Fashion Week. Die Protagonisten im Video trugen ihre aktuelle Kollektion. Die Nutzer kritisierten weniger, dass sich diese besondere Story am Ende als Marketing-Gag entpuppte, sondern stellten die Authentizität des Videos infrage. Coker beteuerte, dass es kein Drehbuch gab und sich die Paare zum ersten Mal gesehen hatten. Es waren anscheinend Schauspieler und Mitarbeiter der Firma, die alle unentgeltlich teilgenommen hatten.
Der Erfolg von »FIRST KISS« im Zeitraffer
Das Video generierte in den ersten 48 Stunden über 20 Millionen Views mit 133.000 Likes und 16.000 Kommentaren. Nach 4 Tagen waren es bereits 46 Millionen Views und bis heute, Stand: August 2021, wurde es 149 Millionen Mal angesehen. Der Erfolg des Videos lässt sich aber auch an den zahlreichen Nachahmern, Parodien und unterschiedlichen Neufassungen und Interpretationen des Videos ablesen.
4.6.5 Blendtec: Will it blend?
Wie vermarktet man ein ganz normales Haushaltsgerät – einen Mixer – in YouTube? Man könnte Rezepte für Smoothies zeigen und demonstrieren, zu welchen Höchstleistungen ein solches Gerät fähig ist. Die Firma Blendtec aus Amerika, die ebenfalls Mixer herstellt, zeigt seit 2007 auf ihrem YouTube-Kanal, dass sie selbst iPods, iPhones oder iPads mixen können. In der Anmutung eines 1980er-Jahre-Videos schreddert Versuchsleiter Tom Dickson tatsächlich die Apple-Produkte im Blendtec-Mixer. Am Ende kommt ein Pulver heraus, und das Rätsel ist gelöst: »Yes, it blends!« Auch wenn viele Nutzer die Videos kritisieren, da sie verharmlosen, wie gefährlich es ist, wenn man selbst zu Hause Elektrogeräte und Ähnliches mixt, gehören die Videos von Blendtec zu den viralen Hits auf YouTube (siehe Abbildung 4.9).
Abbildung 4.9 »Will it blend?« – Blendtec lässt nichts unversucht, um seinen Mixer auf den Prüfstand zu stellen. (Quelle: http://youtu.be/lAl28d6tbko)
Bei einem viralen Markenvideo ist die Marke häufig nicht sofort für den Nutzer erkennbar. Dies klärt sich erst im Abspann des Videos; mitunter wird die Marke gar nicht genannt, und der Betrachter kann nur raten, wer hinter dem Video steckt, so wie in unserem Beispiel. Was zählt, ist die Idee des Videos. Wenn sich der Inhalt wie ein Virus im Netz verbreitet, sprechen wir von einem viralen Effekt. Solche Effekte können auch Sie mit unterhaltsamen Videos, Bildern und Sprüchen auslösen.
Der große Vorteil ist, dass die Inhalte im Internet nicht verschwinden. Sie können von den Usern immer wieder aufgerufen werden. Dadurch findet eine permanente Auseinandersetzung mit Ihrer Marke statt. Erwarten Sie aber nicht, dass Ihr letzter Werbespot wirklich einen viralen Effekt auslösen wird, es sei denn, er ist so beliebt, dass die User ihn von selbst ins Netz stellen und verbreiten.
Rechtstipp von Sven Hörnich: Rechte Dritter sowie das Lauterkeitsrecht beachten
Wichtig ist bei der Beauftragung von Agenturen – so »hip« sie auch rüberkommen mögen –, dass Sie sich nach deutschem Recht weder auf einen sogenannten gutgläubigen Rechtserwerb noch auf deren (vorgebliche) Rechtskenntnisse verlassen dürfen. Kopiert beispielsweise Ihre Agentur rechtswidrig Inhalte Dritter oder verstößt deren noch so spannendes Konzept gegen das Lauterkeitsrecht, haften Sie (auch) als Auftraggeber hierfür mit. Zwar haben Sie theoretisch einen Rückgriffsanspruch gegen die Sie beratende Agentur, jedoch ist dieser (gerade bei kleinen Unternehmen) schwer realisierbar. Zudem wird ein damit verbundener Imageschaden im Rahmen des Schadenersatzes schwierig finanziell abzubilden sein.
4.6.6 Mitmachvideo – die Königsklasse des Videomarketings
Ein kongenialer viraler Spot ist der französischen Agentur Buzzmann mit »A hunter shoots a bear« gelungen. Der Zuschauer sieht die bekannte Szene des Jägers in Gesellschaft eines Bären. Bevor der Jäger schießt, wird der User am Ende des Videos dazu aufgerufen, zwischen Schuss oder keinem Schuss zu wählen. Das Video wird verlängert und mit einem Trick versehen: Der Jäger greift aus dem Video auf das rechte Werbefeld zum Tipp-Ex und löscht das Wort »erschießt« in der Videoüberschrift (siehe Abbildung 4.10).
Nun kann der User frei entscheiden, ob es »Ein Jäger liebt einen Bären« oder was auch immer heißen soll. Je nachdem, welches Wort vom User eingegeben wurde, folgt zum Abschluss ein entsprechendes Video, in dem beispielsweise der Jäger dem Bären einen Heiratsantrag macht. Das Video hat innerhalb eines Monats über 8,3 Millionen Views eingespielt, und die User sind überaus begeistert von diesem Video, das gerade durch deren aktives Eingreifen so erfolgreich ist.
Abbildung 4.10 Interaktive und virale YouTube-Kampagne von Tipp-Ex
Marketing-Take-away: Längere Verweildauer bei Mitmachvideos
Durchschnittlich verweilt der YouTuber 2 Minuten bei einem Video; bei dem Tipp-Ex-Video waren es im Durchschnitt 6 Minuten. Klar, er hatte ja auch Spaß dabei, die unterschiedlichen Videoausgänge zu erproben. Interaktive Werbespots erzeugen eine weitaus höhere Verweildauer und mehr Customer Involvement als Videos ohne Mitmachoption.