»Wenn es um die Ehre Gottes geht, gibt es keine Grausamkeit.«
DER HEILIGE HIERONYMUS, BRIEF 109.32
Zu Anfang schien alles so einfach: Gib dem Kaiser, was dem Kaiser gehört. Gib Gott, was Gott gehört. An der Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert existierten zu dieser Maxime jedoch bereits ein paar Einschränkungen, Komplikationen tauchten auf. Einige der einflussreichsten Prediger warfen die Frage auf, was denn wäre, wenn Gott und der Kaiser beide dasselbe für sich beanspruchten? In einem solchen Fall, so die großen Denker des ersten Jahrhunderts christlicher Herrschaft, habe Gott stets Vorrang. Wie Augustinus es ausdrückte, kannte der himmlische Staat »nur die Verehrung eines Gottes … Daher konnte er die Religionsgesetze mit dem Erdenstaat nicht gemeinsam haben und musste in dieser Hinsicht von ihm abweichen und von den anders Denkenden [als] lästig empfunden werden.«1 Mensch, Gesetz, sogar Bürokratie – alles hatte im Zweifelsfall Gott zu weichen. Beziehungsweise seiner Kirche. Und wenn einem das auf Erden hier und da Ärger einbrachte – sei’s drum. Denn, wie ein anderer aggressiver Kleriker argumentierte, das größte Unrecht, das ein Mensch begehen konnte, bestand nicht etwa darin, die Gesetze zu missachten, sondern Gott zu missachten: »Es ist besser, seines Reiches beraubt zu werden, als sich der Gottlosigkeit schuldig zu machen.«2
Einer, der ganz genau aufpasste, dass niemand gegen Gottes Gesetze verstieß, war der berüchtigte ägyptische Mönch Schenute, der heute als Heiliger gilt.
Um die Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert herum ging es eines Abends, kurz nachdem die glühende Wüstensonne untergegangen war, vor den Mauern von Schenutes Kloster in Ägypten ungewohnt hektisch zu. Normalerweise war um diese Zeit alles still, und die mehreren hundert Mönche des Weißen Klosters nutzten die kurze liturgische Pause zwischen dem letzten Gebet und dem Klang der hölzernen Glocke, die sie kurz nach Anbruch der Morgendämmerung wieder aus dem Bett holen würde, um zu schlafen.
Doch wer an diesem Abend vor den Toren des Weißen Klosters stand, wurde Zeuge eines ungewöhnlichen Vorgangs. Mit einem Mal kam Bewegung in die Stille. Die Tür des klösterlichen Torhauses öffnete sich, und eine Gruppe von Mönchen erschien. Sie traten zügig ins Freie, und sofort wurde das Tor hinter ihnen wieder geschlossen, um die übrigen Mönche vor den draußen lauernden Dämonen zu bewahren. Das Grüppchen entfernte sich vom Kloster und begab sich hinunter zum Fluss. Wenn man genauer hinsah, konnte man erkennen, dass sie zu acht waren. Sah man noch genauer hin, fiel einem besonders einer der Mönche ins Auge. Er war durch das ständige Fasten so abgemagert, dass er buchstäblich nur noch aus Haut und Knochen bestand. Seine Augen lagen so tief in ihren Höhlen, dass sie den Löchern in einer Steinmauer glichen – die Leute sagten, er schlafe nachts so gut wie gar nicht, nur einen Moment lang, kurz vor dem Morgengrauen. Und wenn er wach sei, weine er ohne Unterlass; Tränen süß wie Honig fielen aus seinen Augen und färbten sie schwarz von frommem Leid. Das war Schenute.
Man durfte allerdings nicht den Fehler machen, Weinen mit Schwäche zu verwechseln. Schenute mochte um die Sünden der Welt weinen, aber er spazierte mit den Engeln und schlug die Dämonen. Dieser Mann, so hieß es, hielt Zwiesprache mit Johannes dem Täufer und Jesus Christus, und er hatte diverse Schergen des Teufels eigenhändig niedergerungen. Schenute war ein Mann, den man respektierte – und fürchtete. Unter seiner charismatischen Führung schlossen sich zahlreiche Mönche und Nonnen seinen drei Klostergemeinschaften an; am Ende hatten sie mehrere hundert, vielleicht sogar mehrere tausend Mitglieder. Hatten sie sich erst einmal in Schenutes Obhut begeben, mussten sich diese Männer und Frauen einer ungeheuer strengen Disziplin unterwerfen. Wer gegen eine der zahlreichen Regeln des Klosterlebens verstieß, der erhielt Schläge. Eine Nonne, die sich »heimlich Dinge genommen hatte«, wurde mit zwanzig Stockhieben bestraft. Ein Mönch, der »in Freundschaft und mit fleischlichem Verlangen« einer Ordensschwester nachgestellt hatte, mit 15.3 Fast so schlimm wie die körperlichen Schmerzen war die demütigende Art und Weise, wie diese Hiebe verabreicht wurden: Mehrere ältere Nonnen hielten ihre fehlgeleitete Kollegin fest, und ein Mönch schlug ihr auf die Fußsohlen.
Doch in dieser speziellen Nacht richtete Schenute seine dunklen, verweinten Augen nicht mit strengem Blick auf die Bewohner seines Klosters, sondern auf einen Außenstehenden. In der stillen Schwärze der Wüstennacht eilten Schenute und seine sieben Mönche zum Nil und setzten über. Später hieß es, sie hätten weder Boot noch Fährmann gebraucht, um auf die andere Seite des Stroms zu gelangen: Die göttliche Vorsehung habe sie auf wundersame Weise dorthin transportiert. Nun, wie auch immer sie ans andere Ufer gelangten: Sobald sie dort waren, zogen sie weiter, in Richtung der Stadt Panopolis.
Hätten Einheimische die in düstere Kutten gekleidete Gruppe durch die Dunkelheit ziehen sehen, hätten sie sich ängstlich abgewendet. Mönche konnten alle möglichen Gräueltaten begehen, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden – sie waren anonym, ohne Wurzeln und nicht aufzuspüren. Manche Christen nannten sie »unsere Engel«. Schwachsinn, sagten die Nichtchristen. Das seien keine Engel, sondern ignorante, rüpelhafte Schläger, nur dem Anschein nach Menschen, denn »sie führten das Leben von Schweinen und verübten und gestatteten zahllose unaussprechliche Verbrechen«. Wie der Autor Eunapios mit geradezu sardonischer Abneigung schrieb: »In jenen Tagen besaß jeder Mann, der ein schwarzes Gewand trug und sich entschloss, sich in der Öffentlichkeit ungebührlich zu verhalten, die Macht eines Tyrannen. So weit war es mit dem Menschengeschlecht bereits gekommen!«4 Selbst ein römischer Kaiser, der von ganzem Herzen Christ war, merkte an: »Die Mönche begehen viele Verbrechen.«5
Und in dieser Nacht waren diese Mönche im Begriff, ein weiteres Verbrechen zu begehen. Diesmal hatte es Schenute nicht auf einen seiner Mönche abgesehen, sondern auf einen bösartigen, gottlosen Heiden. Predigt für Predigt hatte Schenute seine berühmte scharf formulierte Prosa über diese Leute ausgegossen: Ihre Herzen seien »die Nester der Geister der Bosheit«.6 Wenn sie aufgebracht seien, dann spuckten diese bösen Leute Gift.7 Die Bibel ordne an, dass jeder, der heidnische Bilder aufstelle, getötet werden müsse.8 In einer besonders wütenden Predigt verkündete Schenute, Gott wolle, dass sein Volk »die Gräuel aus seiner Gegenwart entfernt«. Die Kaiser, rief er, hätten erklärt, die ganze Erde müsse von den Perversionen gereinigt werden. Von den heidnischen Tempeln dürfe kein Stein stehen bleiben.9 Nicht ein einziger. Nirgends auf der Erde.
In dieser besonderen Nacht jedoch fingen Schenute und seine sieben Gefährten ganz klein an, und zwar mit dem Haus eines Mannes namens Gessius.
Es war immer noch dunkel, als die Mönche Gessius’ Haus erreichten. Dieser Mann, der mit vollem Namen Flavius Aelius Gessius hieß, war ein römischer Bürger, ein prominenter Grundbesitzer und ein ehemaliger Statthalter, wie Plinius einer gewesen war. Als Angehöriger der denkbar kleinen Herrscherelite des Imperiums führte Gessius ein beneidenswertes Leben. Doch in dieser Nacht war er vor allem eines: ein Name auf Schenutes schwarzer Liste. Denn dieser Gessius hatte – gänzlich unbeeindruckt von Schenutes Gepolter – mehrere unverzeihliche Verbrechen begangen. Einmal hatte ihn jemand sagen hören, dass »Jesus nicht göttlich war«.10 Ein andermal hatte er einen erst kürzlich zerstörten heidnischen Tempel besucht und dort trotz der Gesetze, die solcherlei unter Strafe stellten, ein Opfer dargebracht, indem er Rosenblätter verstreut hatte. Das war mehr als nur ein Verbrechen, es war eine unverzeihliche Brüskierung von Schenute, dem mächtigsten Christen in der Region.
In dieser dunklen Nacht würde Schenute Gessius dafür büßen lassen. Die Mönche versammelten sich vor Gessius’ schwerer, verriegelter Haustür – und öffneten sie. Falls das für eine an sich komplizierte Prozedur (oder zumindest für eine, die eine gehörige Portion Muskelkraft erforderte) ein wenig zu einfach klingt, liegt das daran, dass es laut Schenutes späterem Bericht tatsächlich ganz einfach gewesen war: Nicht die Mönche hatten demnach die Haustür geöffnet, sondern – Gott.
Schenute und seine Gefährten betraten das stockdunkle Haus. Wie Schenute hernach erklärte, war es dort nicht nur dunkel, weil es Nacht war und keine Lampe brannte – dort herrschte die Schwärze des Bösen. Die Mönche ließen sich von derlei logistischen Hindernissen nicht aufhalten. Sie überquerten das Atrium, stiegen eine Treppe empor, und schon befanden sie sich im Inneren von Gessius’ Wohnstätte. Falls hier wieder jemand einwenden wollte, wie unwahrscheinlich es war, dass es einer Bande von acht Mönchen gelingt, nicht nur in ein verschlossenes Haus einzubrechen, sondern sich auch noch in seinem stockfinsteren Inneren zu bewegen, ohne jemanden zu wecken oder irgendwo falsch abzubiegen, so hatte Schenute auch hierfür eine Erklärung: Gott leitete die Mönche.11
Ihr göttlicher Helfer stand ihnen noch einmal bei, als sie die verriegelte Tür zu Gessius’ Privaträumen erreichten. Sie mussten sich gar nicht erst bemühen, sie mit Gewalt aufzubrechen: Die Tür »löste sich«, als Schenute sie berührte, und fiel wie von selbst aus den Scharnieren, sodass die Mönche sie nur noch zur Seite legen mussten. Im Nachhinein zeigte sich, dass dieser Bericht nicht alle Bewohner der Stadt restlos überzeugen konnte. Gottlose Zungen nannten die Behauptung, die Türen hätten sich von selbst geöffnet, »gewagt«. Schenute verteidigte sich vehement: »Wir haben ja nicht gesagt, dass sie sich von selbst geöffnet haben«, polterte er, »wir haben sie geöffnet, aber eben so, wie der Herr es uns befahl.«12 Eine fast schon jesuitische Unterscheidung, die seine Zweifler nicht unbedingt überzeugt haben wird.
Von dem, was die Mönche erblickten, berichtete Schenute hinterher mit unverhohlener Abscheu. In jenem Zimmer, sagte er, sah es noch immer aus wie damals in den heidnischen Tempeln, in der finsteren Zeit, bevor die frommen Kaiser anordneten, die Schreine zu vernichten. Als sie durch die Tür traten, fanden sich die Mönche in einem Raum wieder, in dem Weihrauch in der Luft hing und in dem das Licht mehrerer Lampen auf unzählige Standbilder fiel: Die Kammer war voll von heidnischen Götzen. Hier stand eine Statue von Zeus, dem lüsternen Vatermörder, da eine von Zeus’ Vater Kronos, dort eine der betrügerischen Hekate …
Der ganze Raum – zumindest sollte Schenute das später behaupten – war randvoll mit »unzüchtigen und liederlichen« Gottheiten. Auf kleinen Altären glomm Weihrauch; von ehrfürchtiger Hand entzündete Lampen warfen ihr flackerndes Licht auf die Gesichter der heidnischen Götter. Für einen frommen christlichen Mönch muss es ein schrecklicher Anblick gewesen sein. Dennoch hätte man sicherlich, wenn man ganz genau hingeschaut hätte, ein kurzes zufriedenes Flackern in Schenutes eingefallenen Augen gesehen. Schenute war ein Meister der Selbstdarstellung, und er wird gewusst haben, dass dieser Moment, so schrecklich er auch sein mochte, für ihn persönlich ein großer Triumph war. Er hatte seinen Feind in flagranti, beim Anbeten heidnischer Götzen ertappt. Im schwachen Schein der Lampen griffen die Mönche sich so viele der verfluchten Statuen, wie sie tragen konnten, und verließen dann eilends das Haus, wobei ihnen noch einmal Gott zur Seite stand.13
Zurück auf der Straße, musste den Mönchen die tiefblaue ägyptische Nacht, verglichen mit der Schwärze im Inneren des Hauses, fast hell vorgekommen sein. Sie gingen hinunter zum Ufer des Nils, zertrümmerten die Statuen und warfen sie ins Wasser. Die dunklen Fluten verschluckten die Bruchstücke von Gessius’ Götzen unwiederbringlich. Wieder war ein Nest Satans geleert worden.
Als man Schenute später dafür kritisierte, widerrechtlich in das Haus des Mannes eingedrungen zu sein, zeigte er sich vollkommen uneinsichtig. »Für die, die Christus haben«, erklärte er, »gibt es kein Verbrechen.«14
Um die weltlichen Gesetze scheint sich Schenute nicht geschert zu haben; umso wichtiger waren ihm die Gesetze seines Klosters, die jederzeit befolgt werden mussten. Und es gab eine Menge solcher Gesetze. Über 500 Vorschriften regelten jeden Aspekt im Leben von Schenutes Mönchen – vom Aufstehen kurz vor dem Morgengrauen bis zum Schlafengehen – mit allem, was dazwischenlag. Es gab Vorschriften dazu, wie sich die Mönche zu kleiden hatten, was sie essen durften (wenig und hauptsächlich Brot) und wann (selten). Wie oft sie zu beten hatten (andauernd) und wie (hörbar). Wo ihre Hände beim Gebet zu sein hatten (auf keinen Fall in der Nähe der Rippen – warum auch immer). Wie sie schlafen sollten (allein und ohne erotische Gedanken) und wie sie sich zu waschen hatten (selten und ohne den eigenen Körper oder den eines anderen zu betrachten). Ob sie sich rasieren durften (nur mit ausdrücklicher Erlaubnis, denn: »Verflucht soll jeder sein, der sich rasiert …«) und wo sie ihre Notdurft verrichten sollten. Eine Regel (die vielleicht mehr Fragen aufwirft, als sie beantwortet) besagte: Falls einer »seinen Darm in einen Topf oder einen Krug oder ein anderes Gefäß entleeren muss, … so hat er zunächst den Ältesten um Erlaubnis zu bitten«.15
Sobald man als Mönch in ein Kloster eintrat, gehörte einem das eigene Leben nicht mehr – vom eigenen Hab und Gut ganz zu schweigen. Sogar die Kleider musste man vor den Türen des Klosters lassen, damit die Mönche einander »in allen Dingen gleichen und das Begehren unter den törichten Leuten keinen Platz finden kann«. Das Kloster selbst bat die Neuankömmlinge nicht etwa höflich darum, ihre Habseligkeiten auszuhändigen, sondern forderte es ganz kategorisch: Wer Mönch werden wollte, der musste dem Kloster innerhalb von drei Monaten seinen gesamten irdischen Besitz überschreiben. Wer das nicht tat, der wurde, so die Formulierung im Regelwerk, »verflucht«.16
Der Einflussbereich des Klosters wurde immer größer. Bald gehörten ihm nicht mehr nur das Grundstück, auf dem die Klostergebäude standen, sondern auch die Palmenhaine drumherum, Obst- und Gemüsegärten, Nutztiere, Felder … Und das Kloster kontrollierte auch die Gedanken seiner Insassen – oder versuchte es zumindest. Die Mönche in Schenutes Kloster hatten so gut wie nie ihre Ruhe. Von morgens bis abends wechselten mühselige körperliche Arbeit und Gebete einander ab. Stille herrschte nur äußerst selten. Damit ihre Gedanken nicht in unfromme Gefilde abschweiften, während sie ihre Körbe flochten, wurden die Mönche angehalten, ununterbrochen zu singen – Gebete, Passagen aus der Heiligen Schrift, was auch immer. So wie das Korbflechten die Hände beschäftigte und davon abhielt, Sünden zu begehen, sollte das Singen dafür sorgen, dass die Gedanken der Mönche rein blieben. Angeblich erinnerte die Klangkulisse, die während der Arbeitsstunden im Kloster herrschte, an das Summen eines Bienenschwarms.17
Doch warum entschieden sich die Menschen überhaupt für ein dermaßen unattraktives Leben? Es ist gut möglich, dass ihnen in dem Moment, als sie in das Kloster eintraten, gar nicht klar war, was für ein hartes Leben Schenutes Mönche führten. Es war ja nicht so, dass ihnen bei der Ankunft ein umfassender Vertrag oder etwas in Richtung Allgemeine Geschäftsbedingungen vorgelegt wurden. Vielmehr hatte die Klosterdisziplin etwas von einer Offenbarungsreligion: Das volle Ausmaß dessen, was das Weiße Kloster seinen Insassen abverlangte, wurde den Novizen erst nach und nach bewusst, und eben erst, nachdem sie sich bereits dem Klosterleben verschrieben hatten. Allerdings klingt dies wohl ein wenig skrupelloser, als es das tatsächlich war: Hätte man jemandem vorab sämtliche Klostervorschriften vorlesen wollen, so hätte das viele, viele Stunden gedauert. Wie auch immer: Wenn den Mönchen klar wurde, worauf sie sich eingelassen hatten, blieb ihnen keine andere Wahl mehr, als zu bleiben, denn schließlich hatten sie alles aufgegeben – ihr Hab und Gut, ihren Grundbesitz, ja sie hatten sogar ihre Kleider abgelegt.
Sobald sich ein Mönch in die Obhut seines neuen Klostervorstehers begeben hatte, musste er ihm gehorchen – oder die Konsequenzen tragen. Zahlreiche Vorschriften des Regelwerks begannen mit den Worten »Verflucht sei …« Verflucht war, wer dem Kloster nicht sein gesamtes Vermögen überschrieben hatte. Verflucht war, wer sich rasierte, ohne dass es ihm befohlen worden war. Verflucht war, wer einen anderen Mönch lüstern ansah. Aß ein Mönch zur falschen Zeit ein Stück Gurke, dann hatte er laut den Vorschriften »gesündigt«. Mindestens sechzig Regeln widmeten sich sexuellen Verfehlungen. Man durfte weder seinen nackten Ordensbruder »mit Gefühlen des Begehrens« ansehen, während er sich wusch, noch seine eigene Nacktheit auf diese Weise betrachten; wer »mit schmutzigem Verlangen im Herzen neben seinem Nächsten« saß, der war ebenfalls »verflucht«.18
Dieser Satz ist bemerkenswert: »mit schmutzigem Verlangen im Herzen«. Der Delinquent hatte also überhaupt keine Sünde begangen – das bloße Bestreben war inzwischen zur Sünde erklärt worden. In Schenutes Kloster machte die Strafverfolgung selbst vor Gedanken nicht halt. »Kann sich einer in Schlupfwinkeln verstecken, sodass ich ihn nicht sähe?«,19 hatte der Herr gefragt. Zumindest im Weißen Kloster lautete die Antwort ganz eindeutig: Nein! Mit hetzerischen Predigten erinnerte die neue Generation christlicher Hardliner ihre Schäfchen immer wieder daran, dass sich niemand vor den allsichtigen Augen des Herrn verstecken konnte.
Schenute veranlasste regelmäßig Befragungen und Inspektionen derer, die sich in seiner Obhut befanden. Einmal im Jahr wurden die Mönche einer öffentlichen Untersuchung unterzogen. Dabei mussten sich alle versammeln und öffentlich »unsere Worte und Taten hinterfragen«. Ergänzend hierzu wurden immer wieder die Zellen der Mönche durchsucht. Die Klosterregeln legten es präzise fest: »Zwölfmal pro Jahr – einmal im Monat – betritt der Klosterälteste alle Häuser der Gemeinschaft und inspiziert alle Zellen darin.« Der Mensch schaut, was vor den Augen ist, heißt es in der Bibel, der Herr aber schaut das Herz. Schenute schaute einem ins Zimmer.20
Wir wissen, dass Schenutes Mönche große Angst vor ihrem Meister hatten. Sein Ziel war es, dass die mehreren hundert, vielleicht sogar mehreren tausend Mönche hinter den Klostermauern eine Einheit darstellten: Sie mussten alle gleichzeitig arbeiten, gleichzeitig beten, gleichzeitig Pause machen. Der Zeitpunkt, wann sie aufzustehen hatten, war genauso festgelegt wie der Zeitpunkt, wann es Nahrung gab, wann gebetet wurde, wann geschlafen … Oberste Maxime war der Gehorsam. Die Mönche sollten über einen gemeinsamen Geist verfügen und einen gemeinsamen Körper; einen einzigen großen Schwarm bilden, statt eine Ansammlung von Individuen zu sein. Possessivpronomina zu verwenden war verboten: Wie konnte man »mein Brot« sagen, wenn alles jedem gehörte – und zugleich niemandem? Alle hatten sofort zu reagieren, wenn sie die große hölzerne Glocke hörten; wehe dem, der das nicht tat! Die Glocke erklang immer zweimal: Das erste Läuten signalisierte den Mönchen, dass sie ihre momentane Tätigkeit unterbrechen und pausieren mussten, das zweite Läuten, dass sie ihre Tätigkeit wieder aufnehmen sollten. Einmal steckte einer von Schenutes Mönchen gerade ein Stück Holz in den Ofen der Klosterbäckerei, als die Glocke erklang. Gehorsam wartete der Mönch ab und ertrug tapfer die Hitze im Innern, bis die Glocke zum zweiten Mal erklang – und er endlich seine völlig verbrannte Hand herausnehmen durfte.21
Nicht nur die Mönche bekamen Schenutes Zorn zu spüren. Er ließ den gerechten Zorn Gottes auf jeden niederkommen, der es verdiente, natürlich auch auf Dämonen. Eines Abends erwartete man einen Bürokraten, der das Weiße Kloster inspizieren sollte – möglicherweise lief eine Untersuchung zu den Disziplinarmaßnahmen im Kloster, denn es gab Gerüchte, dass Mönche, die vom rechten Weg abkamen, schreckliche Torturen über sich ergehen lassen mussten. Schenute sah, wie der Mann das Kloster ohne anzuklopfen betrat. Der Legende nach packte der Beamte nun Schenute, doch der wehrte sich, und schließlich gelang es ihm, den Mann zu überwältigen, indem er ihn zwischen seinen Oberschenkeln in die Zange nahm. Schenute war klar geworden: Das hier war kein Einheimischer und auch kein Engel – es war ein Dämon. In einer anderen Version der Legende entpuppt sich der Beamte als der Teufel höchstpersönlich; dennoch gelingt es Schenute, der hier noch sportlicher ist als in der anderen Version, Satan zu Boden zu ringen und ihm den Fuß auf den Kopf zu stellen.22
Intensive Religiosität war für sich genommen freilich nichts Neues. Schon in Griechenland und Rom hatte es Leute gegeben, die ihren Glauben so weit auf die Spitze getrieben hatten, dass die Demut und Angst vor den Göttern ihr gesamtes Leben bestimmten. Ein solcher religiöser Eifer war jedoch stets Privatsache gewesen und hatte sich meist innerhalb des gesetzlichen Rahmens bewegt. Als das Christentum an die Macht kam, wurde Religiosität jedoch zur öffentlichen Pflicht, und seine Anhänger begannen voll selbstgerechtem Stolz, gegen geltende Gesetze zu verstoßen. Einige der bedeutendsten Denker jener Zeit befürworteten dieses Verhalten: Im Dienste des Herrn durfte man vor nichts zurückschrecken, selbst wenn man anderen Menschen damit schadete. Schließlich gab es für die, die Christus hatten, kein Verbrechen.
Wer einen Sünder bestrafte, indem er ihn schlug oder auspeitschte, bis er blutete, der schadete jenem ja nicht, sondern half ihm, indem er ihn vor den weitaus schlimmeren Strafen bewahrte, die ihm später ansonsten gedroht hätten. Schenute fürchtete, dass er Gott beleidigte, wenn er die Mönche in seiner Obhut nicht schlug. Schon zur Zeit des Augustinus reichten die Strafen, die gegen fehlgeleitete Christen verhängt wurden, von der Beschlagnahmung des Vermögens über den Ausschluss aus der Kirche bis hin zu Peitschenhieben und Stockschlägen. Besser sei es doch, so Augustinus, »mit Härte zu lieben, als mit Sanftmut zu täuschen«.23 Das war nicht grausam. Trieb nicht auch der Hirte davonlaufende Schafe mit dem Stock zur Herde zurück?24 Die Kirche, schrieb Augustinus, ziehe Sünder »im Geist der Liebe« zur Rechenschaft.25
Das war fromme Gewalt. Mag ja sein, dass Jesus seinen Jüngern gesagt hatte, sie sollten die andere Wange hinhalten, wenn man sie schlüge; seine Nachfolger im 4. und 5. Jahrhundert waren weniger nachsichtig. Johannes Chrysostomos erklärte, wenn ein Christ zufällig mitanhörte, wie jemand Gott lästere, dann solle er eben nicht die andere Wange hinhalten, im Gegenteil: Er müsse »auf ihn zugehen und ihn zurechtweisen; und falls dazu Schläge nötig sind, dann zögere nicht. Schlage ihn ins Gesicht, schlage ihn auf den Mund; deine Hand wird mit jedem Schlag frommer.« Sogar Gott zuliebe einen Mord zu begehen sei kein Verbrechen, schrieb ein Autor, sondern eigentlich »ein Gebet«.26
Einige der Methoden, mit denen Chrysostomos und Schenute die Gläubigen kontrollierten, hielten rund hundert Jahre später aus ganz ähnlichen Gründen Einzug in die kaiserliche Gesetzgebung. Als im Jahr 527 Kaiser Justinian an die Macht kam, leitete er mit bis dato ungekanntem Eifer eine geistig-moralische Reform in die Wege. Und er hatte, wie er felsenfest glaubte, auch allen Grund dazu: Wenn nämlich er seine Untertanen nicht bestrafte, dann würde Gott stattdessen ihn bestrafen.
Zivile Beamte sahen sich auf einmal gezwungen, auf die Einhaltung von Gesetzen zu achten, die regelten, was die Bürger in ihren eigenen vier Wänden taten; Beamte der Kirche sahen sich gezwungen, ihren Dienstherren als Spitzel zu dienen. Römische Kaiser hatten schon immer ihre Informanten (delatores) gehabt; ab sofort hatte auch die Kirche welche. Männer jeden Ranges wurden dazu verpflichtet, ihre Nase in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken. Jeder Gesetzesverstoß sollte gemeldet werden. Die Bischöfe mussten ihre Kollegen ausspionieren und alle Fehltritte dem Kaiser melden. Wenn sie sich weigerten oder versagten, wurden sie dafür zur Verantwortung gezogen. Zu jenen Personen, über die die Geistlichen zu berichten hatten, zählten auch Schauspielerinnen und Schauspieler sowie Prostituierte, »die Nonnenkluft trugen«, wie eine bemerkenswerte Klausel hinzufügte.27 Wer die Gesetze missachtete, den erwarteten harte Strafen. Überführten Kupplerinnen wurde zur Strafe geschmolzenes Blei in die Kehle gegossen. Kein Missetäter sollte davonkommen. Wie der Chronist Prokop es ausdrückte, war Kaiser Justinian wild entschlossen, »alle Wege, die in die Irre führen, zu versperren«.28
Einige Auswüchse solch »frommer« Gewalt beunruhigten sogar die Kirche. Die berüchtigten Circumcellionen, die um die Wende zum 5. Jahrhundert herum in Nordafrika ihr Unwesen trieben, waren nicht nur für ihre Selbstmorde bekannt, sondern auch für bösartige Übergriffe auf alle, die ihre spezielle Ausprägung des christlichen Glaubens nicht teilten. Ein Bischof stand gerade am Altar, als er sich plötzlich von Männern mit Knüppeln umringt sah, die ihn prompt zusammenschlugen. Die Angreifer warfen den Altar um und brachen ihn in Stücke, und mit diesen Stücken schlugen sie den armen Mann, bevor einer von ihnen ihm ein Messer in den Unterleib rammte. Einen anderen Priester holten die Circumcellionen aus seinem Haus; im Freien stachen sie ihm dann die Augen aus. Genau wie die höchst individuellen Foltermethoden, die in der Hölle auf die Sünder warteten – wo zum Beispiel Gotteslästerer an der Zunge aufgehängt wurden – , waren auch die Methoden der Circumcellionen stets auf grausame Weise »angemessen«. Der Geistliche, dem sie die Augen ausstachen, war ohnehin »blind«, denn er wollte nicht erkennen, welches der wahre Glaube war. Einem anderen Bischof hackten sie die Hände ab und schnitten ihm die Zunge heraus, mit der er falsche Wahrheiten gepredigt hatte.29
Die Circumcellionen kamen viel herum, und überall beschädigten sie Privateigentum und steckten Kirchen und Häuser in Brand. Immer, wenn die Menschen glaubten, schlimmer könnten es diese »Krieger« – wie sie sich selbst nannten – nicht mehr treiben, erfanden sie, wie Augustinus schrieb, »eine neue, unsagbare Art von Gewalt, eine Grausamkeit, wie sie dem Teufel persönlich geziemte«.30 Aus Calciumoxid und Essig stellten sie eine Lösung her, die zu Hautverätzungen führte. Diese spritzten sie Priestern ins Gesicht und nahmen ihnen so das Augenlicht. Nirgends war man vor den Circumcellionen sicher: Wenn ein »Verräter« – und das war für sie jeder, der ihren Glauben nicht teilte – gerade zu Hause war, umringten sie sein Haus, holten ihn heraus und misshandelten ihn. Je unerwarteter der Angriff, desto glorreicher die Wirkung.
Auch die Feste für die alten Götter waren eine besonders beliebte Zielscheibe. Die Circumcellionen überfielen die Feiernden, zertrümmerten ihre Statuen und ließen dabei ihren Schlachtruf »Laudes Deo« ertönen: »Lobet den Herrn!« Auf diese Weise verwandelten sie so manches ausgelassene, weinselige Fest im Handumdrehen in ein chaotisches Durcheinander. Wie so viele Gläubige vor und auch nach ihnen wollten sie erreichen, dass alle Menschen an dasselbe glaubten, und so gut wie nichts konnte sie aufhalten. Weil Matthäus 26:52 die Christen anwies: »Steck dein Schwert in die Scheide; denn alle, die zum Schwert greifen, werden durch das Schwert umkommen«, griffen die Circumcellionen mit geradezu jesuitischer Logik stattdessen zum Knüppel. So konnten sie furchtbare Gewalttaten begehen, ohne zu sündigen. In ihren Händen reichten Knüppel auch durchaus aus: Sie schlugen damit so viele Menschen tot, wie sie konnten, und verschwanden anschließend wieder dorthin, woher sie gekommen waren.31 Die Schlagstöcke, mit denen diese Männer ihr grausames Werk verrichteten, wurden regelrecht zu ihrem Markenzeichen; sie selbst bezeichneten sie als »Stäbe Israels«.
Augustinus und andere Zeitgenossen zeigten sich von diesen Verbrechen aufrichtig entsetzt – doch in gewisser Weise erntete die Kirche nur das, was sie gesät hatte. Wie der Historiker Brent D. Shaw aufgezeigt hat, hatten sich viele christliche Prediger nur wenige Jahrzehnte zuvor noch über die Gewalttaten der Circumcellionen gefreut und sie in ihrem Tun unterstützt: Als es galt, die heidnischen Tempel abzureißen, waren ihnen diese Eiferer von großem Nutzen gewesen und hatten eine ordentliche Portion Muskelkraft beigesteuert. In puncto Gewalt und Rücksichtslosigkeit derart geschult und ermutigt, ließen sie sich, zur Bestürzung ihrer bisherigen Förderer, irgendwann nichts mehr vorschreiben.32
Doch die Circumcellionen waren nicht die Einzigen, die die Gesetze ignorierten: Auf allerhöchster Ebene begann die Kirche, die Macht des Staates infrage zu stellen. Irritierte Römer hatten bei den Christen schon lange die Tendenz beobachten können, sich über das Gesetz zu stellen. Als Plinius der Jüngere seine Sklaven vor Gericht gestellt hatte, waren sie nicht nur wegen Ungehorsams hingerichtet worden, sondern auch, weil sie Christen waren und sich vor Gericht entsprechend verhielten. Die Römer hatten schon immer darüber gestaunt, wie unverschämt viele Christen vor Gericht auftraten. Der bereits erwähnte Christ, der sich weigerte, die Fragen des Richters zu beantworten, und auf alles – selbst auf die Frage nach seinem Namen – antwortete: »Ich bin Christ«,33 wurde von anderen Christen für seine Standhaftigkeit bewundert. Für die Römer indes war es nichts weiter als infantile Sturheit.
Je mehr das Christentum an Einfluss gewann, desto unverschämter wurden seine Anhänger. Im Osten des Reichs wurden Gerichtssitzungen von Gruppen sinisterer, Psalmen schmetternder Mönche gestört. Die Christen forderten das Recht auf Unversehrtheit in ihren Kirchen: Ihre Bitte wurde Gesetz.34 In Antiochia herrschte eine solche Furcht vor den Mönchen, dass ein Richter gar nicht erst abwartete, bis sie seinen Gerichtssaal stürmten: Schon als er die Hymnen singenden Mönche nahen hörte, stand er auf, vertagte die Sitzung und verließ eilends die Stadt. »Sobald die auftauchen«, verkündete er, »kann man kein Recht mehr sprechen.«35
In Caesarea wagte es ein Richter, ein Urteil zuungunsten eines christlichen Bischofs zu fällen. Anschließend machte er sein Verbrechen in den Augen der Kirche nur noch schlimmer, als er erklärte, jeder Mensch, ob Christ oder nicht, müsse sich den herrschenden Gesetzen beugen. Schon bald sollte er seine Worte bereuen. Ein Mob von Christen fiel »wie ein von Rauch erschreckter Bienenstock« über ihn her: »Mit Fackeln und Totschlägern in den Händen liefen sie, in ihrem Eifer vereint, auf ihn zu, brüllten und ließen Steine auf ihn niederregnen.« Das war eine durchaus effektive Technik. »Und wie verhielt sich dieser hochmütige und kühne Richter? In seiner Not warf er sich vor ihnen in den Staub und flehte um Erbarmen«, höhnte der schadenfrohe Chronist. »Das war das Werk des Gottes der Heiligen, der alles stets zum Besten ändert.«36
Für viele Nichtchristen war dies beileibe nicht das »Beste«. Bedeutende Schriftsteller zeigten sich über die Zustände empört. Wie der Philosoph Kelsos bereits viele Jahre zuvor angemerkt hatte, durfte man nicht zulassen, dass jemand die Gesetze in den Schmutz zog, denn wenn alle das täten, wären die Gesetze nicht mehr anwendbar. Die Art und Weise, wie christliche Eiferer ihre Gegner einschüchterten, schrieb ein anderer Autor, entspreche ganz und gar nicht der Art und Weise, wie im Römischen Reich Verbrechen bestraft werden sollten. »Niemand darf auf eigene Faust das Schwert ziehen und einem Mörder die Kehle durchschneiden, denn damit setzt man das Recht außer Kraft«, warnte der Redner Libanios. Vielmehr träten in einer zivilisierten Gesellschaft »förmliche Anklagen und Zivil- und Strafprozesse an die Stelle des Schwertes«. Die Christen, schrieb er voller Verachtung, hätten dafür offenbar keine Zeit: »Diese Leute sind die Einzigen, die ihre Angeklagten selbst verurteilen und anschließend auch noch die Rolle des Henkers übernehmen.«37
Die christlichen Prediger kümmerten solche Einwände wenig. Ihrer Ansicht nach unterstünden sie einer höheren Macht als dem von Menschen gemachten Gesetz. Sie hatten den Himmel im Blick. Immer wieder erinnerten sie ihre Schäfchen daran, dass die Gesetze von kaiserlichen Bürokraten im Grunde keine Rolle spielten. Was zählte, war allein das Gesetz Gottes. Alles, was man tat, um seine Seele zu retten, war erlaubt – selbst wenn es gegen das Gesetz und die öffentliche Ordnung verstieß, und sogar dann, wenn dadurch der Körper Schaden nahm, in dem die Seele wohnte. Wer die Häuser, Tempel und Körper derer angriff, die den »Irrweg« der Heiden eingeschlagen hatten, der schadete ihnen nicht, sondern half ihnen. Das waren keine brutalen Übergriffe. Sie waren ein Ausdruck der Zuneigung und sollten die Ungläubigen zur Umkehr bewegen.
Zahlreiche fantasievolle Metaphern kamen auf, die verschleierten, was letztlich nichts anderes war als nackte Aggression. Chrysostomos nannte die Tierjagd mit Fangnetzen, um zu beschreiben, wie man fehlgeleitete Menschen auf den rechten Weg zurückbrachte. Augustinus griff das Gleichnis vom Bankett auf, das im Lukasevangelium beschrieben wird. Hatte nicht der Hausherr, als er ein Festmahl veranstalten wollte, zu seinem Diener gesagt: »Dann geh auf die Landstraßen und vor die Stadt hinaus und nötige die Leute zu kommen, damit mein Haus voll wird«?38 Wer nicht freiwillig ins Haus des Herrn eintreten wollte, den musste man eben dazu zwingen. Und so ging es munter weiter: Jemand, der fehlgeleitete Christen bestrafe, sei kein brutaler Schläger, so Augustinus, sondern verhalte sich im Gegenteil wie ein Arzt, der sich um seinen kranken Patienten kümmere. »Wenn Chirurgen eine Gangrän sehen, die es wegzuschneiden oder fortzubrennen gilt, so wird er aus Mitgefühl seine Ohren vor den Schmerzensschreien des Kranken verschließen.« Im selben Brief vergleicht Augustinus den besorgten Christen mit jemandem, der einen Jungen an den Haaren zieht, damit er aufhört, Schlangen zu piesacken, und mit einem Vater, der seinem Kind ein Schwert aus der Hand nimmt. »Solche Bestrafungen sind keine willkürliche Grausamkeit, sondern ein Zeichen weiser Besorgnis.«39
Immer wieder wurde erklärt, was wir heute als Paradox ansehen: dass all diese physischen Übergriffe Zeichen der Güte waren. Die Kirche verfolge, so Augustinus, im Geiste der Liebe. Der als Heiliger verehrte Bibelforscher Hieronymus sah das genauso: Gottes Ehre zu verteidigen sei niemals grausam – in der Bibel erlitten die Sünder schließlich Strafen bis hin zum Tod.40 Chrysostomos stimmte mit ein: Wenn ihr irdischer Körper bestraft würde, so versicherte er seinen Zuhörern, dann nur, damit ihr ewiger Körper beschützt und »ihr selbst erlöst werdet, und wir können uns freuen und Gott ohne Ende preisen, jetzt und immerdar. Amen.«41 Wer solch eine »Erlösung« erfuhr, der sah das verständlicherweise meistens ganz anders. Ein Mönch in Schenutes Obhut wurde mit so heftigen Schlägen »erlöst«, dass er seinen Verletzungen erlag.
Und wenn die Leute, die sich nicht darüber freuen wollten, Angst bekamen, weil die Nachbarn sie im Auftrag der Obrigkeit in ihren eigenen vier Wänden ausspionierten? Nun, auch die Angst hatte ihre Vorteile. Schließlich war es immer noch besser, Angst zu haben, als zu sündigen. »Wo Schrecken herrscht«, sagte Augustinus, »da ist Rettung … Oh, barmherzige Barbarei!«42
Hier wurden die intellektuellen Grundlagen für tausend Jahre theokratischer Unterdrückung gelegt.43