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Die Ruchlosen

»Denn die Weisheit dieser Welt ist Torheit bei Gott.«

1. KORINTHER 3:19

Man nannte sie »parabalani« – »die Ruchlosen«.1 Am Anfang war dieser Name ein Kompliment gewesen. Unter der sengenden Sonne Alexandrias, an der Kreuzung mehrerer geschäftiger Handelsrouten, musste sich irgendjemand darum kümmern, die Kranken und Schwachen (sowie die lediglich unappetitlichen Armen) aus der Stadt zu schaffen, und das möglichst schnell, zum Schutze aller anderen.

Die Stadt wusste, wie verheerend eine Epidemie sein konnte. 150 Jahre zuvor war eine neuartige Krankheit in Alexandria eingetroffen, die sich von hier aus über das ganze Imperium ausgebreitet hatte. Millionen Menschen waren daran gestorben. Rund hundert Jahre später, unter Kaiser Justinian, wütete die Pest erneut, und dieses Mal waren die Symptome noch abscheulicher: Die Erkrankten fielen ins Delirium und ins Koma, sie litten unter quälenden Schmerzen, ihnen wuchsen »schwarze Pusteln, etwa so groß wie Linsen«, sie erbrachen Blut, und am Ende starben sie.2 Diese Epidemie war sogar noch verheerender als die vorherige: 25 Millionen Menschen fielen der Pest zum Opfer.

Umso wichtiger war es, dass es in einer antiken Großstadt jemanden gab, der die Toten und Sterbenden fortbrachte. Doch diese Aufgabe war – wie die meisten wichtigen Aufgaben – keine, die gern übernommen wurde. Die Einzigen, die sich im Alexandria des 5. Jahrhunderts dazu ermannten, diesen Job zu erledigen, waren die parabalani, die »ruchlosen« jungen Christen, die mutig genug waren, in einer Welt ohne nennenswerte medizinische Versorgung die Bahren der Pestopfer zu tragen.3 Die jungen Christen waren in vielerlei Hinsicht der Bodensatz der Gesellschaft: Sie waren arm und ungebildet, konnten nicht einmal lesen, aber sie waren kräftig, glaubten an Gott – und sie waren viele.4 Zu Beginn des 5. Jahrhunderts hatten die parabalani allein in Alexandria schätzungsweise 800 Mitglieder: Es war eine Armee – und dieses Wort verwende ich ganz bewusst – junger Männer, die sich dem Dienst an Gott verschrieben hatten.5 Genauer gesagt: dem Dienst an den Stellvertretern Gottes auf Erden – den Bischöfen.

Wie der Althistoriker Peter Brown darlegt, begannen damals in Städten im ganzen Reich mächtige Kleriker damit, riesige Anhängerschaften aus jungen Männern um sich zu scharen, deren Glaube genauso fest war wie ihr Bizeps. In Rom liefen dem Bischof die fossores hinterher – »Gräber«, die die berühmten Katakomben der Stadt aushoben. Das Gefolge des Patriarchen in Antiochia bildeten die »Sargträger«. All diese Männer hatten ursprünglich zusammengefunden, um Werke der christlichen Nächstenliebe zu verrichten, ließen sich jedoch später zu furchtbaren Verbrechen anstiften. Sie dienten ihren Bischöfen mit unbedingtem Gehorsam. Die Bischöfe galten seit jeher als Wächter der Himmelspforte und waren durchaus in der Lage, Menschen, die ihnen nicht passten, den Zutritt zum Paradies zu verwehren. Im 4. und 5. Jahrhundert verfügten die Bischöfe dann schließlich über ihre eigenen paramilitärischen Truppen – und sie scheuten sich nicht, sie einzusetzen. In Rom beeinflussten die fossores unter Einsatz von »alarmierender« Gewalt eine Bischofswahl. Wie Brown schreibt, merkte ein Bischof etwas selbstgefällig an, es seien die Bischöfe, die »die Störer zur Ruhe rufen, und sie wollen immer Frieden, außer wenn sich jemand gegen Gott versündigt oder die Kirche beleidigt«.6

Außer. Brown hat die Aufmerksamkeit mit Recht auf dieses Wörtchen gelenkt. Frieden gab es nur, wenn die Kirche Frieden wollte. Ab sofort standen dem Lamm Gottes ein paar Löwen zur Seite. Die fossores in Rom waren schlimm, aber längst nicht so berüchtigt wie die parabalani in Alexandria. Die Einheimischen wussten nur allzu gut: Wer sich mit dem Patriarchen von Alexandria anlegte, dem schickte er einige seiner gut 800 parabalani vorbei. Als eine Art Argument in Menschengestalt versammelten sie sich alsdann vor dem Ratsgebäude, dem Theater, den Gerichtshöfen. Ihr bloßer Anblick schüchterte jeden Kontrahenten des Patriarchen dermaßen ein, dass er sofort einen Rückzieher machte. Man hat sie einmal als »terroristischen Wohltätigkeitsverein« beschrieben – ein seltsames Oxymoron, aber es passt. Diese Männer taten durchaus gute Werke, aber sie verbreiteten auch Angst und Schrecken. Das Wort, das in römischen Rechtsdokumenten über jene Leute immer wieder auftaucht, ist tatsächlich »Terror«.7

An einem Frühlingstag im Jahr 415 begnügten sich die parabalani nicht mehr mit Drohgebärden. An jenem Tag begingen sie einen der berüchtigtsten Morde in der Geschichte des frühen Christentums.8

Hypatia von Alexandria wurde in derselben Stadt geboren wie die parabalani, und doch trennten sie Welten. Während die jungen Männer ihr Dasein im Dreck und zwischen Sterbenden fristeten, beschäftigte sich diese aristokratische Intellektuelle mit abstrakten mathematischen Theorien und Astrolabien. Hypatia war mehr als nur eine Philosophin: Sie war auch eine brillante Astronomin und die bedeutendste Mathematikerin ihrer Generation. Als man sie in der viktorianischen Zeit wiederentdeckte, dichtete man ihr posthum noch ganz andere Eigenschaften an: Ein berühmtes Gemälde zeigt sie nackt an einen Altar gelehnt, den jugendlichen Körper nur notdürftig von ihrem wallenden langen Haar bedeckt. Der Pfarrer Charles Kingsley, Autor des Kinderbuchs Die Wasserkinder, schrieb einen Roman über Hypatia, in dem er sie als »großartigsten Typus altgriechischer Schönheit« beschreibt und an Dutzenden Stellen über ihre »scharf geschnittenen Lippen« oder die »wunderbare Anmut und Schönheit jeder Linie ihres Antlitzes und ihrer Gestalt« sinniert.9

Das ist natürlich romantischer Unfug. Hypatia war zweifellos eine Schönheit, aber sie lehnte sich nicht nackt und mit offenem Haar an irgendwelche Altäre, sondern trug wie ihre Kollegen stets einen sittsamen Philosophenmantel. Sie hatte ihr Leben dem Geiste, nicht dem Fleisch verschrieben und blieb bis zu ihrem Tod Jungfrau. Jeder mutige Mann, der glaubte, sie von ihrer entschlossenen Haltung abbringen zu können, musste sich auf eine entsprechende Reaktion gefasst machen. Es heißt, einmal habe sich einer ihrer Studenten in sie verliebt, und als er »seine Gefühle nicht länger im Zaum halten konnte«, offenbarte er sich ihr. Hypatia reagierte sofort: »Sie nahm ein paar ihrer Monatsbinden, warf sie vor ihn auf den Boden und sagte: ›Das hier liebst du, junger Mann, und da ist nichts Schönes dran.‹«10 Verständlich, dass aus der Liebesbeziehung nichts wurde.

Zu Beginn des 5. Jahrhundert war Hypatia so etwas wie eine lokale Berühmtheit. Seit vielen Jahrhunderten war man in Alexandria stolz auf seine Intellektuellen. Sobald die Stadt gegründet worden war, hatte man die Bibliothek gebaut, und seit es sie gab, machten Geschichten über diese Bibliothek die Runde, insbesondere darüber, wie sie ihre gewaltigen Bestände erhalten hatte. Man erzählte sich, Ptolemaios II., der Herrscher von Alexandria, habe jeden einzelnen König und Herrscher auf Erden per Brief darum gebeten, seiner Bibliothek die Werke aller möglichen Autoren zur Verfügung zu stellen: »Dichter und Prosaiker, Rhetoriker und Sophisten, Ärzte und Wahrsager, Historiker und alle anderen auch.«11 Und das nicht nur auf Griechisch, sondern in allen erdenklichen Sprachen. Außerdem warb man aus all diesen Ländern Experten als Übersetzer an: »Jeder Gruppe wurden die entsprechenden Texte anvertraut und so von allem eine griechische Übersetzung erstellt.«12

Nichts sollte fehlen in dieser ehrgeizigen neuen Sammlung – auch nicht die Religion. Besser gesagt: erst recht nicht die Religion. Alexander der Große war fest davon überzeugt, dass man ein Volk nur dann regieren konnte, wenn man es verstand – und wer sollte ein Volk verstehen, wenn er nicht wusste, wen oder was es anbetete? Wer diese Tatsache verinnerlicht hatte, der konnte einem Volk in die Seele schauen, und wem das gelang, der konnte es auch kontrollieren. Dementsprechend groß war der Aufwand, den man in Alexandria mit religiösen Texten betrieb: Allein zwei Millionen dem altiranischen Propheten Zarathustra zugschriebene Verse wurden übersetzt. Angeblich entstand hier im 3. Jahrhundert v. Chr. auch die erste Übersetzung der Bibel aus dem Hebräischen ins Griechische.

Das Ganze war ein intellektuell-akademischer Eroberungsfeldzug, der zum Teil durchaus aggressive Blüten trieb. Wer im 3. Jahrhundert v. Chr. im stattlichen Hafen von Alexandria anlegte, erhielt an Bord zunächst einmal Besuch von Beamten des Königs Ptolemaios III. Euergetes. Das Schiff wurde durchsucht, aber nicht etwa nach Schmuggelware, sondern nach etwas, das hier als viel wertvoller galt: Bücher. Wurden die Beamten fündig, so wurden die Bücher beschlagnahmt und kopiert. Da die Bibliothekare genau wussten, dass Schreiber dazu neigten, Fehler zu machen, behielten sie die Originale selbst und ließen nur die Kopien zum Schiff zurückbringen. Die Originale wurden mit dem Vermerk »von den Schiffen« versehen und in die Bibliothek gebracht.

Eines Tages erhielt die attische Regierung ein Schreiben aus Alexandria mit der Bitte, ihre offiziellen Abschriften der großen Tragödien von Aischylos, Sophokles und Euripides nach Alexandria zu schicken. (Diese Abschriften galten als die akkuratesten existierenden Fassungen der berühmten Dramen.) Zunächst weigerten sich die Athener, doch Ptolemaios III. ließ nicht locker. Er versprach, den Athenern eine große Summe – 15 Talente – zu zahlen, als Sicherheit und als Beweis für seinen guten Willen. Schließlich ließ sich die Regierung in Athen erweichen und schickte die Manuskripte. Ptolemaios ließ prächtige Abschriften der Tragödien anfertigen, auf feinstem Schreibmaterial – und schickte dann die Kopien über das Meer zurück. Athen durfte das Geld und die schönen Kopien behalten, Alexandria aber besaß den eigentlichen Schatz.

Der erstaunliche Fleiß und Ehrgeiz, mit dem die Bibliothek aufgebaut wurde, spiegelte sich in ihrer Größe wider. Die Forscher streiten sich noch immer, wie viele Schriftrollen hier einst aufbewahrt wurden, doch allein die Schätzungen geben uns eine gute Vorstellung vom gewaltigen Ausmaß der Sammlung. Einer Schätzung zufolge fasste die Bibliothek im 1. Jahrhundert v. Chr. 700 000 Stück – das ist wahrscheinlich übertrieben, aber im 3. Jahrhundert v. Chr. könnten es durchaus an die 500 000 Schriftrollen gewesen sein. In jedem Fall waren es so viele, dass die Bibliothekare, um den Überblick zu behalten, ein ganz neues System zur Kategorisierung und Katalogisierung von Schriftrollen erfinden mussten.

Es war die mit Abstand größte Bibliothek, die die Welt je gesehen hatte – und das sollte sie auch viele Jahrhunderte lang bleiben. Die vielzitierten mittelalterlichen Klosterbibliotheken waren im Vergleich geradezu armselig: Im Frühmittelalter besaßen die meisten von ihnen kaum mehr als zwanzig Bücher, und selbst die größten Bibliotheken des 12. Jahrhunderts brachten es gerade einmal auf rund 500 (und das waren selbstverständlich in erster Linie christliche Werke). Erst weit über tausend Jahre nach dem Untergang der Bibliothek von Alexandria sollte es wieder eine Bibliothek geben, die ihr in puncto Bestände das Wasser reichen konnte, und es dauerte noch länger, bis wieder eine Einrichtung existierte, die sich in intellektueller Hinsicht so vielseitig interessiert zeigte. Im Jahr 1338 bot die reichste Bibliothek der christlichen Welt, die Bibliothek der Sorbonne in Paris, theoretisch 1728 Bücher zur Ausleihe an – theoretisch deshalb, weil aus dem Register hervorgeht, dass zu diesem Zeitpunkt bereits rund 300 davon als vermisst gemeldet waren.13

In Alexandria sammelte man nicht nur Bücher, sondern auch Intellektuelle. Gelehrten begegnete man hier mit großer Ehrfurcht und stellte ihnen einige ganz wunderbare Einrichtungen zur Verfügung. Die Bibliothek und das Museion boten gemeinsam einen Rahmen, in dem sich nicht allzu schlecht leben ließ: Es gab überdachte Gehwege zum Spazierengehen, Gärten, in denen man sich ausruhen konnte, und einen Vorlesungssaal. Für nahezu jedes Bedürfnis war gesorgt: Neben einem Gehalt aus öffentlichen Mitteln erhielten die Akademiker freie Kost und Logis, sie aßen in einem eleganten Speisesaal mit einem kuppelförmigen Dach, und eventuell gab es, so seltsam das auch scheinen mag, sogar einen Zoo. Sinn und Zweck dieser umfassenden Betreuung war es, die geistige Elite aller Länder nach Alexandria zu locken – und es funktionierte. Einige der brillantesten Köpfe der klassischen Zeit kamen in die Stadt, um dort zu schreiben, zu lesen, zu forschen, kostenlose Mahlzeiten einzunehmen – und natürlich auch, um sich zu streiten. »Im bevölkerungsreichen Ägypten«, schrieb ein sichtlich konsternierter Zeitgenosse, »werden zahlreiche weltfremde Bücherwürmer durchgefüttert, die im Hühnerstall der Musen ohne Pause diskutieren.«14 Hier hatte der brillante Mathematiker und Physiker Archimedes studiert, der »Heureka!« rief, als er in der Badewanne das Prinzip der Wasserverdrängung entdeckte,15 ebenso Euklid, dessen mathematisches Lehrbuch noch bis ins 20. Jahrhundert hinein die Grundlage des Geometrieunterrichts bilden sollte. Eratosthenes, dem es mithilfe eines Stocks und eines Kamels gelang, den Umfang der Erde auf 80 Kilometer genau zu berechnen, war hier ebenso tätig wie der Dichter Kallimachos, Aristarchos von Samos, der das erste heliozentrische Weltbild entwickelte, der Astronom Hipparchos, Galen … Die Liste der Intellektuellen, die Alexandria bevölkerten, ist nicht weniger beeindruckend als die Zahl der damals dort gehorteten Bücher.

Auch Hypatias Vater Theon hatte hier studiert. Er war ein äußerst scharfsinniger Mathematiker, dessen Werk die Zeiten überdauerte: Theons Kommentare zu Euklid waren so maßgebend, dass sie die Grundlage aller modernen Ausgaben von Euklids Texten bilden. Wer Euklid heute liest, der liest – zumindest zum Teil – auch das Werk von Hypatias Vater.

Doch nichts ist von Dauer. Wenn Hypatia nach ihrer täglichen Fahrt durch Alexandria aus der Kutsche stieg, erblickte sie eine völlig andere Stadt, als ihre Vorfahren sie gekannt hatten. Der große Serapistempel, der das Stadtbild geprägt hatte, war zu Beginn des 5. Jahrhunderts längst verschwunden, aber nicht nur die Skyline hatte sich verändert: Überall fanden sich Beispiele für Entweihungen, die weniger auffällig, aber kaum weniger schockierend waren. Nachdem sie damals das Serapeion zerstört hatten, waren die Christen in ihrem Siegestaumel durch die Stadt gezogen und hatten sich die übrigen zweieinhalbtausend Schreine, Tempel und religiösen Stätten vorgenommen.16 Im Rahmen dieser »Säuberung« entfernten sie auch die Serapisbüsten, die im alten Alexandria ähnlich omnipräsent waren wie heute die Bilder der Jungfrau Maria in italienischen Dörfern – sie säumten die Straßen, standen in Mauernischen, hingen über Toreingängen. Die Christen »gingen so gründlich zu Werke, dass nirgendwo mehr auch nur die kleinste Spur oder Erwähnung von [Serapis] oder irgendeinem anderen Dämon übrig blieb. An deren Stelle malten sie auf alle Türpfosten, Eingänge, Wände und Säulen das Kreuz, das Zeichen des Herrn.«17 Später, als sie mutiger wurden, meißelten sie die Kreuze in den Stein.

Das geistige Leben der Stadt hatte stark gelitten. Zusammen mit dem Tempel waren auch die letzten Reste der Bibliothek verschwunden. Viele von Alexandrias Intellektuellen waren ebenfalls fort. Sie waren nach Rom oder in andere Städte in Italien geflohen – oder an irgendeinen anderen Ort, nur um nicht in dieser furchtbaren Stadt bleiben zu müssen.18

Trotz allem war das intellektuelle Leben in Alexandria zu Beginn des 5. Jahrhunderts beileibe nicht tot. Auf die klügsten Köpfe des Römischen Reichs übte die Stadt nach wie vor eine enorme Anziehungskraft aus, und Hypatia war daran nicht ganz unschuldig. Es hieß, viele Leute kämen von weit her, nur um bei ihr Philosophie zu studieren, manche gar aus Rom, Libyen und Syrien. Immer wieder kamen einflussreiche Alexandriner zu ihr und baten sie um Rat, den sie ihnen freimütiger erteilte, als es manchem lieb war.19 Wenn ein wichtiger Gast zum ersten Mal nach Alexandria kam, war einer der ersten Programmpunkte stets ein Besuch bei Hypatia. Orestes, der aristokratische Statthalter von Alexandria und einer der wichtigsten Männer der Stadt, war einer ihrer engsten Freunde. Orestes war ein mächtiger Verbündeter – und gerade deshalb, wie sich herausstellen sollte, ein gefährlicher.20

In einer Welt, in der die Sektierer die Gesellschaft immer mehr spalteten, blieb Hypatia in ihrem Verhalten betont unparteiisch; sie achtete penibel darauf, Nichtchristen und Christen gleich zu behandeln. Ihr Vertrauter Orestes beispielsweise war Christ. Menschen aller Glaubensrichtungen strömten in ihre Vorlesungen und pilgerten zu ihrem Haus, um sie reden zu hören. Ständig war sie von einer ganzen Schar Jünger umgeben. Ihre Studenten ergingen sich in beinahe lyrischen Lobeshymnen auf ihre Lehrmeisterin: Sie seien »echte Glückskinder«, dass sie diesem »erleuchteten Kind der Vernunft« zu Füßen sitzen dürften.21 Viele von Hypatias Studenten konnten sich noch aus einem anderen, konkreteren Grund glücklich schätzen: Sie zählten zu den reichsten und am besten ausgebildeten jungen Männern im ganzen Römischen Reich. Wenn sie sich gerade nicht in Alexandria aufhielten, schrieben sie einander von ihren Landsitzen aus liebevoll-herzliche Briefe, in denen sie die Vorzüge des einfachen Landlebens priesen – mit der typischen Begeisterung derer, die noch nie einen Finger hatten krumm machen müssen. Wenn ein Student einem Kommilitonen seine Zuneigung beweisen wollte, kaufte er ihm ein Pferd.22 Hypatia, inzwischen fortgeschrittenen Alters, war mittlerweile eine der angesehensten Personen in ganz Alexandria. Die ganze Stadt »liebte sie und hielt außergewöhnlich große Stücke auf sie«, wie ein ehemaliger Verehrer schwärmte.23

Das war gelogen. Im Frühjahr des Jahres 415 waren die Beziehungen zwischen Christen und Nichtchristen in Alexandria angespannt. Auch wenn den Himmel über der Stadt höchstens ein paar Schäfchenwolken trübten: In den Straßen war die Stimmung düsterer denn je. Der neue Patriarch der Stadt, Kyrill, war daran nicht ganz unschuldig. Viele Alexandriner müssen gehofft haben, dass auf den Eiferer Theophilos ein Patriarch folgen würde, der sich weniger unversöhnlich zeigte. Diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Im Grunde war dies aber auch nicht zu erwarten gewesen, schließlich war Kyrill der Neffe von Theophilos. Schon bald wurde klar, dass er ein Verbrecher war, genau wie sein Onkel, und diesen höchstens noch an krimineller Energie übertraf. Selbst die Christen hatten gegen den ebenso brutalen wie ehrgeizigen Mann ihre Vorbehalte: Ein Bischofsrat nannte ihn »ein Ungeheuer, dazu geboren und ausgebildet, die Kirche zu zerstören«. Der neue Patriarch war erst wenige Jahre im Amt, als er zum ersten Mal unter Beweis stellte, wozu er fähig war.

Seine ersten Opfer waren die Juden. Alexandria hatte eine große jüdische Gemeinde, die der Legende nach auf ganz besondere Weise von der Bibliomanie der Stadt profitiert hatte. Wie in einer durchaus charmanten Anekdote berichtet wird, suchte Ptolemaios II. verzweifelt nach Gelehrten, die ihm die geheimnisvollen, aber hochangesehenen jüdischen Schriften übersetzten, damit er sie in die Bibliothek aufnehmen konnte. Leider wusste kein Grieche die Schrift zu entziffern, in der sie verfasst waren. Daher bat Ptolemaios die Anführer der Juden um Hilfe. Sie versprachen, ihm einige ihrer Ältesten als Übersetzer zu schicken, allerdings nur, wenn er im Gegenzug die etwa 100 000 jüdischen Kriegsgefangenen freiließ, die in Alexandria interniert waren – eine erstaunlich große Zahl. Ptolemaios überlegte kurz, dann willigte er ein. Er bekam rund siebzig Übersetzer gestellt, schenkte den jüdischen Gefangenen die Freiheit, und die Bibliothek erhielt ihre Übersetzung, die zu Ehren der Übersetzer als »Septuaginta« in die Literaturgeschichte einging.24

Zu Kyrills Zeiten bestand nur noch wenig Interesse an hebräischen Schriften. In den hasserfüllten Predigten einer neuen Generation intoleranter christlicher Kleriker waren die Juden kein Volk mit uralten, lehrreichen Weisheiten. Vielmehr waren sie, genau wie die Heiden, erklärte Feinde der Kirche. Wenige Jahre zuvor hatte der Prediger Johannes Chrysostomos verkündet: »Die Synagoge ist nicht nur ein Bordell, … sie ist eine Räuberhöhle, eine Behausung für wilde Tiere, … eine Wohnstatt für Dämonen, … ein Ort des Götzendienstes.«25 Während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland wurden die Schriften des heiligen Chrysostomos mit Begeisterung nachgedruckt.

Der schwelende Antisemitismus der Christen brach in Alexandria nun in offene Gewalt aus. Ihr Versuch, die Tanz- und Theateraufführungen zu regulieren, die bei der jüdischen Bevölkerung der Stadt offenbar hoch im Kurs standen, setzte eine komplizierte Kette von Repressalien in Gang, die in einem Handgemenge zwischen Juden und Christen gipfelte. Einige Christen kamen dabei zu Tode – und schon hatte Kyrill den Vorwand, auf den er gewartet hatte. Er scharte einen Mob um sich, der aus einer Abordnung der parabalani und ein paar leicht zu begeisternden Schlägertypen bestand, und »marschierte voll Zorn zu den Synagogen der Juden, nahm sie in Besitz, läuterte sie und verwandelte sie in Kirchen«. »Läutern« ist in solchen Texten oft ein Euphemismus für eine selbstgerechte, widerrechtliche Aneignung. Anschließend vollendeten die Christen ihr Werk, indem sie das Hab und Gut der Juden »läuterten«: Sie nahmen ihnen alles, was sie hatten, beschlagnahmten ihre Häuser, warfen sie aus der Stadt und trieben sie hinaus in die Wüste.26

Orestes war geschockt. Er war ein gebildeter Mann, der sich – wie seine gute Freundin Hypatia – weigerte, sich der sektiererischen Hysterie anzuschließen, die die Atmosphäre vergiftete. Obwohl er auf dem Papier der mächtigste Mann der Stadt war, konnte er nichts tun, um diesen Aufstand zu verhindern – das Gefolge eines einfachen Statthalters konnte es mit 800 marodierenden, muskelbepackten parabalani schlichtweg nicht aufnehmen. Zudem wusste Orestes ganz genau, wie entschlossen Kyrill sein konnte: Schon zuvor hatte der Patriarch seine Spione auf Orestes angesetzt; sie sollten den Statthalter beschatten, während er in der Stadt seinen Geschäften nachging, und vermutlich auch, wenn er Hypatia besuchte. Umzingelt von Informanten und nicht in der Lage, sich des Patriarchen zu erwehren, tat Orestes das Einzige, was ihm in seiner Lage übrig blieb: Er schrieb an den Kaiser, um sich über Kyrills aggressives Vorgehen zu beschweren.

Kyrill wiederum suchte Orestes auf, doch wenn jener auf eine Entschuldigung des streitbaren Kirchenmannes gehofft hatte, wurde er enttäuscht. Statt einer Entschuldigung hörte er fromme Worte. Kyrill hielt dem Statthalter eine Abschrift der Evangelien unter die Nase – »er glaubte«, wie ein Chronist behauptet, »der Respekt vor der Religion würde ihn dazu veranlassen, seinen Groll beizulegen«. Es war ein geradezu ärgerlich demonstrativer Schachzug, und es wird niemanden überraschen, dass er nicht dazu beitrug, den Streit zu beenden.27

Die Atmosphäre in der Stadt wurde immer düsterer, und Kyrills Milizen immer zahlreicher. An die 500 Mönche verließen ihre Hütten und Höhlen in den nahegelegenen Hügeln, wild entschlossen, für ihren Patriarchen zu kämpfen – ungewaschen, ungebildet und unerschütterlich in ihrem Glauben. Sie waren, wie selbst der christliche Autor Sokrates Scholastikos zugibt, Männer »von hitziger Gesinnung«.28 Als Orestes eines Tages in der Stadt unterwegs war, verstellten ihm die Mönche in ihren dunklen, übelriechenden Gewändern auf einmal den Weg. Sie beleidigten ihn und beschuldigten ihn, ein »Diener der heidnischen Götzen« zu sein.29 Er protestierte, sagte, er sei ganz im Gegenteil ein getaufter Christ, doch die Mönche scherten sich nicht darum. Einer nahm einen Stein und warf ihn Orestes an den Kopf. Die Wunde begann sofort zu bluten. Als seine Leibwächter sahen, mit wem (und wie vielen) sie es zu tun hatten, ergriffen die meisten von ihnen die Flucht und tauchten in der Menge unter, um bloß den Mönchen nicht in die Hände zu fallen.

Mit blutüberströmtem Gewand sah Orestes sich beinahe alleingelassen, als die Mönche ihn umzingelten. Er wusste, dass er keine Chance gegen diesen schwarz gekleideten Mob hatte, doch trotz seiner Angst weigerte er sich nachzugeben. Am Ende kamen ihm doch noch einige Einheimische zu Hilfe, und es gelang ihm zu fliehen. Wenn überhaupt, machte ihn dieser Einschüchterungsversuch allerdings nur noch entschlossener: Umgehend ließ er den Mönch, der ihm den Stein an den Kopf geworfen hatte, ausfindig machen und hinrichten. Einem kultivierten Bürger wie Orestes musste es bei jedem Detail dieser Episode kalt den Rücken herunterlaufen: Eine Stadt durfte nicht den Launen eines Bischofs unterworfen sein oder sich von lynchenden Mobs terrorisieren lassen. Sie durfte ausschließlich den Gesetzen einer Regierung unterliegen, der kaiserliche Beamte vorstanden. Alles andere war das Verhalten von Wilden. Viele Aristokraten in Alexandria fühlten sich von den Gewalttaten der Christen ebenso abgestoßen wie er und unterstützten ihn in seiner ablehnenden Haltung gegenüber Kyrill. Zu diesen Aristokraten zählte auch Hypatia, was ihr zum Verhängnis wurde.30

Denn nun begann das Gerede, und bald war den Christen klar: Hypatia war schuld, dass der Statthalter sich so stur verhielt. Sie trieb einen Keil zwischen Orestes und Kyrill, so erzählte man sich hinter vorgehaltener Hand, und hielt die beiden Männer davon ab, sich zu versöhnen. Von den parabalani geschürt, brodelte schon bald die Gerüchteküche. Hypatia war nicht bloß eine »schwierige« Frau, sagten die Christen. Hatte nicht jeder mitbekommen, wie sie bei ihrer Arbeit seltsame Symbole benutzte und sogar ein Astrolabium? Die ungebildeten parabalani (»bestialische, wirklich abscheuliche Leute«, nannte sie ein späterer Philosoph) wussten genau, worum es sich bei solchen Instrumenten handelte. Das waren keine Werkzeuge der Mathematik und der Philosophie, nein: Sie waren das Werk des Teufels. Hypatia war keine Philosophin: Sie war ein Geschöpf direkt aus der Hölle. Sie war es, die die ganze Stadt mit ihren Tricks und ihren Zaubersprüchen gegen Gott aufwiegelte. Sie trieb Alexandria den Glauben an den Herrn aus. Natürlich hatte sie ihre Reize, doch genau das war ja typisch für das Vorgehen Satans. Hypatia, so erzählten sie sich, habe »mit ihrer satanischen List viele Menschen becirct«.31 Am schlimmsten aber war, dass es ihr gelungen war, sogar Orestes zu becircen. Wie lange hatte er schon nicht mehr den Gottesdienst besucht? Es war vollkommen eindeutig: Sie »hatte ihn mit ihrem Zauber verhext«.32 Das durfte so nicht weitergehen.

An einem Märztag des Jahres 415 verließ Hypatia wie immer ihr Haus, um zur Arbeit zu fahren, als sich ihr plötzlich »eine Ansammlung Gottesfürchtiger« in den Weg stellte und sie zwang, vom Wagen zu steigen.33 Da sie erfahren hatte, wie es ihrem guten Freund Orestes kürzlich ergangen war, wird ihr der Ernst der Lage bewusst gewesen sein. Doch sie kann unmöglich geahnt haben, wie ernst sie war.

Sobald sie auf der Straße stand, wurde die Heidin von den parabalani und ihrem Anführer, einem Kirchenmagistraten namens Petrus, der »ein in jeder Hinsicht vollkommener Anhänger Jesu Christi«34 war, umringt und ergriffen. Dann schleiften die Männer Alexandrias größte lebende Mathematikerin durch die Straßen bis zu einer Kirche. Im Inneren der Kirche rissen sie ihr die Kleider vom Leib und schnitten ihr mit den Scherben zerbrochener Tontöpfe die Haut herunter. Manche sagen, die Angreifer hätten ihr die Augen ausgestochen, während sie noch nach Luft schnappte. Als sie schließlich tot war, rissen sie ihren Leichnam in Stücke und verbrannten das, was von dem »erleuchteten Kind der Vernunft« übrig war, auf einem Scheiterhaufen.35