6. Finanzkrise, Alterung, Stagnation: Was die Zinsen noch lange niedrig hält

Es war kurz vor der Finanzkrise 2008, als der britische Historiker Niall Ferguson und der deutsche Ökonom Moritz Schularick gemeinsam ein neues Wesen entdeckten: Chimerika, die Symbiose der Supermächte China und Amerika. Heute sind die beiden Staaten erbitterte Rivalen um die globale Vorherrschaft. Damals war es viele Jahre «eine himmlische Ehe», so Ferguson und Schularick. China exportierte, Amerika konsumierte. China sparte viel, wodurch Amerika billig Geld leihen konnte. Beide Nationen boomten. Obwohl beide nur zehn Prozent der Erdoberfläche bedecken, vereinten sie in der Dekade vor der Finanzkrise 50 Prozent des globalen Wirtschaftswachstums auf sich. Sie boomten beispiellos.

Allerdings barg die Schwemme an billigem Geld den Keim des Desasters: Sie begünstigte in den USA Spekulationen, die die Finanzkrise auslösten und die Weltwirtschaft abstürzen ließen.

USA, Deutschland, Japan: Die Zinsen sinken überall seit langem

Den internationalen Blick haben sich die beiden Zeitdiagnostiker erhalten, Niall Ferguson genau wie der damals erst 33-jährige Moritz Schularick. Als ich ihn in einem Bonner Café mit dem unschlagbar altbackenen Namen «Sahneweiß» treffe, hält er dem nationalen Blick enttäuschter Sparer in Amerika, Italien oder Deutschland genau das entgegen: den internationalen Blick. Genau der ist nötig, um den Niedrigzinsen auf den Grund zu gehen. Denn es ist eine Illusion zu glauben, die Notenbanken seien maßgeblich für die niedrigen Zinsen verantwortlich. Analysiert man die gesellschaftlichen und ökonomischen Trends der vergangenen Jahrzehnte, sieht man, dass andere Faktoren wichtiger für die Zinsen sind. «Die Zentralbanken haben die Zinsen gedrückt», sagt Schularick. «Aber Niedrigzinsen sind ein globales Phänomen. Die Zinsen sind auch in Märkten gefallen, die Zentralbanken nicht direkt beeinflussen.» Die Zinsen fielen überall in den Industriestaaten auf historische Tiefs, und zwar lange bevor die EZB mit ihrer lockeren Geldpolitik begann.

Die Zinsen fallen in den Keller

Nominale Renditen zehnjähriger Staatsanleihen

Quelle: Börsendaten

Sparer überschätzen die Macht von Zentralbanken. In der Welt geschieht so viel, dass die Währungshüter Getriebene sind. Die Finanzmärkte sind das Pferd, das sie zieht, argumentiert Neil Irwin in der New York Times: «Die Zentralbanken versuchen lediglich, ihre Geldpolitik an die Realitäten anzupassen: Eine Schwemme an Ersparnissen, alternde Gesellschaften und schwache Produktivität, die Wachstum und Inflation beständig drückt.» Starb der Zins auf natürliche Weise oder wurde er umgebracht?, fragt Thomas Mayer. Der Ex-Chefvolkswirt der Deutschen Bank macht einen Einzeltäter verantwortlich: die Zentralbanken. Doch er muss einräumen, dass die meisten Ökonomen das anders sehen – dass sie vor allem andere Gründe für die Niedrigzinsen sehen. Die Spurensuche führt zu mächtigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Trends unserer Zeit: Unsicherheit nach der Finanzkrise, Alterung, Ungleichheit, Stagnation, Digitalisierung und Globalisierung.

Flucht in Sicherheit

Der erste Trend, der die Zinsen drückt, ist ziemlich jung: Es handelt sich um die Unsicherheit, die die Finanzkrise 2008 ausgelöst hat. Weltweit fürchteten Bürger, ihre Ersparnisse zu verlieren. Der damalige deutsche Finanzminister Peer Steinbrück schildert, wie tief der Abgrund war. Wie die Panik wuchs. Steinbrück und Kanzlerin Angela Merkel traten vor die Kameras, hinter sich der Berliner Reichstag, feierlich versprachen sie: «Wir sagen den Sparern, ihre Bankeinlagen sind sicher.» Diese historische Garantie war ein Bluff.

Der Staat hätte das Geld gar nicht so schnell zusammengekriegt, wenn wirklich alle ihre Ersparnisse abgehoben hätten. Der Bluff war nötig, um die Bürger zu beruhigen, weil sonst das ganze Finanzsystem zusammengebrochen wäre wie in den 1930er Jahren. So tief war der Abgrund. «Sie kommen manchmal in ihrem politischen Leben an einen Punkt, wo Sie so etwas machen müssen», sagte Steinbrück, als er später mit mir über diesen Moment sprach.

Nach dem Schock der Finanzkrise flüchteten die Bürger weltweit in Anlagen ohne Schwankungen wie Sparkonten. In Europa verschärfte sich das durch die Eurokrise. Private Sparer ebenso wie Versicherungen oder Pensionsfonds kaufen bis heute bevorzugt Anleihen sicherer Staaten wie der USA oder Deutschland. Diese Übernachfrage drückt die Zinsen, die weltweit seit der Finanzkrise wie ein Stein in den Keller fielen. Manche Staaten geben Anleihen fast ohne Zinsen aus, die über hundert Jahre laufen – und finden trotzdem Käufer.[1]

Die Finanzkrise ist eine Weile her, doch die Angst ist geblieben. Genährt durch die neue Aggressivität in der Welt, in der nach politisch ruhigeren Jahren auf einmal im Wochentakt Mächte wie China, Saudi-Arabien, Iran, Syrien, Türkei, Russland, Nordkorea und die USA aufeinanderknallen. Gerade die Wandlung der USA zum Aggressor durch Donald Trump verstört. Als ich Georg Simbeck im Januar 2020 in der Filiale am Marienplatz besuche, hat Trump gerade den iranischen General Ghassem Soleimani liquidieren lassen. «Die Leute haben Angst, dass Trump einen Krieg anfängt», berichtete Simbeck. Die Unsicherheit nähren auch Ereignisse mit direkten wirtschaftlichen Konsequenzen wie Trumps Handelskriege mit der halben Welt und der britische EU-Austritt. Diese Unsicherheit führt dazu, dass Kunden bei der Geldanlage immer noch eine Garantie extra wollen, so der Vermögensverwalter Andreas Enke: «Die Angst ist übermächtig.» Was für eine traurige Pointe: Populisten wie Trump und Boris Johnson, ins Amt gespült durch die Wut frustrierter Arbeitnehmer und Sparer, erzeugen noch mehr Unsicherheit.

Allein die Deutschen halten 2,4 Billionen Euro auf Giro- und Tagesgeldkonten. Damit haben sie dort 500 Milliarden Euro mehr angesammelt als 2014, als Minuszinsen in der Eurozone eingeführt wurden. Ein ähnliches Bild zeigt sich in anderen Ländern. «Durch die Flucht in Sicherheit kaufen Anleger so viel, dass sich das Volumen der Anleihen mit negativen Zinsen 2019 auf 14 Billionen Dollar verdoppelte», berichtet der US-Investor Jim Bianco.

Geht die Weltwirtschaft in die Knie wie während der Corona-Pandemie, verschärft sich dieser Trend. Wirtschaftliche Einbußen, die Angst um den Job oder sein Verlust: All das lässt Sparer nach Sicherheit suchen. Den sicheren Hafen finden Sparer in Sparbüchern und Staatsanleihen. Doch es ist eine trügerische Sicherheit, weil die Übernachfrage die Zinsen drückt – und damit die Ersparnisse in Wahrheit schrumpfen. Sicherer Hafen ist so irreführend wie die Sprachschöpfungen in George Orwells Dystopie 1984, warnt der Fondsmanager Christoph Bruns: «Wie in 1984 das Liebesministerium tatsächlich ein ruchloser Repressionsapparat ist, könnten sich die sicheren Häfen als Vermögensgrab herausstellen.»

Die Alterungswelle

Sparer drücken also durch ihre Übernachfrage die Zinsen – und verschärfen so unabsichtlich die Misere, die sie beklagen. Diesen Mechanismus löst nicht nur die Flucht in Sicherheit aus, sondern auch eine andere Übernachfrage: Die Menschen sparen immer mehr, weil sie bei immer niedrigeren Rentenniveaus für ein immer längeres Leben vorsorgen müssen. Die Bürger im Westen leben doppelt so lange wie Ende des 19. Jahrhunderts. Gleichzeitig werden halb so viele Kinder geboren wie 1950. Die westlichen Gesellschaften altern und schrumpfen. Dies ist ein Trend, der schon sehr lange auf die Zinsen drückt, seit 1980, schätzt der Ire Philipp Lane, Chefvolkswirt der EZB.[2]

Globale Sparschwemme

Ersparnisse als Anteil der Weltwirtschaftsleistung

Quelle: IWF

Die Menschen werden immer älter, aber sie arbeiten nicht entsprechend länger. In vielen Industriestaaten verdoppelte sich der Ruhestand auf 20 Jahre. «Sie brauchen also länger Rente. Doch die gesetzliche Rente ist unsicherer. Also sparen sie mehr als früher, abzulesen etwa an den Ansprüchen aus Lebensversicherungen», analysiert der Ökonom Hagen Krämer.

Weil immer weniger Arbeitnehmer immer mehr Senioren finanzieren müssen, sinken die Renten relativ zu den Löhnen. Wer seinen Lebensstandard im Alter halten will, muss mehr sparen. Diese Ersparnisschwemme drückt die Zinsen. Die niedrigen Zinsen machen dann zusätzliches Sparen nötig, weil Vorsorge mit Zinsprodukten so wenig abwirft. Von 1980 bis 2050 wird allein die Alterung die realen Zinsen in den USA und Europa um ein bis zwei Prozentpunkte drücken, rechnet Philipp Lane vor.

Diese Rechnung zeigt, dass sich die Demografie erst in Zukunft voll auf die Zinsen auswirken wird. Während manche Ökonomen den Alterungseffekt anzweifeln, sah das der damalige US-Notenbankchef Ben Bernanke schon 2005 anders. Damals prägte er den Begriff Ersparnisschwemme – vor allem in Asien mit seinen rasant steigenden Einkommen und rasant alternden Völkern in Japan und China. Und kein Land auf der Welt spart so viel wie Deutschland, sagt Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung: «Die Nettoersparnis beträgt jedes Jahr 240 Milliarden Euro. Durch diese hohe Nachfrage sinken die Zinsen.» Global wachsen die Ersparnisse seit den Nullerjahren stärker als die Wirtschaft, auf über 20 Billionen Dollar im Jahr.

Die Sparer ruinieren die Verzinsung der traditionellen Sparprodukte, indem sie mit ihnen für ihr Alter vorsorgen – ein bitterer Mechanismus.[3]

Reiche sparen mehr

Neben der Demografie gibt es einen bisher vernachlässigten Einfluss, der die Zinsen drückt: die zunehmende Ungleichheit, mit der ich mich in meinem Buch Das gespaltene Land beschäftige. Die westlichen Gesellschaften spalten sich in Arme und Mittelschicht auf der einen Seite und Reiche auf der anderen. Ein typischer britischer Firmenchef hat am 5. Januar eines Jahres so viel verdient wie ein typischer Arbeitnehmer bis zum Jahresende. In Österreich und Deutschland ist das Vermögen besonders ungleich verteilt. Überall vergrößern neoliberale Steuersenkungen für Reiche und Firmen die Schieflage: In Amerika zahlen die Reichsten prozentual weniger ans Finanzamt als jede andere Gruppe. Die Ungleichheit frustriert breite Schichten, die sich Rechtspopulisten wie Trump, Johnson oder der deutschen AfD zuneigen.[4]

Aus dem, was die Volkswirtschaften produzieren, fließt einer Minderheit mehr zu als früher. Diese Reichen sparen mehr. Mokant gesagt: Ihnen bleibt viel, selbst wenn das Penthouse in New York, die Villa an der Riviera und der Privatjet bezahlt sind. Bei Ärmeren und der Mittelschicht dagegen geht der Lohn für Miete, Essen und sonstigen Alltag drauf. Die ärmere Hälfte der Amerikaner spart gar nicht, jeder dritte Deutsche auch nicht.[5]

Dank steigender Gewinne sparen die Firmen mehr an als zuvor. Der Internationale Währungsfonds (IWF) weist dies über ein Vierteljahrhundert für fast 50 Länder nach. Die Firmenersparnisse sind teils versteckte private. Wenn eine Firma einer Familie gehört, gehören die Ersparnisse praktisch ihr – gerade in Deutschland, wo Familienunternehmen verbreitet sind. Die Ökonomen stellen das deutsche Wirtschaftsmodell infrage, das als Vorbild für den schmerzhaften Sparkurs in Krisenstaaten wie Griechenland diente. Von hohen Exportüberschüssen profitieren laut IWF nicht alle Deutschen gleichermaßen, sondern vor allem Firmenbesitzer. Was die Ungleichheit erhöht und dadurch tendenziell das Wachstum senkt. Würde die Masse mehr verdienen, würde sie (anders als die Reichen) mehr konsumieren und so die Wirtschaft ankurbeln.[6]

Das Ende der Inflation

Dass die Bürger durch Flucht in Sicherheit, Alterung und Ungleichheit so viel mit traditionellen Zinsprodukten sparen, würde die Zinsen weniger senken – wenn die Wirtschaft diese Ersparnisse als Kredite aufsaugen würde. Doch die Firmen fragen nicht mehr Kredite nach, sondern weniger. Die Ersparnisse steigen, die Nachfrage nach ihnen sinkt – da sinkt zwangsläufig der Preis dieser Sparprodukte, also der Zins. Auch dieser Trend wirkt seit Dekaden.

Aber warum fragen die Unternehmen weniger Ersparnisse nach? Die Spurensuche führt zu einem Panorama vergangener Jahrhunderte.

Vor 1750 gab es praktisch kein Wirtschaftswachstum, analysiert der US-Ökonom Robert Gordon. Ab dem 19. Jahrhundert ließen dann Maschinen das Wachstum explodieren, wie es Bauern mit ihren schwieligen Händen unmöglich gewesen war. «In der Weltgeschichte gibt es wohl nur eine Umwälzung, die einen derart tief einschneidenden Charakter hatte wie die Industrielle Revolution: der Übergang von den Jägerkulturen zu sesshaften Gesellschaften vor 10.000 Jahren», schreibt der deutsche Historiker Heinrich August Winkler.

Bald nahmen Bevölkerung und Lebenserwartung rasch zu, ein doppelter Effekt: Mehr Menschen arbeiteten länger. Sie arbeiteten auch produktiver, weil sie Schulen besuchten. Allein die britische Wirtschaftsleistung hat sich zwischen 1740 und 1840 mehr als vervierfacht. Motorisierung, Elektrifizierung und Massenfertigung setzten immer neue Impulse. Nach dem Zweiten Weltkrieg entfachten Wiederaufbau und Massenkonsum ein Wirtschaftswunder. Die Industriestaaten expandierten mehr als 150 Jahre stürmisch. Doch die Effekte nahmen mit der Zeit ab.

Weil heute jeder westliche Haushalt mindestens einen Kühlschrank, Auto und Fernseher besitzt, kauft er diese Produkte seltener als bei ihrer Einführung. Weder Bildungsniveau noch Lebenserwartung expandieren noch wie beim Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft. Und weder die Dienstleistungsgesellschaft noch die Digitalisierung stimulieren die Wirtschaft wie einst Motorisierung und Massenfertigung. Seit in der Ölkrise der 1970er Jahre Massenarbeitslosigkeit entstand, heißt die neue Normalität Stagnation.

Dass etwa die deutsche Wirtschaft bis zur Corona-Krise 2020 zehn Jahre stolperfrei wuchs, gilt bereits als Boom. Doch das Wachstum war in diesem Boom viel niedriger als in den Wirtschaftswunderjahren. Die reifen Volkswirtschaften des Westens investieren weniger als früher – und müssen deshalb nicht mehr so hohe Zinsen bieten, um Ersparnisse anzulocken. Zur Stagnation passen niedrige Zinsen.[7]

Die Unternehmen fragen auch deshalb weniger Ersparnisse nach, weil sich die Wirtschaft verändert – hin zu Dienstleistern, die weniger investieren als die produzierende Industrie. Wer reich werden wollte, musste früher eine Fabrik bauen. Heute atmet das Wort Fabrikant den zigarrengeschwängerten Geruch des Gestrigen. Heute setzt sich an den PC und kreiert eine App, wer Geld verdienen und Investoren heißmachen will.

Die digitale Disruption lässt rascher als sonst ganze Branchen sterben, ob Lexikonverlage, Videotheken oder Kamerahersteller. Hardware ist out. Immer mehr Produkte werden entstofflicht: Google statt Lexika, Apple Music statt CDs, Facebook statt Briefe, Netflix statt Videos. Volkswagen setzt für jedes zusätzliche Auto Material ein, Google, Apple und Facebook für jeden zusätzlichen Nutzer fast nichts, was ihre gigantischen Gewinne erklärt.[8]

Zu den tektonischen Verschiebungen zählt auch, dass die Inflation verschwindet. Und damit die nominalen Zinsen, an denen sich viele Sparer fälschlicherweise orientieren, obwohl nur zählt, was real nach Inflation übrig bleibt. Ein Grund dafür ist, dass Firmen ohne großes Wachstum schwerer höhere Preise durchsetzen können – oder Arbeitnehmer höhere Löhne. Die Globalisierung stoppt die Inflation zusätzlich. Seit westliche Firmen und Arbeitnehmer mit asiatischen konkurrieren, bremsen deren niedrige Löhne und Preise den Anstieg bei uns. So fiel die Inflation in den Industriestaaten – von acht bis 14 Prozent in den 1980er Jahren auf zwei Prozent in den Nullerjahren. Die Corona-Pandemie verstärkt den Druck auf die Zinsen. Die Geschichte zeigt, dass auf schlimme Seuchen oft eine lange Zeit niedriger Zinsen folgt. Dies unterscheidet Pandemien von Kriegen, die Fabriken, Maschinen und Wohnungen zerstören. Nach Kriegen bedarf es höherer Zinsen, um Geld für den Wiederaufbau anzulocken. Das Corona-Virus dagegen zerstört Menschenleben, keine Fabriken. Und dass seit der Krise mehr im Homeoffice gearbeitet wird, verstärkt die Digitalisierung – die ebenfalls die Zinsen drückt. Außerdem müssen die Zentralbanken die Zinsen niedrig halten, um die Wirtschaft nach der Rezession anzuregen. «Weil die US-Notenbank die kurzfristigen Leitzinsen mindestens bis 2022 nahe Null belassen will, bekommen Sie wahrscheinlich fast nichts für Ihr Geld», warnt die New York Times amerikanische Sparer. In Europa dürfte es genauso werden.

Die großen Entwicklungslinien zeichnen ein eindeutiges Bild. Mächtige Faktoren schleusen die Zinsen seit Jahrzehnten mindestens ebenso nach unten wie die umstrittenen Zentralbanken: ob Flucht in Sicherheit, Alterung oder Ungleichheit, Stagnation oder Digitalisierung, Globalisierung oder zuletzt die Pandemie. Der von der Geldpolitik der Zentralbank unbeeinflusste Zins sank in den USA von 3,7 Prozent 1980 auf 0,5 Prozent heute.

Paul Schmelzing von der Yale School of Management macht sogar einen jahrhundertelangen Trend aus. Demnach fallen die realen Zinsen seit der Geburt des modernen Kapitalismus im 15. Jahrhundert kontinuierlich – von damals fast 15 Prozent. «Wir werden die nächsten Jahrzehnte mit niedrigen Zinsen leben müssen», sagt Hagen Krämer voraus. «Auch in der Schweiz, Großbritannien oder den USA sind die Zinsen niedrig oder negativ. Das ist ein weltweites Phänomen.»

Die großen Entwicklungslinien zeigen, dass sich Millionen klassischer Sparer in den Industriestaaten auf eine lange Zeit niedriger Zinsen einstellen müssen. Unabhängig von dem, was die Zentralbanken tun. Gleichzeitig erzeugen die Sparer die niedrigen Zinsen unabsichtlich mit: indem sie in Sicherheit flüchten, für die Alterung mit Zinsprodukten vorsorgen und an der Wahlurne nichts gegen die gesellschaftliche Spaltung tun, die zu Sparexzessen der Reichen führt. Was alles die Zinsen drückt. Zur Wahrheit gehört auch, dass ihre klassischen Sparprodukte schon vor der Nullzinsära wenig abwarfen, wenn man die Inflation berücksichtigt.

Das alles spricht dafür, dass die Sparer aufbegehren – und sich ihrem Schicksal endlich entwinden sollten. Wie das geht, davon handelt das nächste Kapitel.[9]