7. Wie Sparer der Zinsfalle entkommen – und warum das gut für die Demokratie ist

Als die Medici-Familie reich geworden war, finanzierte sie in Florenz Kunst und Bauwerke, die heute die ganze Welt kennt. Die Medici förderten Michelangelo und Brunelleschi, Botticelli und Leonardo da Vinci. Sie ließen die Uffizien erbauen und den Duomo vollenden, damals die größte Kirche der Welt. Selten hat eine einzige Familie einem ganzen Zeitalter so ihren Stempel aufgedrückt wie die Medici der Renaissance. Um reich zu werden, mussten sie allerdings erst aus dem Schicksal nobler Familien vor ihnen lernen.

Vor den Medici waren im Florenz des 14. Jahrhunderts die Bankiershäuser Bardi, Peruzzi und Acciaiuoli führend. Sie hatten Kredite weit über Norditalien hinaus vergeben, besonders an König Robert von Neapel und König Edward III. von England. Als König Robert von Neapel und König Edward III. von England ihre Zahlungen einstellten, gingen die Bardi, Peruzzi und Acciaiuoli zugrunde. Die stolzen Häuser hatten sich einzelnen Schuldnern ausgeliefert.

Daraus lernten die Medici, indem sie diversifizierten. Sie teilten ihr Geschäft in Partnerschaften auf, die für sich wirtschafteten. So ging durch die Pleite eines Schuldners nicht das ganze Haus Medici pleite. Stattdessen boten die Medici bald alles, was noch Jahrhunderte später eine Großbank definiert: Zahlungen ohne Bargeld, Filialen im Ausland, Geschäfte mit entfernten Ländern.

Wer als Sparer nur auf klassische Sparprodukte setzt, liefert sich ihnen aus wie einst die Bardi, Peruzzi und Acciaiuoli König Robert von Neapel. Von den Medici und ungezählten Investoren danach ist zu lernen, wie viel es bringt, Geld breit anzulegen – zu diversifizieren. Den globalen Angriff auf die Zinsen parieren Sparer am besten, indem sie eine bessere Geldanlage in Angriff nehmen.

Frösche im Topf

Als ich Georg Simbeck 2013 das erste Mal in seiner Bank am Münchner Marienplatz besuchte, hatte er Sparern schon kaum Zinsen zu bieten. Was Sparbücher und Tagesgeld einbrachten, war nach Inflation ein Minus. Simbeck empfahl seinen Kunden stattdessen, eine Wohnung zu kaufen. Oder einen bestimmten Aktienfonds. Den boten die Sparkassen schon seit 1956 an, als der deutsche Bundeskanzler noch Adenauer hieß und der US-Präsident Eisenhower. Seit 1956 hatte der Fonds neun Prozent eingebracht – jedes Jahr.

2013 fragte ich Thorsten Hens, wie der normale Sparer auf die neue Nullzinsära reagieren werde. Der Finanzforscher an der Uni Zürich erwartete wenig Reaktion. Hens verglich die Sparer mit Fröschen. Werden Frösche in einen Topf mit heißem Wasser gesetzt, springen sie heraus. Wird das Wasser dagegen langsam erhitzt, das heißt, werden die Zinsen langsam gesenkt, bleiben Frösche und Sparer im Topf. Und verbrühen.

Null Zinsen und Inflation: Da ist nach zwanzig Jahren ein Großteil der Ersparnisse vernichtet. Was nicht passieren müsste, wenn Sparer wie die Medici diversifizierten und ihr Geld auch in Immobilien oder Aktienfonds wie jenen aus Adenauers Zeiten anlegten. Doch nur zehn bis höchstens 20 Prozent der Franzosen, Schweizer, Dänen, Österreicher oder Deutschen besitzen Aktien oder Aktienfonds. Dagegen haben Österreicher und Deutsche fast das halbe Vermögen auf Sparkonten. Die Deutschen haben diese Summe nicht reduziert, sondern seit 2013 um 500 Milliarden Euro aufgestockt. Die Franzosen handelten ähnlich. Die meisten Sparer haben sich seit 2013 verhalten wie Frösche im Topf: Sie lassen zu, dass Nullzinsen ihre Ersparnisse verbrennen.

Aktien und Immobilien schlagen Zinsprodukte

Natürlich gibt es gute Gründe dafür, einen Teil seines Geldes verfügbar auf der Bank anzulegen. Für jeden empfiehlt sich eine Notreserve für den Fall, dass das Auto kaputtgeht oder die Waschmaschine. Wer darüber hinaus finanzielle Belastungen wie das Studium der Kinder oder einen Jobverlust auf sich zukommen sieht, will schnell an sein Geld. Wer Anschaffungen wie Möbel plant, ebenso. Es wäre fatal, mitten in einem Kursrutsch wie in der Corona-Pandemie Aktien verkaufen zu müssen.

Aktieninvestments brauchen Zeit, Immobilien ebenso. Mit der Zeit aber erweisen sie ihre Überlegenheit. Die US-Ökonomen Rajnish Mehra und Edward J. Prescott haben nachgewiesen, dass US-Aktien ab Ende des 19. Jahrhunderts durchschnittlich sieben Prozent abwarfen – pro Jahr, nach Inflation, also real. Kurzfristige Staatspapiere brachten dagegen nur ein Prozent. Das ergibt eine Prämie von sechs Prozent für das Risiko, dass Aktienkurse auch mal abstürzen, am Schwarzen Freitag 1929, am Schwarzen Montag 1987 oder 2020 in der Corona-Krise. Das waren heftige Einbrüche. Sechs Prozent Gewinn jährlich erscheinen aber als angemessene Prämie für dieses Risiko. Denn wer ein paar Monate oder Jahre warten kann, erlebt, dass sich die Kurse nach einem Einbruch wieder erholen. Und in den meisten Jahren kassiert er auf die Aktien Dividenden, die allein schon das Mehrfache typischer Zinsen ausmachen. Bei weltweiten Aktien des MSCI World Index lag die Dividendenrendite seit 1970 im Schnitt bei drei Prozent.

Ein Ökonomenteam um Òscar Jordà hat nachgewiesen, dass Aktien und Immobilien traditionellen Zinsprodukten deutlich überlegen sind – mit sieben bis acht Prozent Gewinn versus 0,3 bis zwei Prozent bei den Zinsprodukten. Ihre Untersuchung The Rate of Return on Everything umspannt 15 Länder und 150 Jahre. Andere Forscher kommen zu ähnlichen Ergebnissen.

In der Zinsfalle geht es für Sparer darum, die Zeichen der neuen Zeit zu erkennen und sich von alten Fesseln zu emanzipieren. So wie die britische Regierung Anfang des 19. Jahrhunderts die neuartigen Anleihen der Rothschild-Bank nutzte und auch dadurch Europas Hegemon Napoleon bezwang, der sich klassisch finanzierte, indem er besetzte Gebiete plünderte. Der Erfolg der Anleihen war zugleich der Erfolg der Familie Rothschild, die bald zu den führenden Bankiers Europas aufstiegen. Noch Firmengründer Mayer Amschel Rothschild war 1744 arm im Frankfurter Ghetto der Juden geboren worden, denen die Freie Reichsstadt mit einem Schild verbot, die Promenadestraßen zu betreten: «Kein Jud und kein Schwein darf hier hinein.»[1]

Am häufigsten wenden Sparer gegen Aktien und Immobilien ein, dass Verluste möglich sind. Das stimmt. Eine Firma kann sogar pleite gehen wie einst König Robert von Neapel. Doch dagegen schützt sich, wer sein Geld, anders als die Häuser Bardi, Peruzzi und Acciaiuoli, verteilt. Einen Teil sicher auf die Bank, was über dieses Polster hinausgeht in mehrere Aktien oder Immobilienfonds investieren. Zur Diversifikation gehört, sich nicht auf Papiere des eigenen Landes zu fixieren, sondern über die Grenze zu blicken und auch in globalere Aktienindices wie MSCI World oder Euro Stoxx zu investieren.

Bloß keine Verluste? Verluste erleiden die Sparer mit Sparprodukten seit Jahrzehnten, weil die Inflation oft die kümmerlichen Zinsen übersteigt. Die realen deutschen Zinsen waren von 1970 bis 2000 ein Drittel der Zeit negativ. Seit Anbruch der Nullzinsära gilt das erst recht. Die Sicherheit, die Sparer in Zinsprodukten suchen, finden sie nur vermeintlich. Mehra und Prescott stellten fest, dass Aktien kaum unsicherer sind als Staatsanleihen, deren Kurse ebenfalls schwanken. Òscar Jordà & Co. schreiben in ihrem Panorama der letzten 150 Jahre: «Die Rendite sicherer Anlagen schwankte oft sehr, mehr als man erwarten würde und mehr als die Rendite anderer Anlagen.» Seit Anbruch der Nullzinsära gilt erst recht, dass jeder auch in Aktien und Immobilien anlegen sollte. Die Amerikaner nennen das Tina: There is no alternative.

Häufig wird argumentiert, historische Erfahrungen wie hohe Inflation prägten Nationen, so dass sie nicht anders könnten, als an sicheren Sparprodukten festzuhalten. Nach dem Ersten Weltkrieg ärgerte die Hyperinflation 1923 die Deutschen hitlerreif, wie es der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig ausdrückte. Bei der Währungsreform von 1948 schwanden ihre Ersparnisse erneut. Doch abgesehen davon, dass dies kaum noch ein heute Lebender selbst erfahren hat: Diese bitteren Erfahrungen der Geldentwertung liefern kein Argument für vermeintlich sichere Sparprodukte, sondern dagegen. Denn Hyperinflation und Währungsreform vernichteten Geldwerte wie Sparbücher und Kriegsanleihen. Sachwerte wie Aktien, Immobilien und von Bauern gebunkerte Kartoffeln überstanden die Ereignisse ziemlich unbeschadet.

Schon der britische Ökonom John Maynard Keynes erkannte 1924, wie Unternehmen durch ihre Geschäfte und Investitionen Mehrwert für die Aktionäre schaffen, wie sie so von der Aktivität einer Volkswirtschaft profitieren. Ein kostengünstiges Instrument sind neben Aktien Exchange Traded Funds (ETF). Sie bilden meist populäre Aktienindices nach – zu einem Bruchteil dessen, was aktiv gemanagte Aktienfonds kosten.

Die meisten Bürger haben die Möglichkeit, jeden Monat einen gewissen Betrag anzulegen. Studien untersuchen dies bis in die regionale Ebene. Demnach hat jeder Bewohner der süddeutschen Stadt Augsburg im Schnitt 200 Euro im Monat zum Sparen übrig. Würde er das in Aktien- oder Immobilieninvestments stecken, würden daraus bei zwei oder fünf Prozent Rendite jährlich nach 30 Jahren zwischen 100.000 und 150.000 Euro. Das sind doppelt bis drei Mal so viel wie das aktuelle Vermögen eines Augsburgers. In der Realität aber hat der typische Bewohner der Stadt mehr als die Hälfte seines Geldvermögens in niedrigverzinsten Sparkonten und verliert durch die Inflation fast 400 Euro im Jahr. Und das in der Stadt der Fugger und Welser, die vor 500 Jahren das moderne Finanzwesen mitbegründeten! «Die Menschen müssen mutiger werden und sich an Alternativen zum klassischen Sparbuch herantrauen», propagiert Cornelia Kollmer aus dem Vorstand der lokalen Sparkasse.[2]

Wer Risiko scheut, setzt stärker auf Immobilien als auf Aktien. Wer eine Wohnung kauft, spart die Miete, die oft 40 Prozent des Nettogehalts schluckt. Durch das eigene Haus navigieren manche Nationen ganz gut durch die Nullzinsära: 70 bis 90 Prozent der Süd- und Osteuropäer haben Immobilien. Diese lassen sich in der Nullzinsära günstig finanzieren. Weil das Ersparte ins Wohneigentum fließt, lassen die Menschen wenig auf Sparkonten versauern.

Italiener legen ihr Geld seit langem am liebsten in Immobilien an. Das hat sich historisch herausgebildet, sagt Antonella Stirati von der Universität Roma Tre. Traditionell sind Mieten hoch und Sozialwohnungen rar. Und es gibt wenig Arbeitslosengeld – da sichert einen die eigene Wohnung ab, wenn man den Job verliert. Auch ist die Bindung an die Familie enger als woanders. Eltern kaufen dem Nachwuchs eine Wohnung, wenn sie es sich leisten können. Gerne im eigenen Viertel, damit die Kinder in der Nähe bleiben. In einem Land mit hoher Arbeitslosigkeit unter jungen Menschen eine willkommene Starthilfe. In der Nullzinsära erweist sich die Liebe der Italiener zur eigenen Immobilie für die ganze Nation als Vorteil.

Deutsche, Österreicher, Schweizer als Verlierer der neuen Zeit

Klar abgehängt sind in der neuen Zeit dagegen viele Deutsche, Österreicher und Schweizer. Nur 40 bis höchstens 60 Prozent der Bewohner haben hier Wohneigentum. Das entwickelte sich oft daraus, dass sich in diesen Ländern lange günstig mieten ließ, auch weil der Staat die Spielräume der Vermieter einschränkt. In der Nullzinsära erweist sich das geringe Wohneigentum als Nachteil. Vor allem, wenn es wie in den meisten dieser Länder mit einer Aktienskepsis einhergeht. Dann stecken die Sparer in der Zinsfalle, weil sie weder Aktien noch Immobilien besitzen. 80 Prozent des Geldvermögens der Deutschen stecken in Sparkonten und Lebensversicherungen, nur 20 Prozent in Aktien oder Fonds. Der ärmeren Hälfte der Bevölkerung gehören nur drei Prozent des Immobilienbesitzes. Steigende Mieten, stagnierende Löhne und gekürzte Renten bilden einen Cocktail, aus dem Populisten Gift mischen.

Wo Menschen Wohneigentum besitzen

Bevölkerungsanteil, der eine Immobilie besitzt, 2018

Quelle: Eurostat

Gegen Immobilien wenden Sparer oft ein, sie besäßen nicht das nötige Eigenkapital, das die Bank für einen Hauskredit verlangt. Diese Tatsache verhindert aber keine Anlage in Immobilien. Georg Simbeck klappt in seinem Büro den Laptop auf und zeigt grüne, rote und blaue Kurven. Das sind die Wertentwicklungen von teils europaweiten Immobilienfonds – und von Sparbüchern und Tagesgeld. Während Zinsprodukte 0,01 Prozent abwerfen, warfen die Fonds binnen fünf Jahren zwölf bis 16 Prozent ab. «Das kann ich nicht garantieren für die nächsten Jahre, aber klar ist: Es gibt Chancen.»

Mancher will verständlicherweise lieber eine Wohnung besitzen, mit der er sich die Miete erspart, und beklagt zu Recht, dass ihm dafür Kapital fehlt. Das verweist auf ein größeres Problem: Die Sparer können sich in der Nullzinsära nur zum Teil selbst helfen. Falsche Anlagegewohnheiten sitzen tief, es fehlt an finanzieller Bildung und Kapital. Deshalb schlägt in der Nullzinsära die Stunde der Regierungen. Sie müssen ihren Bürgern bei der Geldanlage helfen, was sie schon seit Dekaden hätten tun sollen. Sie müssen in Finanzbildung investieren und die richtige Anlage durch Zuschüsse fördern, für Immobilien wie Aktien.

Es geht darum, die tiefsitzenden Anlagegewohnheiten zu verändern. «Aktien sind Spekulation, Teufelszeug», beschreibt einer von Georg Simbecks Anlageberatern die Stimmung. «Wenn ich nachbohre, stellt sich heraus, dass die meisten gar keine schlechten Erfahrungen gemacht haben. Da ist viel Hörensagen dabei.» Die falschen Anlagegewohnheiten gerade vieler Europäer sind kein Zufall. Sie haben sich über Jahrzehnte herausgebildet. Während sich US-Firmen traditionell stark über Aktien finanzieren, finanzieren sich viele europäische Firmen über Kredite. Deshalb entsteht hier keine Aktienkultur. Viele Firmen wollen keine Aktien, weil Familienfirmen keine Macht an andere Eigentümer abtreten möchten. Banken wollen möglichst billig Geld bei den Sparern einsammeln, um es mit möglichst hohem Aufschlag an die Firmen zu verleihen. Je billiger die Banken das Geld einsammeln, desto günstiger leihen sie es den Firmen und desto weniger interessieren sich diese für Aktien – ein Teufelskreis auf Kosten des Sparers. So werden ganze Nationen zum Anlegen in Zinsfallen erzogen. Die jahrzehntelangen Privilegien für Lebensversicherer verschärften das noch.

Mehr Finanzbildung

Um die tiefsitzende Skepsis gegen Aktien und teils Immobilien zu überwinden, bedarf es zunächst besserer Finanzbildung. Georg Simbecks Kunden wissen oft nicht, dass sie die Aktien von Siemens, BMW oder Procter&Gamble kaufen können, deren Produkte sie gut kennen. 70 Prozent der Österreicher nennt mangelndes Wissen als Hauptmotiv dafür, keine Aktien zu kaufen. Dieses mangelnde Wissen ist auch außerhalb Europas zu sehen. In Umfragen wussten 86 Prozent angehender Studenten in den USA nicht, ob Aktien oder Anleihen mehr abwerfen. Jeder zweite Amerikaner gab an, über Finanzfragen in der Schule kaum oder nichts gehört zu haben.

Bessere Finanzbildung würde allen Schichten helfen, aber besonders weniger Gebildeten: Jeder vierte deutsche Akademiker besitzt Aktien, aber nur jeder fünfzehnte mit Realschul- oder Hauptschulabschluss. Nötig wären neue Lehrpläne, neue Schulbücher, neue Fortbildungen für Lehrer. Robert Ottel, Finanzchef des österreichischen Konzerns Voestalpine, nennt es hoch unsozial, in den Schulen keine gute Finanzbildung zu vermitteln: «Wirtschaftliches Wissen wird vererbt wie Vermögen.»[3]

Geringe Finanzbildung erklärt auch, warum Anläufe zu Volksaktien scheitern. Als die Deutsche Telekom 1996 an die Börse ging, zog sie es als Volksaktie auf. 700.000 Bürger kauften das erste Mal im Leben Aktien. Während das ursprüngliche Investment solide war, wurden viele danach von Finanzberatern in die überteuerten Kapitalerhöhungen der Telekom und spekulative Papiere am Neuen Markt hineingequatscht. Die T-Aktie fiel vom Höchststand über 100 Euro 2000 auf 8 Euro 2002. Auch viele Papiere am Neuen Markt stürzten ab. Danach ließen viele Deutsche für immer die Finger von Aktien.

Es bedarf zweierlei: Besserer Finanzbildung in Schulen und Volkshochschulen – und Unterstützung der Sparer gegenüber halbseidenen Beratern. Für Berater müssen bessere Qualitätsstandards durchgesetzt werden. Regelmäßige, staatlich bezahlte Termine bei Verbraucherschützern könnten Sparern zu neutralen Empfehlungen verhelfen. So könnten sie ihre Anlage rund um die erworbene Finanzbildung strukturieren und renditestark in Immobilien, Aktien sowie kostengünstige Exchange Traded Funds (ETFs) investieren, ohne ständig auf die Börsenentwicklung starren zu müssen. Österreichs Regierung geht mit gutem Beispiel voran. Sie will das Finanzwissen verbessern und Aktien steuerlich attraktiver machen. In der Niedrigzinsphase sei Vermögensaufbau «eine politische Frage». Es ist in der Tat eine hochpolitische Frage.

Der Bankrott des traditionellen Sparers

Das Vermögen ist in den Industriestaaten höchst unterschiedlich verteilt. Wenige reiche deutsche Haushalte besitzen so viel wie die gesamte ärmere Hälfte der Bevölkerung. Hundert Menschen besitzen also so viel wie 40 Millionen andere. Unterschiedliche Geldanlage verstärkt diese Kluft. Deutschland und Österreich haben im Euroraum die niedrigsten Wohneigentums- und Aktienquoten – und die größte Kluft zwischen Arm und Reich: Nirgends sonst ist das Vermögen so unterschiedlich verteilt. Jeder dritte deutsche Haushalt ab 4000 Euro Nettoverdienst besitzt Aktien oder Fonds. Bei Haushalten bis 2000 Euro ist es jeder siebzehnte, Tendenz fallend.

Die bisherige Geldanlage zementiert die Ungleichheit – mit erschütternden Konsequenzen: Was die ganze Bevölkerung hart erarbeitet, kommt vor allem ein paar Reichen zugute. Deutschland und Österreich erarbeiten in der Eurozone mit die höchste Wirtschaftsleistung. Doch der mittlere deutsche Haushalt besitzt mit 61.000 und der mittlere österreichische mit 85.000 Euro weniger als der durchschnittliche Haushalt der Eurozone (100.000). Und weit weniger als mittlere Haushalte in den langjährigen Krisenstaaten Italien (146.000), Spanien (160.000) und Zypern (170.000). Die Deutschen besitzen nach 75 Jahren Marktwirtschaft so viel wie die Polen, die die längste Zeit im Sozialismus lebten – härter kann ein Bankrott kaum ausfallen.[4]

Die Nullzinsära verschärft die Ungleichheit noch. Wie das US-Analysehaus BCA Research vorrechnet, schwoll das Vermögen in den vergangenen sechs Jahren weltweit um 160 Billionen Dollar an, so stark wie nie zu vor. Das geschah vor allem durch steigende Haus- und Aktienpreise. In Nationen, wo die Masse keine Häuser und Aktien besitzt, kommt so etwas nur Reichen zugute.

Während jeder zweite deutsche Aktienbesitzer sein Vermögen um mehr als 38.000 Euro erhöhte, kamen bei Sparkontofans höchstens wenige tausend dazu, oder sie verloren etwas. Während sich die Hauspreise in Großstädten binnen zehn Jahren verdoppelten, schwoll das Vermögen um drei Billionen an – mehr als die Hälfte landeten bei den reichsten zehn Prozent. Die Mittelschicht dagegen muss ein Fünftel mehr für Miete ausgeben. Am stärksten stiegen die Mieten dort, wo Ärmere leben – die Verlierer des Booms, so Moritz Schularick in seiner Studie «Die neue Wohnungsfrage».[5]

Mit dem Titel knüpft Schularick bewusst an Friedrich Engels’ Schrift «Zur Wohnungsfrage» von 1873 an. Zu Recht: Das Schicksal der Sparer und die anschwellende Ungleichheit überall in den Industriestaaten haben die Wucht, einen Aufstand der Massen auszulösen. Die um sich greifende Wut hat bereits in den USA, Großbritannien und zeitweise in Österreich und Italien Rechtspopulisten an die Macht gespült, die das Los der Menschheit verschlechtern. Darauf sollten die Parteien der Mitte reagieren.

Die Stunde des Staates

Die etablierten Parteien in den Industriestaaten müssen die breite Bevölkerung endlich fairer am Wohlstand beteiligen. Dazu gehören groß angelegte Programme, um die Geldanlage zu verbessern. Durch Investitionen in Finanzbildung. Aber auch durch Zuschüsse an die Masse, um gezielt Vermögen in Aktien und Immobilien zu bilden. In Frankreich und Italien sind Ansparpläne bis 150.000 Euro steuerfrei. Das ist ein erster Schritt, dem weitere Zuschüsse folgen sollten. Aber das reicht nicht aus. Viele Einwohner der Industriestaaten müssen erstmal in die finanzielle Lage versetzt werden, mehr in Aktien und Immobilien zu investieren. Dazu sind Steuerreformen nötig, die das Einkommen fairer verteilen. Während der neoliberale Mainstream seit den 1980er Jahren die Reichen entlastete, zahlt die Masse oft mehr Steuern und Abgaben als früher. Wenn Mittelschicht und Ärmeren mehr vom Lohn bleiben würde, könnten sie leichter Vermögen bilden.

Das Ganze lässt sich damit verbinden, die private Altersvorsorge neu zu organisieren. Die bisher real existierende Altersvorsorge über Zinsprodukte nutzt oft mehr Finanzkonzernen als Sparern. Als die deutsche Regierung zur Jahrtausendwende Rentenkürzungen mit Zuschüssen für die Altersvorsorge verband, kaperten die Versicherer das Projekt. Sie drohten Minister Walter Riester, kein einziges Produkt anzubieten, wenn er nicht ihren Bedingungen folgte, wie Riester mir erzählte. Woraufhin sich die Regierung beugte, um nicht ihr ganzes Rentenkonzept zu opfern.

Nun werfen die meist auf schwächlichen Zinsprodukten aufgebauten Riesterverträge kaum etwas ab. Ohne Zuschüsse des Staates sind sie oft sogar ein Verlustgeschäft. Sie werden die drohende Altersarmut nicht verhindern, die in 15 Jahren etwa jeden fünften deutschen Rentner treffen könnte. Jedem zweiten deutschen Arbeitnehmer werden jeden Monat 700 Euro fehlen, um den gewohnten Lebensstandard zu halten. Rechnet man die private Altersvorsorge etwa durch Riester-Verträge ein, sinkt dieser Anteil von 50 auf 48 Prozent der Arbeitnehmer – also fast gar nicht.

Der Ausweg wäre, die Vorsorge in Aktien und Immobilien zu lenken, durch staatlich beaufsichtigte, kostengünstige Sammelfonds wie in Schweden. Und ja, finanzieren lässt sich das: Indem Regierungen sich das Geld bei der reichen Minderheit holen, die in den vergangenen Dekaden noch reicher wurde – und den Großteil der Aktien- und Immobiliengewinne der Nullzinsära kassierte.[6]

Gerade jetzt wäre der Moment für die Regierungen, zu handeln. Jeder vierte Österreicher überlegt, Aktien zu kaufen. Das sind doppelt so viele wie vor drei Jahren. Auch in der Nullzinsära gibt es Anlagen wie Aktien oder Fonds mit «vergleichsweise ansehnlichen Renditen», wirbt Jürgen Gros, Präsident der bayerischen Volksbanken. Jeder zweite Deutsche erwägt Fluchtwege aus der Zinsfalle wie Aktien und Immobilien. Noch um 2015 lehnten das viele Kunden in Georg Simbecks Filiale ab. Sie erwarteten, dass die Zinsen wiederkommen. Nun sitzen bei Simbecks Beratern Kunden wie der Mann Anfang 30. Er hatte einen der Sparverträge aus der alten Zeit mit zwei Prozent Zinsen, die Banken in den vergangenen Jahren reihenweise kündigten. Statt Geld in Zinsfallen zu verlieren, steckt er einen Großteil seiner 80.000 Euro in Immobilienfonds und Aktien. Ohne seine Situation aus den Augen zu verlieren: Weil er bald heiratet, hält er ein paar zehntausend Euro auf dem Konto, sofort verfügbar.

Für die Regierungen der Industriestaaten kommt es darauf an, solche Sparer zu ermutigen. Noch hat sich nicht viel getan. In Deutschland gab es bei Anbruch der Nullzinsära 2011 8,5 Millionen Aktionäre, heute sind es zehn Millionen. Die Regierungen sollten handeln. Die Nullzinsära hält noch lange an. Die Corona-Rezession zwingt die Zentralbanken, ihre Zinsen noch lange niedrig zu halten. Die Regierungen sollten Auswege aus der Zinsfalle fördern, womit sie sowohl Sparer besser stellen wie Ungleichheit und Altersarmut bekämpfen. Sie sollten es tun, bevor die Wut verarmter Sparer sie aus dem Amt fegt – und noch mehr Populisten an die Macht spült, die die Welt schlechter machen.

Klar ist aber auch: Wie sich die Zinsen entwickeln, hat für die Bürger auch bei verbesserter Geldanlage Bedeutung. Das hat viele Gründe. Zum einen sollen Sparer wegen des Risikos und der Diversifizierung nicht alles in Aktien oder Immobilien halten, sondern einen Teil in Zinsprodukten. Zum anderen wird es ohnehin dauern, bis sich eine breitere Anlage auch in Aktien und Immobilien durchsetzt. Tiefsitzende Anlagegewohnheiten zu ändern dauert. Und es erfordert staatliche Investitionen in Finanzbildung und Zuschüsse. Doch um das Geld des Staates werden nach der Corona-Krise noch härtere Verteilungskämpfe entbrennen als vorher. Außerdem haben sich Aktien und Immobilien seit Anbruch der Nullzinsära bereits verteuert, was manchen Anleger abschreckt – und doch stärker auf Zinsprodukte zurückgreifen lässt.

All das bedeutet, dass es für die Bürger auch in Zukunft darauf ankommt, wie sich die Zinsen entwickeln. Und damit rückt in den Blickpunkt, wer Einfluss auf diese Entwicklung hat. An globalen Faktoren wie Alterung und Stagnation in den Industriestaaten wird sich wenig ändern. Aber wie die staatlichen Organe agieren, könnte sich durchaus ändern. Daher geht es in den nächsten Kapiteln um ihr Handeln. Warum senken die Zentralbanken ihre Leitzinsen seit der Finanzkrise wie noch nie? Gehen sie zu weit? Und welche Rolle spielen die Regierungen für die Zinsen und den Fortbestand von Währungen wie den Euro?