Und wieder handelt die US-Notenbank Fed als erste. Als sich im Frühjahr 2020 das Corona-Virus ausbreitete, fiel die Menschheit in Schock. Bald starben hunderttausende Menschen. Rasch brach die global vernetzte Weltwirtschaft ein. Fabriken stoppten die Bänder, Geschäfte machten dicht, Börsen stürzten ab. Schon bevor sich das alles abzeichnete und die Politiker erste ökonomische Krisenpakete schnürten, handelte US-Notenbankchef Jerome Powell. Das Sterben der Menschen konnte er nicht aufhalten, aber die wirtschaftlichen Bedingungen der Lebenden verbessern. Als es noch niemand erwartete, senkte der Währungshüter die Leitzinsen. Nur Tage später legte er nach. An einem Sonntag, als die Börsen ruhten, senkte er die Leitzinsen fast auf null.
Als sich zeigte, dass dies die Panik an den Börsen nicht stoppte, dachte sich Powell Neues aus. Es ist für den Juristen eine völlig unerwartete Situation, wie für den Rest der Menschheit. Mit dem Shutdown durch ein globales Virus musste noch keiner umgehen. Bei anderen Krisen reicht es, wenn Notenbanker die Zinsen senken, um Investitionen anzuregen. Diesmal reichte es nicht. Bald kündigte Powell an, die schwer fassbare Summe von zwei Billionen Dollar in die Wirtschaft zu pumpen. Entscheidend war in der Corona-Krise, dass die US-Zentralbank erneut mutig voranging. Zu einem Zeitpunkt, da Notenbanker so umstritten sind wie selten in ihrer vielhundertjährigen Geschichte seit Gründung der schwedischen Riksbank und der Bank of England.
Die Währungshüter werden angefeindet, weil traditionelle Sparprodukte kaum noch Zinsen abwerfen. Das liegt zwar vor allem an mächtigen Trends von der Flucht in Sicherheit seit der Finanzkrise über Alterung bis zur Stagnation. Doch diese Zusammenhänge sind vielen Bürgern nicht bewusst. Das macht sie empfänglich für die Kritik konservativer Politiker an den Notenbanken und die Attacken der Populisten von AfD bis Donald Trump.
Aber die Notenbanken sind nicht einfach nur Spielball dieser Trends. Sie haben eine große Gestaltungsmacht. Was Fed-Chef Jerome Powell in der Corona-Krise tat, wirkte beispiellos. Aber das war es nicht. Seit zehn Jahren lockern Zentralbanken überall auf dem Globus die Geldpolitik, um die Wirtschaft zu stabilisieren. Die Währungshüter krempeln das Leben der Menschen um, weil sie dazu beitragen, dass traditionelle Sparer kaum Zinsen einstreichen. Sie manövrieren das Geldsystem in einen Ausnahmezustand. In den nächsten Kapiteln gilt es zu untersuchen, was da geschieht. Gehen sie zu weit?
Die Schweizer Leitzinsen waren Anfang 2020 mit minus 0,75 Prozent tiefer als sonstwo auf der Welt. Negativ waren sie da schon fünf Jahre. Notenbankchef Thomas Jordan wollte so verhindern, dass die Wirtschaft einbricht. «Die Zinsen sind nicht nur wegen der Geldpolitik der Notenbanken tief, sondern vor allem wegen struktureller Veränderungen. Es wird allgemein mehr gespart und weniger investiert. Wir hätten natürlich nichts dagegen, unseren negativen Leitzins abzuschaffen. Aber im gegenwärtigen Umfeld widerspräche das unserem Auftrag. Wenn wir den Zins auf null setzten, würde der Franken stark aufwerten und eine Rezession auslösen. Die Arbeitslosigkeit würde steigen.»
Der Moment, als Notenbanker überall auf dem Globus ihre Geldpolitik dauerhaft lockerten, kam in der Finanzkrise 2008. Dieser Crash war die erste wirtschaftliche Kernschmelze der Nachkriegszeit. Er folgte aus der neoliberalen Revolution, in der Ronald Reagan und Co. privatisierten, Steuern für Reiche senkten – und die Finanzmärkte entfesselten. «Lasst uns die Regeln wegwerfen, die den Erfolg bremsen», verkündete Margaret Thatcher am 27. Oktober 1986 vor den Holzbänken des britischen Parlaments. Die Finanzbranche sollte die Industrie als Kern der Volkswirtschaften ablösen, smarte Jobs für Männer in Anzügen statt Maloche am Band.
Seither überflügeln Geldhäuser die reale Wirtschaft. 2006 lag die Weltwirtschaftsleistung bei 47 Billionen Dollar. Das Volumen an teils hochspekulativen Finanzderivaten, deren Wert sich oft um ein Mehrfaches so stark entwickelt wie ihre Basisprodukte Währungen, Rohstoffe oder Immobilienkredite, lag zehn Mal so hoch. Die Banker hatten sich von Dienstleistern zu Herren aufgeschwungen, die Reichtum akkumulierten wie König Midas. Von 1973 bis 1985 entfielen in einem Jahr nie mehr als 16 Prozent der Unternehmensgewinne der amerikanischen Wirtschaft auf die Finanzbranche. In den Nullerjahren erreichte der Anteil 40 Prozent – obwohl die Branche nur zehn Prozent der Beschäftigten der US-Wirtschaft stellte.
Basisprodukte der Derivate waren zum Beispiel Kredite für Immobilien, deren Preise in amerikanischen Städten jedes Jahr um zehn bis 15 Prozent stiegen. In diesem Rausch wurden auch Hauskäufern Kredite gegeben, die wenig verdienten. Die Banken verachteten diese Schuldner heimlich, sie nannten sie Ninjas – kurz für No income, no job, no assets, kein Einkommen, keinen Job, kein Vermögen. Die Banker gaben ihnen Geld, weil sie das Risiko dieser Immobilienkredite in immer kleinere Päckchen zerteilten und dann an verschiedene Investoren weiterverkauften. Irgendwann schien das Risiko verschwunden. Die Ratingagenturen gaben den Produkten gute Noten. Investoren von überall kauften die Immobilienderivate, etwa deutsche Banken, die in New York wegen ihrer Kauflust stupid German money hießen. Die Immobilienkredite ärmerer Hauskäufer stiegen von 30 Milliarden Dollar in den 1990er Jahren bis 2005 auf 625 Milliarden Dollar. Investoren kauften Papiere auf Pump, wie auch Banken ihr Geschäft mit wenig Eigenkapital unterlegten.
Als die Immobilienpreise bröckelten, kollabierten die Spekulationen wie ein Kartenhaus. Die Risiken waren nicht verschwunden. Sie zeigten sich mit brutaler Härte überall auf der Welt, auch im Deutschland des stupid German money. Die wilden Jahre vor der Finanzkrise waren die Stunde von Turbobankern wie Richard Fuld gewesen, Chef der Investmentbank Lehman, der seinen Mitarbeitern versprach, filthy rich zu werden. Einer seiner damaligen Mitarbeiter erzählt, wie ihn Fuld in sein Büro rief. Er stellte nur eine Frage: «How can you make me a billion dollars?» Lehman & Co. spekulierten die Welt an den Abgrund. Wie 1637 in Holland, als einfache Bürger mit Tulpen leichtes Geld zu verdienen glaubten und dieser Wahn alles vernichtete. Bei Lehman & Co. war die Spekulation allerdings global. Als Filthy Rich Fulds Bank 2008 kollabierte, begann die wirtschaftliche Kernschmelze.
Banken überall auf dem Globus stoppten ihre zuvor täglich Millionen Transaktionen. Das Vertrauen ins Geld verschwand. Bürger begannen, Gold zu horten wie im Mittelalter, als Regenten wie Friedrich III. die Münzen manipulierten. Sie begannen ihre Konten leerzuräumen wie in den 1930er Jahren. 2008 drohte die Weltwirtschaft in einer Depression wie in den 1930ern zu versinken, als im Deutschland der sechs Millionen Arbeitslosen Adolf Hitler die Macht ergriff. Der Wohlstand der Volkswirtschaften war auf Jahre bedroht.
Dann handelten Notenbanker wie der damalige Fed-Chef Ben Bernanke. Ihre große Leistung war, in diesem entscheidenden Moment nicht abzuwarten. In den 1930er Jahren ließen die Notenbanker die Katastrophe geschehen. In der Finanzkrise 2008 handelten sie, um die wirtschaftlichen Schäden zu begrenzen.
William Watts schreibt im Wall Street Journal: «Die Europäische Zentralbank war wie die Fed der einzige Sheriff in der Stadt, weil die Politiker nach der Finanzkrise mit expansiven Fiskalausgaben zögerten.» Antizyklische Staatsausgaben, die hatte der britische Ökonom John Maynard Keynes nach der Weltwirtschaftskrise der 1930er als zwingend notwendige Politik gegen Krisen erkannt. Doch diese Erkenntnis schien nun vergessen.
Sowohl in den Jahren nach der Finanzkrise, als Fed-Chef Ben Bernanke US-Regierung und Kongress immer wieder aufforderte, Geld auszugeben. Wie auch in der Eurokrise danach, als Staaten wie Deutschland Südeuropa einen Sparkurs aufzwangen, der die Probleme verschärfte. Selbst fixierten sich diese Euro-Staaten auf ausgeglichene Etats der schwarzen Null, statt zu investieren, wovon auch der Süden profitiert hätte. «Die Politiker begnügten sich damit, die Notenbanker eine tiefere Krise verhindern zu lassen, während sie sie gleichzeitig für ihre außergewöhnlichen Maßnahmen kritisierten», so Watts.[1]
In der Finanzkrise ging Ben Bernanke unter den Notenbankern besonders drastisch vor. Die Fed senkte ihre Leitzinsen fast auf null – und ließ sie jahrelang niedrig. Anders als die nach der Deutschen Bundesbank modellierte EZB hat die US-Fed nicht nur den Auftrag, die Preise stabil zu halten. Sie soll auch Arbeitslosigkeit bekämpfen. Traditionell verbilligt sie besonders entschieden das Geld, wenn eine Rezession droht. Damit Unternehmen billiger an Kredite kommen, investieren und die Wirtschaft in Schwung kommt.
Klassischen Sparern in den USA gefällt das oft weniger. «Sparer und Rentner wurden fast ein Jahrzehnt der Zinsen beraubt», schreibt Tara Siegel Bernard in der New York Times. Als die Fed die Leitzinsen wieder zu erhöhen begann, warfen Sparkonten 0,1 Prozent ab. Neun Erhöhungen später waren es 0,2 Prozent. Doch so sehr darüber gegrummelt wird, so sehr bewahrt diese aktive Geldpolitik die USA vor dem wirtschaftlichen Kollaps. So nach dem Terror des 11. September 2001 – oder eben der Finanzkrise 2008. Obwohl diese Finanzkrise von den USA ausging, erholten sie sich schneller als Europa.[2]
Das lag auch daran, dass die Fed sofort massiv handelte, während sich die EZB Zeit ließ. Seit Jahren kritisieren Bürger die EZB für ihre «andauernde Nullzinspolitik». In Wahrheit begannen die Währungshüter im Frankfurter Euroturm damit sehr verzögert. Der damalige Präsident Jean-Claude Trichet unterschätzte die Finanzkrise. Er hielt die Zinsen bis zur Lehman-Pleite absurd hoch, obwohl die Konjunktur schon nachgab. Dann senkte er sie zögerlich – und erhöhte sie sofort wieder, als sich die Eurozone zu erholen schien. Was sich als falsch herausstellte.
Mancher sieht die EZB unter Trichet in der Bundesbank-Philosophie gefangen, wonach vor allem Inflation gefährlich ist und daher ständig präventive Zinserhöhungen nötig sind. Die Autorin Ulrike Herrmann wirft der Bundesbank vor, nach der Wiedervereinigung aus panischer Angst vor einer Inflation katastrophal gehandelt zu haben. «Sie setzte die Zinsen drakonisch nach oben und würgte die Wirtschaft ab. Trotzdem gilt die Bundesbank bis heute als unfehlbar und wird verehrt.»[3]
Erst Trichets Nachfolger orientierte sich ab 2011 an der erfolgreichen Krisenpolitik der Fed: Mario Draghi, durch seine Jahre in den USA mit der dortigen Denkart vertraut. Der Italiener senkte die Euro-Leitzinsen auf null. Das provozierte einen Aufschrei, vollzog aber nur nach, was die Fed längst getan hatte. Sogar Leitzinsen unter null kennen nicht nur Eurostaaten, sondern auch Japan, Dänemark oder Schweden. Auch als Draghi ebenso umstritten Staatsanleihen aufkaufte, war das ein Echo dessen, was die Fed getan hatte.
Nicolas Baverez betrachtet die Nullzinsen kritisch. Dennoch argumentiert der Franzose, Draghi habe der Eurozone besonders lange billiges Geld verordnen müssen, weil die EZB zu spät begann: «Die Entscheidung Draghis für negative Zinssätze lässt sich durch die Fehler seines Vorgängers Trichet erklären. Dessen absurde Zinserhöhungen zu einer Zeit, als sich mehrere Staaten bereits in Zahlungsverzug befanden, brachten den Euro-Raum in Gefahr. Dadurch erklärt sich, dass dieser zehn Jahre brauchte, um das Aktivitätsniveau vor der Krise wieder zu erreichen, während es den USA schon in fünf Jahren gelang, weil die Fed bereits 2009 massive Kaufprogramme gestartet hatte.»[4]
Mario Draghi sah sich dem Ungeheuer gegenüber, dass die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre regiert hatte: Deflation, fallende Preise. Sie machen es für Firmen unattraktiv, zu investieren, weil sie ja weniger für ihre Produkte bekommen werden. Fallen die Preise, fehlen gleichzeitig Einnahmen, um Schulden zu bezahlen – was zu Pleiten führt. Deflation lähmt die Wirtschaft.
In der Weltwirtschaftskrise wurden diese Zusammenhänge nicht verstanden, gerade in Deutschland. Dort dominierte die Angst vor Inflation, also steigenden Preisen. Seit der aus dem Krieg entstandenen Hyperinflation 1923, als der Lohn so rasant an Wert verlor, dass Bürgern schwindlig wurde. Mancher transportierte die Scheine mit Schubkarren, um für 320 Milliarden Reichsmark ein einziges Ei zu kaufen. Nichts habe das deutsche Volk so hitlerreif gemacht wie die Inflation, schrieb der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig in Die Welt von Gestern. «Denn der Krieg, so mörderisch er gewesen, er hatte immerhin Stunden des Jubels geschenkt mit Glockengeläuten und Siegesfanfaren. Und als unheilbar militärische Nation fühlte sich Deutschland durch die zeitweiligen Siege in seinem Stolz gesteigert, während es durch die Inflation sich einzig als beschmutzt, betrogen und erniedrigt empfand.» Deshalb sah niemand ein Problem darin, als Reichskanzler Heinrich Brüning nach dem Börsenkrach von 1929 mit dem gefährlichen Gegenteil von Inflation hantierte: mit fallenden Preisen. Brüning versuchte, die Weltwirtschaftskrise mit Deflation zu bekämpfen. Er ließ Löhne sinken, senkte die Staatsausgaben und erhöhte die Steuern. Er führte sogar neue Steuern für Singles, Kaufhäuser und Mineralwasser ein. Brüning würgte die Wirtschaft ab. «Die Deflationspolitik wurde zwei schicksalhafte Jahre fortgesetzt, obgleich ihre Unzulänglichkeit sofort hätte klar sein müssen», schimpft der Amerikaner Charles Kindleberger in seinem Standardwerk über die Weltwirtschaftskrise. «1931 gab es drei Millionen Arbeitslose mehr als 1929.» Zwei Jahre später ergriff Adolf Hitler die Macht.
Während der achtjährigen Amtszeit von Mario Draghi stiegen die Preise durchschnittlich nur um 1,2 Prozent, weit unter dem offiziellen Inflationsziel von bis zu zwei Prozent. Draghi fürchtete, die niedrige Teuerungsrate könne in fallende Preise umkippen. «Deflation ist viel gefährlicher als Inflation», warnt Hagen Krämer von der Hochschule Karlsruhe. «Wir leben eher in einer Deflations- als in einer Inflationswelt.» Darum senkte Draghi erneut die Zinsen und kaufte Staatsanleihen, um die Wirtschaft anzuregen, die in Südeuropa kaum aus der Eurokrise kam. Dagegen gab es aus Deutschland mehrere Klagen, die der Europäische Gerichtshof abwies. Draghi verhinderte die Deflation. «Die EZB hat nicht den Auftrag, Sparern hohe Zinsen zu gewähren – sondern ihr Inflationsziel zu erreichen», sagt Krämer.
Er findet es logisch, dass Draghis Anti-Deflationspolitik vor allem bei Deutschen auf kein Verständnis stößt. «Im kollektiven Gedächtnis der Deutschen sind vor allem die Hyperinflation der 1920er Jahre und die Währungsreform nach dem Zweiten Weltkrieg verankert, die ebenfalls das Geld entwertete. Für diese Prägung hat auch die Bundesbank gesorgt. In der angelsächsischen Welt ist die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre präsenter, die von Deflation geprägt war.»
So versucht die Fed ständig, fallenden Preisen vorzubeugen. Das ist in den USA weit weniger umstritten als in Deutschland. Der französische Ex-IWF-Chefökonom Olivier Blanchard schlägt sogar vor, Notenbanken sollten ein Inflationsziel von vier Prozent verfolgen – nicht zwei Prozent wie jetzt. Viele Deutsche würden das als gefährlich ablehnen. So wie der erste Vorwurf gegen Draghis Geldpolitik war, sie löse Megainflation aus, die das Ersparte entwerte. Was sich als falsch herausstellte. Die Inflation blieb fast immer unter zwei Prozent. Nach Konsensvorhersagen steigen die Preise auch in den nächsten fünf Jahren im Schnitt nur um 1,7 Prozent. Würde man stärker berücksichtigen, wie sich gestiegene Vermögenspreise etwa von Immobilien auf die allgemeinen Lebenshaltungskosten auswirken, würde sich daran nicht viel ändern.[5]
Als Mario Draghi ins Amt kam, war unklar, wie lange dieses Amt noch existieren würde. Hoch verschuldete Staaten wie Griechenland standen vor der Pleite. Dies konnte eine Kettenreaktion auslösen, in der der Euro scheitern konnte, für den die EZB geschaffen wurde. Sein Scheitern drohte einen Sog auszulösen, der das Ganze gefährdete: die Europäische Union, die politische Antwort auf das Leid der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre – und die Millionen Toten der von Deutschland verursachten Weltkriege. Scheitere der Euro, «scheitert die Idee der europäischen Einigung», warnte die deutsche Kanzlerin Angela Merkel – in Aachen bei der Preisverleihung zu Ehren Karls des Großen, dessen Reich zwölf Jahrhunderte zuvor erstmals Umrisse Europas erkennbar machte.
Das Problem lag zuerst bei der Politikergeneration vor Merkel. Die Gründerväter hatten den Euro nicht mit einer politischen Union, der nötigen Zentralgewalt ausgestattet, um ihn durch schwierige Zeiten zu manövrieren. Und dann versäumte es Merkels Politikergeneration, diesen Fehler zu reparieren (mehr dazu im Kapitel Endspiel um den Euro).
Als Mario Draghi im Juni 2012 zu einer Rede ins palastartige Londoner Lancaster House aufbrach, stand der Euro vor dem Ende. Griechenland und Italien konnten kaum ihre Schulden finanzieren, weil Investoren immer höhere Zinsen forderten. Die Wirtschaft schrumpfte wie in der Finanzkrise. Spekulanten wetteten auf das Ende des Euro. Einer von ihnen, der indische Manager eines der weltgrößten Investmentfonds, rechnete mir damals in London vor, der Euro sei Geschichte. Dabei ging er mit knarzenden Lackschuhen im Raum umher. «The Euro is history», knarz, knarz, es klang nach einem Ende mit Schrecken.
Die Regierungen schienen nach ihren Kreditpaketen für Südeuropa überfordert, die Währungsunion zu retten. Auch hier fehlte eine politische Union, eine Zentralgewalt, die die Mitgliedsstaaten mit dem notwendigen Geld versorgt. Die US-Regierung setzt keynesianische Ausgabenimpulse, die im ganzen Dollargebiet wirken. Im Eurogebiet handelt jeder für sich. Es fehlt eine zentrale Instanz, die den Absturz keynesianisch bremst.
Draghi redete hinter den schweren Mauern des Lancaster House erstmal über die Hummel. Wie sie fliegt, obwohl das anatomisch gar nicht geht. Wie die Hummel sei auch der Euro die ersten Jahre geflogen. Bis zur Finanzkrise. Nun müsse der Euro eine richtige Biene werden, um nicht abzustürzen. Manche der anwesenden Investoren werden sich gefragt haben, ob der Italiener mit dem Eulengesicht eine Schraube locker habe.
Dann sagte Draghi plötzlich, wie er die Spekulanten stoppen werde, die auf den Untergang des Euro wetteten: «Die EZB ist bereit, alles Notwendige zu tun, um den Euro zu retten. Und glauben Sie mir, es wird ausreichen.» Alles Notwendige, whatever it takes: Draghi schob die große Kanone auf die Weltbühne, das Monopol einer Zentralbank: Sie druckt zur Not so viel Geld, wie sie will. «Zentralbanken sind Priestergremien», wundert sich der Philosoph Christoph Türcke. «Sie zaubern Papierscheinen oder Pixeln Kaufkraft an.»
«Die Finanzmärkte müssen wissen, dass der Euro irreversibel ist», sagte mir Draghi nach seiner Londoner Rede. «Draghi zeigte Spekulanten: Hier ist eine Institution, die mehr kann als ihr», sagt Hagen Krämer. «Er hat den Euro gerettet.» Whatever it takes wurde zum berühmtesten Satz der vielhundertjährigen Geschichte der Notenbanken. Draghi steht in der Tradition der Riksbank von 1656 und der Bank of England von 1694. Wie sie stabilisierte er das Geld – und so die Wirtschaft. Draghi sandte die politische Botschaft, die die Politiker nicht sandten. Die Zinsen im Süden sanken. Nach Draghis Signal begann sich die Eurozone zu erholen und ein Jahr später zu wachsen.[6]
Das Handeln der EZB sendet eine Botschaft an die Sparer, die sich über niedrige Zinsen beschweren. «Der Fokus nur auf die Sparzinsen ist schon von sich aus falsch», sagt der Wirtschaftsweise Achim Truger. «Die Nullzinspolitik war wichtig, um den Kollaps des Euro und eine Wirtschaftskrise zu verhindern. Viele, die heute über niedrige Zinsen jammern, wären ohne diese Politik heute arbeitslos oder hätten weniger Rente.» Der Kollaps des Euro würde in Deutschland eine Million Arbeitslose zur Folge haben, rechnet Ex-Allianz-Chefvolkswirt Michael Heise vor. Stattdessen entstanden in Europa im vergangenen Jahrzehnt elf Millionen neue Arbeitsplätze.
Der Euro schafft jene positiven Effekte, die auch in früheren Epochen zu beobachten waren, wenn Währungsgebiete ausgedehnt wurden. Als im zersplitterten Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation 1566 der Taler zum offiziellen Zahlungsmittel vieler Einzelterritorien wurde, regte das den Handel an. «Der Euro hat Preisstabilität für einen ganzen Kontinent ermöglicht», sagte mir Draghi. «Wechselkursrisiken verschwanden, das war gut für Wachstum und Arbeitsplätze.» Indem sie die Zinsen niedrig hielt und Anleihen kaufte, bannte die EZB in den Jahren nach 2012 Deflation und stabilisierte den Euro – dessen Kollaps das Ganze gefährden würde: die EU, die einem Kontinent Frieden und Wohlstand sichert, den erst wenige Jahrzehnte zuvor zwei Weltkriege verheerten.
Crash-Propheten wie der deutsche Anlageberater Marc Friedrich brandmarken die EZB als Desaster: «In deren Korsett erleben wir in der Eurozone nie wieder steigende Zinsen.» Das kommt zwar bei manchen Bürgern gut an, ist aber Stimmungsmache. Für den US-Währungsforscher Barry Eichengreen musste die EZB eingreifen, weil die Politik die nötigen Ausgaben verweigerte: «Alles andere wäre unverantwortlich gewesen. Wenn ein Feuer ausbricht und die zuständige Feuerwehr tut nichts, was soll die Nachbar-Feuerwehr dann anderes tun?» Fragt der Autor deutsche Spitzenpolitiker und Notenbanker, sagen sie im Vertrauen meist dasselbe.[7]
Alles zusammengefasst, haben die internationalen Zentralbanken in den Jahren seit der Finanzkrise viel geleistet. Die US-Notenbank Fed ging voran, einen Absturz wie in die Depression der 1930er Jahre zu verhindern. Die EZB folgte ihr verzögert, was das Entstehen einer Eurokrise begünstigte. Diese allerdings stoppte die EZB. Und sie hielt wie die Fed Deflation vom Leben der Bürger fern, so dass die Industriestaaten unterm Strich wirtschaftlich solide 2010er Jahre erlebten.
Allerdings kann die EZB den Euro naturgemäß nicht dauerhaft retten. Sie bügelte nur den Konstruktionsfehler der mangelnden politischen Einheit aus, der den Euro bald wieder bedrohte. Gerade in einer Wirtschaftskrise wie durch die Corona-Pandemie. Gerade in so einer Krise wird auch der Preis spürbar, den die Rettungstaten der Notenbanker kosten.
«Mario Draghi wird als Retter des Euro in die Geschichte eingehen. Doch der Preis, den es für das Überleben dieser einzigartigen Währung zu zahlen galt, wird nach wie vor unterschätzt», findet selbst jemand wie Nicolas Baverez, der kritisiert hatte, die EZB habe in der Eurokrise anfangs zu zögerlich gehandelt. «Die Negativzinsen stellen vor allem eine Maschinerie dar, Spekulationsblasen zu kreieren. Sie vernichten das Sparen und sorgen für eine Verarmung der Mittelschicht, was wieder den politischen Extremismus fördert und Spannungen zwischen den Euro-Nationen auslöst.»
Wie Baverez warnte Volker Wieland schon Monate vor der Corona-Pandemie, die EZB hätte den Folgen ihrer Geldpolitik früher entgegensteuern sollen. Es gibt Anzeichen dafür, dass Euro-Retter Mario Draghi zum Ende seiner Amtszeit störrisch immer mehr von der Medizin verschrieb, die doch Nebenwirkungen hat. 2017 und 2018 wuchsen die Volkswirtschaften des Euro um zwei Prozent. Da wäre für Volker Wieland der Moment gewesen, die Leitzinsen leicht anzuheben. So wie die US-Fed bereits Jahre vorher. Als Signal der Umkehr. Diesen Moment verpasste die EZB.
Dann schwächte sich die Weltwirtschaft ab, etwa durch Trumps Strafzölle. Als Mario Draghi als letzte Amtshandlung 2019 wieder Anleihen aufkaufte, opponierte jedes zweite Ratsmitglied. Österreichs Notenbankchef Robert Holzmann warnte, immer expansivere Geldpolitik helfe nicht: «Wir müssen da raus.»
Es sind zuallererst globale Trends wie Flucht in Sicherheit, Alterung und Stagnation, die die Niedrigzinsen verursachen. Notenbanken wie die EZB haben sie aber verschärft. Das verlangt nicht nur traditionellen Sparern viel ab. Das billige Geld führt auch dazu, dass sich Firmen und Staaten verschulden und sich Aktien- und Immobilienblasen aufpumpen wie jene vor der Finanzkrise 2008. Das alles sind Risiken, die in einer Wirtschaftskrise wie durch die Corona-Pandemie besonders problematisch sein können. Aber wie groß sind diese Risiken wirklich?