1. Eine kurze Geschichte des Geldes: Von Blutrache, Tulpenwahn und Fortschritt

Das Leben der alten Germanen war wild. Wer jemanden beleidigte oder verletzte, erlebte Vergeltung, die er oft nicht überlebte. Menschen und Tiere hausten unter einem Dach, Hunger war häufig. Der römische Chronist Tacitus schildert ein «dem Trunk und Würfelspiel» verfallenes Volk, das «Feiglinge und Kriegsscheue im Sumpf versenkt». Aber er berichtet auch von einer Entwicklung, die Leben bewahrte: Wer Leid angetan hatte, durfte sich mit einer Gegenleistung retten.

Geld, oder gelt, bedeutet Opfer. «Das Wergeld ist eine Sühne, die bei Totschlag an die Sippe des Getöteten zu leisten ist. Auf diese Weise wird die andernfalls notwendige Blutrache abgewendet, womit das Wergeld eine erhebliche pazifizierende und zivilisierende Wirkung entfaltet», notiert der deutsche Philosoph Otfried Höffe. «Da es oft ebenso bei körperlichen Verletzungen und Beleidigungen zu zahlen ist, bringt es im Vergleich zum grausamen Vergeltungsprinzip ‹Auge um Auge, Zahn um Zahn› einen großen Fortschritt.» Diese Lebensrettung findet sich in zahlreichen Kulturen. Als Mohammed seine Weltreligion gründete, übernahm er das Blutgeld der Beduinen, enorme hundert Kamele. Der Koran erwähnt Zahlungen an die Familie eines Menschen, den man unabsichtlich umgebracht hatte.[1]

Zahlen statt sterben: Das Blutgeld darf als früher Beleg gelten, wie Geld zivilisatorischen Fortschritt schuf. Es finden sich in der Geschichte viele Belege dafür, wie es als Fortschrittsmacher fungiert. Gesellschaftlich wie wirtschaftlich.

Nachdem der Mensch vor zwei Millionen Jahren auf dem Planeten aufgetaucht war, lebte er die längste Zeit ohne Geld. Ein kurzes, karges, bedrohtes Leben, ein schneller Tod. Kapitalismusgegner idealisieren die gemeinsame Wirtschaft von kleinen Gruppen oder die Tauschwirtschaft Gut gegen Gut. In Wahrheit war gerade der Tausch elend mühsam. Er wurde noch mühsamer, als die Jäger und Sammler vor 10.000 Jahren sesshaft wurden. Was, wenn der Bauer Hirse gegen Fleisch tauschen wollte, aber der Viehzüchter Schuhe brauchte und das Rind ohnehin erst später schlachten wollte?

Die Arbeit aufzuteilen, ist produktiver, als wenn jeder mit den eigenen Händen alles Lebensnötige produziert. Je mehr sich die Menschen spezialisierten, desto mehr erwirtschafteten sie – und desto mehr hatten sie zu tauschen. Wie viel Fleisch muss einer für Hirse oder Schuhe hergeben? Was, wenn er die Schuhe wegen des Winters jetzt braucht, das Rind aber erst nächsten Monat fett ist?

Erst mit Geld lässt sich alles umrechnen, direkt zahlen, und Zeitprobleme lassen sich lösen. Für Geld bekommt jeder Fleisch, Hirse, Schuhe und noch viel mehr – ein historischer Meilenstein.

«Geld ist die Wurzel des meisten Fortschritts», behauptet der britische Historiker Niall Ferguson in seinem Standardwerk The Ascent of Money – a Financial History of the World. Eine gute Währung erfüllt drei Funktionen: Sie ist Recheneinheit, Tausch- und Zahlungsmittel sowie Wertspeicher. Die antiken Großreiche, die erstmals richtig arbeitsteilig wirtschafteten, ließen sich nur durch Geld aufbauen, so der israelische Historiker Yuval Noah Harari.

Die Ära des Edelmetalls

Als Währung kann grundsätzlich jeder Gegenstand dienen, der sich zählen lässt. Die Hochkulturen der Ägypter und Chinesen verwendeten Reis, Weizen oder Bittermandeln als Zahlungsmittel. Andere zahlten mit Ochsen, Schafen, Ziegen. Homer referiert vor 2800 Jahren, die Rüstung des Atheners Diomedes sei neun Ochsen wert; jene des Glaukos hingegen, Sohn des letzten Trojaner-Königs Priamos, stolze hundert.

Doch ob Ochsen oder Bittermandeln, dieses Geld starb oder verdarb. Das ist, als ob sich das Geld auflöst. Gesucht wurde Haltbares. Da waren die Steinräder auf Mikronesien ein Fortschritt, allein: ein rückenbrechender. Userfreundlicher erscheinen die harten Kauri-Schnecken, die jahrhundertelang rings um den Indischen Ozean als Währung dienten. Den Jackpot aber gewann das Volk der Lyder, als es vor 2700 Jahren in der heutigen Türkei Gold in Scheiben goss und darauf Bilder prägte. Diese wohl ersten Goldmünzen verbreiteten sich rasch. Die Münzerei trug den Lydern sagenhaften Reichtum ein, wovon ihr König Krösus zeugt – und Midas, dem angeblich alles zu Gold wurde, was er anfasste.

Die Münzen setzten sich durch, weil sie nicht nur haltbar und hübsch waren, sondern auch Vertrauen schufen. Sowohl durch den Eigenwert des seltenen Metalls, das aussieht wie die göttliche Sonne, als auch durch das Porträt des jeweiligen Herrschers. Ein epochaler Moment: Edelmetall wurde für 2000 Jahre zur dominanten Währungsform. Eine Zeitspanne, in der mehrere Weltreiche aufstiegen – und wieder zu Staub zerfielen.

Die Münzen nahmen den Menschen die Tauscherei ab. Sie beschleunigten das Wirtschaften ungeheuer. Adam Smith preist in An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations 1776, wie «die einzelnen Völker zu diesem Zweck verschiedene Metalle benutzten». Erst durch Geld wirkt die unsichtbare Hand des Marktes, der aus egoistischem Handeln Einzelner materielles Allgemeinwohl schafft.

Was der Gründervater der Marktökonomie nicht ahnte: Entwickelt hat sich das Geld zuerst aus anderen Zwecken, in den harschen Zeiten von Menschenopfern und Unterwerfung. Das Wort Geld kommt nicht von Gold, sondern vom angelsächsischen gilt oder guilt, Opfer-Schuld. Die Urwährungen waren Schlachtopfer, so der deutsche Philosoph Christoph Türcke. «Und weil sie schreckliche Währungen waren, waren sie stets vom Wunsch nach weniger schrecklichen begleitet. Kann man nicht ein Menschenopfer durch Rinder ersetzen? Lebendige Wesen durch Metallgebilde? Das Opfer wurde als Begleichung von Schuld interpretierbar: als Zahlung.» Opfertiere wurden zur Maßeinheit von Schuld und anderen Dingen. Das erklärt, weshalb das römische Wort für Geld (pecunia) von pecus (Vieh) stammt.[2]

Ebenso martialisch entstanden die lydischen Goldmünzen, nämlich als Sold für Soldaten. Geld diente immer wieder als Militärwerkzeug. Ab dem 11. Jahrhundert beschleunigten die Kreuzzüge das Finanzsystem, weil der Krieg gegen die Muslime bezahlt werden musste. Als im 14. Jahrhundert Feuerwaffen Ritterschwerter ablösten, warfen Fürsten die Münzpresse an, um ihre Arsenale zu füllen (und etablierten, wie damals die Lyder, Steuern).

Lässt sich deshalb sagen, dass Geld Kriege auslöst? Kaum. Blutige Auseinandersetzungen gab es auch in den zwei Millionen Menschenjahren ohne Geld zuhauf.

Geld wurzelt auch in der Abhängigkeit der Untertanen. Herrscher waren zugleich Götter, deren Tempeln man Tribut leistete. Die Sumerer entwickelten vor 5000 Jahren nicht nur den Tag mit 24 Stunden, sondern auch den Silber-Schekel, der einem Sack Gerste entsprach. «Die Tempelverwalter kalkulierten damit Pacht und Schulden, und das war faktisch Geld», schildert der amerikanische Anthropologe David Graeber. Mancher Bauer versank in Schulden, seine Kinder wurden Sklaven. Geld, folgert der anarchistische Bestsellerautor, drückt immer Unterdrückung aus.[3]

Aber das muss man nicht so sehen. 1215 erlaubte die englische Magna Carta Bauern, dem Grundherren Geld statt Naturalien zu geben. Das machte sie unabhängiger, zuvor durften sie auch kein Vieh verkaufen. Geld bedeutete für sie mehr Freiheit. Ebenso als die Zahlung von Brautgeld das Ius primae noctis ablöste – das angebliche Recht von Gutsherren, Frauen vor ihrer Hochzeit zu vergewaltigen. Im 19. Jahrhundert hielten Fabrikherren Arbeiter abhängig, indem sie sie mit überteuertem Essen und teuren Behausungen bezahlten; Löhne, die Gewerkschaften durchsetzten, bedeuteten mehr Freiheit.

Geld ist einfach ein Werkzeug. Es bricht Verhältnisse der Unterdrückung nicht von selbst auf. Doch wenn sich die Welt durch die Magna Carta oder Gewerkschaften demokratisiert, verstärkt es diese Entwicklung. Und es hilft, die Menschen aus den Ketten der Armut zu befreien. Erst durch Münzen statt Tauschen, dann durch Entwicklungen wie Kredite, Papiergeld, Aktien.

«Finanzinnovationen waren unverzichtbar für die Entwicklung vom elenden Bauern, der mit eigenen Händen alles Lebensnötige produzierte, bis zum heutigen Wohlstand», bilanziert Niall Ferguson. Und je besser es der Masse ging, desto mehr forderte sie bei Fürsten und Industriebaronen Rechte ein.

Italienische Kredite und chinesisches Papiergeld

Im 12. Jahrhundert kam das Finanzsystem durch norditalienische Kaufleute und Geldhändler in Schwung. Sie gingen ihren Geschäften auf Tischen unter freiem Himmel nach. Dabei saßen sie auf Bänken, banchieri. Daher kommt das Wort für Geldhäuser, das noch heute gilt. Die Kaufleute setzten auf personalisierte Kreditpapiere. Das war effizienter, als Truhen mit Münzen herumzuschleppen, die Räuber und Piraten anzogen. Diese Kredite breiteten sich massiv aus, sie ließen den Handel aufblühen. Und sie leiteten den Abstieg des Edelmetallgelds ein, der freilich hunderte Jahre andauerte, bis die USA 1971 endgültig aufhörten, den Dollar mit Gold zu decken.

Kredite sind flexibler als Münzen. Ein Kreditpapier lebt jedoch stärker vom Vertrauen der Bürger, als es die sonnengottgleiche Goldmünze nötig hat. Um dieses Vertrauen geht es bei jeder Währung: Um die Gewissheit, dass man für die Goldmünze, das norditalienische Kreditpapier oder den Euro Essen, Kleidung und Obdach erhält.

Und so waren die Jahrhunderte nach den banchieri unter freiem Himmel davon gekennzeichnet, dieses Vertrauen auszuloten, mit allen Höhen und Tiefen. So kam es zu einem Feuerwerk von Finanzinnovationen. Beispielhaft ist der Beginn moderner Banken bei den Medici in Florenz. Die Familie war zunächst wohl ein Gangster-Clan. Zwischen 1343 und 1360 wurden fünf Mitglieder wegen Kapitalverbrechen zum Tod verurteilt. Mit Giovanni di Medici entdeckte die Familie das legale Finanzkapital. Sie ließ Kredite aufblühen und sicherte sich durch Diversifikation ab, wo ihre Vorgänger kollabiert waren, weil sie einzelne Großschuldner hatten. Die Medici wurden unermesslich reich und finanzierten Kunst und Architektur, die man nach dem dunklen Mittelalter als eine Wiedergeburt feierte – französisch Renaissance.

Die Entwicklung des modernen Geldes sah immer wieder spektakuläre Pleiten. In den Niederlanden des 17. Jahrhunderts avancierte die aus Zentralasien stammende Tulpe zur Modeblume der Reichen und Schönen. Die sonst so nüchternen Calvinisten steigerten sich in einen Wahn. Eine Zwiebel kostete in kurzer Zeit 10.000 Gulden, so viel wie ein Haus in bester Amsterdamer Lage.

Normale Bürger konnten damals von 14 Stunden harter Arbeit an sechs Tagen die Woche kaum die Miete in den überfüllten Häusern bezahlen. Jetzt glaubten sie, leicht Geld zu verdienen. Es gab sogar Tulpen-Derivate. 1637 crashte die «große Gartenhure», wie sie Skeptiker tauften. Anleger verloren alles. Im Ellendigen Kerkhof fanden jene ihre Ruhe, die sich umgebracht hatten. Der Tulpenwahn war der Prototyp der modernen Finanzkrise.

An solchen Pleiten waren aber weniger die Finanzinnovationen schuld als die Gier. Und genau wie die Innovationen zeigten ja auch Münzen Schwächen. Regenten wie Frankreichs Philipp der Schöne zerstörten das Vertrauen, indem sie Edelmetall durch billiges Kupfer ersetzten. Schinderlinge hießen die Schummelmünzen im Habsburgerreich. Kaiser Friedrich III. löste damit im 15. Jahrhundert die erste Hyperinflation auf deutschem Boden aus.

Schweden und Briten erfinden die Zentralbank

Solche Skandale begünstigten den Aufstieg des Kreditgelds, auch wenn bei ihm die Vertrauensfrage komplexer ist. Goldmünzen lassen sich einschmelzen, um Essen, Kleidung, Obdach zu bezahlen. Falschmünzern wie Philipp dem Schönen trotzten die Untertanen, indem sie Gold horteten. Die münzfernen Finanzinnovationen müssen sich das Vertrauen erst erwerben. Das gilt für Banken, Börsen (Europas erste 1409 in Brügge) oder Papiergeld (in China ab 1260). So lassen sich diese Jahrhunderte als der Versuch lesen, das Vertrauen in diese Innovationen zu stärken.

Papiergeld wirkt gegenüber Goldmünzen lachhaft wertlos. Um es in der Gesellschaft durchzusetzen, muss Vertrauen geschaffen werden. Dabei half eine Erfindung, die heute die Bevölkerung in Gegner und Verteidiger spaltet: die moderne Zentralbank, die Scheine staatlich ausgibt. Die schwedische Riksbank ab 1656, die Bank of England ab 1694 und einige Vorläufer stabilisierten das Finanzsystem und verbreiteten die Papierwährungen. Die Scheine stimulierten Kredite und Handel und begründeten so das moderne Wirtschaften. «Gold und Silber durch Papier zu ersetzen funktioniert wie ein Wagen, der durch die Luft fliegt», schwärmte Adam Smith.[4]

Je mehr Vertrauen auf diese Weise erworben wurde, desto mehr erzeugte das Kreditgeld Fortschritt und veränderte die Welt. Bald entsprang politische Macht wirtschaftlicher Kraft. Diese verliehen Bankiers wie die Fugger – oder Finanzinnovationen. «Hollands Republik übertrumpfte das Habsburgerreich, weil die erste moderne Börse mehr abwarf als die weltgrößte Silbermine in Südamerika», analysiert Niall Ferguson. Eine münzferne Finanzinnovation lohnte sich mehr, als hunderttausende Indios zu schinden, um Edelmetall für Münzen zu fördern. Spaniens Könige verwechselten Gold mit Wohlstand, vernachlässigten die Wirtschaft – und taumelten von Staatspleite zu Staatspleite.

Ebenso traditionell finanzierte sich der Kriegsherr Napoleon: Durch Plünderung von Naturalien oder Münzen. Seine britischen Rivalen dagegen verschuldeten sich durch neumodische Kreditanleihen, also eine münzferne Finanzinnovation, bei der die Rothschild-Bank führend war. «Ebenso wie Lord Wellington war es der Bankier Nathan Rothschild, der Napoleon 1815 in Waterloo schlug», so Niall Ferguson. «Unternehmensfinanzierung war die Basis des britischen Empire.» Die Briten stiegen zum Champion der Industrialisierung auf, zwischen 1740 und 1840 vervierfachte sich ihre Wirtschaftsleistung. Sie wurden zur Supermacht des 19. Jahrhunderts.

Geld ist ein schlechter Herr

Solche Aufstiegsgeschichten konnten nie das Unbehagen am Geld und seiner Dynamik beseitigen. Zinsen kannte bereits das alte Babylon vor 4000 Jahren. Wahrscheinlich sollten sie das Geld vermehren, wie sich ja auch Viehherden vermehren. Doch schon Aristoteles wetterte vor gut 2000 Jahren, «das Geld ist um des Tausches willen erfunden worden, per Zins jedoch vermehrt es sich gegen die Natur». Weltreligionen wie Christentum, Judentum und Islam verboten die Zinsen mehr oder weniger rigoros. Karl Marx identifizierte das Geld als Agenten des Weltmarkts: «Es ist die allgemeine Hure, die alle menschlichen Eigenschaften in ihr Gegenteil verwandelt.» Silvio Gesell, 1919 sieben Tage Finanzminister der linken Münchner Räterepublik, wollte Zinsen abschaffen. Das inspiriert bis heute grüne Politiker, aber auch damals Adolf Hitler, dessen Programm 1920 die «Brechung der Zinsknechtschaft» vorsah.

«Offenkundig hält ein Phänomen wie Geld nur dann allen Angriffen stand, wenn es für Menschen und Gesellschaft wichtige Eigenschaften erfüllt», bilanziert Otmar Issing, erster Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank (EZB). Was sollte Kreditgeber im 14. Jahrhundert bewegen, den riskanten Seehandel Venedigs zu finanzieren, wenn dies keinen Zins abwarf? Geld ist eben ein Werkzeug. Es erfüllt effizient Zwecke, gute – oder schlechte. «Der Dämon liegt nicht im Geld», sagt Issing, «er steckt in den Menschen selbst.»

Wäre mit der Abschaffung des Geldes schlagartig alles Böse aus der Welt entfernt? «Genauso gut könnte man das Feuer für den Brand verantwortlich machen. Hätte Prometheus den Menschen niemals das Feuer bringen sollen? Mit dem Feuer hat er den Menschen in die Verantwortung für den Umgang mit dieser Innovation genommen.» Geld ist ein effektives Werkzeug. Aber genauso empfänglich für Missbrauch wie eine Schusswaffe.

Seine Effektivität wird dadurch belegt, dass bisher niemand eine effiziente Systemalternative zur monetär basierten Marktwirtschaft entwickelt hat. Nicht zum Geld an sich. Den letzten größeren Versuch, es abzuschaffen, starteten die Massenmörder der Roten Khmer. Und auch nicht zur Marktwirtschaft. Der Marx’sche Sozialismus stürzte als Diktatur Millionen Osteuropäer ins Unglück. Die monetäre Marktwirtschaft brachte dagegen – unterm Strich – Fortschritt.

«Die Zeit der Industrialisierung war eine Zeit des Massenelends und der rücksichtslosen Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft: so schrecklich, wie Friedrich Engels sie 1845 in Die Lage der arbeitenden Klasse in England beschrieben hat», so Heinrich August Winkler in seiner Geschichte des Westens. «Aber das Elend wäre ungleich größer gewesen, hätte es die Möglichkeit industrieller Arbeit nicht gegeben. Die Industrialisierung führte nicht zur fortschreitenden Verelendung», wie von Marx vorausgesagt, «sondern zum sozialen Aufstieg des Proletariats.»

Die Marktwirtschaft beschert erstmals überhaupt in der Geschichte hunderten Millionen Menschen Wohlstand, mit guter medizinischer Versorgung und doppelt so langem Leben. Der Nobelpreisökonom Angus Deaton beschreibt in seinem Buch The Great Escape, wie die Menschen des Westens aus dem Gefängnis der Armut ausbrachen und ins Reich des Massenwohlstands kamen. Inzwischen gilt dies auch für manche Schwellenländer wie China.

Die Abwesenheit eines funktionierenden Geldsystems kennzeichnet heute keine glücklichen Nationen, sondern arme wie Nordkorea oder den Kongo. Ähnlich war es in der Geschichte. Als im Mittelalter die Münzen aus dem Alltag verschwanden, fielen die Menschen in Tauscherei zurück. «Vom Ende des achten Jahrhunderts an fiel das westliche Europa in einen Zustand der reinen Landwirtschaft zurück», schreibt der belgische Historiker Henri Pirenne in seiner Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Europas im Mittelalter. Die Menschen nutzten Rinder als Recheneinheit, zuweilen auch Mägde oder Eichhörnchenhaut. Im pompös betitelten «Heiligen Römischen Reich» hausten sie in Hütten und kippten ab vormittags Alkohol, um Infektionen abzuwehren.[5]

Aber natürlich liegen die Kritiker des Mammons von Jesus bis Marx in einem richtig: Das Werkzeug Geld ist blind dafür, wie es eingesetzt wird. Es erzeugt Wohlstand, verteilt ihn aber nicht. Als autoritäre Gesellschaften jahrhundertelang wenige reich werden ließen, während viele hungerten, war es dafür blind. Als die westlichen Kolonialisten Südamerika, Afrika und Asien ausplünderten und seine Bewohner versklavten, war es dafür blind. Geld liegt wie ein Werkzeug in der Hand des Menschen, empfänglich für Missbrauch wie eine Schusswaffe. Der britische Philosoph Francis Bacon formulierte, Geld sei ein guter Diener, «aber ein schlechter Herr».

Der von Marx vorformulierte Sozialismus mag gescheitert sein, seine Kritik an der schreienden Ungleichheit war überfällig. Und sie kam an. Der Wohlstand der Industrialisierung erreichte die Massen, weil linke Parteien und Gewerkschafter dies gegen Könige und Industriebarone erkämpften. Zu den steigenden Realeinkommen der Arbeiter in allen Industriegesellschaften «trugen die Gewerkschaften entscheidend bei», so Heinrich August Winkler.

Das ist die Lehre aus der Geschichte: Die Menschen müssen gestalten, wie das Werkzeug Geld eingesetzt wird, damit es nicht nur ein paar wenigen nutzt, sondern möglichst vielen. Anders als Neoliberale predigen, darf die Markt- und Geldordnung heute genauso wenig laufen gelassen werden wie im 19. Jahrhundert. Sie muss sozial korrigiert werden. Es braucht Demokratie, scharfe Gesetze und starke Interessenvertreter, damit die Massen am Wohlstand teilhaben – und nicht nur ein paar Kapitalbesitzer.

Von Amerika geht eine Finanzkrise aus

Ende des 20. Jahrhunderts setzte sich jedoch ein neuer Laissez-faire-Kapitalismus durch, der gemeinhin als Neoliberalismus bezeichnet wird. Zuvor hatte eine neue Supermacht das britische Empire überflügelt: die USA. Wie einst bei den Briten Rothschilds Anleihen, förderten Finanzinnovationen den Aufstieg, etwa bei Versicherungen, Immobilien und Konsumentenkrediten. Dazu kam der Dollar als globale Leitwährung.

Ab 1980 jedoch entfesselten Präsident Ronald Reagan und seine Epigonen die Finanzmärkte neoliberal. Sie kippten Kontrollgesetze, die die Regierung nach der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre verankert hatte. Sie knebelten Gewerkschaften und senkten Reichen die Steuern. In den USA stiegen die Managergehälter seither um 900 Prozent, während die realen Löhne um 12 Prozent vorankrochen. Die Ungleichheit ist so extrem wie hundert Jahre zuvor, bevor der Wohlstand bei den breiten Massen ankam. Die Neoliberalen erlaubten der Gier, die Herrschaft über die Weltwirtschaft zu übernehmen.

Ganz vorne mischten Investmentbanken wie Lehman Brothers mit. Ihr Chef Richard Fuld versprach Mitarbeitern, filthy rich zu werden, stinkreich. Dann schrie er sie in Einpeitscher-Reden an: «Ihr seid Dreck!» Der Investmentbanker Rudolf Wötzel, den ich Ende der Nullerjahre traf, fühlte sich dort wie in einer totalitären Partei. Er fürchtete, Fuld könne ihn jederzeit feuern. Mit einem Lächeln. Dennoch machten Banker wie er im System der Gier begeistert mit.[6]

Wötzel verdiente bis zu 80.000 Euro, im Monat. Er saß abends in Bars und ließ die Schlüssel seines Porsche durch die Finger gleiten, um Frauen anzulocken. Er dachte sich Deals aus. Einer deutschen Konzernchefin empfahl er, für hunderte Millionen Euro eine Konkurrenzfirma zu schlucken – während deren Chef im Urlaub weilte und den Angriff nicht abwehren konnte. Am 10. September 2001 gab sie ein Kaufangebot ab. Einen Tag später flogen Terroristen in die New Yorker Türme. Die Börse kollabierte, die Konkurrenzfirma wurde billiger. Die feindliche Übernahme gelang.

Heute findet Wötzel so ein Geschäft zynisch. Damals feierte es ein Wirtschaftsmagazin als «Deal des Jahres». Damals war es genauso üblich wie hochriskante Spekulationen. Nach Dekaden irrer Spekulationen läutete 2008 die Pleite von Wötzels Arbeitgeber den Tag der Abrechnung ein. Als Lehman Brothers kollabierte, fegte ein Eissturm über die Weltwirtschaft. Die Konjunktur brach ein wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Subprime-Wertpapiere können eine sinnvolle Finanzinnovation sein. Sie teilen das Risiko eines Immobilienkredits an ärmere Hauskäufer auf mehrere Investoren auf, damit es nicht mehr alleine bei der Bank liegt – die diesen Käufern sonst vielleicht gar keinen Kredit geben könnte. Vor der Finanzkrise allerdings wurden die Subprime-Papiere für waghalsigste Spekulationen missbraucht.

Sie zeigten ihr doppeltes Gesicht, wie Zwiebelderivate im holländischen Tulpenwahn 1637, als die große Gartenhure so viel kostete wie ein Haus: Als Instrument der Gier sprengten sie das Wirtschaftssystem. Geld erwies sich als schlechter Herr, es wurde zur Schusswaffe.

In der Finanzkrise 2008 büßte es jenes Element ein, das es sonst zum Motor des Fortschritts macht: das Vertrauen, durch das sich einst Goldmünzen und Papiergeld durchsetzten. Im Herbst 2008 vertrauten die Menschen dem Geld nicht mehr. Banken liehen sich kein Geld mehr, anders als zuvor im Sekundentakt millionenfach. Bürger räumten ihre Konten leer. Als Philipp der Schöne Goldmünzen mit billigem Kupfer streckte, horteten die Bürger Gold. Damit begannen sie 2008 wieder.

Diese Unsicherheit lähmte die Weltwirtschaft. Millionen Menschen verloren ihre Jobs, allein in den USA neun Millionen. In Europa mündete der Crash in eine Eurokrise. Auch der Aufstieg der Rechtspopulisten begann mit der Finanzkrise. Donald Trump oder Boris Johnson errangen die Macht – und kündigten die Partnerschaft westlicher Staaten, Klimaschutz, Freihandel oder die EU auf. Der Ökonom Moritz Schularick hat gezeigt, dass Rechtspopulisten ihre Wählerstimmen nach Finanzkrisen, historisch betrachtet, meist verdoppeln.[7]

Rechtspopulisten bedienen das Bedürfnis nach einer starken Figur, die die angeblich für die Krise Verantwortlichen zur Rechenschaft zieht. Warum Migranten für die Finanzkrise der Banker verantwortlich sein sollen, bleibt allerdings ihr Geheimnis.

Wenn Regierungen Finanzjongleuren erlauben, das Vertrauen ins Geld zu zerstören, drängen sie moderne Nationen an den Abgrund. Als im 14. Jahrhundert Philipp der Schöne die Münzen manipulierte, lebten auf dem Erdball 400 Millionen Menschen. Heute sind es acht Milliarden, die wirtschaftlich so eng verflochten sind wie niemals zuvor. Um die Finanzkrise zu bekämpfen, mussten die Staaten hohe Schulden aufnehmen und die Zentralbanken viel Geld einsetzen. Das macht es noch mehr als ein Jahrzehnt später schwerer, die Corona-Krise ökonomisch zu bekämpfen, weil die Staaten nun bereits hohe Schulden drücken und die Zentralbanken bereits in der Finanzkrise ihre Bilanzen aufgebläht haben.

Die Finanzkrise von 2008 verursachte einiges von dem, was die Menschen am Geld zweifeln lässt: Sie ließ Anleger in sichere Zinsprodukte fliehen und Zentralbanken die Zinsen senken, was beides die Erträge normaler Sparer senkt. Sie verschärfte die Ungleichheit, weil Investoren jahrelang exorbitante Gewinne einstrichen, aber dann die Allgemeinheit die Folgen der Krise bezahlen musste. Nicht zuletzt war die Finanzkrise Anlass für Kryptowährungen wie Bitcoin, weil das Vertrauen in Staatswährungen erschüttert war. In Gestalt von Facebooks Libra greifen sie nun Dollar und Euro an.

Durch all diese Neuentwicklungen verändert sich das Geld gerade so radikal, dass wir es nicht mehr erkennen. Dabei stellt sich wieder die große Vertrauensfrage. Verdienen Währungen ohne Zinsen wie Dollar und Euro das Vertrauen der Bürger? Kann man dem bargeldlosen Zahlen vertrauen, das vor allem große Digitalkonzerne wie Apple, Alibaba oder Amazon vorantreiben? Kann man Privatwährungen wie Bitcoin oder Facebooks Libra vertrauen? Bringen diese Finanzinnovationen den Menschen Fortschritt? Oder werden sie hinters Licht geführt wie bei den Schinderlingen des Habsburgers Friedrich III.? Wohin führt der Angriff auf Zinsen, Bargeld und Staatswährungen? Wie soll sich jeder von uns verhalten, als Konsument, Sparer, Wähler? Mit dem Schwund des Bargelds und neuen Digitalwährungen erleben wir gerade einen epochalen Einschnitt – vergleichbar dem Moment, als die staatlichen Papierscheine entstanden, die wir heute als unser Geld betrachten. Es geht darum, den Wandel zum Wohle der Allgemeinheit zu gestalten, damit nicht nur wenige Reiche und Konzerne profitieren. Wir stehen vor entscheidenden Jahren.