Prolog: Ein Anfang

Palmyra, um 385 n. Chr.

»Wer Christus hat, kann kein Verbrecher sein.«

SCHENUTE VON ATRIPE

Die Angreifer kamen aus der Wüste. In Palmyra wird man sie bereits erwartet haben – seit Jahren suchten marodierende Banden bärtiger, schwarz gekleideter Fanatiker, bewaffnet mit wenig mehr als Felsbrocken, Eisenstangen und einem ehernen Sinn für Gerechtigkeit, den Osten des Römischen Reichs heim.

So primitiv und aggressiv ihre Übergriffe auch waren, so effektiv waren sie. Die Zeloten zogen in Banden umher, die später bis zu 500 Mann zählen sollten, und wenn sie zuschlugen, blieb kein Stein auf dem anderen. Ihr Ziel waren die Tempel, und ihre Attacken gingen mitunter erstaunlich schnell vonstatten. Gewaltige steinerne Säulen, die jahrhundertelang an Ort und Stelle gestanden hatten, brachten sie an einem einzigen Nachmittag zu Fall. Statuen, die ein halbes Jahrtausend überdauert hatten, wurden binnen weniger Augenblicke bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Tempel, die Zeugen des unaufhaltsamen Aufstiegs des römischen Imperiums gewesen waren, fielen an einem einzigen Tag in sich zusammen.

Sie meinten es ernst, aber das heißt nicht, dass die Eiferer mit ernster Miene bei der Sache waren: Sie brüllten vor Lachen, während sie die »bösen« Statuen, die »Götzenbilder«, zertrümmerten; die Rechtgläubigen jubelten, als die Tempel in sich zusammenbrachen, Dächer abgedeckt und Gräber geschändet wurden. Es tauchten sogar Lieder auf, die die glorreichen Momente verewigten: »Diese schändlichen Dinge«, sangen die Pilger voll Stolz, »die Dämonen und Götzen … Unser Heiland hat sie alle zertrampelt.«1 Als gute Dichter haben sich religiöse Eiferer selten hervorgetan.

In dieser Atmosphäre war der Athenetempel von Palmyra ein naheliegendes Ziel. Das wunderschöne Gebäude feierte alles, was die Rechtgläubigen verabscheuten; monumental, wie es war, verwies es jeden Monotheismus auf die Plätze. Wer durch die großen Türen trat, brauchte einen Moment, bis sich die Augen an das kühle Zwielicht gewöhnt hatten – draußen brannte die syrische Sonne. Vielleicht roch man den schweren Weihrauch in der Luft, nahm den Lichtschein wahr, der von ein paar kleinen Lampen herrührte, die Gläubige dagelassen hatten. Hob man die Augen, so erblickte man in ihrem flackernden Glanz die große Göttin Athene selbst.

Die Statue mit dem hübschen, stolzen Profil befand sich weit von Athen, der Heimatstadt von Athene, entfernt, doch man wusste sofort, wer sie war – die gerade griechische Nase, die Haut aus weißlichem Marmor, der pralle, leicht mürrisch verzogene Mund. Beeindruckend war auch das Ausmaß der Statue, die weit größer war als jeder Mensch. Doch vielleicht noch mehr als die Größe des Standbilds konnten einen die Infrastruktur des Römischen Reichs beeindrucken und der Ehrgeiz der Menschen, die dafür gesorgt hatten, dass dieses Objekt hierhergelangt war. Die Statue erinnerte an andere, die weit über tausend Kilometer entfernt auf der Athener Akropolis standen; dieses spezielle Exemplar war in einer Werkstatt mehrere hundert Kilometer außerhalb Palmyras angefertigt und anschließend mit erheblichem Aufwand und ebensolchen Kosten transportiert worden, um im syrischen Wüstensand eine kleine Insel griechisch-römischer Kultur zu erschaffen.

Ob das den Angreifern auffiel, als sie in den Tempel eindrangen? Waren sie, wenn auch nur flüchtig, von der Raffinesse eines Reichs beeindruckt, das in der Lage war, Marmor abzubauen, in Kunst zu verwandeln und dann über so weite Entfernungen hinweg zu transportieren? Bewunderten sie, und wenn auch nur für einen Augenblick, die Kunstfertigkeit, mit der jemand einen Mund geschaffen hatte, der aus hartem Marmor bestand und doch so weich aussah, dass man ihn küssen wollte? Ließen sie sich, wenn auch nur für eine Sekunde, von dieser Schönheit fesseln?

Offenbar nicht. Als die Männer den Tempel betraten, nahmen sie eine Stange und zertrümmerten Athenes Hinterkopf mit einem einzigen Schlag – einem Schlag, der mit solcher Kraft ausgeführt wurde, dass er die Göttin enthauptete. Ihr Kopf fiel zu Boden, die Nase brach ab, die so sanft wirkenden Wangen waren zerschmettert. Nur die Augen Athenes blieben intakt und blickten die Angreifer aus einem furchtbar entstellten Gesicht heraus an.

Denen reichte es nicht, die Göttin zu enthaupten. Sie schlugen wieder zu, trennten den Helm vom Kopf und zertrümmerten ihn. Unter weiteren Hieben fiel die Statue vom Sockel, dann wurden ihr Arme und Schultern abgehackt. Ihr Rumpf blieb mit der Vorderseite im Schmutz liegen. Anschließend schlugen die Männer den Altar entzwei, der in der Nähe stand.

Es scheint, als seien die Christen erst danach mit ihrem Werk zufrieden gewesen. Sie zogen sich wieder in die Wüste zurück. Rund um den Tempel wurde es still. Die Votivlampen, um die sich keiner mehr kümmerte, erloschen. Das auf dem Boden liegende Haupt der Athene wurde nach und nach vom syrischen Wüstensand bedeckt.

Der »Triumph« des Christentums hatte begonnen.