Athen, 532 n. Chr.
»Wir sehen dieselben Sterne, der Himmel ist für uns alle der gleiche, dasselbe Weltall umschließt uns. Warum ist es dann so wichtig, nach welcher Weisheitslehre jemand die Wahrheit sucht?«
DER »HEIDNISCHE« AUTOR SYMMACHUS
»Dass aller Aberglaube der Heiden vernichtet werden soll, ist das, was Gott will, was Gott befiehlt, was Gott verkündet!«
DER HEILIGE AUGUSTINUS
Sie müssen ein ziemlich trauriges Bild abgegeben haben, die sieben Männer, die im Jahr 532 von Athen aus aufbrachen und kaum mehr dabeihatten als ein paar philosophische Schriften. Alle hatten sie der einst berühmtesten Philosophenschule Griechenlands angehört, der Akademie. Die Philosophen der Akademie waren stolz darauf gewesen, dass sie die Geschichte ihrer Einrichtung in einer ununterbrochenen Linie – »einer goldenen Kette«,2 wie sie es nannten – über beinahe tausend Jahre zurückverfolgen konnten, bis zu Platon höchstpersönlich. Nun wurde die Kette gesprengt, und zwar auf äußerst drastischste Weise: Diese Leute ließen nicht nur ihre Akademie hinter sich, sondern sie verließen auch das Römische Reich. Athen, die Geburtsstadt der westlichen Philosophie, war kein Ort mehr für Philosophen.
Wenigstens hatten sie auf dieser Reise ins Ungewisse ihren Anführer Damaskios bei sich. Als sie aufbrachen, war er mit fast siebzig Jahren nach damaligen Maßstäben alt, sogar sehr alt, aber ein wunderbarer Gefährte. Damaskios war ein brillanter, subtiler Denker, der seine Schriften mit mathematischen Gleichnissen würzte – und er konnte es nicht ertragen, von Narren umgeben zu sein. Er schrieb ein scharfzüngiges »Who’s who« seiner Kollegen aus der Philosophie, in dem er jeden, dem es in seinen Augen an Intelligenz oder Courage mangelte, mit vernichtenden Worten bedachte. Und im echten Leben war er nicht weniger maßlos: Einmal wäre er beinahe in einem Fluss ertrunken, weil er zu ungeduldig war, um auf den Fährmann zu warten; er beschloss, selbst ans andere Ufer zu schwimmen, und wurde dabei fast von der Strömung mitgerissen.
Im Dienst seiner geliebten Philosophie ging Damaskios die größten Risiken ein. Er hatte einem polizeilich gesuchten Philosophen bei sich zu Hause Unterschlupf gewährt, er war Tausende von Kilometern marschiert, ohne zu wissen, was ihn am Ende der Reisen erwartete, er hatte sich Gefahren ausgesetzt, die von Verhaftung bis Folter reichten. Und er war der Überzeugung, dass es sich im Leben niemand leichter machen sollte als er: »Die Menschen neigen dazu, gar nichts zu tun und ein solches Leben dennoch als tugendhaft zu bezeichnen«, schrieb er einmal voller Hohn. »Doch da bin ich anderer Meinung … Die Gelehrten, die nur in der Ecke sitzen und mit großen Worten über Gerechtigkeit und Mäßigung schwadronieren, geben sich selbst der Lächerlichkeit preis, sobald sie gezwungen sind, aktiv zu werden.«3
Doch dies war für einen Philosophen nicht die Zeit herumzuphilosophieren. »Der Tyrann«4 (wie die Philosophen es ausdrückten) war am Ruder, und er hatte zahlreiche Angewohnheiten, die einem Sorge bereiten mussten. Zu Damaskios’ Lebzeiten drangen Ordnungshüter in Privatwohnungen ein und suchten nach Büchern und anderen Objekten, die als inakzeptabel eingestuft worden waren. Was sie fanden, wurde beschlagnahmt, auf den Plätzen der Stadt aufgehäuft und verbrannt. In der Öffentlichkeit über religiöse Themen zu diskutieren, galt als »verdammenswerte Unverfrorenheit« und war gesetzlich verboten.5 Wer den alten Göttern opferte, der konnte laut Gesetz zum Tode verurteilt werden. Im gesamten Imperium wurden die schönen alten Tempel niedergerissen, die Dächer abgedeckt, die Schätze aus ihrem Inneren eingeschmolzen, die Statuen zerschlagen. Um sicherzustellen, dass sich alle an die neuen Regeln hielten, begann die Regierung Spione, Agenten und Informanten einzusetzen, die darüber Bericht erstatteten, was auf den Straßen und Marktplätzen der Städte geschah und was hinter den verschlossenen Türen der Privathäuser vor sich ging. Wie ein einflussreicher christlicher Redner es ausdrückte: Seine Gemeinde sollte die Sünder jagen und sie so unerbittlich auf den Weg des Heils führen wie ein Jäger, der seine Beute ins Netz treibt.6
Wer sich nicht an die Regeln hielt, musste mit ernsten Konsequenzen rechnen. Sich mit Philosophie zu beschäftigen war gefährlich geworden: Damaskios’ Bruder war verhaftet und gefoltert worden, damit er die Namen anderer Philosophen verriet, doch wie Damaskios stolz berichtete, »ertrug er stumm und tapfer die Rute, die immer wieder auf seinen Rücken niedersauste«.7 Andere aus Damaskios’ Philosophenkreis waren ebenfalls gefoltert worden; man hatte sie an den Handgelenken aufgehängt, bis sie die Namen ihrer gelehrten Kollegen verrieten. Einem Philosophen hatten sie einige Jahre zuvor bei lebendigem Leib die Haut abgezogen. Ein anderer war vor den Augen des Richters geschlagen worden, bis ihm das Blut den Rücken hinunterfloss.
Der schreckliche »Tyrann« war das Christentum. Schon kurz nach Beginn der Regentschaft des ersten christlichen Kaisers in Rom im Jahr 312 hatten die Menschen Freiheiten eingebüßt. Im Jahr 529 holten die Christen dann zum endgültigen Schlag aus: Laut Gesetz durfte keiner, der beruflich »unter dem Irrsinn des Heidentums« tätig war (also Damaskios und seine Mitphilosophen), weiterhin lehren. Doch damit nicht genug: Jeder, der noch nicht getauft war, musste sofort bei den »heiligen Kirchen« vorstellig werden – oder ins Exil gehen. Und wer sich taufen ließ und anschließend doch wieder den heidnischen Göttern opferte, wurde hingerichtet.
Man kann sich kaum vorstellen, wie sehr es sie geschmerzt haben muss, ein letztes Mal durch Athen zu laufen. Vorbei an den Straßen und Plätzen, wo ihre Helden – Sokrates, Platon, Aristoteles – einst gelebt, gewirkt und miteinander gestritten hatten. Beim Vorüberlaufen dürfte ihnen klar gewesen sein, dass die gute alte Zeit für immer dahin war. Die Tempel von Athen waren geschlossen und zerfielen, und viele der großartigen Statuen, die einst darin gestanden hatten, waren verunstaltet oder entfernt worden. Nicht einmal die Akropolis hatten sie verschont: Die große Athenestatue im Parthenon war zerstört.
Ein Großteil von Damaskios’ Schriften ist verloren, aber hier und da begegnet uns ein Satz von ihm, der uns seine Gefühlslage vermittelt. Sein ganzer Lebenswandel, so schrieb er, wurde »vom Strom hinweggefegt«.8 Die Schriften eines anderen griechischen Autors, der einige Jahre vor ihm Zeugnis ablegte, offenbaren eine ähnliche Verzweiflung. Wir sind, so schrieb er, »als Menschen zu Asche geworden … heute ist alles auf den Kopf gestellt«. In einem anderen düsteren Epigramm stellte der gequälte Dichter die Frage: »Stimmt es denn nicht, dass wir tot sind und nur zu leben scheinen, wir Griechen …? Oder sind wir am Leben und das Leben ist tot?«9
Viele moderne Historiker versehen die Zeit, als die alten Kulte vollends verschwanden und sich die christliche Religion endgültig durchsetzte, mit den Worten »Triumph des Christentums«. Es lohnt sich, einmal einen Blick auf die ursprüngliche Bedeutung des Wortes »Triumph« in Rom zu werfen. Ein echter römischer triumphus war nicht nur der Sieg des Siegers.10 Er beinhaltete die völlige Unterwerfung des Verlierers. Beim Triumphzug führten die Römer die Verlierer vor und ließen sie durch die Hauptstadt paradieren, während die Sieger auf einen Feind hinabschauten, dessen Soldaten getötet, dessen Anführer gedemütigt worden waren und den man seines Besitzes beraubt hatte.
Ein Triumph war mehr als ein Sieg. Es war ein vernichtender Sieg.
Wenig von dem, was ich in diesem Buch behandele, ist außerhalb entsprechender Fachkreise einem breiten Publikum bekannt. Zumindest kann ich mit Fug und Recht behaupten, dass ich nichts davon erfuhr, während ich in Wales als Tochter einer ehemaligen Nonne und eines ehemaligen Mönchs aufwuchs. Meine Kindheit war, wie Sie schon vermuten werden, recht religiös geprägt. Wir gingen jeden Sonntag in die Kirche, sprachen vor jeder Mahlzeit ein Tischgebet, und auch jeden Abend vor dem Schlafengehen betete ich (oder spulte zumindest eine Liste mit Forderungen ab, die ich für ein Gebet hielt). Wenn katholische Verwandte zu Besuch kamen, spielten wir Kinder nicht Räuber und Gendarm, sondern Erstkommunion und manchmal auch Abendmahl. Das war eigentlich eine Sünde und auch kein besonders spannendes Spiel, aber immerhin bekamen wir so von den Erwachsenen eine Extraportion Schwarzen Johannisbeersaft.
Sie sehen: In meiner Kindheit gab es jede Menge Gott, zumindest aber eine Menge Katholizismus. Doch obwohl meine Eltern zusammengenommen 24 Jahre hinter Klostermauern verbracht hatten, hatte ihr Glaube dennoch keinen dogmatischen Charakter. Wenn ich danach fragte, wie die Welt entstanden war, erzählten sie mir vom Urknall, nicht vom 1. Buch Mose. Wenn ich fragte, woher der Mensch kam, erzählten sie mir von der Evolution, nicht von Adam. Ich erinnere mich nicht, dass ich als Kind jemals daran gezweifelt hätte, dass Gott existierte – aber genauso erinnere ich mich, dass ich als Teenager ziemlich sicher war, dass er es nicht tat. Das bisschen Glaube, das ich gehabt hatte, war gestorben, und meine Eltern bemerkten es entweder nicht oder es war ihnen egal. Heute vermute ich, dass irgendwo zwischen dem Kloster und der Welt drumherum auch ihr Glaube gestorben war.
Was in unserer Familie aber niemals starb, das war der Glaube meiner Eltern an die Macht der Bildung, die die Kirche verkörperte. Als Kinder waren beide von Mönchen und Nonnen unterrichtet worden; als sie selbst Mönch und Nonne gewesen waren, hatten sie ihrerseits unterrichtet. Sie waren überzeugt davon, dass die Kirche, die ihren Geist erleuchtet hatte, früher einmal ganz Europa erleuchtet hatte. Die Kirche war es gewesen, erzählten sie mir, die das Latein und Griechisch der klassischen Welt über das dunkle Mittelalter hinweg am Leben gehalten hatte, damit sich die Menschen in der Renaissance wieder mit der Antike beschäftigen konnten. In den Ferien unternahmen wir Ausflüge zu Museen und Bibliotheken, wo mir dasselbe vermittelt wurde. Als Kind betrachtete ich den goldenen Schimmer der illuminierten Manuskripte und glaubte daran, dass sie in Zeiten geistiger Dunkelheit auch in metaphorischer Hinsicht ihr Licht verbreitet hatten.
In gewisser Weise hatten meine Eltern damit durchaus recht: Die Klöster haben umfangreiches klassisches Wissen bewahrt. Aber das ist längst nicht die ganze Wahrheit. Im Grunde lenkt sie sogar von dem ab, was vorher geschehen war und was die Kirche in ein weit weniger glorreiches Licht rückt – schließlich war es die Kirche gewesen, die die antike Kultur vernichtet hatte, bevor sie Anstalten machte, sie zu bewahren. In einem regelrechten, noch nie erlebten Rausch der Zerstörung – den viele Nichtchristen voll Entsetzen beobachteten – richtete die christliche Kirche im 4. und 5. Jahrhundert eine schier unfassbare Anzahl an Kunstwerken zugrunde. Klassische Statuen wurden von ihren Sockeln gestoßen und verunstaltet, Arme und Beine abgeschlagen. Tempel wurden eingerissen und niedergebrannt. Einen Tempel, der weithin als prächtigster im ganzen Imperium galt, machten die Christen buchstäblich dem Erdboden gleich. Diversen Skulpturen des Parthenon verstümmelte man die Gesichter und hackte Hände und Gliedmaßen ab, Götter wurden enthauptet. Einige der schönsten Statuen des Gebäudes wurden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit geschliffen und zu Steinbrocken verarbeitet, aus denen man damals neue Kirchen baute. Auch Bücher, die damals vielfach in Tempeln aufbewahrt wurden, blieben nicht verschont. Die Relikte der größten Bibliothek der Antike, die einst an die 700 000 Bände umfasst hatte, wurden ebenfalls von den Christen vernichtet. Es sollte mehr als tausend Jahre dauern, bevor es wieder eine Bibliothek mit auch nur annähernd so vielen Büchern geben sollte. Die Werke der zensierten Philosophen waren verboten, und im ganzen Reich brannten Scheiterhaufen, auf denen die verbotenen Bücher landeten.
So dramatisch das alles war, ein ungleich größeres Ausmaß an Zerstörung wurde durch schiere Vernachlässigung und Ignoranz verursacht. In ihren stillen Kopierzimmern bewahrten die Mönche viele Texte für die Nachwelt, aber weitaus mehr gingen dort verloren. Die Stimmung gegenüber nichtchristlichen Autoren war in den Klöstern richtiggehend feindselig. Da die Mönche in vollkommener Stille arbeiteten, hatten sie ein Handzeichensystem, um anzuzeigen, was für ein Buch man ihnen reichen solle: Ausgestreckte Handflächen und ein angedeutetes Seitenblättern bedeuteten beispielsweise, dass der Mönch einen Psalter gereicht haben wollte. Um ein Buch eines heidnischen Autors anzufordern, taten sie, als müssten sie würgen.11
Niemanden wird überraschen, wie sehr die Werke der verachteten Autoren damals litten. In einer Zeit, als Pergament knapp war, wurden die Texte vieler antiker Schriftsteller buchstäblich ausgelöscht: Die Schrift wurde von den Buchseiten fortgekratzt, um ehrwürdigeren Worten Platz zu machen. Palimpseste – Manuskripte, bei denen der Text wieder (palin) weggeschabt (psao) worden war, damit sie neu beschrieben werden konnten – gewähren uns Einblicke in eben jene Momente, in denen die alten Werke verschwanden. Die letzte existierende Abschrift von Ciceros Über den Staat beispielsweise wurde von Augustinus mit Psalmen überschrieben. Ein biografisches Werk von Seneca verschwand unter der x-ten Kopie des Alten Testaments. Bei einem Kodex wurden Sallusts Historien fortgeschabt, um den Schriften des heiligen Hieronymus Platz zu machen. Viele alte Texte kamen auch schlicht durch Ignoranz abhanden. Sie wurden links liegen gelassen und dienten Bücherwürmern als Nahrung oder zerfielen im Laufe der Jahre schlichtweg zu Staub. Das Werk von Demokrit, einem der größten griechischen Philosophen und Vater des Atomismus, ging komplett verloren. Gerade einmal ein Hundertstel der lateinischen Literatur überlebte die Jahrhunderte. 99 Prozent sind für immer verschwunden. Stumpfe Gleichgültigkeit und schiere Dummheit gehören immer noch zu den effektivsten Waffen.
Dabei waren die heftigen Übergriffe zu jener Zeit mitnichten das Werk von Spinnern und Exzentrikern. Die Zerstörung der Monumente der »verrückten«, »verdammten« und »wahnsinnigen« Heiden wurde von Männern im Herzen der katholischen Kirche gefördert und angeleitet.12 Der heilige Augustinus von Hippo erklärte vor Gemeindemitgliedern in Karthago, dass »aller Aberglaube der Heiden vernichtet werden soll – das ist es, was Gott will, was Gott befiehlt, was Gott verkündet!«13 Der heilige Martin von Tours, in Frankreich heute noch einer der populärsten Heiligen überhaupt, tobte blindwütig durch die gallische Landschaft, riss Tempel nieder und schockierte die Einheimischen, denen er begegnete. In Ägypten ließ der heilige Theophilus eines der schönsten Gebäude des Altertums zerstören. In Italien riss der heilige Benedikt von Nursia einen Apolloschrein ein. In Syrien terrorisierten rücksichtslose Banden von Mönchen die Landbewohner, zerschlugen Statuen und rissen die Dächer von den Tempeln.
Die Übergriffe beschränkten sich nicht nur auf Kunst und Kultur. Zum ersten Mal begann eine Religion, Vorschriften für alle Bereiche des Lebens zu erlassen – vom Essen, das auf den Teller kam (es sollte schlicht sein und natürlich ohne Gewürze zubereitet), bis hin zu dem, was man im Bett anstellte (auch hier sollte es »ohne Würze« zugehen). Männliche Homosexualität wurde verboten, und das Auszupfen von Haaren war ab sofort ebenso verpönt wie Schminke, Musik, laszive Tänze, üppiges Essen, violette Bettwäsche, Kleider aus Seide … Die Liste ließe sich fortsetzen.
Dies alles durchzusetzen war nicht einfach. Der allwissende Gott konnte mühelos in die Herzen und in die Häuser der Menschen schauen – seinen christlichen Priestern fiel das nicht so leicht. Doch Johannes Chrysostomos fand eine Lösung: Er wies seine Gemeindemitglieder an, einander gegenseitig auszuspionieren. Wenn sie die Häuser der anderen betraten, sollten sie ausspähen, was jene so taten, allen aus dem Weg gehen, die sich nicht an die Vorschriften hielten, und ihm schließlich die Namen aller Sünder nennen, die er entsprechend bestrafen werde. Falls man es versäume, jemanden zu melden, werde man selbst bestraft. »So, wie die Jäger wilde Tiere jagen, … nicht nur aus einer Richtung, sondern von allen Seiten, und dann das Netz über sie werfen, so lasst uns zusammen all jene jagen, die wilde Tiere geworden sind, und das Netz der Erlösung über sie werfen, wir von dieser Seite aus, ihr von eurer.«14 Besonders eifrige Christenmenschen drangen in die Häuser ihrer Nachbarn ein und suchten gezielt nach Büchern, Statuen und Gemälden, die als dämonisch galten. Und das wurde nicht etwa als grausam angesehen, im Gegenteil: Einen Sünder zu zügeln, zu maßregeln, unter Druck zu setzen, ja sogar ihn zu schlagen bedeutete – so er dadurch zum rechten Glauben zurückfand – , ihn zu erlösen. Wie Augustinus, der Meister des frommen Paradoxons, es ausdrückte: »Oh, barmherzige Grausamkeit.«15
Die Resultate waren insbesondere (aber nicht nur) für Nichtchristen schockierend. Bürger kamen in Scharen angerannt, um Zeuge zu werden, wie international bekannte Tempel niedergerissen wurden. Verzweifelte Intellektuelle mussten mitansehen, wie vermeintlich unchristliche Bücher, bei denen es sich in Wirklichkeit oftmals um wissenschaftliche Texte handelte, in Flammen aufgingen. Kunstliebhaber sahen fassungslos zu, wie einige der großartigsten Skulpturen des Altertums zerschmettert wurden – von Menschen, die zu dumm waren, um sie wertzuschätzen, und erst recht zu dumm, um selbst etwas Ähnliches zu schaffen. Mitunter waren die Christen aber nicht einmal in der Lage, das, was sie hassten, effektiv zu zerstören: An vielen Tempeln blieben nur deswegen zahlreiche Statuen erhalten, weil sie sich zu weit oben befanden, als dass diese Leute mit ihren primitiven Leitern und Hämmern sie hätten erreichen können.
Ursprünglich hatte ich dieses Buch als Reisebericht konzipiert. Ich fand, es wäre interessant, auf Damaskios’ Spuren das östliche Mittelmeer zu erkunden und seine Irrfahrt als heidnischer Paulus nachzuvollziehen. Syrien, Damaskus, Bagdad, Ägypten und die Südgrenze der Türkei: All das waren Orte, die nicht ganz einfach zu erreichen gewesen wären. Dennoch wäre die Reise dorthin für mich durchaus machbar gewesen – wenn in den Jahren zwischen meiner Idee und dem Verfassen dieses Buches nicht so viel passiert wäre.
Während ich diese Zeilen schreibe, kontrolliert in Syrien ein neues islamisches Kalifat, das im Zuge des Bürgerkriegs an die Macht gelangt ist, Teile des Landes. 2014 wurden in einigen Regionen Syriens Musik verboten und Bücher verbrannt. Das Auswärtige Amt sprach für den Norden der Sinai-Halbinsel und das ägyptisch-israelische Grenzgebiet eine Reisewarnung aus, die noch immer gilt. 2015 begann der IS – der sogenannte Islamische Staat – im Irak, die in seinen Augen »gottlose« altassyrische Stadt Nimrud südlich von Mosul zu zerstören. Die Bilder, die um die Welt gingen, zeigten IS-Kämpfer, die drei Jahrtausende alte Statuen von den Sockeln stürzten und mit dem Hammer bearbeiteten: Die »Götzenbilder« mussten zerstört werden. In Palmyra wurde die große Athenestatue, deren Überreste Archäologen sorgsam restauriert hatten, erneut attackiert. Wieder wurde die Göttin enthauptet; wieder wurde ihr der Arm abgehackt.
Die Reise, die ich geplant hatte, war unmöglich geworden, und infolgedessen ist dieses Buch eine Art historischer Reisebericht geworden. Ich durchquere darin das Römische Reich und lege an bestimmten Orten zu bestimmten, besonders bedeutsamen Zeiten Zwischenstopps ein. Wie bei jedem Reisebericht sind diese Stationen nach persönlichen Kriterien ausgewählt, über die sich streiten ließe. Ich habe mich dafür entschieden, mit Palmyra zu beginnen, denn dort, im Osten des Imperiums, eskalierte Mitte der 380er-Jahre die bis dahin sporadische Gewalt gegen die alten Götter und ihre Tempel und bekam eine neue Qualität. Doch ich hätte ebenso gut frühere oder spätere Übergriffe auf Tempel schildern können. Deshalb ist es ein Anfang, nicht der Anfang. Als Endpunkt habe ich Athen in den Jahren um 529 herum gewählt, doch auch hier hätte ich mich für eine der weiter östlich gelegenen Städte entscheiden können, deren Einwohner ermordet wurden, wenn sie nicht zum Christentum konvertieren wollten, und denen man Arme und Beine abhackte und als Warnung für andere auf der Straße liegen ließ.
Dies ist ein Buch über die Zerstörung der klassischen Welt durch die Christen. Die christlichen Übergriffe waren sicherlich nicht der einzige zerstörerische Faktor – Feuersbrünste, Überschwemmungen, Invasionen und der Zahn der Zeit spielten ebenfalls eine Rolle. Doch dieses Buch soll sich ganz speziell auf die Rolle des Christentums konzentrieren. Damit will ich nicht sagen, dass die Kirche nicht auch einiges bewahrt hätte. Aber über den positiven Beitrag des Christentums ist immer wieder geschrieben worden, Bücher darüber gibt es in den Bibliotheken und Buchhandlungen zuhauf. Die Geschichte(n) und das Leid derer, die das Christentum unterjocht hat, wurden dagegen seltener erzählt. Um sie soll es in diesem Buch gehen.
Das geografische Gebiet, das ich hier behandeln werde, hat gewaltige Ausmaße; entsprechend werde ich nur historische Schlaglichter aufzeigen und dabei durch Raum und Zeit mäandern. Für eine lineare Darstellung ist der Zeitraum zu lang, die daraus resultierende Erzählung wäre schlichtweg langweilig. Und ja, es ist eine erzählende historische Darstellung: Ich habe versucht nachzuspüren, wie es war, vor einem antiken Tempel zu stehen, wie es roch, wenn man eintrat, wie es wirkte, wenn in einem antiken Badehaus die Strahlen der Nachmittagssonne durch die Dampfschwaden drangen. Auch hierfür möchte ich mitnichten um Entschuldigung bitten. Sicherlich birgt eine solche Herangehensweise ganz eigene Probleme – wer kann schon wirklich wissen, wie ein antiker Tempel roch, ohne damals einen Fuß hineingesetzt zu haben? Doch wenn man nicht versucht, diese antike Welt neu zu erschaffen, ist dies wiederum eine Unaufrichtigkeit anderer Art: Schließlich lebten die Menschen des Altertums nicht in einer Welt, die aus sauber voneinander getrennten historischen Epochen und Ereignissen bestand. In ihrer Welt waberte an Festtagen der Rauch verbrannter Opfergaben durch die Straßen; in ihrer Welt verrichtete man im Zentrum von Rom hinter Statuen seine Notdurft; in ihrer Welt glitzerten in den Theatern die nassen, nackten Körper junger »Nymphen« in der Sonne. Man muss sich mit beidem – Daten und Körpern – beschäftigen, wenn man verstehen will, wie die Menschen damals lebten.
Jeder Versuch, über antike Geschichte zu schreiben, ist naturgemäß mit Schwierigkeiten verbunden. Wie die britische Schriftstellerin Hilary Mantel einmal gesagt hat: »Geschichte ist nicht Vergangenheit … Sie ist das, was im Sieb zurückbleibt, wenn die Jahrhunderte hindurchgeflossen sind.« Die Spätantike hat in diesem Sieb leider weniger hinterlassen als die meisten anderen Epochen. Und dieses Wenige wird von der Forschung zum Teil seit mehreren hundert Jahren kontrovers diskutiert. Selbst etwas, das so unkompliziert zu sein scheint wie ein Edikt, kann für jahrelange Meinungsverschiedenheiten zwischen denen sorgen, die es für bahnbrechend halten, und denen, die ihm lediglich den Status eines x-beliebigen Briefes zubilligen. Ich werde auf einige der wichtigsten Kontroversen eingehen, aber längst nicht auf alle – das wäre nahezu unmöglich und das daraus resultierende Buch unlesbar.
Was bleibt, ob umstritten oder nicht, sollte stets mit Vorsicht behandelt werden. Wie in der gesamten antiken Geschichte üblich, hatten auch die Autoren, die ich zitiere, eine ziemlich eingeschränkte Sichtweise und immer auch ihre eigene Agenda. Wenn sich der heilige Chrysostomos daran ergötzt, dass die Schriften der Griechen vernichtet seien, gibt er damit eher einer Hoffnung Ausdruck, als dass er eine Tatsache schildert. Wenn der Biograf des heiligen Martin begeistert beschreibt, wie Martin in ganz Gallien auf brutale Weise Tempel zerstört und niedergebrannt hat, liefert er damit weniger einen Tatsachenbericht ab, als dass er seine Leser inspirieren will. Heute würden wir solche Schriften als Propaganda bezeichnen. Über jedes Detail, das diese Autoren berichten, ließe sich streiten, jeder Schriftsteller, den ich zitiere, ist fehlbar. Salopp gesagt, waren sie auch nur Menschen, und ihre Schriften sind stets mit Vorsicht zu genießen. Aber wir sollten sie dennoch lesen – das, was sie erzählen, ist es wert.
Meine Erzählung beginnt in Ägypten, zu einer Zeit, als dort das Mönchstum aus der Taufe gehoben wird. Dann geht die Reise weiter nach Rom, wo die neue Religion Fuß fasst. Anschließend schauen wir in den Norden der Türkei, nach Bithynien, wo der allererste Bericht über die Christen aus der Feder eines Nichtchristen entsteht. Danach reisen wir zurück nach Ägypten, wo es in Alexandria zur schändlichsten Entweihung überhaupt kommt, und weiter in die syrische Wüste, wo wir auf die wohl merkwürdigsten Akteure unserer Geschichte treffen: Mönche, die aus Liebe zu Gott ihr ganzes Leben auf Säulen, auf Bäumen oder in Käfigen verbringen. Und schließlich nach Athen, dem Geburtsort der westlichen Philosophie, die eben dort im Jahr 529 auch ihr Ende findet.
Das Ausmaß der Zerstörung, die ich in diesem Buch aufzeichne, ist immens – und doch hat die moderne Welt sie fast völlig aus der kollektiven Erinnerung getilgt. Einer der einflussreichsten Kirchenhistoriker überhaupt beschrieb den Moment, als das Christentum die Zügel in die Hand nahm, als den Moment, in dem die »Tyrannei beseitigt« wurde: »Alles war von Licht erfüllt, und die zuvor den Blick zu Boden senkten, sahen sich an mit freudig lächelndem Antlitz und strahlenden Auges.«16 Spätere Historiker stimmten in diesen Tenor mit ein. Hätten die alten Römer denn nicht dankbar sein müssen, dass sie bekehrt wurden? Schließlich waren sie, so das Argument, vernünftige Leute und hatten an ihrer Religion mit den würdelosen, triebhaften Göttern und Göttinnen ohnehin nie richtig gehangen. In Wirklichkeit seien die Römer doch schon immer Christen gewesen, bereit, ihre absurd-verwirrenden polytheistischen Rituale aufzugeben, sobald eine vernünftige (soll heißen: monotheistische) Religion auf den Plan trat. Wie Samuel Johnson es ausdrückte: »Die Heiden ließen sich so einfach bekehren, weil sie nichts dafür aufgeben mussten.«17
Was für ein Irrtum! Zwar ist es richtig, dass viele Römer und Griechen bereitwillig zum Christentum konvertierten. Aber viele eben auch nicht. Viele Menschen nahmen es nicht mit einem Lächeln auf den Lippen hin, dass ihnen die Religionsfreiheit genommen wurde. Dass ihre Bücher verbrannt, ihre Tempel zerstört, ihre Statuen mit Hämmern zerschlagen wurden. Ihre Geschichte will dieses Buch erzählen; es ist ein Buch, das sich nicht schämt, die größte Zerstörung von Kunst seit Menschengedenken zu betrauern. Es ist ein Buch über die vielen Tragödien, die sich hinter dem »Triumph« des Christentums verbergen.
Eine Anmerkung zum Vokabular: Ich habe durchweg versucht, den Begriff »heidnisch« zu vermeiden, außer wenn ich die Gedanken oder Taten eines christlichen Protagonisten darstelle. Er war und ist ein abwertender und beleidigender Begriff, und kein Nichtchrist hätte ihn zur damaligen Zeit von sich aus verwendet. Ohnehin war dieses Wort eine christliche Neuerung – vor der allgemeinen Verbreitung des Christentums wäre kaum jemand auf die Idee gekommen, sich durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion zu definieren. Durch das Christentum aber wurde die Welt für immer entlang religiöser Grenzen gespalten, und bestimmte Begriffe tauchten auf, die diese Grenzen markierten. Eines der am häufigsten benutzten Wörter war »heidnisch«, auf Latein: paganus. Anfangs bezeichnete dieser Begriff den Zivilisten, um ihn vom Soldaten abzugrenzen. Als das Christentum seinen Siegeszug antrat, waren die »Soldaten« keine römischen Legionäre mehr, sondern all jene, die in der Armee Christi mitmarschierten. Spätere christliche Schriftsteller dachten sich eine wenig schmeichelhafte Etymologie für dieses Wort aus: Sie behaupteten, es käme von pagus, dem »Dorf« beziehungsweise dem »Dorfbewohner«, dem (ungebildeten) Bauern. Obwohl diese Etymologie falsch ist, haftet dem »Paganismus«, dem Heidentum, seither etwas Negatives an, und es scheint bis heute immer auch etwas Rustikales, Zurückgebliebenes mitzuschwingen.
Antiken Charakteren eine moderne Nationalität zuzuschreiben, vermeide ich, wann immer es möglich ist. Stattdessen definiere ich sie anhand der Sprache, in der sie hauptsächlich geschrieben haben. Zum Beispiel ist Libanios, obwohl er in Syrien geboren wurde und gelebt hat, bei mir kein »syrischer«, sondern ein »griechischer« Redner. Es war eine kosmopolitische Welt, in der sich die Menschen zwischen Alexandria und Athen als »Griechen« beziehungsweise »Hellenen« bezeichneten. Mir ist es wichtig, diesen Umstand auch durch Begrifflichkeiten abzubilden.
Um der besseren Lesbarkeit willen verwende ich im Text gelegentlich das Wort »Religion«, um das breite Spektrum von Kulten zu benennen, die die griechisch-römische Gesellschaft vor der Christianisierung prägten. Dieses Wort wirft allerdings seine ganz eigenen Probleme auf – nicht zuletzt, da es eine zentralisierte und kohärente Struktur impliziert, wie sie in der Praxis nicht existierte. Dennoch ist es immer noch eleganter als die vielen umständlichen Alternativen.
Eine letzte Anmerkung noch: Sehr viele gute Menschen veranlasst ihr christlicher Glaube dazu, sehr viel Gutes zu tun. Das erlebe ich selbst fast täglich am eigenen Leib. Ich möchte diese Menschen mit meinem Buch keinesfalls angreifen, und ich kann nur hoffen, dass sie diesen Eindruck gar nicht erst gewinnen. Dennoch kann niemand bestreiten, dass es Personen gab und gibt, die im Namen ihres monotheistischen Glaubens schreckliche Verbrechen begingen und begehen. Das Christentum als Religion könnte davon profitieren, sich dieser Tatsache zu stellen – und sie zu bekämpfen.