Der amerikanische Journalist und Ernährungsexperte Michael Pollan fasste seine jahrzehntelangen Untersuchungen und sein Nachdenken über das gesunde Essen in drei kurzen Aussagen zusammen: »Iss ganze Lebensmittel, nicht zu viel und vorwiegend Pflanzen.« 42 Die beiden letzten Aussagen sind nicht besonders erstaunlich, eher überraschend ist aber die erste: Die Lebensmittel, die wir essen, sollten »ganz« sein, etwa ein ganzer Apfel oder eine ganze Bohne.
In den aktuellen Lehrbüchern der Lebensmittelchemie sowie in den Ernährungsrichtlinien der Europäischen Union spielt die Ganzheit von Lebensmitteln keine Rolle. Das Gegenteil von ganzen Lebensmitteln sind Nahrungsergänzungsmittel, die einzelne Vitamine und Spurenelemente in Pulverform enthalten. Sie entsprechen präzise der Theorie der Lebensmittelindustrie, erfreuen sich zunehmender Beliebtheit und werden von Apothekerinnen, Drogisten und Heilpraktikern großzügig empfohlen. Warum hat Pollan eine so ganz andere Sichtweise formuliert, die von der konkreten Ganzheit von Lebensmitteln als dem wichtigsten Ernährungsgrundsatz ausgeht?
Um dies verständlich zu machen, muss ich etwas ausholen und die Hinweise, die ich in der Einleitung gegeben haben, hier vertiefen. Gemäß der aktuellen Ernährungstheorie besteht Nahrung aus Makro- und Mikronährstoffen und die Zusammensetzung und Ausgewogenheit dieser Nährstoffe mache die Gesundheit der Nahrung aus. Ob diese Nährstoffe aus einer Kapsel stammen oder aus einem ganzen Apfel, sei gleichgültig. Weil auch ich im Medizinstudium diese Theorie gelernt hatte, war ich erstaunt, dass man in der praktischen Medizin überraschend konsequent davon abwich. In meiner Ausbildung in der Inneren Medizin sah ich, dass das Pflegepersonal eine Patientin von der Sondennahrung abkoppelte und sie aufforderte, selbst zu essen. Obwohl die Sondennahrung viel reichhaltigere und ausgewogenere Nährstoffe enthielt, verteidigte der Chefarzt Semmeln, Joghurt und Schleimsuppe als die gesündere Option. In meinen Augen war diese Haltung veraltet, sie spiegelte die Großmutter-Weisheit wider, dass Natürliches zu essen einen Wert an sich hat. Als Assistenzarzt am Zentrum für Essstörungen des Universitätsspitals Zürich wurde ich noch viel direkter mit dem scheinbar verbreiteten Gebot der Ganzheit von Nahrung konfrontiert. Meine Vorgesetzte forderte mich auf, den Patientinnen ihre geliebte Trinknahrung wegzunehmen und sie zu motivieren, sich an feste Nahrung zu gewöhnen. Ich tat dies nur mit Widerstand, weil ich keine wissenschaftliche Begründung für den Vorteil von fester gegenüber flüssiger Nahrung kannte. Zweifellos führte diese Ernährungsumstellung dazu, dass die Ausgewogenheit und der Nährstoffgehalt der Nahrung deutlich abnahm, weil die Patientinnen aufgrund ihrer Verdauungsstörungen eine starke Abneigung gegen ganze Lebensmittel hatten und sich ohne Trinknahrung viel einseitiger ernährten. Meine Vorgesetzte war zum Glück nicht nur eine erfahrene Praktikerin, sondern auch bestens mit der wissenschaftlichen Literatur vertraut. Anhand von Beobachtungsstudien zeigte sie mir, dass Flüssignahrung im Vergleich zu fester Nahrung die Gefahr von Erschöpfung, Darmbeschwerden, metabolischen Störungen (etwa des Zuckerstoffwechsels) und Knochenschwund erhöht, auch wenn die Flüssignahrung deutlich mehr Nährstoffe als die feste Nahrung enthält. Den Grund dafür kannte sie zwar nicht, aber klar war und ist: Die Erfahrung aus dem klinischen Alltag widerspricht der Nährstofftheorie, wie sie in den Lehrbüchern zu finden ist. Diese Nährstofftheorie basiert ja auch nicht auf staatlicher oder gemeinnütziger Forschung, sondern wurde von der chemischen Industrie entwickelt. Der gelang es zum Beispiel zu Beginn des 20. Jahrhunderts, große Mengen Vitamin C chemisch herzustellen, weshalb ihre Marketingabteilunge n eine Vitamin-C-Mangel-Theorie entwickelten, um auf perfide Weise möglichst viele Menschen vom Vitamin-C-Konsum in Tablettenform zu überzeugen.
Am eindrücklichsten kann man Pollans Gebot der ganzen Lebensmittel bei Patienten beobachten, die aus medizinischen Gründen, etwa wegen einer Lähmung des Darms, nicht normal essen können und parenteral ernährt werden müssen. »Par« bedeutet hier »neben«, »enteral« steht für »Darm«, was zusammen eine »Umgehung des Darms« mittels Injektion oder Infusion direkt ins Blut meint. Diese Nährlösungen enthalten die perfekte Mischung aus Makro- und Mikronährstoffen, die jeden Lebensmittelchemiker verzücken muss. Darin sind alle Vitamine vertreten (einschließlich Thiamin, Ascorbinsäure, Niacin, Riboflavin und Biotin), alle essenziellen Aminosäuren (einschließlich Methionin, Phenylalanin und Tryptophan), alle essenziellen Fettsäuren (einschließlich der Omega-3-Fettsäuren), alle essenziellen Spurenelemente (einschließlich Zink, Selen, Magnesium, Kalzium, Eisen, Natrium, Kalium, Phosphor, Kupfer und Jod) und dazu noch Kreatin und Folsäure sowie Kohlenhydrate, Eiweiß und Fett, die alle bis aufs Milligramm den Vorgaben der Lehrbücher und internationalen Richtlinien entsprechen. Doch erstaunlicherweise kann diese Superernährung zu schweren Krankheitszuständen führen: von metabolischen Störungen über Gerinnungsstörungen, Knochenschwund, schweren allergischen Reaktionen und Leberkrankheiten bis hin zu gravierenden Hirnschäden. Das ist der Grund, weshalb erfahrene Ärzte die parenterale Ernährung ausschließlich als Ultima Ratio einsetzen, als letztmöglichen Weg, wenn alle anderen Ernährungsoptionen versagen.
Ein anderes eindrückliches Beispiel für Pollans Grundsatz der ganzen Lebensmittel ist der Fruchtsaft. Obwohl er die identische chemische Zusammensetzung wie eine ganze Frucht hat, ist er ungesund und trägt zu Übergewicht, Diabetes und Krebs bei. Im Gegensatz dazu sind ganze Früchte gesund und schützen vor diesen Leiden. Was für rätselhafte Befunde! Und warum berichten die Medien so wenig darüber? Warum wagt es niemand, auf die krassen Mängel der gängigen Ernährungstheorie hinzuweisen?
Ist Depression ein Nährstoffmangel?
Nährstoffmangel-Theorien beeinflussen in immer stärkerem Maße auch mein eigenes Fachgebiet, die Psychiatrie. Da verwundert es nicht, dass es meine eigene Forschung war, die meine Zweifel an diesen Theorien verstärkte. Einen ersten Hinweis auf unausgesprochene Fehler in der Nährstofflehre erhielt ich, als ich im Jahr 2003 meinen dreijährigen Forschungsaufenthalt am National Institute of Mental Health antrat, dem staatlichen Psychiatrie-Forschungsinstitut der USA . Damals galt ein Mangel des Botenstoffs und Glückshormons Serotonin als Ursache der Depression. Die Aminosäure Tryptophan ist die chemische Vorstufe von Serotonin, sodass man sich überlegte, ob ein Tryptophan-Mangel die Depression erklären könnte. Als ich dem Direktor der Abteilung für Depressionsforschung daher vorschlug, die Serotoninmangel-Theorie zu beforschen, winkte er ab: »Wir haben diese Theorie in Dutzenden Studien untersucht, und ich kann Ihnen versichern: Depressive Menschen leiden nicht an einem Serotoninmangel. Wir haben es im Hirngewebe untersucht, mittels bildgebender Verfahren und nun auch mit Genetik. Es gibt keinerlei Hinweise auf einen Serotoninmangel. Wenn man gesunde Menschen auf eine Diät setzt, die reich an Aminosäuren ist, nur kein Tryptophan beinhaltet, entsteht mit der Zeit ein deutlicher Tryptophanmangel im Gehirn, was wiederum zu einem Serotoninmangel führt. Doch die Versuchspersonen zeigten keine Anzeichen von Depression. Wir haben auch depressiven Menschen Tryptophan gegeben, aber die wurden dadurch eher noch depressiver. Diese Theorie ›stinkt‹, und wir haben aufgehört, daran weiterzuarbeiten.« Ich war verblüfft und fragte, ob denn Antidepressiva nicht das Serotonin im Hirn steigern. Er antwortete: »Wir wissen ziemlich wenig über die Wirkung von Antidepressiva. Sicher ist, dass sie die Wiederaufnahme von Serotonin in den Nervenzellen blockieren, wodurch Serotonin nicht rezykliert werden kann. Dies mag kurzfristig zu einem Anstieg von Serotonin in den Synapsen führen, aber nach ein paar Wochen nimmt es wieder ab, und erst dann beginnen Antidepressiva zu wirken.« Ich hatte mich gut auf das Gespräch vorbereitet und erinnerte ihn daran, dass er selbst auch schon Artikel über den Serotoninmangel geschrieben hatte. Er erwiderte: »Ich glaube schon, dass Serotonin bei der Depression eine Rolle spielt, aber nicht ein Mangel. Ich bevorzuge deshalb den Begriff Serotonindysfunktion. Aber vermutlich haben Sie schon recht, die Serotoninmangel-Theorie ist so populär, dass man den Begriff ›Serotoninmangel‹ gelegentlich benutzt, um zum Ausdruck zu bringen, dass Depression etwas mit dem Hirn zu tun hat. Als Ärzte haben wir ja viele Aufgaben, wir müssen ja auch Theorien entwickeln, die unsere Patienten verstehen. Außerdem braucht auch die Industrie Mangeltheorien. Dass Firmen Chemie herstellen, um einen chemischen Mangel auszugleichen, das kapiert jeder. Eine Firma, die Chemie produziert, weil wir an einem Überfluss an Chemie leiden, kapiert keiner. Aber verstehen Sie mich nicht falsch: Antidepressiva wirken ziemlich gut, auch wenn die Serotoninmangel-Theorie nicht stimmt.«
Dieses Gespräch, das ich spannend fand, mich aber auch verunsicherte, gab mir eine erste Ahnung, dass in der Medizin verschiedene Realitäten vorherrschten. Es erinnerte mich an Risse im wissenschaftlichen Weltbild, die mich seit meiner Kindheit faszinieren. In Luzern, wo ich aufwuchs, enthält das Wasser hohe Mengen an Kalzium und Magnesium, sodass man Haushaltgeräte regelmäßig entkalken muss. Trotzdem warnen auch dort Gesundheitsmagazine vor einem Kalzium- und Magnesiummangel, von dem bis zu 50 Prozent der Bevölkerung betroffen sein sollen, was in Luzern mit Sicherheit nicht zutrifft. Einmal war ein Apotheker bei uns zu Besuch, und ich fragte ihn, weshalb er Kalzium- und Magnesiumtabletten im Schaufenster hatte. Lachend antwortete er: »Die sind für die italienischen Touristen, wir brauchen das nicht.«
Aber zurück zu Pollans Grundsatz der ganzen Lebensmittel. Dieser besagt ja nicht nur, dass die Ganzheit wichtiger ist als die Mikronährstoffzusammensetzung, sondern auch, dass die Ganzheit wichtiger ist als die Ausgewogenheit der Makronährstoffe Kohlenhydrate, Fett und Protein. Eine solche Ausgewogenheit können Nährlösungen viel besser garantieren als natürliche Lebensmittel. Interessant ist jedoch, dass die Menschen in den Blauen Zonen, wo Genussesser sehr lange leben, vorwiegend ganze Lebensmittel essen und sich keinen Deut um die von der modernen Lebensmittelchemie empfohlene Nährstoffbalance kümmern. Die Menschen entlang des Mittelmeers verzehren zum Beispiel viel mehr fettige Nahrung als empfohlen. Der Fettanteil ihrer Nahrung liegt bei fast 50 Prozent. Die Langleber Mittelamerikas wiederum ernähren sich hauptsächlich von Mais und Bohnen und kommen auf einen Kohlenhydratanteil von bis zu 75 Prozent. Und die Nahrung der Massai in Ostafrika, die kaum an Zivilisationskrankheiten leiden, hat ein en ausgesprochen hohen Eiweißanteil von über 50 Prozent, weil sie sich zu einem großen Teil von Rinderblut, Fleisch und Milch ernähren.
Aus diesen Befunden muss man schließen, dass die chemische Vorstellung von Ernährung sogar in dem wichtigen Punkt der Ausgewogenheit versagt. Selbst randomisierte Studien, bei denen die Teilnehmenden verschiedenen Diätgruppen mit unterschiedlichen Kohlenhydrat-, Fett- und Eiweißanteilen zugeordnet wurden, belegten nie einen Gesundheitsvorteil einer bestimmten Makronährstoffzusammensetzung. 43 Auch d ie Idee, dass Makronährstoffanteile bedeutsam für die Gesundheit sind, stammt übrigens nicht aus den Forschungslabors von Universitäten, sondern wurde von der Industrie erfunden: Sie kann den Fett-, Kohlenhydrat- und Proteinanteil der von ihr produzierten Nahrung beliebig verändern und postulierte deshalb eine Theorie, wonach diese Anteile und ihr Verhältnis wichtig für unsere Gesundheit sind. Die Grundaussage aller chemischen Ernährungstheorien ist immer die gleiche: Industrielle Nahrung und Nahrungsergänzungsmittel sind gesünder als ganze, natürliche Lebensmittel, die chemisch nicht manipuliert sind.
Ich betone die blinden Flecken der chemischen Ernährungstheorie so ausführlich, weil diese sich ab den 1980er-Jahren weltweit in den Medien durchgesetzt hat, immer öfter gesetzlich verankert ist und in den Schulen unterrichtet wird. Doch sie hat die Gesundheit nicht verbessert, sondern ist im Gegenteil Kern des Problems, das zu einer Vervierfachung von Diabetes, einer Verdoppelung von Übergewicht und einer deutlichen Zunahme von Autoimmunkrankheiten geführt hat. Als Beispiel nehme man nur den Nutri-Score, der seit 2016 von allen großen Lebensmittelkonzernen kräftig unterstützt und beworben wird. Dieser Score wurde von Wissenschaftlern entwickelt und enthält auch ein paar wissenschaftlich fundierte Prinzipien, etwa eine positive Bewertung von ganzen, unverarbeiteten Lebensmitteln und die Nicht-mehr-Berücksichtigung von Mineralien- und Vitaminz usätzen, die laut Dutzenden von Studien zu Krebs und anderen schweren Krankheiten beigetragen haben. Die Einteilung geht von A für sehr gesund bis zu E für sehr ungesund. Doch im Laufe der Entwicklung, in der die Industrie kräftig mitwirken durfte, hat sich immer mehr ihre chemische Theorie durchgesetzt. Chemische Zusätze wie Süß- und Farbstoffe oder Konservierungsmittel führen in der aktuellen Version nicht mehr zu einer Abnahme des Wertes. Zu Beginn der Entwicklung gingen die Wissenschafter von einem schädlichen Zuckerzusatz von 25 Gramm pro Tag aus. Der Industrie gelang es, dies auf sage und schreibe 90 Gramm hochzusetzen! Außerdem wurde es zunehmend möglich, einem vollends ungesunden Fast Food ein paar lösliche Ballaststoffe beizumischen – eine der Lieblingsideen der Industrie –, um den Score anzuheben. Eine bekannte, haarsträubend ungesunde Schweizer Schokomilch, die ich als Kind übrigens sehr geliebt habe, erhält auf der Skala inzwischen ein B, sie wird also zum regelmäßigen Verzehr empfohlen – was das Gebot meiner Eltern, nur an Festtagen ein Glas davon zu trinken, direkt untergraben hätte. Die Logik dahinter: Milch ist gesund und durch die Entfettung wird sie noch gesünder. Durch diese geballte Gesundheitsförderung ist der Zusatz von Zucker für den Geschmack gerechtfertigt. Doch jede einzelne Zeile dieser Argumentation ist falsch: Milch ist für Erwachsene nur in geringen Mengen gesund und für viele ist sie vermutlich sogar ungesund. Durch die Entfettung wird sie nicht gesünder, sondern noch ungesünder, weil die Entfettung die Insulinreaktion auf Milch steigert, was zu negativen Folgen wie Übergewicht, Diabetes und Entzündungen maßgebend beiträgt. Die Entfettung wird aber noch viel problematischer, wenn man der Milch Zucker hinzufügt. Die Nutri-Score-Logik, dass man durch die Entfettung die krank machende Kraft des Zuckers ausgleicht, ist komplett irrig. Das genaue Gegenteil ist der Fall: Die beiden industriellen Maßnahmen verstärken sich in ihrer krank machenden Potenz. Der Nutri-Score ist ohnehin und grundsätzlich eine Sackgasse, weil er auf der Theorie von Nahrung als unverbundene Ansammlung von Nährwerten basiert, die nicht die Lösung, sondern die Ursache der ernährungsbedingten Krankheitsepidemie ist, die wir seit 1980 erleben. Denn wie das Beispiel der Schokomilch zeigt, erklären sich Krankheit und Gesundheit zu einem wesentlichen Teil nicht aus einzelnen Nährstoffen, sondern aus dem Wechselspiel zwischen den Nährstoffen, die in ganzen Lebensmitteln eine grundlegend andere ist als in hochprozessierten und industriellen. Diese Wechselwirkungen erklären auch, warum parenterale Ernährung, die entsprechend ihrer perfekten Nährstoffbalance einen A-Score erhalten würde, so ungesund ist. Zusammengefasst bedeutet das:
Die Lebensmittelmatrix
Die wichtigste Wechselwirkung zwischen Nährstoffen in einem ganzen Lebensmittel nennt man Lebensmittelmatrix. Sie ist der Grund, warum Claudia, die ich in der Einleitung erwähnt habe, starb und ich als junger Arzt angewiesen wurde, bei meinen Patientinnen die Flüssignahrung durch feste Nahrung zu ersetzen. »Matrix« bedeutet Gitter, womit in diesem Fall gemeint ist, dass Nährstoffe nicht in einer Flüssigkeit gelöst sind, sondern durch komplexe biologische Strukturen, die man sich wie ineinander verschachtelte Gitter vorstellen kann, zusammengehalten werden. Schon das äußere Gitter eines einfachen Salatblatts besteht aus einer abschirmenden Wachsschicht, einer Ober- und einer Unterhaut, Palisadenzellen, Schwammgewebe und Spaltöffnungen. Dieses Gitter enthält Tausende verschiedener Antioxidantien, die den Salat schützen. In diesem Gitter gibt es unzählige weitere Gitter. Besonders wichtig sind die pflanzlichen Zellwände, die einen geschlossenen Raum bilden und den Nährstoffen damit eine besondere chemische Umgebung bieten. Diese ausgeklügelte Struktur spielt beim Nährwert eine entscheidende Rolle, weil sie die Verdauung verlangsamt, schnell zerfallende Nährstoffe konserviert und dafür verantwortlich ist, dass nicht nur der obere, sondern auch der untere Darm und das ganze Mikrobiom ernährt werden. Ein gutes Beispiel für die komplexe Verwandlung von Lebensmitteln durch die Verdauung ist die Zwiebel. Sie enthält keine Nährstoffe, die unsere Augen reizen. Der reizende Stoff entsteht erst durch das Schneiden der Zwiebel, da dabei die Gitterstruktur zerstört wird und Nährstoffe in neue Wechselwirkungen treten. So kommt es zu einer chemischen Reaktion zwischen einer schwefelhaltigen Aminosäure, die im äußeren Gitter hängt, und einem Enzym, das Teil eines inneren Gitters ist. (Übrigens: Indem man die Zwiebel vor dem Schneiden gefriert, verhindert man diese chemische Reaktion.)
Millionen von Jahren Erfahrung unseres Körpers mit ganzen Lebensmitteln haben zu einem vielstufigen Verdauungsprozess geführt, bei dem die Lebensmittelmatrix Schritt für Schritt aufgelöst wird. Jeder Darmabschnitt ist spezialisiert auf eine bestimmte Auflösung eines Gitters und die Aufnahme der chemischen Verbindungen, die dabei entstehen. Anhand der Zwiebel können wir gut sehen, dass ein radikaler Schnitt durch alle Gitter unsere Schleimhäute überfordert. Mehrstufige Verdauungsvorgänge bringen dagegen im Austausch zwischen Lebensmitteln und Darm dauernd neue Nährstoffe hervor, die zur jeweiligen Schleimhaut passen. Die neuen Nährstoffe sind oft so flüchtig, dass es nicht möglich ist, sie chemisch zu identifizieren. Das mag ein Hauptgrund sein, weshalb die perfekte parenterale Nährlösung zu schwerer Mangelernährung führt, da wir viele wesentliche Nährstoffe, die bei der Verdauung erst entstehen, nicht kennen und wegen ihrer Flüchtigkeit auch nicht haltbar herstellen könnten. Diese für die Industrie unangenehme Realität wird leider konsequent verschleiert. Die Produzenten von Nahrungsergänzungsmitteln sind zwar gesetzlich dazu angehalten, auf ihren Produkten darauf hinzuweisen, dass Nahrungsergänzungsmittel kein Ersatz für eine vielfältige Ernährung sind, doch über dem Kleingedruckten steht nichtsdestotrotz die bekannte, marketingoptimierte Grundaussage, dass die Nahrungsergänzung für eine gesunde Ernährung unabdingbar ist – was schlicht nicht korrekt ist.
Ein weiterer wichtiger Faktor für die gesundheitsfördernde Wirkung von ganzen Lebensmitteln sind die Ballaststoffe. Doch auch bei diesen Stoffen ist es der Industrie gelungen, ihr Wunschdenken als Standardernährungslehre zu vermarkten:
Das Wunschdenken der Industrie ist nicht selten auch das Wunschdenken vieler Konsumenten, einschließlich meiner Familienangehörigen und Bekannten. Weil ich mit ihnen gelegentlich in Auseinandersetzungen in Bezug auf Milchprodukte und deren Alternativen gerate, beschäftige ich mich unter anderem mit Mandeln, um in diesen Diskussionen einen produktiven Beitrag leisten zu können. Mandeln sind wunderbare Naturprodukte, die über eine ausgezeichnete Matrix verfügen, welche die vielen Fette und Kohlenhydrate einbinden. Wenn man ganze Mandeln isst, steigen die Blutfette deshalb nur wenig an. Wenn man jedoch Mandelpulver, Mandelbutter oder Mandelöl verzehrt, steigen bei der gleichen eingenommenen Menge die Blutfette deutlich stärker an. Auch die Kalorienzufuhr ist erheblich höher. Dazu kommt, dass wir im Durchschnitt sehr viel mehr Mandelpulver, Mandelbutter oder Mandelöl auf einmal essen als ganze Mandeln, weil es keinen Kauaufwand gibt und unsere Sättigungssysteme auf Öl und Pulver weniger reagieren. Dies potenziert die Schädlichkeit von verarbeiteten Mandeln, da der Mandelzucker sehr schnell im Blut ansteigt und die Blutgefäße verzuckert. 45 Damit will ich kein Mandelbutterverbot aussprechen, sondern lediglich darauf hinweisen, dass gemahlene und verflüssigte Mandeln langsam, achtsam und nur in kleinen Mengen konsumiert werden sollten.
Ein weiteres eindrückliches Beispiel für die Lebensmittelmatrix ist die Banane. In ihrer jugendlichen Form, mit leicht grünlichen Enden, sind fast alle Kohlenhydrate als Stärke vorhanden, die eine verbindende Matrix bietet. Sie passiert fast unverdaut den Magen und den Dünndarm und wird erst im Dickdarm zur großen Freude der Darmbakterien verdaut. Die Dickdarmverdauung wiederum aktiviert den Vagus-Nerv besonders stark. 46 Im Kontrast dazu enthält eine überreife braune Banane nur noch etwa zehn Prozent der früheren Stärke, während der Rest in Zucker umgewandelt ist. Ihre Matrix ist so schwach, dass der obere Dünndarm sie sofort wie einen Fruchtsaft aufnimmt, was zu einer ungünstigen Flut von Zucker im Blut führt sowie zur Aktivierung des Stressnervs und zur Unterernährung der Darmflora beiträgt. 47 , 48 Außerdem sättigt eine wenig reife Banane besser als eine überreife, weil sie die Verdauung verlangsamt und die Insulinausschüttung hemmt. Neue Medikamente aus der Diabetesforschung wie Semaglutid, die gerade die Behandlung schwerer Fettleibigkeit revolutionieren, bremsen die Magenentleerung, was zur Verlangsamung der Verdauung und zur Abnahme des Appetits führt. Den gleichen Effekt kann man jedoch viel billiger und ohne Nebenwirkungen haben, indem man Lebensmittel »al dente« mit intakter Matrix isst. 49 Dank einer chemischen Reorganisation ist das Abkühlen von Reis, Nudeln und Kartoffeln ebenfalls eine geeignete Methode, um die Nahrung mit langen, resistenten Kohlenhydraten anzureichern, welche die Verdauung verlangsamen und die Darmbakterien als natürliche Präbiotika nähren.
Die aktuelle Unfähigkeit der Industrie, Lebensmittel mit kräftiger Matrix herzustellen, ist eine brutale Tatsache. Das wird mir besonders bewusst, wenn ich von Start-ups lese, in denen junge, hoch motivierte Menschen völlig neue Lebensmittel erfinden, indem sie die Matrix ganzer Lebensmittel zerstören. Der Wille zur Innovation und Neugestaltung beeindruckt mich. Dennoch bereiten sie mir auch Sorge, denn die Übergewichts- und Diabeteslawinen wurden gerade durch solche neuen Nahrungsmittel ausgelöst. Wenn man ein neues Lebensmittel herstellen will, braucht man sogenannte Emulgatoren, die die Nährstoffe zusammenhalten, weil es zu teuer wäre, eine Matrix aufzubauen. Diese Methode ist jedoch besonders schädlich, weil Emulgatoren waschmittelähnliche Chemikalien sind, durch die die Wechselwirkungen zwischen Nährstoffen und Darm unmöglich werden. Die Folge davon: Fettleibigkeit, Diabetes und Störungen der Darmbakterien. 50 Zahlreiche modische Lebensmittel wie Selleriechips und glutenfreie Teigwaren enthalten viele Emulgatoren und sollten deshalb nur in kleinsten Mengen genossen werden.
Wie die Körperformen von Bodybuildern erahnen lassen, haben nicht nur Pflanzen, sondern auch tierische Produkte eine komplexe, dreidimensionale Matrix. Eine Muskelhaut hält die Muskelfaserbündel zusammen. Die Bündel liegen in einem Bindegewebe. Jede einzelne Muskelfaser ist wiederum umgeben von einer Haut und enthält viele Zellen, die über Verbindungsscheiben miteinander vernetzt sind. Jede einzelne Muskelzelle ist ein eigener Kosmos mit Zellkern, energieliefernden Mitochondrien und verschiedenen Muskelproteinen, die lange Ketten bilden. In hochprozessiertem Fleisch, etwa in einem Hamburgerpatty, ist diese Matrix stark beschädigt, aus dem Muskelfleisch ist ein Brei geworden, der es erlaubt, das Fleisch schneller zu essen und den gesunden, aber gelegentlich anstrengenden Verdauungsprozess zu vermeiden. Im Gegensatz dazu haben die Bewohner der Blauen Zonen den Mut zum Verzehr von Halbrohem und Rohem mit knackigen Strukturen. Fische sind dafür besonders geeignet, weil sie eine relativ schwache Matrix haben, da es im Wasser weniger Fasern braucht, um den Körper zusammenzuhalten.
Körperlicher und psychischer Halt dank Nahrung mit intakter Lebensmittelmatrix
In den USA habe ich die Erfahrung gemacht, dass Fast Food nicht nur dick, sondern auch müde macht und das Gefühl vermittelt, eine Gurke zu sein, die keine Festigkeit hat. Neueste Forschung belegt, dass dieses Bild der »schlaffen Gurke« gar nicht so weit hergeholt ist. Eine spannende Studie teilte Lebensmittel in drei Gruppen ein. Zu den unverarbeiteten und minimal verarbeiteten Lebensmitteln zählte sie Obst, Gemüse und Reis, die eine intakte Lebensmittelmatrix haben, also zu den »straffen Gurken« gehören. Zu den verarbeiteten Nahrungsmitteln rechnete sie Öle, Butter, Milchprodukte und geräuchertes Fleisch, die eine teilweise erhaltene Matrix haben, also zu den »schlaffen Gurken« zählen. Als ultraverarbeitete Lebensmittel betrachtete sie Lebensmittel, in denen künstliche Stoffe wie Emulgatoren, hydrierte Öle und andere chemische Zusatzstoffe nackte Kalorien lose verbinden – diese Lebensmittel ähneln Gurkensaft, um bei diesem Vergleich zu bleiben. Die Forscher fanden heraus, dass unverbundene, nackte Kalorien zu Angst, depressiven Symptomen und zur Abnahme von geistigen Fähigkeiten führten, während eine intakte Lebensmittelmatrix die Resilienz stärkte. Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass »schlaffe Gurken« und »Gurkensaft« im oberen Darm aufgenommen werden, was zu einer Unterernährung der Darmflora führt, was wiederum zu Müdigkeit und Erschöpfung beiträgt.
Die Industrie gibt vor, ihren »schlaffen Gurken« durch den Zusatz von Vitaminen zu mehr Kraft zu verhelfen, doch das ist eine absichtliche Täuschung. Mein Vater arbeitete in der Pharmafirma, der es gelang, Vitamin C industriell herzustellen. Alle Studien, die die Firma durchführte, waren negativ, zeigten also keinen Vorteil für die Gesundheit. Trotzdem investierte sie viele Millionen Schweizer Franken, um die Vorteile von Vitamin C weltweit anzupreisen, die sie in ihren Studien gerade nicht gefunden hatten. Mein Vater war schockiert und verließ enttäuscht die Firma, die er ursprünglich für ihre wissenschaftlichen Höchstleistungen geschätzt hatte. Mit dieser persönlichen Anekdote will ich nicht sagen, dass manche Menschen wegen Verdauungs- und Essstörungen nicht auf Nahrungsergänzungsmittel angewiesen sind. Ich möchte aber betonen, dass Vitamin-, Kalzium- und Fettsäurepräparate krasse Beispiele von matrixloser Nahrung sind, die keine Kraft verleihen. In einer solchen Nahrungsergänzung sind die Nährstoffe nur noch in Molekülen vorhanden. Die Hiobsbotschaften über die schädlichen Wirkungen von Vitaminen und Spurenelementen, die in den letzten Jahren in Fachjournalen publiziert wurden, haben mit der chemischen Einsamkeit dieser Nährstoffe zu tun. Man muss davon ausgehen, dass es nicht nur Zuckerspitzen gibt (ein rascher und ungesunder Zuckeranstieg im Blut), sondern auch andere Nährstoffspitzen, die schädlich für unseren Körper sind. Ich denke da insbesondere an Kalzium-, Vitamin- und Fettsäurespitzen. Immerhin ist die Verkalkung von Geweben eine der wichtigsten Alterungs- und Todesursachen überhaupt. Das plötzliche Anfluten mit Kalzium und Fetten trägt darüber hinaus möglicherweise zu Gefäßschäden bei. Eine Folge solcher Nährmittelspitzen könnte auch die mehrfach erhöhte Konzentration an Zink, Kupfer und Eisen sein, die im Hirn von Alzheimerpatienten gefunden wurde, was auf eine ungesunde Ansammlung dieser Metalle im Körper hinweist. 51 Auch hohe Dosen von Magnesium aus Nahrungsergänzungsmitteln oder Medikamenten können gefährlich sein und Übelkeit, Krämpfe und Durchfall verursachen. Vitamin-C-Spitzen können zu Leberschäden beitragen und Vitamin-D-Spitzen zu Knochenschwund, weil sie für die Knochen das Signal sind, Kalzium ins Blut abzugeben. Tryptophan in Kapselform kann zu starken Muskelschmerzen, Nervenschäden und Hautveränderungen führen.
Dies alles spricht dagegen, gesunde Ernährung mit chemischen Begriffen wie »gesättigte Fette«, »Kohlenhydrate«, »Tryptophan«, »Zink«, »Magnesium«, »Kalzium«, »Vitamin« oder »Omega-3-Fettsäuren« zu verknüpfen, weil dafür die Komplexität von ganzen Lebensmitteln und nicht der einzelne, isolierte Nährstoff maßgebend ist.
Ganze Lebensmittel erzählen eine Aroma-Geschichte
Achtsames Essen erlaubt es, die Lebensmittelmatrix direkt zu erfahren. Jetzt, wo ich diese Zeile schreibe, beiße ich in eine Ingwerwurzel. Die Aroma-Reise beginnt mit warmen, holzigen Noten, dann treten bittere Pfeffer-Aromen dazu, gefolgt von dem unverkennbaren brennenden Ingwer-Kick und einem nachhaltig erfrischenden Abgang. Nachdem ich meinen Mund gespült habe, gebe ich als Kontrast etwas Ingwerpulver auf meine Zunge. Immerhin ein sehr teures Produkt aus Kambodscha, das ich in einem Reformhaus in Zürich gekauft habe. Beim Pulver treten all die holzigen, pfefferigen, bitteren und erfrischenden Aromen gleichzeitig auf, was nicht zu einer gegenseitigen Synergie, sondern zu einer gegenseitigen Abschwächung führt. Ich erlebe ein typisch modernes Gefühl, nämlich die Langeweile der Überstimulation.
Auch Zimtblüten erzählen eine spannendere Geschichte als Zimtpulver. Die drei Zimtblüten, die ich gerade langsam kaue, führen mich auf eine Reise, die mit Holz- und Nelken-Aromen beginnt, gefolgt von einer samtenen Welle des eigentlichen Zimt-Aromas, in das sich moschusartige Töne, Tabak und Thymian-Aromen einweben, bis sich alles in einer süßen Erfrischung auflöst. Das Zimtpulver hat immerhin eine zweistufige Aroma-Erfahrung zur Folge. Zuerst fühlt es sich kurz süß an, dann kommt ein erfrischender Knalleffekt ähnlich wie bei Kaugummis.
Allein schon diese beiden kleinen Beispiele lassen erahnen, dass komplexe Nahrungsmittel mit intakten Gittern in eine vielschichtige Wechselwirkung mit unserem Organismus treten, was die Knalleffekte von Pulvern oder Nährlösungen nicht vermögen. Auf den Knall folgt die Leere, die zum erneuten Konsum aufruft.
Kochen und Backen
Aber wenn ganze Lebensmittel doch so gesund sind, warum kochen wir dann überhaupt? Der Grund ist folgender: Viele natürliche Pflanzenstrukturen und Tierfasern sind so stark, dass sie unsere Verdauung herausfordern und gelegentlich überfordern. Dies hat damit zu tun, dass wir Menschen bereits seit Jahrtausenden grillen, kochen und mahlen, also Verwandlungsprozesse außerhalb unseres Körpers zu Hilfe nehmen. Deshalb ist unser Darm im Vergleich zum Hirn eher klein. Beim gesunden Kochen, etwa beim Andämpfen eines Chicorées oder beim Anbraten einer Kartoffel, verändern sich die Gitterstrukturen nur geringfügig, sie werden etwas weicher und zugänglicher, und wie bei der Verdauung entstehen neue Düfte, Farben, Oberflächen und Texturen. Nur dank des Kochens konnte unser Gehirn so groß und unser Darm und unsere Darmflora so klein werden. Außerdem haben wir dadurch viel mehr Zeit zur Verfügung. Kühe kauen den ganzen Tag, Affen immerhin noch sechs Stunden. Wichtig ist auch, dass wir durch das Kochen weniger schädliche Bakterien und Gifte zu uns nehmen, was unser Immunsystem entlastet. Und wir können dadurch schlicht viel mehr Lebensmittel essen, die wir ungekocht nicht verdauen könnten. Ganz zu schweigen von der Zunahme der Aromen und der Nährstoffvielfalt in jedem Lebensmittel und im ganzen Gericht während des Koch- oder Backprozesses. Brot, Milchschokolade und karamellisierte Karotten sind Beispiele von Lebensmitteln, die einen Geschmack haben, den es in der Natur nicht gibt, und eine Erfindung des Menschen ist.
Die Verwandlung roher in gekochte Nahrung, diese sanfte Umgestaltung der Lebensmittelmatrix, ist wohl ohnehin der Archetyp jeder Kultur. Denn Kochen hat viele soziale Vorteile. Die meisten Tiere essen allein für sich. Im Gegensatz dazu bringt Kochen Menschen zusammen, allein schon weil der Aufwand zum Teilen der Speise einlädt. Kochen fördert auch die Selbstbeherrschung, weil wir die Nahrung nicht unmittelbar verschlingen können, sondern bewusst auswählen, vor- und zubereiten müssen. Kocht man selbst, verzichtet man außerdem intuitiv auf zu viel Salz, gesättigte Fette und andere ungesunde Zusätze, die in Fertiggerichten oder Restaurantessen an der Tagesordnung sind, um den Geschmack zu verstärken. Es geht uns schließlich nicht darum, uns selbst anzustiften, möglichst viel zu essen. Deshalb macht Kochen nicht nur geselliger und disziplinierter, sondern fördert auch die Gesundheit.
Die Voraussetzung für das Kochen war ursprünglich die Erhaltung und Kontrolle des Feuers. Die Erkenntnis, dass wir beim Kochen mit Hitze zurückhaltend sein müssen, um die Lebensmittelmatrix zu bewahren, ist eine der wichtigsten Einsichten der Menschheitsgeschichte. Dies zeigt sich schon an unserem reichen Wortschatz, um die Erhitzung und Bearbeitung von Speisen anzugeben. »Braten« bedeutet, dass die Oberfläche eines Lebensmittels durch sogenannte Maillard-Reaktionen zwischen Eiweißen und Zuckern braun wird. Wenn auch tiefe Gitter betroffen sind, spricht man von »verbraten« oder »verkohlen«, was nicht gut ist. Beim »Anbraten« ist die Hitze zeitlich begrenzt, um die inneren Gitter zu schonen. »Sautieren« betont ebenfalls die Kürze, die durch Schwenken zustande kommt. Beim »Dämpfen« und »Dünsten« garantiert ein zugedecktes Gefäß eine gleichbleibende, aber geringe Hitze. Beim »Schmoren« kommt geringe Hitze über längere Zeit zum Einsatz, um etwas weicher zu machen, ohne die Matrix zu zerstören. Beim »Pochieren« ist es wichtig, dass die Gestalt eines Lebensmittels und damit seine Matrix erhalten bleibt. Beim »Flambieren« wird eine Speise mit Alkohol übergossen und angezündet, was eine kurze und oberflächliche Hitze erzeugt. »Rösten« und »Grillen« beanspruchen eine größere Hitze über längere Zeit und sind auch geeignet, große Lebensmittel wie ein Spanferkel zuzubereiten, da es seine anatomischen Strukturen trotz der langen Hitze behält.
Im Verlauf der menschlichen Kochkultur hat die verwendete Hitze allmählich abgenommen. Viele ursprünglich lebenden Menschen verbrannten ihre Speisen, um sicher zu sein, dass sie keine Erreger enthielten. Da sie allgemein wenig kochten und viele Früchte und andere ganze Lebensmittel roh aßen, wurde das ungesunde Verbrennen ausgeglichen. In der griechischen Mythologie kommt es dann zu einem regelrechten Kampf um die Hoheit des Feuers. Erst als es Prometheus gelang, Zeus das Feuer nach einem Tieropfer zu stehlen, konnte sich die griechische Küche entwickeln. Prometheus’ eigene Vorliebe für eine intakte Lebensmittelmatrix zeigt sich daran, dass er die saftigen und leicht gegarten Teile des Opfertiers selbst aß und die verkohlten Zeus überließ. Dieser geschickte Umgang mit dem Feuer machte ihn zum Wegbereiter der Zivilisation.
Den antiken Stolz, Macht über Feuer und Hitze zu besitzen, durfte ich erfahren, als ich als Student an einem Fest teilnahm. Eine italienische Studienkollegin kochte Spaghetti für uns. Weil sie mit uns redete, versäumte sie es, die Teigwaren zum exakt richtigen Zeitpunkt aus dem siedenden Wasser zu nehmen. Sie probierte sie und entschied, dass man sie nicht essen konnte. Wir dagegen fanden sie ganz gut, was sie geradezu in Rage versetzte. »Sie sind verkocht!«, schrie sie uns an und schüttete sie in den Mülleimer. Beim zweiten Versuch blieb sie vor dem Herd stehen und schaute ständig auf die Uhr, um den richtigen Zeitpunkt nicht zu verpassen. Diesmal war sie zufrieden. Und die Spaghetti waren tatsächlich perfekt »al dente«. In ihren dunklen Augen leuchtete der mythische Stolz des Prometheus auf. Das vermittelte mir, was Kultur und Zivilisation in ihrem Ursprung bedeutet, nämlich das Rohe in eine gesunde Form zu verwandeln. Doch seit dem weltweiten Siegeszug der industriellen Nahrung beginnt die Menschheit, das Feuer und die Kultur, auf die sie einst so stolz war, allmählich wieder aus den Händen zu geben. Nur nicht zugunsten der Götter, sondern der Industrie, die nun mit übergroßer Hitze komplexe Lebensmittel in haltbaren, aber gestaltlosen Nährschleim umwandelt und diesen mit Emulgatoren zu Pseudoessen zusammenpappt. Nichts anderes steckt hinter Kartoffelchips, Margarine und Mikrowellen-Fertiggerichten.
Das industrielle Pseudoessen ist nicht nur wegen des Fehlens einer stabilen Lebensmittelmatrix ungesund. Die chemischen Reaktionen auf die übermäßige Kochhitze führen darüber hinaus zu Verdauungsproblemen. Besonders problematisch sind die sogenannten Advanced Glycation End Products, kurz AGE s, die bei langer, trockener Hitze entstehen. Dazu gehören unter anderem Mayonnaise, Wurstwaren und Hamburgerpatties. Darmbakterien bilden unter dem Einfluss von AGE s weniger Buttersäure, dafür mehr ungesunde, gesättigte Fettsäuren, was zu Schädigungen der Darmschleimhäute und der Darmbakterien und schließlich zu Verdauungsstörungen führt. 52 Durch die Verdauungsschwäche kommt es zu einem Teufelskreis: Fast Food mit AGE s beeinträchtigt unsere Fähigkeit, ganze Lebensmittel zu verdauen, was den Verzehr von noch mehr AGE -haltigem Fast Food begünstigt. Dieser Teufelskreis beinhaltet auch eine Veränderung der Geschmacksvorlieben. Matrixloses Fast Food bietet ein glattes Mundgefühl, man muss kaum kauen und kann schnell sehr viel essen. Um diese Abwärtsspirale zu stoppen, müssen wir wie Prometheus das Feuer zurückerobern, indem wir die Nudeln wieder selbst ins Wasser werfen und die Verantwortung dafür übernehmen, dass möglichst viele Speisen bissfest sind.
Interessanterweise sind Nudeln, die zur Langlebigkeit der Genussesser in westlichen und östlichen Blauen Zonen beitragen, keine natürlichen Lebensmittel, sondern aus matrixlosen Grießen oder Mehlen hergestellt. Diese werden mit Wasser versetzt und zu einem Teig verknetet, dem auch andere Bestandteile, etwa fein zerkleinertes Gemüse, Eier oder Milch, beigegeben werden. Dann wird der Teig ausgerollt, gepresst und geformt. Dabei wird eine geringe Menge Öl hinzugefügt. Der Hartweizen, aus dem die italienischen Teigwaren hergestellt werden, enthält besonders viel Gluten. Das Mehl fühlt sich so hart wie Sand an. Gluten ist ein Weizenprotein, das unter Druck und Wärme Brücken bildet und eine Matrix aufbaut, welche die anderen Nährstoffe einbindet. Je mehr Glutenbrücken sich bilden, desto gesünder sind die Teigwaren. Auch bei der Brotherstellung bildet Gluten die Lebensmittelmatrix. Die ganze Backkunst besteht darin, möglichst gute Gluten-Gitter zu bauen. Man erkennt die Gitter an regelmäßig großen Brotporen, etwa bei langsam zubereitetem Sauerteigbrot. Doch die industrielle Brotproduktion nimmt sich nicht die nötige Zeit, um ein Gluten-Gitter zu bilden, wodurch viel Gluten ungebunden im Endprodukt zurückbleibt, was ein wichtiger Grund für die zunehmende Glutenunverträglichkeit ist. Wer keine Glutenunverträglichkeit hat, sollte nicht auf Gluten verzichten, weil Teigwaren (und Brot), die ganz ohne Gluten mit Emulgatoren hergestellt werden, keine funktionierende Matrix haben, was zu Zucker- und Insulinspitzen und zur Unterernährung der Darmbakterien führt. Das Fehlen der Matrix erkennt man daran, dass diese Produkte keinen »al dente«-Effekt haben, also immer weich sind, selbst wenn man sie nur kurz erhitzt. Zusammengefasst bedeutet das, dass die Regel der ganzen Lebensmittel erweitert werden kann auf traditionell hergestellte Lebensmittel, die im Herstellungsprozess eine Matrix bilden. Dazu gehören »al dente«-Teigwaren und traditionell hergestelltes Brot.
Neben den ganzen Lebensmitteln, den »al dente«-Teigwaren und dem traditionellen Brot besitzen auch fermentierte Lebensmittel eine Matrix, etwa Sauerkraut und Joghurt, die wir beim achtsamen Essen von sauren Speisen kennengelernt haben. Fermentierung nennt man auch Kaltgaren, weil bei diesem Prozess lebende Mikroben die Lebensmittel verändern, ohne ihre Matrix zu zerstören. Weitere fermentierte Speisen, die die Gesundheit fördern, sind Sauerteigbrot, Essiggurken, Schokolade, Kaffee und in kleinen Mengen Wein und Bier. Wie schon im Abschnitt über den Säuregeschmack erwähnt, stellt man Fermentiertes wie Joghurt, Kefir, Kombucha, Sauerkraut oder Kimchi allerdings am besten selbst her, denn die entsprechenden Supermarktprodukte enthalten leider meistens keine lebenden Mikroben.
Dosennahrung dagegen ist besser als ihr Ruf. Die Matrix bleibt in der Büchse erhalten, wie auch gesunde Nährstoffe wie Polyphenole, die in sie eingebunden sind. Auch das Einfrieren schont die Matrix vieler Lebensmittel. Einige Ausnahmen gibt es jedoch, zum Beispiel Salat, Äpfel und Milch. Sushi-Meister empfehlen überdies, rohen Fisch nicht einzufrieren, weil dadurch die Fisch-Matrix leidet. Besonders kälteempfindlich sind übrigens Schokolade und Pralinen. Mein Großvater rastete einmal fast aus, als ich eine Schokolade in den Kühlschrank legen wollte.
Bedenkt man all das, sollte die Entdeckung der Lebensmittelmatrix als entscheidender Faktor der Ernährungsmedizin radikale Folgen in Apotheken und Drogerien haben. Wenn es um gesunde Nahrung geht, sollten sie keine Pulver mehr verkaufen, nur noch ganze Pflanzen. Ihre Geschäfte würden sich fortan kaum von einem Gemüse- oder Früchtemarkt unterscheiden. Die Apothekerin, die ganze Lebensmittel verkauft, würde ihre Kunden darauf aufmerksam machen, dass sie die heilenden Lebensmittel auf keinen Fall durch den Mixer jagen dürfen, und in der Packungsbeilage würde stehen: »Nur waschen, nicht schälen, und dann das ganze Lebensmittel langsam und achtsam essen.«
Die Bedeutung der Nährstoffvielfalt
Wie erwähnt, gibt es die Tendenz, gesunde Nahrung als eine Kombination von Makro- und Mikronährstoffen zu definieren. Ein Problem dieser Definition ist die fehlende Berücksichtigung der Lebensmittelmatrix. Das zweite Problem ist die fehlende Berücksichtigung der Nährstoffvielfalt. Die aktuellen Aufschriften von Produkten legen nahe, dass alle Kohlenhydrate, alle Eiweiße und alle Fette gleichwertig sind, was eindeutig falsch ist. Margarine mit Transfetten ist nicht gleich gesund wie kalt gepresstes Olivenöl aus Italien, Griechenland oder Spanien. Unser Körper reagiert völlig unterschiedlich darauf. Eiweiß aus einem Wildlachs ist nicht dasselbe wie Eiweiß aus rotem, hoch verarbeitetem Hackfleisch. Die Kohlenhydrate von Zucker sind nicht dieselben wie Kohlenhydrate in Zwiebeln und Sellerie.
Auch die Kalorien sind nicht gleich. Die Kalorien in Zucker führen zu Insulinspitzen und Fettaufbau, was bei Fett-Kalorien und ganzen Lebensmittel weniger der Fall ist. In eine Lebensmittelmatrix eingebundene Kalorien sind weniger dick machend als Kalorien in einer Nährlösung, Salat-Kalorien machen weniger dick als Keks-Kalorien. Zwar kennen wir bei ganzen Lebensmitteln oft die genaue Zusammensetzung und Kalorienzahl nicht – doch das ist kein Problem. Wir können lernen, wie dick sie machen, ohne die genauen chemischen Gründe dafür zu kennen. Und gesünder sind sie allemal. Da wir aber natürlich nicht immer auf ganze Lebensmittel zurückgreifen können, ist es gut zu wissen, dass die Gesamtkalorienzahl und der Zuckeranteil die beiden wichtigsten Größen auf den Aufschriften sind. Beide sollten niedrig sein.
Wunschdenken der Industrie
Bei den Mikronährstoffen schlägt die Industrie vor, sich ganz auf die essenziellen zu konzentrieren, die die Industrie, im Gegensatz zu unserem Körper, in rauen Mengen herstellen kann. Wir leiden aber nicht an einem Mangel an essenziellen Nährstoffen, weil diese in ganzen Lebensmitteln (und auch in Fast Food) ausreichend vorhanden sind. Der in der Landwirtschaft eingesetzte Dünger enthält zunehmend hohe Mengen an Mikronährstoffen wie Magnesium, Zink und Kupfer, was einen entsprechenden Anstieg in den Lebensmitteln verursacht. Zudem sind viele Getränke und Speisen mit diesen essenziellen Mikronährstoffen angereichert, sodass alles zusammen leicht zu einer Überernährung mit Mikronährstoffen führt. Zu den möglichen Folgen davon zählen Hypervitaminosen, Gefäßverkalkungen und Demenz.
Ein eindrückliches Beispiel dafür sind die Omega-3-Fettsäuren, die beispielsweise in Fischen vorkommen und als essenziell gelten, weil unser Körper sie nicht allein produzieren kann. Vor circa zehn Jahren war ich von der Forschung zu Omega-3-Fettsäuren begeistert und habe sie in der Behandlung von depressiven Menschen eingesetzt. Seit ich mich jedoch noch intensiver mit diesen Säuren auseinandergesetzt habe, empfehle ich sie nicht mehr. Allein schon die Werbung der Hersteller, dass viele Menschen an einem Omega-3-Fettsäuren-Mangel leiden, ist nicht korrekt. Unser Stoffwechsel kann sie nämlich nicht nur aus tierischen, sondern auch aus pflanzlichen Fetten herstellen. So enthält bereits ein einziger Esslöffel Rapsöl genügend Alpha-Linolensäure, damit unser Körper die tägliche Versorgung an Omega-3-Fettsäuren sicherstellen kann. Gegen die Einnahme von Omega-3-Fettsäuren als Nahrungsergänzungsmittel sprechen zudem die vielen Untersuchungen, die auf eine mögliche Schädlichkeit hinweisen. Eine der größten Studien, die bisher zur gesundheitlichen Wirkung von Omega-3-Fettsäuren durchgeführt wurde, die DART - II -Studie, fand heraus, dass Omega-3-Fettsäuren als Nahrungsergänzung nicht nur unnütz waren, sondern im Gegenteil die Gefahr, frühzeitig an einem Herztod zu sterben, um 27 Prozent erhöhten. Die Einnahme von Omega-3-Fettsäuren während der Schwangerschaft führte außerdem zu vermehrten Verhaltensproblemen bei den geborenen Kindern. 53 Eine weitere Studie an über 18 000 Amerikanern ergab, dass Omega-3-Fettsäuren depressive Symptome nicht verbesserten, sondern sogar verstärkten. 54 Dazu kommen ökologische Probleme, welche die Herstellung mit sich bringen. Doch der Handel mit Fischölkapseln ist inzwischen zu einer Industrie geworden, die jährlich mehr als 33 Milliarden US -Dollar umsetzt. Dies gibt ihr die Macht, Journalistinnen, Lehrer, Ernährungsberater und Politikerinnen zu manipulieren, sodass unseriöse kleine Studien übermäßiges Gewicht erhalten und große, gut gemachte Studien verschwiegen werden. Dies hat alles dazu geführt, dass bereits mehr als ein Achtel des weltweiten Fischfangs für Nahrungsergänzungen verwendet werden, die weder den Genuss steigern noch die Gesundheit fördern. 55
Hier drei Beispiele von Fehlinformationen, von denen die chemische Industrie profitiert, weil sie ihr helfen, ihre künstlichen Ergänzungen als gesund anzupreisen:
Alternativen zur industriellen Nahrungsergänzung
Was aber sind die Alternativen zum industriellen Wunschdenken, das sich gern als Wissenschaft verkauft? Hildegard von Bingens Konzept der Grünkraft zum Beispiel. Dabei handelt es sich um ein Gesundheitskonzept, das die Vielfalt hervorhebt. Hildegard stellte sich die Grünkraft als eine Substanz vor, die im Boden vorhanden ist und dank Feuchtigkeit und Wärme über die Wurzeln in die Blätter der Pflanzen aufsteigt. Deshalb nannte sie die Grünkraft manchmal auch Wurzelkraft. In ihren Rezepten empfahl sie, verschiedene frische, grüne und leicht erhältliche Kräuter zu kombinieren, sie nur wenig zu zerkleinern und mit Mehl, Olivenöl, Wasser, Wein, Essig und Honig zu mischen und mit Ingwer, Muskat, Pfeffer und Zimt zu würzen. Als besonders heilend stufte sie Gartengewächse wie Dill, Fenchel, Bockshornklee, Salbei, Mohn, Oregano, Aloe, Weinraute, Eisenkraut, Fingerkraut, Petersilie, Absinth und Basilikum ein, und in der wilden Natur sammelte sie Tausendgüldenkraut, Brennnesseln, Lorbeer, Minze, Malve und Storchschnabel.
Goethe wiederum war auf seiner Italienreise von der Vielfalt und der Menge des Gemüses in der italienischen Küche begeistert. Im Mai 1787 schrieb er in sein Tagebuch: »Bei der unglaublichen Konsumtion von Gemüse machen wirklich die Strünke und Blätter von Blumenkohl, Brokkoli, Artischocken, Kohl, Salat, Knoblauch einen großen Teil des neapolitanischen Kehrichts aus. Zwei große biegsame Körbe hängen auf dem Rücken eines Esels und werden nicht allein ganz voll gefüllt, sondern noch auf jeden mit besonderer Kunst ein Haufen aufgetürmt. Kein Garten kann ohne einen solchen Esel bestehen.« 56
Ich selbst durfte die Wunder der asiatischen Nahrungsvielfalt auf Reisen durch China und Taiwan erleben. Ich fand in jeder Vorspeise, jeder Suppe und jeder Beilage eine Balance aus süßen, sauren, salzigen, bitteren und herzhaften Aromen, als ob sich in jedem Bissen der ganze Kosmos des chinesischen Kochens wiederfände! Beim Besuch des Nationalen Palastmuseums in Taipeh, das 620 000 Objekte von unschätzbarem Wert beherbergt, führte man mich auch zum begehrtesten aller Objekte. Es lag in einer Vitrine aus dickem Glas und war von zahlreichen Besuchern umgeben, sodass man Geduld haben musste, um einen Blick darauf zu erhaschen. Es handelte sich dabei um einen grünlichen Kohl, der aus einem einzigen Stück Jade geschnitzt war. Die Blätter sahen ausgesprochen realistisch aus, weil jedes eine etwas andere Form, einen anderen Farbverlauf und eine andere Textur aufwies. Natürliche braune Flecken unterstrichen die Liebe zum Detail. Was für eine Feier von Matrix und Vielfalt! Das zweitbegehrteste Exponat lag gegenüber, ein Jaspis, der so exakt wie ein Stück Dongpo-Schweinebraten aussah, dass man schon sehr genau hinschauen musste, um zu erkennen, dass es kein Fleisch, sondern ein Stein war. Der Dongpo-Schweinebraten ist in China als umami-reiche Köstlichkeit bekannt. Für die Zubereitung wird zarter Schweinebauch verwendet, der in einer Mischung aus frischem Ingwer, duftenden Frühlingszwiebeln, herzhafter Sojasoße und aromatischem Reiswein langsam geschmort wird. Das traditionelle Rezept geht auf den großen chinesischen Dichter, Maler und Politiker Su Shi (1037 – 1101) zurück, der wegen seiner satirischen Gedichte über die Regierung in die Provinz Hubei verbannt wurde, wo er auch zu seinem Beinamen Dongpo kam (nach einem Ort, an dem er sich oft aufhielt). Anstatt melancholisch zu verbittern, entdeckte er in der Küche und der Frage, was wirklich nährt, sein Glück. So kreierte er während seiner Exiljahre eine Reihe von Gerichten, zu denen neben dem Dongpo-Schweinebraten auch ein vielfältig gewürzter Gurkensalat gehört. Ihnen allen ist gemein, dass sie den Reichtum des Geschmacks und die Vielfalt in den Vordergrund stellen.
Dies tut auch die chinesische Fünf-Elemente-Küche, die in den Prinzipien der Traditionellen Chinesischen Medizin wurzelt. Sie ordnet jedes Lebensmittel einem der fünf Elemente Erde, Holz, Feuer, Metall und Wasser zu, die alle eine spezifische Auswirkung auf die Energieflüsse im Körper haben. Diese Zuordnung erfolgt anhand der Geschmacksqualitäten süß, sauer, bitter, scharf und salzig und der Temperatur der Lebensmittel. Im Gegensatz zu den industriellen Theorien des Westens, die den Reichtum der Nahrung auf banale essenzielle Nährstoffe reduzieren, fördert dieses östliche Konzept das bewusste, achtsame Essen. Ziel ist es, sich über längere Zeit auf einen Weg durch die fünf Elemente zu begeben, um mit einer möglichst großen Vielfalt an Nährstoffen und Aromen das energetische Gleichgewicht des Körpers aufrechtzuerhalten. Eine Mahlzeit kann zum Beispiel aus Roten Rüben als süßes Erdelement, Zitronen als saures Holzelement, Salat als bitteres Feuerelement, Zwiebeln als scharfes Metallelement und Krevetten als salziges Wasserelement bestehen. Frische, saisonale Zutaten werden dabei bevorzugt, weil sie als harmonischer für den Körper angesehen werden. Verwandt mit dieser Küche ist das Ernährungskonzept »Den Regenbogen essen«, das die Menschen dazu ermutigt, eine Vielzahl bunter Obst- und Gemüsesorten in ihren Speiseplan aufzunehmen. Jede Farbe steht dabei für eine bestimmte Gruppe von Nährstoffen, die einen ganzheitlichen Nutzen haben, etwa Lycopin-artige Stoffe aus roten Tomaten, Mineralien aus grünem Spinat und Antioxidantien aus violetten Beeren.
Ernährungsvielfalt hat sich in den letzten zehn Jahren auch in der medizinischen Forschung als Konzept etabliert, unter anderem aufgrund der Entdeckung, dass eine vielfältige Darmflora vor Leiden wie Übergewicht, Diabetes, Autoimmunkrankheiten, Depression, Darmkrebs und Demenz schützt. Und die Bakterienvielfalt hängt wiederum maßgeblich von der Vielfalt der Ernährung ab. Ob man Allesesser oder Vegetarier ist, scheint dabei keinen Einfluss auf die Diversität des Mikrobioms zu haben. Entscheidend ist die Anzahl der verschiedenen Pflanzenarten, die man isst. Studienteilnehmende, die mehr als 30 Arten in einer Woche aßen, hatten eine besonders hohe Darmbakterienvielfalt. Mit einem Frühstücksmüsli aus Haferflocken, Rosinen, Äpfeln, Birnen, Bananen, Himbeeren, Heidelbeeren, Erdbeeren, Hasel- und Walnüssen hat man bereits zehn. Ein Gemüseeintopf mit Zwiebeln, Sellerie, Tomaten, Bohnen, Aubergine, Kartoffeln, Karotten, Brokkoli, Blumenkohl und Kürbiskernen zum Mittagessen ergibt bereits 20. Dann zum Abendessen noch einen kühlenden Salat aus drei verschiedenen Salatsorten, etwa Blattsalat, Löwenzahn und Chicorée, dazu Maiskörner, Oliven, Gurken, Pinienkerne, Sonnenblumenkerne und Orangenstreifen, und man hat die 30 beisammen, an einem einzigen Tag. Und wer seiner Bakterienvielfalt einen zusätzlichen Schub geben möchte, greift am besten zu bewährten fermentierten Lebensmitteln wie Sauerkraut, Kefir, Kombucha, Joghurt oder Kimchi – was zugleich hilft, unnötige Entzündungsreaktionen im Darm zu verhindern. 57
Die abnehmende Artenvielfalt wird zum Gesundheitsproblem
Die dramatische Abnahme der Arten, die wir essen, ist problematisch und dürfte ein weiterer wichtiger Treiber der Zunahme vieler Krankheiten sein. In der Natur gibt es zum Beispiel 7500 Apfelsorten, doch die Auswahl im Supermarkt ist viel geringer. Jeder Apfel hat doppelt so viele Gene wie wir. Diese Gene verleihen ihm eine große Bandbreite an chemischen Stoffen, die für seine Energie, sein frisches Aussehen und seinen Schutz vor Schädlingen wesentlich sind. Die Vielfalt der Gene erklärt auch die vielen unterschiedlichen Reifungsgeschwindigkeiten und die große Geschmacks- und Texturdiversität von Äpfeln. Zudem enthält jede Sorte unterschiedliche Mengen an Polyphenolen und Nährstoffen. Es lohnt sich also, auf Märkten und in Spezialgeschäften nach seltenen und ungewöhnlichen Früchten und Gemüsen Ausschau zu halten.
»Selbst mein eigener Honig hat die Farben verloren und schmeckt immer langweiliger, und meine Bienenschwärme verlieren ihre Vitalität!«, klagte ein Bekannter von mir, der seit Jahrzehnten Bienen züchtet und Honig herstellt. Tatsächlich nimmt die Vielfalt der Böden, Wiesen und Wälder ab, was dazu führt, dass auch die Nahrungsmittel weniger vielfältig sind. Sie mögen zwar mehr Stickstoff, Magnesium, Kupfer und Phosphor enthalten als noch vor ein paar Jahrzehnten, doch fehlen ihnen dafür Tausende anderer Nährstoffe, die wir nicht einfach herstellen und dem Dünger oder der Nahrung beifügen können. Beim Honig kann man diese Abnahme unmittelbar schmecken und sehen.
Ursprünglich besteht Honig aus über 200 Hauptbestandteilen und über 500 flüchtigen Verbindungen, die sich erst beim Essen entfalten und ihm seinen besonderen Geschmack und Duft verleihen. Seine Matrix ist eher schwach, weshalb er nicht in großen Mengen verzehrt werden sollte. Seine vielfältigen Nährstoffe sind dagegen potenziell wichtig für die Gesundheit, darunter Polyphenole, organische Säuren, aromatische Verbindungen und Enzyme. Die Vielfalt dieser Nährstoffe hängt maßgebend von der Ernährung der Bienen ab. Wenn die Flora im Umfeld des Bienenschwarms eintönig ist, weisen auch die Inhaltsstoffe des Honigs nur wenig Vielfalt auf. Bei meinem Bekannten hat der Einsatz von Düngemittel in seiner Umgebung zum Verschwinden der vielfältigen, bunten Magerwiesen geführt.
Dass das Farbspektrum der Waben seiner Bienen abgenommen hat, ist direkt zurückzuführen auf die Abnahme der Blütenpollenvielfalt. Dadurch wird auch der Geschmack eintöniger.
Trotzdem ist der Honig meines Bekannten immer noch um Welten besser als Billighonig aus dem Supermarkt. Ein Drittel des in der EU verkauften Honigs sind übrigens Fälschungen, die fast nur aus Zucker bestehen. Der Direkteinkauf beim Imker lohnt sich daher sehr.
Weil die Nahrung eine wichtige Inspirationsquelle ist, führt ihre Verarmung auch zu einer kulturellen und spirituellen Verarmung. Der wilde Honig, den Johannes der Täufer in der Wüste kostete, markierte den Beginn seines tiefgreifenden Wandels, in dem er sich den geistigen Nahrungsmitteln zuwandte, die ihn wirklich nährten und ihm Erleuchtung brachten. In den indischen Upanischaden führt der weise Lehrer Uddalaka seinen Sohn Svetaketu in das spirituelle Geheimnis der Einheit alles Seienden ein, indem er ihm einen Bienenschwarm zeigt: »Sieh dir die Bienen an, mein Sohn. Sie bereiten den Honig zu, indem sie Säfte von verschiedenen Bäumen sammeln und verschmelzen, bis sie Honig werden. In diesem Zustand können die versammelten Säfte nicht mehr sagen: ›Ich bin der Saft dieses Baumes‹ und ›Ich bin der Saft jenes Baumes‹.« 58 Für Svetaketu wird so in der vereinigten Vielfalt des Honigs die mystische Einheit von Mensch und Kosmos erlebbar. Ein Zuckerwasser, das mit etwas Zink, Selen und künstlichen Aromen angereichert ist, bietet eine solche Erfahrungen nicht, sondern lässt einen leer zurück.
Heilpflanzen als Hoffnung der Ganzheitsmedizin
Mit großer Freude beobachte ich daher, dass sich zumindest die Wirksamkeit von Heilpflanzen in neuen, wissenschaftlich hochstehenden Studien bestätigt. Diese Pflanzen wirken nicht wie ein Medikament durch einen einzigen chemischen Stoff, sondern mittels einer Stoffvielfalt, die in einer pflanzlichen Matrix Gestalt annimmt. Ginkgo-Heilmittel bestehen aus den Blättern des Ginkgo-Baums, der über 1000 Jahre alt werden kann. Zu den Hunderten von aktiven Inhaltsstoffen gehören Ginkgolide, Flavon-Glykoside und Terpenoide, die den Blutfluss im Gehirn fördern, die Blutgerinnung hemmen und antioxidative Eigenschaften besitzen. Da Durchblutungsstörungen und oxidativer Stress maßgeblich zur Hirnalterung beitragen, hat dieses Pflanzenheilmittel das Potenzial, das Hirn zu schützen, das Gedächtnis zu verbessern und Demenz vorzubeugen. Wegen möglicher Nebenwirkungen wie Krampfanfällen, Blutungen und Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten sollte Ginkgo biloba nur mit ärztlicher Betreuung eingenommen werden.
Ein weiteres pflanzliches Heilmittel ist Lavendelöl, das bereits Hildegard von Bingen therapeutisch verwendete. Seit ein paar Jahren ist es nun offiziell zur Behandlung von Unruhezuständen und ängstlicher Verstimmung zugelassen. Auch hier kann die Wirkung nicht auf einzelne Inhaltsstoffe wie Linalool und Linalylazetat zurückgeführt werden, vielmehr scheint eine Fülle von Stoffen verantwortlich zu sein. Ein Glücksfall ist, dass Lavendelöl nicht abhängig macht, was bei klassischen Beruhigungsmitteln möglich ist. Vielfalt kennt eben keine Abhängigkeit.
Auch die antidepressive Wirkung von Johanniskraut, die seit der Antike bekannt ist, konnte mittlerweile in einer Reihe von klinischen Studien bestätigt werden. Es ist nicht genau bekannt, welche Inhaltsstoffe für die Heilwirkung verantwortlich sind. Man geht davon aus, dass es mindestens sieben Einzelstoffe sind, vermutlich sind es sogar viel mehr. Entsprechend vielfältig ist der modulierende Effekt in verschiedenen Botenstoffsystemen, einschließlich des Serotonin-, Dopamin-, Noradrenalin-, GABA - und Glutamatsystems. Allgemein ist die Verträglichkeit besser als bei herkömmlichen Antidepressiva, es ist jedoch zu beachten, dass Johanniskraut Lichtallergien auslösen kann und nicht gleichzeitig mit anderen Medikamenten eingenommen werden sollte, insbesondere nicht mit HIV -Medikamenten und Modulatoren des Immunsystems.
Neben dem Erfolg der Pflanzenheilmittel gibt es auch vielversprechende Befunde aus der Forschung zu lebenden Bakterien. Präparate mit einer Vielfalt an Mikroben scheinen besonders gesundheitsfördernd zu sein. Eine vor Kurzem veröffentlichte Studie, die belegen konnte, dass Bakterien bei Depressionen helfen, setzte ein Probiotikum aus 14 Stämmen ein: vier verschiedene Bifidobakterien, acht verschiedene Lactobacillus-Arten, einen Streptococcus und einen Bacillus subtilis. 59
Während die Bedeutung der Vielfalt von natürlichen Heilmitteln zunehmend belegt ist, ist es noch ungenügend erforscht, ob, wie bei Esswaren, auch die Matrix von pflanzlichen Heilmitteln eine Rolle bei ihrer therapeutischen Wirkung spielt. Studien belegen, dass pflanzliche Heilmittel auch ohne Matrix in Form von Extrakten und Ölen allein durch ihre Vielfalt wirken. Ich schließe aber nicht aus, dass die Matrix einen zusätzlichen Effekt haben könnte, weil durch sie die Verdauung und damit die Wechselwirkungen zwischen dem Heilmittel und unserem Körper intensiver werden.
Deshalb öffne ich gern Kapseln mit Heilpflanzen. Große Blätter oder Pflanzenteile sprechen für eine hohe Qualität. Und dass sich Probiotika in Lebensmitteln wie Sauerkraut und Joghurt als wirksamer erweisen könnten als in Beuteln oder Kapseln isolierte, würde mich beileibe nicht überraschen.
In diesem Kapitel habe ich eine neue Ernährungslehre aufgezeigt, welche den wissenschaftlichen Befunden der letzten Jahre gerecht wird. Sie erklärt die krank machende Kraft essenzieller Nährlösungen und die Schädlichkeit hoch verarbeiteter Lebensmittel und begründet, weshalb bunte Mischungen aus festen und ganzen Lebensmitteln in Studien zur Gesundheitsförderung am besten abschneiden.
Folgende Punkte scheinen mir besonders wichtig zu sein: