»Seht, ich habe euch die Vollmacht gegeben, auf Schlangen und Skorpione zu treten und die ganze Macht des Feindes zu überwinden. Nichts wird euch schaden können.«
LUKAS 10:19
Satan wusste, wie er den heiligen Antonius in Versuchung führen konnte. Er war ihm eines Tages in einem der hintersten Winkel des Römischen Reichs aufgefallen, in Ägypten, wo der junge Mann etwas tat, das für damalige Verhältnisse extrem ungewöhnlich war: Als er um die zwanzig war, verließ Antonius nämlich sein Haus, verkaufte das Grundstück und all sein Hab und Gut und lebte ab sofort in einem Schweinestall.1
In der römischen Welt des Jahres 270 n. Chr. galt das »einfache Leben« nicht gerade als erstrebenswert. Wenn Satan sich die Mühe gemacht hätte, sich das römische Imperium näher anzusehen, so hätte er wohl zufrieden festgestellt, dass sein Werk vollendet war. Allerorten gaben sich die Leute den Todsünden Wollust, Völlerei und Habgier hin. Hatten die Aristokraten von Rom einst voller Stolz eine schlichte, im eigenen Haus gewebte Tunika getragen, so schwitzten die reichen Leute nun unter scharlachroten, mit Gold bestickten Stoffen. Noch schlimmer waren die Frauen: Sie trugen juwelenbesetzte Sandalen und teure Seidenkleider aus derart dünnem Stoff, dass man jede Rundung ihres Körpers sah. Hatten sich die römischen Adligen früher damit gebrüstet, sich durch Bäder im eiskalten Strom des Tibers abzuhärten, zog diese verweichlichte Generation barock dekorierte Badehäuser vor, in die sie zahllose silberne Fläschchen mit Öl und Salben mitschleppten.
Es hieß, dass sich die Besucher jener Räumlichkeiten geradezu schamlos verhielten. Frauen entkleideten sich komplett und ließen sich von Sklaven jeden Zentimeter ihres Körpers mit Öl einreiben. Männer und Frauen badeten gemeinsam, wobei sie, wie ein Beobachter es ausdrückte, »zugleich mit dem Gewand auch das Schamgefühl« ablegten.2 In seiner offensichtlichen Verlegenheit konnte der Verfasser jener Zeilen die »Lust« und die »Hemmungslosigkeit«, die in den feucht-warmen Räumen florierten, nur mit abstrakten Substantiven benennen. Die Fresken in den Thermen von Pompeji waren da schon deutlicher: In einem Umkleideraum befand sich über einer Ablage, auf der Badegäste ihre Kleider lassen konnten, ein kleines Gemälde, auf dem ein Mann eine Frau oral befriedigt. Es gab mehrere solcher Ablageflächen in dem Raum, und über jeder befand sich ein anderes Bild: Auf einem Gemälde war ein »flotter Dreier« zu sehen, auf einem anderen eine lesbische Sexszene und so weiter. Möglicherweise konnten sich die Leute auf diese Weise besser merken, wo sie ihre Kleidung gelassen hatten, als wenn dort nur eine Zahl gestanden hätte.
Hätte Satan einen Blick auf die Esstische im Römischen Reich geworfen, so hätte er mit Genugtuung festgestellt, dass sich die Menschen in diesem Bereich kaum weniger ausschweifend verhielten. Einige Jahrhunderte zuvor hatte Kaiser Augustus noch einfache Speisen wie grobkörniges Brot und handgemachten Käse bevorzugt. Doch diese (von Augustus damals bewusst zur Schau gestellte) Bescheidenheit war nicht von Dauer gewesen: Schon bald tranken die reichen Gourmands aus aufwendig dekorierten Kelchen hundert Jahre alten Wein, der mit Schmelzwasser gekühlt war, und ließen Austern aus Abydos importieren, während andernorts die Menschen verhungerten. Dabei konnten sich die Gäste selbst an den am üppigsten gedeckten Tischen nicht sicher sein, dass sie auch die besten Speisen und Getränke kosten durften: In dieser auffällig hierarchisch strukturierten Welt ließen die Gastgeber den schlechtesten Wein an die unbedeutendsten Besucher ausschenken, den mittelguten an die halbwegs bedeutsamen, und nur erlesene Gäste bekamen die besten Jahrgänge vorgesetzt.
Bevor der junge Antonius in seinen Schweinestall zog, gehörte auch er zu jenen Leuten, die bei einer Einladung zum Abendessen die feineren Weine serviert bekamen. Zwar war er ein Provinzbewohner, das schon, aber er war jung, gut aussehend, fit und gesund; er hatte eine gute Ausbildung genossen (auch wenn er, wie es für privilegierte junge Männer von alters her Tradition war, im Grunde nichts damit anfing), und er war wohlhabend: Erst kürzlich hatte er an die hundert Hektar beneidenswert fruchtbares Ackerland geerbt. Antonius war genau in jenem Alter, in dem ein Mann damit beginnen sollte, sich in der Welt einen Namen zu machen.
Stattdessen gab Antonius alles auf. Kurz nach dem Tod seiner Eltern besuchte er die Kirche, wo ein Kapitel aus dem Matthäusevangelium vorgelesen wurde: »Wenn du vollkommen sein willst«, hieß es dort, »geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den Armen; so wirst du einen bleibenden Schatz im Himmel haben.«3 Und genau das tat er. Doch Antonius (der später so berühmt wurde, dass man ihn heute noch »Antonius den Großen« nennt) reichte das noch nicht: 15 Jahre später siedelte er in ein verlassenes römisches Kastell am Rande der ägyptischen Wüste um, wo er weitere zwanzig Jahre lebte, danach zog er auf einen Berg am Roten Meer, wo er bis zu seinem Lebensende im Jahr 356 blieb.
Antonius war keiner dieser Gourmands aus dem Römischen Imperium. Statt sizilianischer Neunaugen nahm er nur einmal am Tag, nach Sonnenuntergang, ein wenig Brot, Salz und Wasser zu sich. Und selbst das kann keine Mahlzeit gewesen sein, auf die er sich besonders gefreut hat: Während er in der Festung wohnte, wurde ihm nur zweimal im Jahr Brot gebracht. Ein Ästhet hätte mit seiner Art zu leben wenig anfangen können. Antonius schlief auf einer einfachen, aus Binsen geflochtenen Matte und wärmte sich mit einer Decke aus Ziegenhaar. Oft schlief er aber überhaupt nicht und betete stattdessen die ganze Nacht. Andere junge Männer geizten nicht mit teuren Parfüms und Salben und zupften sich so gewissenhaft die Haare aus, dass man (wie die Moralisten murrten) die Kinnpartie manches Mannes nicht von der einer Frau unterscheiden konnte. Nicht so Antonius: Er verachtete seinen Körper. Er geißelte sich jeden Tag und dachte nicht daran, sich mit Öl zu salben; stattdessen trug er ein Cilicium (ein grobes Hemd aus Tierhaaren) und wusch sich überhaupt nicht. Lediglich wenn er einen Fluss durchquerte, lösten sich die Dreckkrusten von seinen Füßen. Es hieß, dass bis zu seinem Tod niemand je seinen nackten Körper gesehen hatte.
Antonius verbrachte sein Leben in Isolation, in Demut (oder, will man keinen christlichen Euphemismus benutzen, Erniedrigung) und Selbstverleugnung; dennoch war er wenige Jahrzehnte nach seinem Tod auf einmal berühmt. Seine Biografie aus der Feder eines Bischofs namens Athanasius war eine literarische Sensation. Die Leser verschlangen das Buch in Ägypten genauso wie in Italien, und es blieb über Jahrhunderte hinweg ein Bestseller. Vom Bericht inspiriert, zogen so viele junge Männer in die Wüste, um dem Asketen nachzueifern, dass es hieß, die Mönche machten aus der Wüste eine Stadt. Einige Jahrhunderte später verehrten die Menschen Antonius als Gründervater des Mönchstums und eine der einflussreichsten Persönlichkeiten in der Geschichte des Christentums. Seine Bedeutung erkannte man bereits wenige Jahre nach seinem Tod: Als der heilige Augustinus von Antonius’ entsagungsreichem Leben hörte, war er von der Kraft dieser Erzählung offenbar so sehr bewegt, dass er aus seinem Haus in den Garten lief, sich die Haare raufte und mit den Händen auf seinen Kopf einschlug. Solche einfachen Männer, sagte er, »erheben sich und reißen das Himmelreich an sich«.4
Nicht jeder war von Antonius begeistert. Laut seinem Biografen Athanasius war Satan schockiert, als er den schlafgestörten Heiligen in seinem kratzenden Hemd erblickte. Dass ein so junger Mann bereits so tugendhaft daherkam, durfte einfach nicht sein – der Fürst der Finsternis musste handeln. Womit er ihn überlisten würde, wusste der Teufel sofort: Antonius verachtete die Freuden des Fleisches, daher würde er ihn mit den Freuden des Fleisches in Versuchung führen. Unreine Gedanken waren, wie Athanasius erklärt, Satans übliche Waffe, um junge Leute zu verderben, und so schickte er Antonius als Erstes schlüpfrige Träume, die den unschuldigen Knaben in der Nacht heimsuchen sollten. Doch das konnte den heiligen Antonius nicht beeindrucken: Mit der Kraft des fortwährenden Gebets schob er die Träume fort.
Satan sah sich gezwungen, deutlicher zu werden. Eines Nachts nahm er die Gestalt einer schönen jungen Frau an, die (wie Athanasius, der Meister der faszinierenden Nebenbemerkungen, anmerkte) »alles Mögliche nachzumachen« versuchte, »nur um den Antonius zu verführen«. Antonius kämpfte mit sich, doch er blieb standhaft, indem er sich »die Drohung des ewigen Feuers und die Plage des Wurmes«5 vor Augen führte. Der Teufel knirschte vor Wut mit den Zähnen. Doch er war noch nicht fertig: Einen Trumpf hatte er noch in petto. Und so erschien er Antonius noch einmal, diesmal als schwarzer Knabe, der sich dem Einsiedler zu Füßen warf. Als er dort lag, verkündete der Dämon, er sei der Freund der Unzucht, und prahlte: »Viele habe ich verführt und die meisten überwunden.« Da sang Antonius dem Teufel einen Psalm vor – was man schon damals als so abtörnend empfand, dass der Knabe sofort wieder verschwand.6
Antonius hatte die erste Schlacht gewonnen, aber sein Kampf gegen das Böse war noch lange nicht vorbei. Wenn er in den folgenden Jahrzehnten durch die Wüste wanderte, sah er sich immer wieder teuflischen Übergriffen ausgesetzt. Die Dämonen setzten ihm so sehr zu, dass er seine Stimme verlor. Er wurde Zeuge, wie die Naturgesetze ad absurdum geführt wurden: Die Luft verwandelte sich in Silber, das plötzlich wie Rauch verschwand; Wände lösten sich in Luft auf, und Skorpione, Löwen und Giftschlangen drangen in sein Zimmer ein und fielen über ihn her. Einmal stand er sogar dem Teufel persönlich gegenüber. Satan erschien Antonius, wie er bereits Hiob erschienen war: Seine Augen glänzten wie der Morgenstern, aus seinem Mund sprühten Funken, sein Haar stand in Flammen, aus seinen Nüstern strömte Rauch, und sein Atem war wie glühende Kohle – »so erscheint der Fürst der Dämonen und verbreitet Furcht«,7 wie Antonius’ Biograf schreibt.
Heutzutage wird die Geschichte darüber, wie das Christentum Rom erobert hat, größtenteils mit betont weltlicher Terminologie erzählt. Es ist eine Geschichte von schwächelnden Kaisern und barbarischen Invasoren, von Strafsteuern, grausamen Epidemien und einer müden, erschöpften Bevölkerung. Wenn bei solchen Darstellungen die Religion ins Spiel kommt, wird ihr oftmals eine psychologische Rolle zugewiesen. Es war eine Epoche der Angst, so lautet das Argument – Krankheit und Tod, Kriege und Hungersnöte suchten das Römische Reich heim, ganz zu schweigen vom Schrecken, den die unvermeidlichen Zöllner verbreiteten. Im 3. Jahrhundert wurde das Imperium in einem Zeitraum von nur fünfzig Jahren von 26 Kaisern in Folge regiert, und mindestens noch einmal so viele Usurpatoren versuchten, die Macht an sich zu reißen. Die Barbaren waren noch nicht vor den Toren Roms, doch sie rotteten sich bereits an den Reichsgrenzen zusammen und lancierten Überfälle auf Britannien, Gallien, Spanien, Marokko und sogar Italien. Und gerade, als man glaubte, es könne nicht schlimmer kommen, suchte die Pest die Menschen heim; die Opfer mussten sich »fortwährend erbrechen«, in ihre »brennenden Augen schoss das Blut«, ihre Füße und Teile der Gliedmaßen »fielen der ansteckenden Fäulnis anheim und starben ab« – und es gab noch weitere, weitaus unappetitlichere Symptome.8
Wer, so die traditionelle Argumentation der Christen, hätte in einer solchen Zeit nicht nach etwas gesucht, das ihm Halt hab? Wer hätte sich nicht zu einer Religion hingezogen gefühlt, die ihren Anhängern versicherte, dass sie nach all dem Unglück in ihrem hiesigen Leben wenigstens auf das nächste hoffen konnten? Wer hätte nicht gerne gehört, dass irgendwer irgendwo einen Plan hatte – und dass alles, was auf Erden geschah, Teil dieses Plans war? Wie ein Historiker es Mitte des 20. Jahrhunderts ausdrückte: »In einer Epoche der Angst übt jeder ›totalitäre‹ Glaube eine starke Anziehungskraft aus – man denke nur daran, wie viele verunsicherte Menschen momentan ihr Heil im Kommunismus suchen.«9
Die alten Religionen in Rom boten den Menschen – so die Argumentation weiter – keinen solchen Trost. Im Gegenteil: In der griechisch-römischen Unterwelt wurde Tantalos mit Durst und Hunger gefoltert, dort musste Sisyphos tagtäglich einen Felsbrocken den Berg hinaufrollen, und der Stein rollte immer wieder hinunter. Das alles waren keine verlockenden Aussichten. Auch den Lebenden bot das griechisch-römische Religionssystem nicht allzu viel Orientierung. Die Kulte beinhalteten keine moralischen Richtlinien für den Alltag. Es gab keine offiziellen Gebote, keinen Katechismus, kein Glaubensbekenntnis, an das sich die Seelen der Wankelmütigen im Leben halten konnten. Es existierten lediglich ein paar ganz allgemeine Regeln und Vorgaben, wann man den Göttern wie opfern sollte. Immerhin trat dort, wo die Religion mit ihrem Latein am Ende war, mitunter die Philosophie auf den Plan, um Trost zu spenden – doch angesichts der Tatsache, dass eine der beliebtesten philosophischen Richtungen jener Zeit der Stoizismus war, der einen dazu anhielt, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, konnte man auch hier nicht allzu viel Zuspruch erwarten. »Das alles hier ist eine Bühne und das Leben nur ein Spiel«, wie ein griechischer Dichter später schrieb, »lass dich drauf ein, spiel mit/Und leg die ernsten Gedanken beiseite, oder ertrag’s, dass dir die Seele schmerzt.«10
Und dann brach über diese kalte, nihilistische Welt auf einmal das Christentum herein. Die neue Religion bot den Menschen nicht nur im Hier und Jetzt Trost und Gemeinschaft und gab ihrer Existenz einen Sinn, nein, sie versprach zudem ewige Seligkeit nach dem Tod. Und als ob das alles noch nicht verlockend genug gewesen wäre, hatte das Christentum seinen Konvertiten bald noch ganz andere Anreize zu bieten: Im Jahr 312 erklärte sich Kaiser Konstantin zum Anhänger Christi, und unter seiner Schirmherrschaft wurde die Kirche von allen Steuern befreit und auf ihre Angestellten wartete eine fürstliche Entlohnung. Auf einmal verdienten Bischöfe fünfmal so viel wie Professoren, sechsmal so viel wie Ärzte, sie wurden so reich wie römische Statthalter. Ewige Wonnen im nächsten Leben, bürokratische Vorteile in diesem – was wollte man mehr?
Einige dieser Punkte der traditionellen Argumentation sind zweifellos nicht ganz von der Hand zu weisen. Reichtum, Status und ewiges Leben – diese Kombination muss so verlockend gewesen sein, dass sich zahllose Menschen allein deshalb der relativ jungen Religion anschlossen (ganz abgesehen davon, dass viele Lehren Jesu voller Güte sind und einfach Sinn ergeben).
Doch das war mitnichten die Art und Weise, wie das Christentum im 4. Jahrhundert den Leuten verkauft wurde. Die Kirche warb nicht damit, dass ihre Mitglieder weniger Steuern zahlten und ruhiger schlafen konnten. Das Christentum wurde dem Römischen Reich nicht als Schutzschild präsentiert, das die Gläubigen vor den Übeln der Welt abschirmte. Es verkörperte auch keinen bestimmten Lebensstil, ja es ging dabei nicht einmal um Leben und Tod – dafür war die Angelegenheit viel zu ernst.
Ein Krieg war es. Der Kampf um das Imperium war nicht weniger als ein Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen den Mächten der Finsternis und denen des Lichts. Es war ein Kampf zwischen Gott und Satan höchstpersönlich.