»Falls wir weise sind, so werden wir von den heidnischen Büchern das nehmen, was uns geziemt und was wahr ist, und den Rest werden wir geflissentlich übergehen.«
BASILIUS VON CAESAREA, AN JUNGE MÄNNER, IV
In einer der Szenen zu Beginn von Umberto Ecos Roman Der Name der Rose wendet sich ein gelehrter mittelalterlicher Abt an einen Mönch, der gerade in seinem Kloster in Italien eingetroffen ist. »Monasterium sine libris«, deklamiert er, selbstverständlich auf Latein, »est sicut … hortus sine herbis, pratum sine floribus, arbor sine foliis« – ein Kloster ohne Bücher sei wie ein Garten ohne Kräuter, eine Wiese ohne Blumen, ein Baum ohne Blätter. Der Abt setzt seine Erklärung (oder vielmehr Belehrung) in der Volkssprache fort: »Als und solange« sein Mönchsorden, der Orden der Benediktiner, »wuchs am Doppelgebot der Arbeit und des Gebetes, war er Licht für die ganze bekannte Welt, Hort des Wissens, Zuflucht einer antiken Bildung, die unterzugehen drohte in Feuersbrünsten, Plünderungen und Erdbeben, Brutstätte einer neuen Schrift und Pflegestätte der alten.«1 Es ist ein durchaus markantes Bild: das Christentum als Erbe und tapferer Bewahrer der klassischen Überlieferung – und es ist ein Bild, das sich nach wie vor großer Beliebtheit erfreut. Dies ist das Christentum der alten Klosterbibliotheken, der schönen Bilderhandschriften, von Einhard und von Beda dem Ehrwürdigen. Dies ist das Christentum, das die altehrwürdigen Colleges von Oxford zu errichten half und für ihre Namen – Corpus Christi, Jesus, Magdalen – Pate stand. Dies ist das Christentum, welches die mittelalterlichen Bibliotheken bestückte, welches das Stundenbuch des Herzogs von Berry, das Stundenbuch der Johanna von Navarra und den Kopenhagener Psalter mit seinen prächtigen goldenen Illustrationen hervorgebracht hat. Dies ist die Religion, die innerhalb der Mauern des Vatikans die antike Sprache immer noch künstlich am Leben erhält und Wörter wie »Computer«, »Videospiel« und »Heavy Metal« ins Lateinische übersetzt – mehr als tausend Jahre, nachdem diese Sprache eigentlich eines natürlichen Todes hätte sterben müssen.
Und tatsächlich ist alles an diesem Bild richtig. In seinen besten Tagen tat das Christentum all das und noch mehr. Aber die Geschichte des Christentums hat noch eine andere Seite, eine, deren Protagonisten nicht die literaturbegeisterten Mönche und umsichtigen Kopisten sind, von denen wir immer wieder hören. Diese Seite der Geschichte ist weitaus weniger glorreich. Da werden Philosophen verhört, geschlagen und gefoltert, sie werden ins Exil geschickt, ihre Lehre verboten. Da stecken Intellektuelle aus lauter Angst ihre eigene Bibliothek in Brand. Diese Seite der Geschichte charakterisiert vor allem das, was verloren ging – sie kündet davon, wie die Literatur ihre Freiheit verlor, wie gewisse Themen aus der philosophischen Debatte herausfielen – und dann auf Nimmerwiedersehen verschwand. Es ist eine Geschichte des Schweigens, des Verschweigens.
Die intellektuelle Welt durchlief einen grundlegenden Wandel. Ein paar Jahre vor dem Mord an Hypatia verfasste ein älterer christlicher Bischof namens Basilius ein besorgtes Pamphlet mit dem Titel An junge Männer über den richtigen Gebrauch der griechischen Literatur.2 Es war ein forscher, steifer Text, der jungen Lesern aufzeigen sollte, welche klassischen Autoren eine akzeptable Lektüre darstellten – und welche nicht. Basilius warnte, man dürfe »diesen Männern nicht das Ruder in die Hand geben, das den eigenen Geist steuert, … und ihnen überall hin folgen. Vielmehr sollte man von ihnen nur das annehmen, was einem nützt, und dazu muss man wissen, worüber es hinwegzusehen gilt.«3
In Basilius’ Augen gab es da eine ganze Menge, über das es hinwegzusehen galt. In unserer heutigen Welt, in der das Wort »klassisch« allzu oft etwas bezeichnet, das auf so unreflektierte Weise verehrt wird, dass es an Stumpfheit grenzt, können wir kaum noch nachvollziehen, wie besorgniserregend die Christen viele dieser Werke fanden. In ihren Augen nämlich konnte einen der Kanon der klassischen Literatur durchaus das Fürchten lehren, war er doch gespickt mit Sünden jeglicher Art. Schlug man Homers Ilias auf, so konnte man lesen, wie der Gott Ares die goldene Aphrodite verführt – und wie die beiden dabei in flagranti erwischt werden. Schlug man König Ödipus auf, so konnte man lesen, dass »die Macht der Götter dem Untergang geweiht« ist. Selbst in den Werken der ganz illustren, erhabenen Dichter lauerte die Gefahr: Schlug man den sonst geradezu nervtötend tugendhaften Vergil auf, so konnte man lesen, wie Dido und Aeneas vor dem Regen in eine Höhle fliehen und dort allerlei Schandtaten treiben.4 Götzendienst, Blasphemie, Lust, Mord, Eitelkeit … Jede nur erdenkliche Sünde fand sich in diesen Büchern wieder. Das war es ja gerade, was sie so spannend machte – und in den Augen der Christen zu so schändlichen Machwerken.
Folglich durfte man einen unerfahrenen Christenmenschen auf keinen Fall ungebremst auf den klassischen Kanon loslassen. Das war viel zu gefährlich. Schließlich könne unsere Seele, so Basilius, »aufgrund unserer Liebe zu den Buchstaben … unversehens verunreinigt werden, als tränke man vergifteten Honig«.5 Er war zudem der Ansicht, man solle die klassischen Autoren auch dort ignorieren, wo sie allzu begeistert über die Freuden großer Bankette schrieben oder schamlosen Liedern frönten. Wer jene Texte auch nur vorläse, der beschmutze sich. Der heilige Hieronymus, selbst ein Gelehrter und eingefleischter Bücherwurm, ereiferte sich gegen jene, denen es Spaß mache, »die Sprache zu notzüchtigen«. Wer solche Worte vortrage, verunreinige seinen Geist. Wie könne man einen solchen Dreck rezitieren und danach ein christliches Werk lesen? »Was hat Horaz mit dem Psalterium zu tun, was Maro [= Vergil] mit den Evangelien, was Cicero mit den Aposteln?« Man dürfe keinesfalls, so redete Hieronymus sich in Rage, »zu gleicher Zeit den Kelch Christi und den Kelch der Dämonen trinken«.6
Für jedes klassische Werk, das den Ansprüchen der Christen und ihrer Moral genügte, gab es ein anderes, das sie unerträglich fanden. Insbesondere Gedicht Nummer 16 des Dichters Catull war ihnen ein Dorn im Auge. Es beginnt mit dem berühmt-berüchtigten Vers: »Ich werde euch in den Arsch und in den Mund ficken.«7 Keine Frage, dass sich Basilius für so etwas nicht wirklich erwärmen konnte.
Ein wenig besser gelitten war da schon das Epigramm Nummer 1.90 von Martial, schließlich tadelt der Dichter darin eine Frau, die Affären mit anderen Frauen hat. Oder, wie Martial es ausdrückt: »Du erdreistest dich, eure Mösen aneinanderzureiben,/Dein widernatürliches Geschlechtsteil ahmt das eines Mannes nach.«8
Nahm ein unbefangener junger Leser ein Buch von Ovid in die zitternden Finger, konnte er darin durchaus Anweisungen des Dichters finden, wie man beim Abendessen eine verheiratete Frau verführt, indem man ihr geheime Botschaften in verschütteten Wein schreibt. In einem Gedicht weiter hinten berichtet Ovid über ein mittägliches Liebesspiel (»Oh, wie die Form ihrer Brüste mir gebot, sie zu streicheln!«), wobei er detailliert den Körper seiner Geliebten beschreibt: »Ihr flacher Bauch unter diesen Brüsten, ihre jugendlichen Schenkel …«9
Damit müsse Schluss sein, schrieb Basilius. Ein guter Christ dürfe solch obszönen Werke gar nicht erst in die Hand nehmen. Wer zufällig auf eine klassische Passage stoße, in der verdorbene Männer verdorbene Dinge tun, der müsse »davor fliehen und sich die Ohren verschließen«.10 Er gemahnte streng, der christliche Leser solle stets gegen solche ovidischen Unflätigkeiten gewappnet sein: »Wir dürfen keinen Dichter loben, der Unzüchtige und Weintrinker beschreibt.«11 Allerdings waren nicht alle klassischen Autoren so gefährlich wie Ovid und Catull – die Verachtung, mit der beispielsweise der Stoiker Mark Aurel das Thema Sex behandelte, hätte auch einem Christen gut zu Gesicht gestanden. Doch selbst Mark Aurels Sprache war für so manchen Kirchenmann ein wenig zu explizit. Griffen christliche Autoren in der Regel auf abstrakte Substantive zurück, um den Dämon des sexuellen Verlangens zu beschreiben (»Lust«, »Begehren«, »Liederlichkeit« und so weiter), so beschrieb Mark Aurel den Geschlechtsakt geradezu unverschämt präzise als »die Reibung eines Eingeweides und Ausscheidung von Schleim, mit Zuckungen verbunden«.12 Mit einem Gleichnis, das dem Heiden Homer zur Ehre gereicht hätte, riet Basilius zur Vorsicht: Junge Männer sollten mit den Klassikern so umgehen wie die Bienen mit den Blumen, denn »die Bienen besuchen ja auch nicht jede Blüte, sie wählen sie genau aus … Und wenn sie so viel gesammelt haben, wie es ihren Bedürfnissen entspricht, lassen sie die restlichen links liegen.«13
Vorrangig galt es jedoch, griechische und römische Autoren dort zu ignorieren, wo sie auf ihre Götter zu sprechen kamen, »vor allem dann, wenn von mehr als einem die Rede ist« – was im Grunde genommen stets der Fall war.14 Fast alles, was mit diesen Göttern zu tun hatte, musste einen christlichen Leser nervös machen: Dass es sich bei ihnen um Dämonen handelte, war ja schon schlimm genug, doch auch ihr Verhalten war völlig inakzeptabel. Anders als der Gott der Christen stellten diese Götter nicht nur ehrenhafte Emotionen wie Zorn, Mitleid und Liebe zur Schau, sondern auch Gefühle, die weit weniger erhaben waren – von Wollust über mutwillige Liederlichkeit bis hin zur Eifersucht und wieder zurück zur Wollust. Wie sich diese Götter benahmen, fand ein christlicher Autor »vollkommen schandhaft«.15 Sie waren alles andere als entrückte, allwissende Wesen, sondern auf schon fast unverschämte Weise menschlich: Sie zankten sich, sie weinten, hatten Sex, sie betranken sich und spielten sogar (oder vielleicht gerade) ihrer eigenen Familie immer wieder übel mit.
Im griechisch-römischen Pantheon kämpfte der Bruder gegen den Bruder, und schlimmer noch: Mitunter tat der Bruder sogar unsaussprechliche Dinge mit der eigenen Schwester. Oder mit sonst irgendwem, den er in die Finger bekam. Vor allem Zeus war unter den christlichen Autoren dafür berüchtigt, dass »es ihn auf schimpflichste Weise nach seiner Schwester gelüstete«.16 Er hatte so viel auf dem Kerbholz, dass Basilius sich nicht ermannen konnte, zu beschreiben, was »der, den sie Zeus nennen«, alles angestellt hatte; es sei einfach unmöglich, von Zeus’ Seitensprüngen zu berichten, »ohne zu erröten«.17 »Solche Geschichten«, schrieb der christliche Apologetiker Tertullian, »hätten sich gottesfürchtige Menschen niemals ausdenken dürfen.« Der Gipfel indes seien die klassischen Komödien, bei deren Aufführung sich alle, sogar die Götter, einen Phallus umschnallten: »Beleidigt euer Applaus denn nicht die Erhabenheit eurer Götter? Schändet er nicht ihre Göttlichkeit?«18
Die klassische Literatur stellte nicht nur die Existenz göttlicher Wesen infrage, sondern gab ihre Götter auch immer wieder der Lächerlichkeit preis. Die Werke der griechischen und römischen Philosophie waren voll von pointierten Einzeilern, in denen man sich über Religion lustig machte. In einer berühmten Anekdote steht der griechische Philosoph Diogenes Laertios vor einer Mauer voller Tempelinschriften dankbarer Matrosen, die ein Unglück auf See überlebt haben. Als sich ein anderer Mann zu ihm gesellt und die vielen Inschriften bestaunt, merkt Diogenes an: »Es wären noch viel mehr, hätten sich all jene verewigt, die nicht gerettet wurden.«19 Ein andermal wird Diogenes Laertios Zeuge, wie Tempelbeamte einen Mann verhaften, der etwas aus der Schatzkammer des Tempels gestohlen hat. »Schau mal«, sagt er, »die großen Diebe führen den kleinen ab!«20 Und in einer anderen Geschichte, die bei den Christen noch mehr ins Schwarze traf, unterhält sich ein Philosoph namens Antisthenes mit einem Priester des Kultes der Orphiker, die an ein Weiterleben im Jenseits glauben. Der Priester erklärt lang und breit, was für ein schönes Leben die Eingeweihten nach ihrem Tod erwarte. Da fragt Antisthenes den Priester ganz arglos: »Warum bist du denn dann noch am Leben?«21
Besser sei es, so schrieb Basilius, man meide solche gefährlichen Werke: »Genau wie wir Rosenbüsche roden, um uns nicht an ihnen zu stechen, sollten wir aus diesen Schriften die nützlichen herausfischen und uns vor den schädlichen hüten.«22 Dabei hätte eine solche Zensur seitens der Kirche nichts mit Intoleranz zu tun, vielmehr sei sie ein Zeichen der Liebe. Genau wie sich Augustinus dafür aussprach, Ketzer aus väterlicher Fürsorge heraus mit Stöcken zu schlagen, befürwortete Basilius die Vernichtung vieler großer Werke des klassischen Kanons aus »großer Sorge« um die Menschen, deren Seelen er dadurch beschützen wollte. Mitunter ging die Obrigkeit dabei so aggressiv vor, dass Kopisten aufgefordert wurden, verdächtige Werke den Behörden zu melden, um sie zensieren zu können. In Alexandria ließ Kyrill auf der Jagd nach Werken des verstorbenen heidnischen Kaisers Julian Apostata sogar Privatwohnungen durchsuchen.23
Basilius’ Text hatte einen gewaltigen Einfluss auf das westliche Bildungssystem. Jahrhundertelang wurde er immer wieder gelesen und kopiert, und mit Sicherheit beeinflusste er, was in den Bildungseinrichtungen von Byzanz gelesen, erforscht und vor allem, was bewahrt wurde.24 Und was eben nicht. Der Text galt als so bedeutend, dass er in der Renaissance – ironischerweise – eines der ersten Werke überhaupt war, die aus dem Griechischen übersetzt wurden. Die Jesuiten setzten ihn auf ihren internationalen Lehrplan, die Ratio studiorum, wodurch der Text in die Ausbildung von Jesuiten in der ganzen Welt einfloss.25 Trotz allem wurde Basilius von späteren Generationen zum liberalen Intellektuellen hochstilisiert. Eine Auflage seines Pamphlets aus dem 20. Jahrhundert verglich Basilius’ Haltung gegenüber der heidnischen Literatur mit derjenigen eines »verständnisvollen Freundes, der ihren schlimmsten Auswüchsen gegenüber nicht blind war, aber sie doch keineswegs pauschal verurteilte«.26 Eine weitere Ausgabe von Basilius’ An junge Männer, ebenfalls aus dem 20. Jahrhundert, erklärt, dies seien »nicht etwa die angsterfüllten Warnungen eines fanatischen Geistlichen, der sich um die Vorherrschaft der Heiligen Schrift sorgt. Es handelt sich vielmehr um die didaktische Theorie eines kultivierten Mannes.«27 Das ist Unsinn. Die Vorherrschaft der Heiligen Schrift war das Einzige, das Basilius am Herzen lag – und die erreichte er auch. Wie fein er seine Worte auch zu wählen vermochte: Es war Zensur.
Natürlich war dafür nicht allein Basilius verantwortlich. Die Zensur des klassischen Kanons zog sich über ein ganzes Jahrtausend hin. Wer eine englische Ausgabe des lateinischen Dichters Martial von 1875 aufschlägt, wird feststellen, dass viele seiner expliziteren Gedichte nicht ins Englische übersetzt worden sind, sondern ins Italienische, das offenbar als geeigneter galt, unzüchtiges Verhalten zu beschreiben.28 Anderswo ließ man solche Gedichte gleich ganz fort oder übertrug sie ins Altgriechische – das sah nicht nur besonders gelehrt und respektabel aus, sondern hatte den zusätzlichen Vorteil, dass es noch weniger Menschen verstanden, als es bei Latein der Fall gewesen wäre. Der erste Vers von Catulls Gedicht Nummer 16 sorgte, wie der Literaturwissenschaftler Walter Kendrick berichtet, bis weit ins 20. Jahrhundert hinein für Unruhe. In einer Ausgabe der Cambridge University Press von 1904 fehlen kurzerhand alle anstößigen Verse dieses Gedichts; um die Gefühle des Lesers zu schonen (oder um zu verhindern, dass sein Interesse geweckt wurde), ist es dort schlicht als »Fragment« bezeichnet.29 Schaut man in die englischsprachige Catull-Ausgabe, die Penguin 1966 herausgebracht hat, stellt man fest, dass der erste Vers ganz diskret im Lateinischen belassen wurde. »Pedicabo et irrumabo« heißt es da, ebenso markant wie kryptisch.30 Erst Ende des 20. Jahrhunderts wurde Gedicht Nummer 16 einigermaßen korrekt übersetzt, auch wenn sich der prägnante lateinische Sex-Jargon in modernen Sprachen nur bedingt nachahmen lässt – auf Englisch brauchte es fünf Wörter, um das lateinische Verb irrumabo zu übertragen.31
In der neuen, stets wachsamen christlichen Ära änderte sich nach und nach auch der Ton dessen, was geschrieben wurde. Die polytheistische Literatur hatte nicht nur alles und jeden verspottet, sondern auch ganz unterschiedliche Themen erörtert – man hatte sich mit der Frage beschäftigt, ob der Mensch in einem aus Atomen bestehenden Universum einen freien Willen hat; man hatte über die allzu große Leichtgläubigkeit der Christen geschrieben und über die Verwendung von Urin zur Zahnreinigung (was als effektiv und abstoßend zugleich galt). Seit der Machtübernahme des Christentums galt Derartiges als zu wertlos, um auf Pergament gebannt zu werden. Anders als in den Jahrhunderten vor Konstantin entstanden in den Jahrhunderten nach ihm keine ausgelassenen Satiren und keine offenherzigen Liebesgedichte mehr. Die wichtigsten Literaten des 4. und 5. Jahrhunderts waren der heilige Augustinus, der heilige Hieronymus und der heilige Johannes Chrysostomos. Sie alle waren Christen. Und keiner von ihnen lief Gefahr, mit Catull verwechselt zu werden.
Die Schriften von Johannes Chrysostomos sind ein gutes Beispiel für den Ton dieser neuen Literatur. »Es darf keine Hurerei geben!«, verkündete er in einer seiner vielen temperamentvollen Reden zum Thema Fleischeslust.32 Eine schöne Frau sei ein furchtbarer Fallstrick. Auf der (keineswegs erschöpfenden) Liste weiterer Fallstricke, vor denen dieser hochverehrte Geistliche warnte, fanden sich das Lachen (»gibt oft Anlass zu unflätigem Gerede«), Geplänkel und Neckereien (»die Wurzel nachfolgender Übel«), Würfelspiele (»lassen unendliches Elend in unser Leben«) und Pferderennen (siehe oben). Der Theaterbesuch konnte gleich eine Vielzahl von Übeln nach sich ziehen, unter anderem »Unzucht, Zügellosigkeit und alles erdenklich Unreine«.33 Das Register zu einer Sammlung seiner Predigten bringt Chrysostomos’ Tenor auf den Punkt. Unter dem Stichwort »Angst« findet man dort:
nötig für heilige Männer, 334;
Schelte für Unachtsamkeit, 347;
der wahre Reichtum des Herrn, 351;
eine Strafe, 355;
erweckt das Gewissen, 363;
vor Schaden durch niedere Menschen, 366;
ein guter Mann ist gefestigt gegen, 369;
ohne die Angst vor Tod in der Hölle schrecklich, 374;
vor Höllenqualen lohnend …
… und so weiter. Insgesamt sind es 25 Verweise, und sie enden mit dem schönen Eintrag »reinigt wie ein Brennofen«. Sieht der geneigte Leser unter »Glück« nach, ist die Ausbeute weitaus magerer als bei »Angst«. Tatsächlich besteht sie nur aus einem einzigen Eintrag:
allein in Gott, 46034
Es war eine neue literarische Welt, und es war eine durch und durch ernste. »Das Ausmaß, in dem die neuen christlichen Schriften alle anderen verdrängten und ersetzten, ist wirklich atemberaubend«, schreibt der Althistoriker Brent D. Shaw. »Dass diese christliche Sprache so mächtig war, lag an mehreren Faktoren, unter anderem einer erbarmungslosen, stets mahnenden Pädagogik, einer aggressiven moralischen Beurteilung des Individuums und einer unaufhörlichen Einmischung in alle Einzelheiten des Alltags. Vor allem aber fehlte dieser Sprache jeglicher Humor. Es war eine mürrische, eine todernste Welt. Die Witze, die humorvollen Seitenhiebe, die vergnüglichen Satiren, die lustigen Sticheleien, mit denen man die Obrigkeit zu verspotten pflegte – all das war verschwunden.«35 Und an die Stelle des Humors trat die Angst. Die christlichen Prediger ließen Feuer und Schwefel auf ihre Gemeinden niederregnen – selbstverständlich nur zu deren Bestem. Wie Chrysostomos zufrieden anmerkte: »In unseren Kirchen hört man zahllose Gespräche über ewige Strafen, über Flüsse aus Feuer, über den giftigen Wurm, über Fesseln, die keiner zerbrechen kann, über die äußerste Finsternis.«36
Doch so bedrohlich christliche Prediger die klassischen Texte, in denen so leichtfertig von Sex, Abtreibungen, Analverkehr und der Klitoris berichtet wurde, auch fanden: Ein anderer Aspekt der klassischen Literatur war für sie noch weitaus alarmierender – die Philosophie. Die Texte der lautstark miteinander konkurrierenden philosophischen Schulen der Griechen und der Römer gaben dem Leser zahlreiche mögliche religiöse Überzeugungen an die Hand. Manche klassischen Philosophen hatten argumentiert, dass es unzählige Götter, andere, dass es nur einen Gott gebe, wiederum andere, dass überhaupt kein Gott existiere oder dass man sich dessen einfach nicht sicher sein könne. Der Philosoph Protagoras fasste seine Haltung zu den Göttern mit den Worten zusammen: »Ob sie existieren oder ob sie nicht existieren, kann ich nicht wissen.«37
Sogar Philosophen wie Platon, dessen Schriften sich besser in christliche Denkmuster einfügten – seine Singularform des »Guten« ließ sich mit ein wenig gutem Willen durchaus in einen christlichen Rahmen pressen –, galten als bedrohlich. Oder vielleicht gerade deshalb: Jahrhundertelang sollte Platon die Kirche – sporadisch zwar, aber immer wieder – in Aufruhr versetzen. Im 11. Jahrhundert wurde der Liturgie der Fastenzeit eine neue Klausel hinzugefügt, in der all jene gerügt wurden, die an die Lehren Platons glaubten. »Der Bann der Kirche treffe jeden«, hieß es dort, »der sich den griechischen Studien widmet und die törichten Lehren der Alten, anstatt sie lediglich zur eigenen Bildung zu verwenden, übernimmt und als Wahrheit akzeptiert.«38
Viele Hardliner unter den christlichen Klerikern zogen das gesamte Konstrukt akademischen Lernens in Zweifel. In gewisser Hinsicht vertraten sie dabei einen beinahe ehrenvollen Egalitarismus: Bei den Christen konnte selbst der demütigste Fischer das Antlitz Gottes berühren, ohne dass ihm irgendwelche spitzfindigen Gelehrten die Hand führen mussten. Doch diese Haltung hatte auch eine aggressivere, finstere Seite. Um es mit den ebenso prägnanten wie einflussreichen Worten des Apostels Paulus zu sagen: »Die Weisheit dieser Welt ist Torheit bei Gott.«39 Diese Einstellung sollte sich durchsetzen. Spätere Christen verachteten all jene, die die Heilige Schrift mit allzu gelehrigen Mitteln zu interpretieren versuchten. Und ein Autor wetterte: »Unter Verachtung der heiligen Schriften Gottes beschäftigen sie sich mit Geometrie … Eifrig studieren sie die Geometrie Euklids. Sie bewundern Aristoteles und Theophrast. Galen gar wird von einigen billig angebetet.«40
Den Christen zufolge durfte man nicht Galen verehren, sondern ausschließlich Gott. Da half auch nicht der Gnostizismus, eine hochintellektuelle Bewegung des 2. Jahrhunderts (von gnosis, dem griechischen Wort für »Wissen«), die später für ketzerisch erklärt wurde. Ketzer waren Intellektuelle, folglich waren Intellektuelle wenn nicht von vornherein Ketzer, so doch zumindest suspekt. So lautete die logische Schlussfolgerung. Gefeiert wurde dafür die intellektuelle Schlichtheit – oder, um es beim Namen zu nennen: die Ignoranz. In der Biografie des heiligen Antonius wird der fromme Mann dafür gelobt, dass er »vom Unterricht im Lesen und Schreiben nichts wissen« wollte. Die Bildung wird hier als klarer Widerspruch zur Frömmigkeit dargestellt. Stattdessen, so erfahren wir, war Antonius’ »ganze Sehnsucht« auf Gott gerichtet.41 Dass dies nicht ganz der Wahrheit entsprach – in seinen Briefen zeigt sich Antonius als jemand, der durchaus zu sorgfältigen Überlegungen neigte – , spielte keine große Rolle. Die Beschreibung spielte auf ein verbreitetes Ideal an: Lass Bücher und Brot liegen, und du gewinnst Gottes Gunst! Selbst Intellektuelle ließen sich von diesem Bild beeindrucken: Als Augustinus davon erfuhr, wie viele Menschen der einfältige, ungebildete Antonius dazu inspiriert hatte, sich Christus zuzuwenden, schlug er sich auf den Kopf, raufte sich die Haare und rief aus: »Was geschieht uns?«42 Nicht Wissen war nunmehr Macht, sondern Ignoranz.
Manche Christen beschlossen, dass eine Assimilation unmöglich war – sie legten ihren Homer und ihren Platon ins Regal und rührten sie nicht mehr an. Ein Autor verkaufte alle seine literarischen und philosophischen Bücher, als er zum Christentum konvertierte; Armut war eine Tugend, und Bücher waren teuer. Und ein wahrer Christ bedurfte der Philosophie ja ohnehin nicht mehr: Er hatte Gott. Wie der christliche Redner Tertullian es ausdrückte: »Was hat also Athen mit Jerusalem zu schaffen, was die Akademie mit der Kirche? … Mögen sie meinethalben, wenn es ihnen so gefällt, ein stoisches und platonisches und dialektisches Christentum aufbringen! Wir indes bedürfen seit Jesus Christus des Forschens nicht mehr.«43 Es gab kein Bedürfnis nach Erkenntnis mehr, kein Bedürfnis nach der Philosophie der Stoiker oder der Platoniker oder nach irgendetwas anderem. Wer seinen Glauben hatte, der hatte alles, was er brauchte.
Doch dieser Lobgesang auf den Analphabetismus brachte auch Probleme mit sich. Zwar konnte ein dummer, ungebildeter Mensch problemlos das Himmelstor durchschreiten – um die Tore der Villen der römischen Elite zu durchschreiten, musste man hingegen ziemlich kultiviert sein. Gebildete Römer und Griechen wie Kelsos und Porphyrios straften die christliche Literatur mit unverhohlener Verachtung, und Autoren wie Augustinus und Hieronymus wussten das ganz genau. Teil des Problems war die Bibel, und zwar nicht nur ihr Inhalt, sondern auch ihre Sprache und ihr Stil. Wer sich heute am verschnörkelten Deutsch der Lutherbibel erfreut, wird sich kaum vorstellen können, dass die Bibelsprache im 4. Jahrhundert als wenig kunstvoll galt – im Gegenteil. Die Evangelien der alten lateinischen Bibelfassung waren in einem betont volkstümlichen Stil verfasst, sie strotzten vor grammatischen Schnitzern und Wörtern, die einem gebildeten Menschen regelrecht in den Ohren wehtaten.44 Dabei ging es weniger darum, dass der Sinn nicht transportiert worden wäre, sondern darum, dass es für die damalige Zeit an vielen Stellen nun einmal so klang, wie wenn heute jemand »Klo« sagt statt »Toilette«. Der Statusverlust war kaum zu ertragen. Wenn dies wirklich das Wort Gottes war, dann sprach Gott eindeutig so wie das niedere Volk.
Und die damalige Gesellschaft hatte für die verschiedenen Nuancen ein ausgesprochen feines Gehör. Augustinus wuchs mit dem Wissen auf, dass unter seinesgleichen grammatische Fehltritte verpönter waren als moralische. Jemand, der das das Wort homo (»Mensch«) als »’omo« aussprach, wurde damals stärker verachtet als jemand von der Sorte, die andere nach ihrer Aussprache beurteilte.45 Wie man lateinische Wörter aussprach, die mit dem Buchstaben »H« begannen, zeigte sofort, welcher Gesellschaftsschicht man angehörte; der korrekte Einsatz wies einen als Mann von Welt aus. Catull, der aus der Oberschicht stammte, führt in einem seiner Gedichte gnadenlos einen Mann vor, der sich bemüht, aristokratischer zu klingen, indem er Wörtern einen »H«-Laut voranstellt – nur leider entscheidet er sich immer für die falschen.46 In dieser Welt, in der eine falsche Behauchung reichte, um sich ins Abseits zu bugsieren, stellte die Sprache der Bibel eine einzige Peinlichkeit dar.
Augustinus war sich dessen durchaus bewusst, verteidigte die Sprachebene der Bibel jedoch vehement: Wen könne es kümmern, ereiferte er sich, ob jemand hier und da ein unpassendes Wort oder den falschen Kasus verwendet habe? Hauptsache, jeder verstünde, was gemeint sei. Wenn jemand zu Gott betete, er möge ihm seine Sünden vergeben, wen scherte es dann, »ob er beim Wort ignoscere [›verzeihen‹] die dritte Silbe lang oder kurz ausspricht?«47 Dennoch: Gott verzieh solche grammatischen Sünden vielleicht, die römischen Aristokraten nicht. Die Einfalt der christlichen Texte stieß viele ab, die sonst vielleicht erwogen hätten zu konvertieren, und vielen, die bereits konvertiert waren, war sie peinlich. Wer konvertierte, der begab sich (um eine sehr bezeichnende Formulierung von Augustinus aufzugreifen) in ein intellektuelles Umfeld, in dem man keinem Platon oder Pythagoras begegnete, sondern eher den eigenen Hausdienern. Die Oberschicht konnte so etwas nie und nimmer gutheißen, und solange sie sich gegen das Christentum wehrte, taten es viele ihrer Untergebenen auch. Diese unbelehrbare Elite war, so Augustinus, das »Bollwerk einer Stadt, die nicht glauben will, einer Stadt, die die Wahrheit leugnet«.48
Das Christentum saß wirklich zwischen den Stühlen. Die griechisch-römische Literatur war ein satanischer Sündenpfuhl, dem man sich nicht nähern sollte – aber ganz ignorieren konnte man sie auch nicht. Gebildete Christen empfanden es als großes Ärgernis, dass die intellektuellen Errungenschaften der »verrückten« Heiden den ihren so offenkundig überlegen waren. Sooft sie auch betonten, wie schlimm die Lehren der Heiden waren, gelang es doch nur wenigen christlichen Intellektuellen, sich komplett von ihnen fernzuhalten. Auch wenn Augustinus für Leute, die sich über falsch ausgesprochene Wörter mokieren, nichts als Verachtung übrig hat, lässt er zugleich wenig Zweifel daran, dass er selbst ganz genau weiß, wie alles richtig ausgesprochen wird. In zahllosen Passagen stellt er, mal implizit, mal explizit, sein Wissen zur Schau. Er war Christ, aber ein Christ mit deutlich klassischem Einschlag, und er stellte sein klassisches Wissen in den Dienst des Christentums. Der große Theologe Hieronymus, der die »harte Sprache«49 einiger Abschnitte der Bibel kritisierte, konnte sich nie ganz von seiner Liebe zur klassischen Literatur befreien; er litt unter Alpträumen, in denen man ihn beschuldigte, »ein Ciceronianer, aber kein Christ« zu sein.50
Folglich begann das Christentum – zum Teil aus Eigennutz, zum Teil aus wirklichem Interesse – die Literatur der »Heiden« zu absorbieren, und so stand bald neben den Psaltern doch wieder eine Cicero-Ausgabe im Regal. Gerade jene, die mit ihrer klassischen Bildung besonders gehadert hatten, wussten sie zu nutzen. Als der christliche Autor Tertullian die klassische Bildung verdammte, indem er fragte, was Athen mit Jerusalem zu tun habe, tat er dies in einem hohen, klassischen Stil, mit einer rhetorischen Frage und einer Stilfigur, bei der »Athen« für »Philosophie« stand. Seine Formulierung hätte sogar Cicero zur Ehre gereicht. Allerorten taten christliche Intellektuelle ihr Bestes, um die klassische Welt mit der christlichen zu verschmelzen. Kirchenvater Ambrosius von Mailand kleidete Ciceros stoische Prinzipien in ein christliches Gewand, und Augustinus nutzte die römische Redekunst für christliche Zwecke. Philosophische Begriffe der Griechen, wie der »Logos« der Stoiker, hielten Einzug in die christliche Philosophie.51
Doch nicht alle Assimilationsversuche waren von Erfolg gekrönt. Ein Dichter schrieb das Johannesevangelium in homerische Verse um. Während der Herrschaft von Julian Apostata – als es jedem, der nicht an die alten Götter glaubte, verboten war, Werke zu unterrichten, in denen diese Götter vorkamen – übertrug ein Gelehrter die gesamte biblische Geschichte in 24 Bücher mit homerischen Hexametern. Obendrein formulierte er die Briefe und Evangelien nach Art der sokratischen Dialoge um. Manche Christen erfanden fantasievolle intellektuelle Stammbäume, um ihre Lieblingsphilosophen zu verteidigen. Längst vergessene Denker, in deren Schriften sich vage Ähnlichkeiten zu christlichen Glaubenssätzen fanden, wurden wieder ausgegraben und als unwissentliche Vorläufer des Christentums angepriesen. Bei Platon fanden sich Spuren christlichen Glaubens? Das lag natürlich daran, dass er Ägypten besucht hatte; sicherlich hatte er dort eine Kopie der ersten fünf Bücher des Alten Testaments gelesen, die Moses dort praktischerweise zurückgelassen hatte. Im Grunde war er doch einer von uns. Sokrates war ein Christ vor Christus gewesen.52
Klassische Gelehrte hatten Homer bereits seit Jahrhunderten allegorisch ausgelegt; nun machten sich belesenere Christen daran, dasselbe mit der Bibel zu tun – sehr zum Missfallen ihrer nichtchristlichen Kritiker, die das als Schwindel ansahen. Kelsos beobachtete irritiert, wie sich »die vernünftigeren Juden und Christen für diese Dinge [die Bibeltexte] schämen und versuchen, sie irgendwie als Gleichnisse zu deuten«.53 Manche Christen beäugten diese Praxis ebenfalls skeptisch. Ein Autor wetterte gegen Christen, die die »Wissenschaften der Ungläubigen« nutzten, um die Logiklöcher der Bibel zu stopfen.54
Keine hundert Jahre nach dem ersten christlichen Kaiser änderte sich die intellektuelle Landschaft im Römischen Reich dramatisch. Im 3. Jahrhundert gab es in Rom noch 28 öffentliche und zahlreiche private Bibliotheken.55 Gegen Ende des 4. Jahrhunderts waren sie alle, wie der Historiker Ammianus Marcellinus sichtlich erschüttert berichtet, »dauerhaft geschlossen wie Gräber«.56 War das eine bloße zufällige Korrelation, oder lag es tatsächlich am Aufstieg des Christentums? Spätere christliche Kaiser taten sich schwer, die Alphabetisierung voranzutreiben, was aber schon deshalb nötig war, weil der Staat ausreichend Funktionäre brauchte, die lesen und schreiben konnten. Bestimmte Forschungsfelder waren schon bald nicht mehr nur tabu, sondern illegal. In einem Gesetz aus dem Jahr 388 heißt es: »Niemand darf Gelegenheit haben, in der Öffentlichkeit über Religion zu streiten oder zu diskutieren oder religiöse Ratschläge zu erteilen.« Wenn dies jemand mit »verdammenswerter Kühnheit« trotzdem tue, werde er »durch angemessene Sanktionen und eine passende Strafe davon abgehalten« – dass der Modus der drohenden Bestrafung so vage formuliert war, machte sie nicht weniger abschreckend.57
Philosophen, die in dieser christlichen Welt weiterhin ihrem Beruf nachgehen und dafür sorgen wollten, dass ihre Werke der Nachwelt erhalten blieben, mussten sich in ihrer Lehre stark einschränken. Philosophische Ansätze, die den alten Göttern zu viel Respekt zollten, galten bald als unzulässig. Philosophen, die Prognosen über die Zukunft stellten, erhielten einen Maulkorb. Theorien, die besagten, dass die Welt ewig sei, wurden, wie Dirk Rohmann hervorgehoben hat, ebenfalls unterdrückt, da sie dem Grundsatz der Schöpfung widersprachen. Philosophen, die sich ihre Gewänder nicht so schneidern ließen, wie es das Christentum vorsah, bekamen die Konsequenzen zu spüren. In Athen wurde ein paar Jahrzehnte nach Hypatias Tod ein unbeugsamer heidnischer Philosoph für ein Jahr ins Exil geschickt.
Auch die Zielsetzung der Historiker veränderte sich. Als der »Vater der Geschichtsschreibung«, der griechische Autor Herodot, das erste historische Werk verfasste, erklärte er darin, sein Ziel sei es, »Nachforschungen« (altgriechisch: historíai) über die Beziehungen zwischen den Griechen und den Persern anzustellen. Das tat er auf so unparteiische Weise, dass man ihn beschuldigte, die Griechen verraten und ihre Feinde in ein allzu positives Licht gerückt zu haben. Er wurde sogar als philobárbaros bezeichnet, als »Barbarenfreund« – eine unglaublich bösartige Beleidigung. 58 Nicht alle späteren Historiker waren so unparteiisch wie Herodot, dennoch blieb er in dieser Hinsicht für alle ein großes Vorbild. Noch der letzte Heide unter den Geschichtsschreibern, Ammianus Marcellinus, bemühte sich um Neutralität: Die Nachwelt, schrieb er, müsse ein »unparteiischer Richter der Vergangenheit« sein. 59
Die christlichen Historiker sahen das ganz anders. Laut dem »Vater der Kirchengeschichte«, dem einflussreichen christlichen Autor Eusebius von Caesarea, bestand die Aufgabe eines Historikers mitnichten darin, alles aufzuzeichnen, was geschehen war, sondern darin, nur solche Dinge niederzuschreiben, die einem Christen zu lesen geziemten. Mit unbequemen Wahrheiten (wie der Tatsache, dass viele Geistliche bei der Christenverfolgung nicht etwa freudig auf die Scheiterhaufen gesprungen waren, sondern in würdeloser Eile vor ihren Verfolgern geflohen waren) sollte man sich nicht zu lange aufhalten. Stattdessen, so kündigte er an, werde er Menschen, »die durch die Verfolgung in Versuchung gerieten«, gar nicht erst erwähnen: »Nur das werden wir in unsere allgemeine Geschichte einfügen, was zunächst für uns selbst, dann auch für die Nachwelt von Nutzen sein dürfte.«60 Für Herodot war die Geschichtsschreibung das Ergebnis genauer Nachforschungen. Für den Vater der Kirchengeschichte war sie eine gleichnishafte Erzählung.
Alles, was nicht »von Nutzen« war, geriet leicht in Vergessenheit. Der furchtbare Mord an Hypatia hätte in den Chroniken jener Epoche viel mehr Aufmerksamkeit verdient. Stattdessen wird er meist in ein paar Nebensätzen abgehandelt – wenn überhaupt. In den historischen Werken wird in Alexandria niemand für den Mord an ihr bestraft, was auch der Realität entspricht. Die Tat wurde regelrecht vertuscht.61 Zwar finden sich unter den Autoren auch kritische Stimmen – selbst in den Augen überzeugter Christen war es ein schreckliches Verbrechen gewesen – , aber längst nicht alle waren dieser Meinung: Wie ein Bischof später voller Bewunderung berichtete, wurde Kyrill, sobald die satanische Frau vernichtet war, von allen Seiten dafür bejubelt, dass er die letzten Reste des Götzendienstes in der Stadt beseitigt hatte.62 Mitunter waren die Werke christlicher Geschichtsschreiber von einer erstaunlichen Kurzsichtigkeit geprägt. Wie der Historiker Ramsay MacMullen es ausgedrückt hat: »Schriften, die man als feindlich empfand, wurden nicht mehr kopiert oder weitergegeben, oder sie wurden aktiv aussortiert.« Die Kirche fungierte als großer, erbarmungsloser Filter für alles Geschriebene, und die Jahrhunderte, während derer die Kirche alles kontrollierte, waren so etwas wie »eine teilweise durchlässige Membran«, die »christliche Schriften passieren ließ, aber keine von den Feinden des Christentums«.63