Liebe Leserin, lieber Leser,
Sie halten dieses Buch in den Händen und haben wahrscheinlich vor, es zu lesen. Das bedeutet, dass Sie sich angemessenen Raum schaffen und die nötige Zeit finden, aber vor allem „Aufmerksamkeit schenken“ müssen. Sie dürfen sich nicht von allem ablenken lassen, was Ihren Geist daran hindern könnte, sich auf das zu konzentrieren, was Sie lesen. Und um eben diese Aufmerksamkeit geht es in diesem Buch! Genauer gesagt handelt es von einer Störung, über die bis vor einigen Jahren wenig oder gar nicht gesprochen wurde – ADHS.
ADHS steht für „Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung“ und ist eine entwicklungsneurologische Störung, die vor dem 12. Lebensjahr auftritt. Vorschulkinder mit ADHS können Kommunikationsprobleme und vielleicht soziale Interaktionsprobleme haben. Wenn Kinder das Schulalter erreichen, erscheinen sie häufig abgelenkt. Viele von ihnen zappeln und bewegen sich ständig, sind ungestüm und antworten, wenn sie nicht an der Reihe sind. Während der späten Kindheit können diese Kinder ständig mit den Beinen wackeln, mit den Händen fuchteln, impulsiv sprechen, Dinge leicht vergessen und unorganisiert sein. 20–60 % der Kinder mit ADHS haben Lernstörungen, die Lesen, Mathematik oder schriftliche Sprache betreffen, und die meisten haben schulische Probleme wie schlechte Leistung aufgrund von Desorganisiertheit oder Nichterledigung der Hausaufgaben (exekutive Fähigkeiten). Die Schularbeiten sind unordentlich, mit oberflächlichen Fehlern und einem Mangel an reflektiertem Denken. ADHS-Kinder sind oft geistesabwesend und hören nicht zu. Es kann zu häufigem Wechsel zwischen unvollendeten Aktivitäten kommen. Etwa 60 % der betroffenen kleinen Kinder haben Probleme wie Wutausbrüche, während die meisten älteren Kinder eine geringe Frustrationstoleranz zeigen. In der Adoleszenz können betroffene Jugendliche Probleme mit dem Selbstwertgefühl, Depressionen, Ängste oder eine Abneigung gegen Autoritäten haben.
Es gibt keine spezifische Ursache, jedoch sind oft genetische (vererbte) Faktoren vorhanden (siehe dazu auch S. →, „Gibt es immer eine Ursache?“). Die Forschung deutet darauf hin, dass ADHS wahrscheinlich durch Veränderungen in Neurotransmittern wie Dopamin, dem „Motor des Vergnügens“, verursacht wird. Zudem kann ADHS mit traumatischen Ereignissen in der Kindheit verbunden sein, wie Gewalt, Missbrauch, Vernachlässigung.
Die Diagnose von ADHS basiert auf der Anzahl, Häufigkeit und Schwere der Anzeichen. Kinder müssen sechs oder mehr Anzeichen von Unaufmerksamkeit oder Hyperaktivität und Impulsivität aufweisen bzw. sechs aus jeder Gruppe, um ADHS des kombinierten Typs (siehe S. →) zu diagnostizieren. Die Anzeichen müssen in mindestens zwei getrennten Umgebungen vorhanden sein (normalerweise zu Hause und in der Schule), sodass die Reaktion der betroffenen Person auf spezifische Probleme in einer Situation nicht mit ADHS verwechselt wird.
Wenn ADHS im Erwachsenenalter fortbesteht, kann das Leben der betroffenen Person in verschiedenen Bereichen stark beeinträchtigt sein. Chronische Unaufmerksamkeit kann zu Problemen und Missverständnissen im sozialen, beruflichen und persönlichen Bereich führen. Termine vergessen, sich ständig ablenken lassen, Hausschlüssel liegen lassen, Rechnungen nicht bezahlen – das alles sind Verhaltensweisen, die sehr behindernd sein können und Konflikte mit umgebenden Personen verursachen. In gravierenden Fällen verhindert die Unaufmerksamkeit die Planung der eigenen Zukunft, und man neigt dazu, die erforderlichen Aktivitäten ständig aufzuschieben.
Aber zurück zur Aufmerksamkeit. Zuerst ist es wichtig zu definieren, was Aufmerksamkeit ist und wodurch unsere Fähigkeit zur Aufmerksamkeit beeinträchtigt werden kann. Wieso ist es überhaupt wichtig, aufmerksam zu sein und sich auf etwas konzentrieren zu können? Das lässt sich – wie so vieles – aus der Evolution erklären: Wie hätten unsere Vorfahren erfolgreich den vielzitierten Säbelzahntiger bekämpfen können, wenn sie vom Duft einer Blume abgelenkt worden wären? Und während viele Überbleibsel aus der frühen Menschheitsgeschichte heute zwar noch vorhanden sind, aber keine Funktion mehr erfüllen (oder wissen Sie, wozu genau der Blinddarm oder das Steißbein heute dienen könnten?), ist die Aufmerksamkeit auch heute noch ganz entscheidend. Wenn auch anders als früher, als für den Höhlenmenschen selbst die kleinste Unaufmerksamkeit Gefahr und Tod bedeuten konnte. Heutzutage müssen wir selten um unser unmittelbares Überleben in einer feindlichen Umgebung kämpfen, die Herausforderung ist dafür eine andere: Im heutigen Alltag sind wir ständig von unzähligen Reizen umgeben, von denen nur wenige wirklich wichtig sind. Um mit dieser Situation umzugehen, muss unser Gehirn eine fast automatische Auswahl der Reize vornehmen, indem es einer Rangordnung nach Interesse und Notwendigkeit folgt. Das Gehirn bringt daher unsere Aufmerksamkeit dazu, sich auf eine Information zu konzentrieren, die wir gegenüber dem Rest, welcher im Hintergrund bleibt, in den Vordergrund stellen. Dieser kognitive Prozess findet nicht nur hin und wieder statt, sondern wie ein Schrittmacher, ständig, in jedem Moment unseres Lebens. Er läuft so lange automatisch ab, bis etwas ins Stocken gerät. Es ist ein komplexer neuropsychologischer Mechanismus, der von persönlichen Faktoren (z. B. dem emotionalen Zustand), Umweltfaktoren (z. B. einer hohen Anzahl von Ablenkungen) oder Eigenschaften des Reizes selbst, dem Aufmerksamkeit geschenkt werden soll (z. B. das Verstehen eines komplexen Sachverhalts), beeinflusst ist.
Aufmerksamkeit ist nicht gleich Aufmerksamkeit. Es gibt dabei folgende Unterscheidungen:
Bei ADHS sind nicht all diese Arten von Aufmerksamkeit beteiligt – die am meisten betroffene ist die gehaltene Aufmerksamkeit. Wir werden darauf noch genauer eingehen.
Wer oder, besser gesagt, was kontrolliert nun aber überhaupt die Aufmerksamkeit? Hier kann auf die sogenannten exekutiven Funktionen verwiesen werden. Dabei handelt es sich um eine Reihe komplexer kognitiver Prozesse, die es uns ermöglichen zu planen, zu organisieren, unser Verhalten zu kontrollieren und an das anzupassen, was der Kontext von uns verlangt.
Die Kontrollzentrale für diese Prozesse befindet sich in einem Teil unseres Gehirns, der sich in der Evolution zuletzt entwickelt hat und daher wahrscheinlich dazu beiträgt, unsere Spezies geschickter zu machen als die Hominiden, die uns vorausgingen. Sie befindet sich hinter der Stirn und umfasst Teile des Frontallappens und des Cingulums. Es wurde festgestellt, dass bei Personen mit ADHS in diesen Bereichen des Gehirns ein Dopaminmangel herrscht. Der Botenstoff Dopamin reguliert u. a. die Motivation und die Suche nach Belohnung – zwei Funktionen, die wiederum notwendigerweise eine Beteiligung der Aufmerksamkeit erfordern. Genau dieselbe Substanz wird übrigens von Kokain in massiven Dosen in unserem Gehirn freigesetzt, was zu einer paradoxen Reaktion führt: Konsumieren Personen mit ADHS Kokain, werden sie nicht unruhig, sondern sie fühlen sich ruhiger.
Manchmal, wie Sie sich vorstellen können, ist es gut, dass unser Gehirn in der Lage ist, die Aufmerksamkeit von allem abzuwenden, was wir in einem bestimmten Moment überhaupt nicht benötigen. Auf etwas zu reagieren (oder etwas zu machen, zu handeln), bedeutet auch, auf etwas anderes nicht zu reagieren (oder etwas anderes nicht zu machen). Diese Fähigkeit, eine Handlung oder Antwort zurückzuhalten, eben nicht zu reagieren, wird als inhibitorische Kontrolle bezeichnet. Diese ist ebenfalls Teil der oben angesprochenen exekutiven Funktionen.
In diesem Zusammenhang kommt auch ein weiterer wichtiger Aspekt bei ADHS ins Spiel, die Impulsivität. Impulsivität definieren wir als die Unfähigkeit, Impulse, die am ehesten mit Energieschüben vergleichbar sind, zu kontrollieren. Die Fähigkeit der kognitiven Hemmung, die darin besteht, unerwünschte oder in einem bestimmten Moment als unwichtig erachtete Gedanken zu umgehen oder zu unterdrücken, geht dabei verloren. Dies führt zu Hyperaktivität, die oft noch durch einen Zustand der Unruhe begünstigt wird. Denn durch die Einschränkung oder sogar den Verlust der Gedanken- und Verhaltenshemmung, welche komplexe psychomotorische Mechanismen hervorrufen, geraten nicht nur unsere Handlungen, sondern auch die Zustände unseres Körpers außer Kontrolle.
Bereits in der Einleitung haben wir uns kurz mit der Geschichte dieses Syndroms beschäftigt. Die Aufmerksamkeit und ihre Defizite wurden wahrscheinlich zuerst in Schottland Ende des 18. Jahrhunderts von Dr. Crichton definiert und analysiert. Auf eine merkwürdige Weise berühmt wurde ADHS aber wohl erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, und zwar in Europa genauso wie in der neuen Welt. Der Protagonist dieser Geschichte war der deutsche Kinder- und Jugendpsychiater Heinrich Hoffmann, der als Weihnachtsgeschenk für seinen vierjährigen Sohn im Jahr 1844 ein Buch mit Kinderreimen schrieb, den „Struwwelpeter“. Der Zweck war ein erzieherischer: Die verschiedenen Reime und die dazugehörigen, vom Autor selbst gezeichneten Illustrationen hatten das Ziel, das ungehorsame, vernachlässigte, gewalttätige oder hyperaktive Verhalten der in dem Werk beschriebenen Kinder zu brandmarken. Auch wenn das Buch
nach heutigen Maßstäben sehr drastisch und zu makaber erscheint – es berührte damals die gesamte Familie so sehr, dass sie den Professor drängte, es zu veröffentlichen. Es war sofort ein Erfolg, wurde in mehreren Auflagen gedruckt und in verschiedene Sprachen übersetzt. Im Jahr 1985 erschien es in Italien, später in den USA. Sogar der amerikanische Schriftsteller Mark Twain übersetzte das Buch, um es in Erinnerung an den alten Psychiater seinem Sohn zu schenken. In Deutschland konnten nur die Gebrüder Grimm in Sachen Ruhm mit ihm mithalten.
In den Reimen wurden verschiedene Risiken beschrieben, denen das jeweilige Kind durch sein Verhalten ausgesetzt war. Eines fällt in den Fluss, ein anderes wird verlassen, ein weiteres verbrennt gar. Das erste Gedicht mit dem Titel „Der Struwwelpeter“ beschreibt einen Protagonisten, der sich die Nägel nicht schneiden und die Haare nicht kämmen will, was dazu führt, dass alle sich über ihn lustig machen.
Der Struwwelpeter von Heinrich Hoffmann
Sieh einmal, hier steht er,
pfui, der Struwwelpeter!
An den Händen beiden
ließ er sich nicht schneiden
seine Nägel fast ein Jahr;
kämmen ließ er nicht sein Haar.
Pfui, ruft da ein jeder:
Garstger Struwwelpeter!
Bis heute ist das „Zappelphilipp-Syndrom“ der umgangssprachliche Name für ein Kind mit ADHS, abgeleitet von Hoffmanns „Zappel-Philipp“, der nicht stillsitzen kann und nicht auf die Ermahnungen der Eltern hört. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das Syndrom mehrfach untersucht und überarbeitet. Der Name, den wir heute kennen, wurde 1980 als „Aufmerksamkeitsdefizit“ eingeführt und sieben Jahre später in das aktuelle „Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom“ umbenannt. Zusätzlich werden auch heute noch, besonders in Deutschland, verschiedene Varianten von ADHS mit Namen bezeichnet, die aus den Titeln der ursprünglichen Gedichte stammen, wie eben der Zappelphilipp, die Traumsuse oder der Hans Guckindieluft.
Die Abkürzung ADHD – aus dem Englischen „Attention Deficit Hyperactivity Disorder“ – wird auf Deutsch als Aufmerksamkeitsdefizit- und/oder Hyperaktivitätsstörung (ADHS) übersetzt.
Zunächst einmal sollte klargestellt werden, dass ADHS niemals erst im Erwachsenenalter auftritt, sondern eine Bedingung ist, die uns von den ersten Lebensjahren an begleitet. Es handelt sich dabei um eine entwicklungsneurologische Störung, also eine Störung, die uns von Geburt an beim Wachsen begleitet und in der Regel bis ins Erwachsenenalter andauert. Die ADHS-Symptome müssen dabei vor dem zwölften Lebensjahr auftreten, mindestens sechs Monate andauern und Probleme in mindestens zwei Lebensbereichen verursachen, z. B. zu Hause, in der Schule, bei sportlichen Aktivitäten, bei der Arbeit. Es ist also nicht wie die Grippe, die man in jedem Alter bekommen kann, es ist etwas, das uns schon als Kinder definiert.
Die grundlegende Definition von ADHS beschreibt eine kurze oder unzureichende Aufmerksamkeitsspanne und/oder unangemessene Lebhaftigkeit (Hyperaktivität) und Impulsivität. Wie aber definieren wir genau Unaufmerksamkeit und Impulsivität?
Folgende Symptome beschreiben eine unaufmerksame Person, also eine Person mit einer unzureichenden Aufmerksamkeitsspanne:
Diese Symptome beschreiben eine Person als impulsiv/hyperaktiv:
Aufmerksamkeit und Impulsivität sind physiologische Funktionen unseres Verstandes. Jeder von uns kennt Personen mit mehr oder weniger Selbstkontrolle, Menschen, die mehr oder weniger streitlustig sind. Genauso haben wir Menschen in unserem Umfeld, die in der Lage sind, stundenlang am selben Ort zu sitzen und zu lernen, und andere, die das einfach nicht können. Wie aber definiert man eine unaufmerksame oder impulsive Person im pathologischen, also krankhaften Sinne? Wo verlaufen die Grenzen? Und vor allem, wer hat sie definiert?
Im psychiatrischen Bereich bezieht man sich dabei auf zwei offizielle Handbücher: auf das DSM, das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen, sowie die ICD, die Internationale Klassifikation der Krankheiten (die Abkürzung kommt vom Englischen „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems“). Beide entspringen einer sorgfältigen und umfangreichen Arbeit von Experten, die regelmäßig zusammenkommen, um zu diskutieren und gegebenenfalls das bereits Geschriebene zu überarbeiten. In diesen Manualen ist genau definiert, welche und wie viele diagnostischen Kriterien erfüllt sein müssen, damit eine bestimmte Störung wie ADHS festgestellt werden kann.
ADHS wird also durch das Vorhandensein einer kurzen oder unzureichenden Aufmerksamkeitsspanne und/oder unangemessenen Hyperaktivität und Impulsivität definiert. Wahrscheinlich denken jetzt gleich viele: „Dann habe ich das auch!“ Aber so verbreitet die Störung auch sein mag – es wird angenommen, dass 1–3 von 20 Personen betroffen sind –, so einfach ist es nicht. Die Diagnose von ADHS basiert vielmehr auf der Anzahl, Häufigkeit und Schwere der Anzeichen. Schauen wir uns die Diagnose bei Kindern an, so müssen diese sechs oder mehr Anzeichen von Unaufmerksamkeit oder Hyperaktivität und Impulsivität aufweisen bzw. sechs aus jeder Gruppe, damit ADHS des kombinierten Typs diagnostiziert werden kann (mehr zu den drei Typen von ADHS im nächsten Kapitel). Die Anzeichen müssen in mindestens zwei getrennten Umgebungen vorhanden sein (normalerweise zu Hause und in der Schule), sodass die Reaktion des Kindes auf spezifische Probleme in einer Situation nicht mit ADHS verwechselt wird. Das Vorhandensein von Anzeichen nur zu Hause oder nur in der Schule und nirgendwo sonst wird nicht als ADHS definiert, da diese Anzeichen aus der spezifischen Situation resultieren könnten. Die Anzeichen müssen außerdem ausgeprägter sein als für das Entwicklungsstadium des Kindes erwartet und müssen seit mindestens sechs Monaten vorhanden sein. Schließlich müssen andere medizinische Diagnosen ausgeschlossen werden, die die Störung rechtfertigen könnten. Oft ist die Diagnose schwierig, da sie von der subjektiven Bewertung des Beobachters abhängt. Darüber hinaus können hauptsächlich unaufmerksame Kinder unbemerkt bleiben, bis die schulische Leistung beeinträchtigt wird.
In diesem Buch geht es zwar um Erwachsene mit ADHS, aber wie bereits weiter vorne erläutert, zeigt sich diese Störung immer schon im Kindesalter bzw. in den ersten Schuljahren (wenn auch nicht immer als solche erkannt). Dabei zeigen einige Kinder vor allem Schwierigkeiten bei der anhaltenden Aufmerksamkeit, Konzentration und der Fähigkeit, Aufgaben zu Ende zu bringen. Andere Kinder sind hyperaktiv und impulsiv, wieder andere zeigen beide Zustände. Es handelt sich um eine entwicklungsneurologische Störung, die uns beim Wachsen begleitet und umso evidenter wird, je mehr die Umwelt uns herausfordert. Natürlich ist die Schule das Königreich der Unaufmerksamkeit. Später, nach Abschluss der Schullaufbahn, verschwindet ADHS aber nicht, es bleibt ein Teil der betroffenen Person. Manchmal bleibt es beherrschbar und manchmal verändert es sein Erscheinungsbild. Zum Beispiel könnte ein Kind, das in der Schule als „kombinierter Typus“ (also unaufmerksam und impulsiv/hyperaktiv, siehe auch nächstes Kapitel) diagnostiziert wurde, als Erwachsener einen „unaufmerksamen Typus“ haben und so weiter.
Während die kurze oder unzureichende Aufmerksamkeitsspanne immer vorhanden ist, zeigen sich die unangemessene Lebhaftigkeit (Hyperaktivität) und die Impulsivität unterschiedlich. Das bedeutet, um die Dinge zu komplizieren, dass beide oder nur einer der beiden Schlüsselaspekte vorhanden sein können.
Es gibt also drei Formen von ADHS:
Um diese drei Formen möglichst verständlich zu beschreiben, möchten wir ein anschauliches Bild bemühen. Stellen Sie sich drei verschiedene Fotografen vor: Der erste kann nicht gut fokussieren (unaufmerksam), der zweite kann die Kamera nicht stillhalten (hyperaktiv) und dem dritten gelingt weder das eine noch das andere (Kombityp). Mit folgenden Merkmalen lassen sich die drei Fotografen beschreiben:
Die Geschichte vom Zappel-Philipp von Heinrich Hoffmann
Ob der Philipp heute still
wohl bei Tische sitzen will?
Also sprach in ernstem Ton
der Papa zu seinem Sohn,
und die Mutter blickte stumm
auf dem ganzen Tisch herum.
Doch der Philipp hörte nicht,
was zu ihm der Vater spricht.
Er gaukelt
und schaukelt,
er trappelt
und zappelt
auf dem Stuhle hin und her.
„Philipp, das missfällt mir sehr!“
Seht, ihr lieben Kinder, seht,
wie’s dem Philipp weiter geht!
Oben steht es auf dem Bild.
Seht, er schaukelt gar zu wild,
bis der Stuhl nach hinten fällt.
Da ist nichts mehr, was ihn hält.
Nach dem Tischtuch greift er, schreit.
Doch was hilft’s? Zu gleicher Zeit
fallen Teller, Flasch und Brot.
Vater ist in großer Not,
und die Mutter blicket stumm
auf dem ganzen Tisch herum.
Nun ist Philipp ganz versteckt,
und der Tisch ist abgedeckt.
Was der Vater essen wollt,
unten auf der Erde rollt.
Suppe, Brot und alle Bissen,
alles ist herabgerissen.
Suppenschüssel ist entzwei,
und die Eltern steh’n dabei.
Beide sind gar zornig sehr,
haben nichts zu essen mehr.
Erinnern Sie sich an den Schulkameraden, der den Lehrer unterbrach, bevor er den Satz beendet hatte oder bevor er die Frage gestellt hatte? Den Jungen, der nicht in der Schlange stehen konnte, der dich aufhielt, während du mit anderen Personen sprachst? Für einen unruhigen Jungen ist jeder interessante Reiz eine enorme Versuchung, dem er nur schwer widerstehen kann. Wenn wir auf die drei vorgestellten Fotografen zurückkommen wollen, handelt es sich dabei um den Robert Capa mit seiner Landung in der Normandie, bei dem das hyperaktive Bild dominiert. Sind wir betroffen, können wir nicht stillsitzen, es ist, als ob ein kleiner Motor uns antreibt, uns zu bewegen. Wir sind unruhig, langweilen uns, haben schnell genug von allem und schaffen es kaum, etwas zu Ende zu bringen, wir finden keinen richtigen Platz oder Frieden. Daher erschöpfen wir uns in körperlicher Betätigung, das Risiko, zu maßlos das Handy zu benutzen oder gar zu Alkohol oder Drogen zu greifen, erhöht sich. Gleichzeitig ist allerdings auch ein Übermaß an Konzentration möglich, wenn das Interesse sehr intensiv ist: Es kann seltsame, fast paradoxe Momente geben, in denen wir nicht bemerken, dass das Wasser im Topf kocht, dass der Zug vorbeirauscht, nichts kann uns von dem ablenken, was uns gerade brennend interessiert. Das nennt man Hyperfokus, eine Geheimwaffe, die es ermöglicht, sich sehr intensiv auf etwas zu konzentrieren, das in dem Moment als extrem relevant angesehen wird.
Außerdem fällt es uns oft schwer, unsere Emotionen zu kontrollieren und zu regulieren. Wenn wir wütend werden oder intensive Emotionen empfinden, sagen wir uns selbst: Kontrolliere dich! Dieser Prozess ist sehr ähnlich dem, der es uns ermöglicht, uns zu konzentrieren und unser Verhalten zu modulieren. Daher spricht man auch bei ADHS nicht selten von emotionaler Dysregulation, einer Abfolge von Angst und emotionaler Unbeständigkeit, die je nach Kontext wechselt. Ein besonderes Merkmal der „ADHS-Angst“ hat mit der Planung zu tun: Wenn wir Schwierigkeiten haben, Gedanken zu ordnen, wie könnten wir jemals in der Lage sein, komplexe Aufgaben zu planen? Hier steigt die Angst, und Aufgaben werden auf bessere Zeiten verschoben, bis man, wie oft und mit Vorliebe, alles in letzter Minute, in Eile und manchmal sogar verspätet erledigen muss.
Der „ruhelose Geist“, der Zappelphilipp, der Hyperaktive ist also eine Person, die sowohl körperlich als auch geistig unruhig ist, manchmal emotionale Turbulenzen erlebt, oft auch mit Schlafproblemen zu tun hat. Sehr häufig ist bei Betroffenen auch das sogenannte Verschieben der Phasen zu beobachten, d. h., man geht sehr spät in der Nacht ins Bett und würde dafür erst gegen Mittag aufwachen. Leider erlauben dies die Schul- und Arbeitszeiten nicht und Schlafmangel hilft sicherlich nicht, sich leistungsfähig und ausgeruht zu fühlen. Die negativen Auswirkungen auf die schulische bzw. berufliche Leistung sind in diesem Fall fast unvermeidlich.
Leider wird Hyperaktivität oft als Ungehorsam interpretiert, in der Schule häufen sich Verweise und Ermahnungen. Mit dem beginnenden Erwachsenenalter – und oft mit dem Auftreten einer Komorbidität des Substanzgebrauchs (vor allem Alkohol und Marihuana) – kann es bis zu Konflikten mit der Polizei und dem Gesetz kommen. Oft werden diesen Jungen oder Männern dann Verhaltensstörungen oder andere Arten von Störungen (wie antisoziale Züge) zugeschrieben, dabei entsteht dies nur, weil sie hyperaktiv sind. Somit wird ihnen leider eine der wichtigsten Möglichkeiten – nämlich rechtzeitig diagnostiziert zu werden – verwehrt. Eine frühe Diagnose und Behandlung dagegen ermöglichen es dem Kind und dem Jugendlichen, die wichtigsten Entwicklungsstufen vollständig zu meistern.
Häufig ist auch eine familiäre Belastung mit Lernproblemen (Dyslexie, Dyskalkulie, Dysgraphie). Probleme der Neuroentwicklung kommen oft nicht allein, Merkmale der einen können mit anderen Störungen koexistieren. Man spricht dann von einem erweiterten Phänotyp. Oftmals treten dabei Allergien, Autoimmunprobleme, dermatologische Probleme sowie Diversität des Geschlechts und der sexuellen Orientierung auf. Gehäuft kommen bei ADHS-Personen wahrscheinlich zudem Stimmungs-, Verhaltens- und Schlafstörungen sowie Substanzmissbrauch vor. Sehr oft gibt es tatsächlich einen selbstheilenden Gebrauch von Substanzen mit einer größeren Tendenz zur Abhängigkeitsentwicklung auch sogenannter nicht-stoffgebundener Abhängigkeiten wie Internet- oder Kaufsucht. ADHS erhöht außerdem das Risiko eines Schulabbruchs.
Zudem ist festzustellen, dass sich ADHS bei Männern und Frauen häufig unterschiedlich zeigt. Der Versuch zu verstehen, welcher Unterschied zwischen Männern und Frauen besteht, wird als Gendermedizin bezeichnet. Es zeigen sich wesentliche Unterschiede sowohl in der Art und Weise, wie die Krankheit sich manifestiert (Symptome und Zeichen), als auch in der pharmakologischen Antwort selbst. Im Falle von ADHS ist die hyperaktive/impulsive Komponente bei Männern deutlich ausgeprägter. Es handelt sich daher meist um die offensichtlicheren Patienten, weil sie stören und in der Schule sowie in vielen anderen Lebensbereichen auf Schwierigkeiten stoßen und somit leichter erkannt werden. Bei Frauen ist die Angelegenheit jedoch komplexer, subtiler. Einerseits zeigen Mädchen eine weitaus größere Anpassungsfähigkeit und haben eine stärkere Neigung, „sich gut zu benehmen“ (ob angeboren oder anerzogen, sei dahingestellt). Sie können sich häufig besser integrieren und zeigen eine höhere Selbstkontrolle. Was jedoch schwerer zu kontrollieren ist als hyperaktives Verhalten, ist die Unaufmerksamkeit, die Unfähigkeit, sich zu konzentrieren – das ADHS-Merkmal, das beim weiblichen Geschlecht vorherrschend ist. Die Gedanken fließen, ohne dass sie gestoppt werden können. Die Mädchen und Frauen sitzen zwar ruhig auf den Stühlen, sind aber mit dem Kopf woanders – kurz gesagt: Träumerinnen.
Die Geschichte von Hanns Guck-in-die-Luft
von Heinrich Hoffmann
Wenn der Hanns zur Schule ging,
stets sein Blick am Himmel hing.
Nach den Dächern, Wolken, Schwalben
schaut er aufwärts allenthalben.
Vor die eignen Füße dicht,
ja, da sah der Bursche nicht,
also daß ein jeder ruft:
„Seht den Hanns Guck-in-die-Luft!“
Kam ein Hund daher gerannt;
Hännslein blickte unverwandt
in die Luft.
Niemand ruft:
„Hanns, gib acht, der Hund ist nah!“
Was geschah?
Bauz, perdauz! – Da liegen zwei,
Hund und Hännschen nebenbei.
Einst ging er an Ufers Rand
mit der Mappe in der Hand.
Nach dem blauen Himmel hoch
sah er, wo die Schwalbe flog,
also daß er kerzengrad
immer mehr zum Flusse trat.
Und die Fischlein in der Reih
sind erstaunt sehr, alle drei.
Noch ein Schritt, und plumps, der Hanns
stürzt hinab kopfüber ganz! –
Die drei Fischlein, sehr erschreckt,
haben sich sogleich versteckt.
Doch zum Glück da kommen zwei
Männer aus der Näh herbei,
und die haben ihn mit Stangen
aus dem Wasser aufgefangen.
Seht, nun steht der triefend naß!
Ei, das ist ein schlechter Spaß!
Wasser läuft dem armen Wicht
aus den Haaren ins Gesicht,
aus den Kleidern, von den Armen,
und es friert ihn zum Erbarmen.
Doch die Fischlein alle drei,
schwimmen hurtig gleich herbei;
streckens Köpflein aus der Flut,
lachen, daß man’s hören tut,
lachen fort noch lange Zeit.
Und die Mappe schwimmt schon weit.
„Ihre Tochter ist intelligent, aber sie wendet es nicht an, sie schaut immer aus dem Fenster.“ – „Sehen Sie, Doktor, wie viele Dinge sie begonnen und nie beendet hat.“ – „Wenn ich mit ihm spreche, scheint er immer woanders zu sein, in einer anderen Welt.“
Wenn wir zuvor Robert Capa bei der Landung in der Normandie erwähnt haben, bei dem Hyperaktivität und Impulsivität dominieren, sprechen wir hier von einem anderen Fotografen-Typus: Er ist darauf aus, das Foto der schönsten Blume zu machen und verbringt sein Leben damit, sie zu suchen, ohne sie jemals zu finden. Es dominiert also das unaufmerksame Merkmal, das leider, wie auch die Hyperaktivität, auf vielfältige Weise missverstanden werden kann. Zunächst erscheint das Verhalten distanziert, die Person immer jenseits der Realität, immer in Gedanken versunken. Unaufmerksamkeit ist – daran erinnern wir uns – die Unfähigkeit, einem spezifischen Reiz über einen längeren Zeitraum Aufmerksamkeit zu schenken. Ständig an etwas anderes zu denken, kann uns also den Kontakt mit der Realität verlieren lassen, mit dem, was uns umgibt. So können wir den Eindruck erwecken, in einem träumerischen Zustand zu sein, wie der Künstler mit glasigen Augen, verloren in seinen zukünftigen Projekten. Unsere Gedanken folgen dem idyllischen Strom des Vergnügens und dessen, was wir gerne sein würden. So hat ein ADHS-Junge die Augen meist überall, auf der Suche nach Flecken an den Wänden oder Wolken am Himmel, aber nicht auf der Tafel.
Ein Träumer ist jemand, der ständig nach Zielen sucht, die oft vielseitig und manchmal sogar ambitioniert sind. Nicht selten wechselt man häufig den Arbeitsplatz (Job-Hopping) oder sogar die Länder, in denen man lebt (Country-Hopping), auf der Suche nach einem Glück, das so lange anhält, bis der Traum stirbt oder man sich erneut langweilt. Obwohl der unaufmerksame Teil vorherrscht, erfordert die Umsetzung dieser Entscheidungen dennoch einen gewissen Grad an Impulsivität – und dies weist auf den am häufigsten vorkommenden kombinierten Phänotyp hin, also den dritten Fotografen-Typus. Bei diesen Menschen kann es bei Studienwegen, Freizeitaktivitäten oder Sport häufig zu einem vorzeitigen Abbruch kommen. Die Aktivität wird unterbrochen, wenn Langeweile eintritt. Nicht selten bringt ADHS eine Gabe der Kreativität und Fantasie mit sich, die gleichzeitig aber leider auch einen gewissen Grad an Einschränkung bedeutet. Wenn uns alles langweilt, müssen wir nach Neuem suchen und alle Geschmäcker ausprobieren, die uns angeboten werden. Sowohl im Handeln als auch im Denken. Impulsivität kann hier helfen, weil sie uns ermöglicht, schnell Entscheidungen zu treffen. Indem wir dem Strom des momentanen Interesses folgen, können wir die Richtung mehrmals ändern, immer geleitet von einem Projekt, das uns anregt, auch wenn es nur für kurze Zeit anhält, aber dennoch einige unserer Tage lenkt.
Aber ab wann wird Fantasieren pathologisch? Immer dann, wenn die Rückkehr zum Alltag schwierig wird und man sich, kaum dass man mit beiden Füßen auf dem Boden der Realität steht, schon wieder in der Träumerei verliert. Nicht selten wird ein unruhiger Junge, der ständig an etwas anderes denkt, als Träumer, als ambitioniert angesehen, und alles wird auf seine charakterliche Natur zurückgeführt. Ein großer Träumer allerdings stellt sich etwas vor und dann realisiert er es auch. In unserem Fall aber wird weiterfantasiert, vielleicht etwas geplant, um es dann jedoch aufzugeben und zu etwas anderem überzugehen.
Ähnlich, mit vielen Gemeinsamkeiten, aber doch anders ist derjenige, der nicht träumt, sondern sich einfach in den Wolken verliert – die Traumsuse.
Die Traumsuse gilt allgemein als die „weibliche“ Variante des Hans Guckindieluft: „Sie scheint auf einem anderen Planeten zu sein, zu dem sie ständig flieht ... Es fällt ihr schwer, zurück auf die Erde zu kommen.“
Eine besondere Störung hingegen ist das sogenannte „Sluggish Cognitive Tempo“. Sie ist eine eigenständige Störung, tritt aber bei ca. 50 % der Menschen mit ADHS auf. Der Begriff ist heute umstritten, da er unelegant bzw. negativ konnotiert ist, daher wurde er durch den akzeptableren Begriff „Cognitive Tempo“ (CT) ersetzt: die „Krankheit derjenigen, die immer mit dem Kopf in den Wolken sind“. Dabei ist alles im Kopf verschachtelt, ein bisschen verlangsamt. Sind wir betroffen, fällt es uns schwer, mit dem, was uns umgibt, Schritt zu halten, weil wir von unseren umherschweifenden Gedanken „aufgesogen“ werden. Eine Art unbewusste Meditation, ein Zustand, der uns dazu bringt, unseren Gedanken nachzujagen, wenn etwas anderes von uns verlangt wird. Wir sprechen nicht von faulen Menschen, die in Fantasien versunken, schüchtern oder mit echten Beziehungsproblemen sind. Wir sprechen von Menschen, die tagträumen, oft mit einem vernebelten Geist (Gehirnnebel). Nicht selten fühlen sich die Betroffenen ungeschickt und bemerken ein Gefühl kognitiver Langsamkeit und geringer motorischer Aktivität. Die Unterscheidung zum zuvor beschriebenen Träumer ist nicht immer klar abzugrenzen. Bereits am Ende des 20. Jahrhunderts wurde versucht, Lethargie, Gleichgültigkeit und Langsamkeit in die Diagnose dessen einzufügen, was damals als ADD (Aufmerksamkeitsdefizitstörung) bezeichnet wurde und heute als ADHS bekannt ist.
Was ist der Unterschied von Cognitive Tempo zu ADHS mit überwiegender Unaufmerksamkeit? Das ist bislang noch nicht vollständig verstanden und es laufen viele Forschungen, um diese Frage zu klären. Es gibt jedoch sicher gemeinsame Merkmale beider Varianten, wie die Verlangsamung und das Gefühl der Ungeschicklichkeit im Körper und im Denken. Auch die Erinnerungs-Wiederherstellung ist schwierig, neue Informationen werden langsam verarbeitet, die Wachsamkeit sinkt noch mehr in langweiligen Situationen. Es ist eine Störung im wahrsten Sinne des Wortes, da sie negativ auf die Lebensqualität der betroffenen Person einwirkt, mit unvermeidlichen Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl (wie es bei fast allen ADHS-Fällen geschieht, insbesondere in seiner unaufmerksamen Variante). Niedriges Selbstwertgefühl führt im Laufe der Zeit auch zu Angst und Depression, während die psychosozialen Fähigkeiten (das Zusammensein mit Freunden, mit Menschen) noch mehr abnehmen. Dadurch entsteht ein sich selbst verstärkender Teufelskreis. Zudem ist die Kommunikation mit diesen Personen oft mühsam, gerade wegen ihrer Art sich auszudrücken: elaboriert, aber gleichzeitig leer, voll von unkonkreten Redewendungen oder mit wenigen aussagekräftigen Konzepten.
Einige Autoren haben versucht, die Merkmale des Cognitive Tempo aufzulisten, darunter:
Es wird geschätzt, dass weltweit 5 % der schulpflichtigen Bevölkerung von ADHS betroffen sind, wobei schwere Fälle bis zu 2 % ausmachen. Es wird außerdem angenommen, dass bis zu 80 % der in der Entwicklungsphase diagnostizierten Fälle die charakteristische Symptomatik auch im Erwachsenenalter weiterhin zeigen. Viele Manifestationen der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung werden vor dem 4. Lebensjahr und in jedem Fall vor dem 12. Lebensjahr festgestellt, können aber bis zum mittleren Schulalter keinen signifikanten Einfluss auf die schulische Leistung und soziale Beziehungen haben. Manchmal wird der Verdacht sogar erst im Erwachsenenalter geäußert. Alles hängt von der Schwere der Störung ab und davon, wie sie in der Bevölkerung, vonseiten der Eltern und dem pädagogischen sowie medizinischen Fachpersonal erkannt wird. Häufig kommt es vor, dass das Leiden wegen eines milden Verlaufes lange unbemerkt bleibt. Erst wenn anspruchsvollere Anforderungen (z. B. im Studium) bestimmte Dysfunktionalitäten hervorheben (z. B. massive Schwierigkeiten, sich auf Prüfungen vorzubereiten) oder besonders stressige Lebensereignisse ihre Vulnerabilität aufzeigen, fällt die Störung auf.
Manchmal können die Symptome durch die Fähigkeiten der Betroffenen kompensiert werden, vor allem, wenn eine hohe intellektuelle Funktionsfähigkeit vorliegt und man noch in der Lage ist, schulische Prüfungen zu bestehen – bis man vielleicht auf Lehrer trifft, die mehr Einsatz fordern. Wenn allerdings nur nach schulischer und beruflicher Leistung bewertet wird, wie es früher üblich war, besteht die Gefahr, einen großen Teil der Störung zu übersehen.
Mit der Zeit können Menschen mit ADHS außerdem lernen, den impulsiven Verhaltensaspekt zu kontrollieren, während ein Großteil der kognitiven und emotionalen Merkmale bestehen bleibt. Im Erwachsenenalter nimmt also die Hyperaktivität allmählich ab, während die ADHS-Arten mit vorherrschender Unaufmerksamkeit oder der kombinierte Typus überwiegen.
Die Diagnose von ADHS bei Erwachsenen kann daher schwieriger sein. Die Symptome können denjenigen einer anderen psychischen Störung ähneln, z. B. Angst- und Stimmungsstörungen, Substanzgebrauch. Häufige Stimmungsschwankungen, die auf einer emotionalen Dysregulation basieren, sind nicht selten. Dies kann zu Beziehungs-, Arbeits- und existenziellen Schwierigkeiten führen und wiederum verschiedenartige Misserfolge hervorrufen. Oft spüren ADHS-Betroffene auch eine ängstliche Komponente hinsichtlich des „Wie?“ und des „Wann?“, sowohl was die Alltagspflichten angeht als auch die Aufgaben, die in der Arbeit und im sozialen Kontext gefordert werden.
Grundsätzlich gilt: Je früher die Diagnose gestellt wird, desto besser kann geholfen werden, um eine fortschreitende Beeinträchtigung sozialer Beziehungen zu vermeiden.