12. Facebooks Digitalwährung Libra: Versprechen und Gefahren

Volker Wieland bekleidet eine einflussreiche Position. Der Frankfurter Finanzprofessor beobachtet für die deutsche Regierung die wirtschaftliche Entwicklung, als einer von fünf Chefberatern, den Wirtschaftsweisen. Es hat Gewicht, wenn der frühere Mitarbeiter der US-Notenbank Chancen für digitale Währungen sieht. Wie die meisten Kollegen hält er zwar die bisherigen Versuche für keinen Erfolg. «Bitcoin hat die darin gesetzten Erwartungen eher enttäuscht. Der Preis ist extremen Schwankungen unterworfen, und auf zeitweise sehr hohe Preisanstiege folgte ein Preisverfall.» Wieland erkennt aber großes technisches Potenzial: «Grundsätzlich bieten die Blockchain-Technologien einen Weg, Prozesse zu dezentralisieren. Da können sich durchaus bedeutende Effizienzgewinne erzielen lassen.»

Der Angriff auf Euro und Dollar

Mit Blockchain lässt sich der Staat endlich auf Diät setzen, glauben Liberale wie der FDP-Abgeordnete Frank Schäffler: «Wir werden eine Disruption von bislang als staatlich definierten Aufgaben erleben. All die Dinge der Dokumentation, wofür wir heute den Staat oder eine von ihm beauftragte Stelle brauchen, werden sukzessive abgelöst durch Blockchain oder andere Dinge.»

Euro-Kritiker Schäffler beruft sich auf einen prominenten neoliberalen Vordenker. Der österreichische Nobelpreisökonom Friedrich von Hayek forderte 1976 in einem Aufsatz die «Entnationalisierung des Geldes», einen Wettbewerb der Währungen – weil die Staaten ihr Monopol missbrauchten und hohe Inflation erzeugten. «Mit dem Aufkommen von Bitcoin und anderen Kryptowährungen ist dieser private Geldwettbewerb zum ersten Mal in Gang gekommen», sagt Schäffler. «Davon verspreche ich mir sehr viel. Dadurch, dass es private, bessere Alternativen gibt, kommt das staatliche Geldwesen unter Druck.» Zentralbanken wie die EZB produzierten durch ihre Politik schlechtes Geld, so Schäffler, der bereits vor Jahren erklärte: «Ich würde die EZB am besten morgen schon abschaffen.»[1]

Die Antihaltung gegen die Zentralbanken passt zu einer populären Stimmung überall im Westen gegen etablierte Institutionen und Parteien. Sie wird verschärft durch den Aufstieg der Rechtspopulisten. Der französische Front National oder die italienische Lega stellen EZB, Euro und EU infrage. Die Briten treten aus der EU gleich aus. Und US-Präsident Donald Trump kündigt nicht nur den internationalen Konsens zum Klimaschutz oder Freihandel auf. Er attackiert die unabhängige US-Notenbank, als sei die sein Erfüllungsgehilfe.

Diese populäre Stimmung nutzt Facebook-Chef Mark Zuckerberg für den bisher ehrgeizigsten Versuch, Staatswährungen Konkurrenz zu machen – und das Finanzsystem zu revolutionieren. Dieser erstmals im Juni 2019 vorgestellte Plan ist ernster zu nehmen als die wortgleiche Revolutions-Ankündigung von Harald Seiz. Schon der Name steht für Ansprüche historischen Ausmaßes: Libra, wörtlich Waage, hieß ein Gewichtsmaß im Römischen Reich, das vor 2000 Jahren einen Großteil der damals bekannten Welt unterwarf. Bis in die Neuzeit war das Wort in Europa als Währungsbezeichnung verbreitet, etwa in Frankreich als livre oder in Italien als lira. Aus der Bezeichnung libra pondo, ein (römisches) Pfund Gewicht, leiteten die Briten ihr pound ab. Die Abkürzung «lb» für das britische Pfund und das Währungssymbol £ erinnern noch an diesen Namen.

Libra soll eine Revolution des Finanzsystems werden wie am Ende des Mittelalters, als die oberitalienischen Kaufleute die moderne Geldwirtschaft anstießen. «Die genaue Ausgestaltung ist noch unklar, aber unter Umständen könnte Libra in gewissem Maße das derzeit verwendete Geld verdrängen», sagte mir Bundesbank-Vorstand Joachim Wuermeling. «Private Währungen sind stets an der Gier der Emittenten gescheitert, wie früher Fürsten, die Währungen manipulierten, indem sie das Silber in den Münzen streckten. Libra könnte jetzt eine völlig andere Dimension erreichen.»

«Weltweit Geld zu schicken, sollte so einfach und kostengünstig und sogar noch sicherer sein als das Senden einer Nachricht oder eines Fotos«, heißt es im Konzept zum Konzerngeld. Die Idee ist, durch Libra Geldtransfers zu beschleunigen und zu verbilligen – «radikal», wie es im Papier heißt. Das soll vor allem Milliarden Menschen in den ärmeren Teilen der Welt zugutekommen, die bisher keine oder keine günstigen Finanzprodukte nutzen können. Aber auch den Alltag der Bewohner der Industriestaaten soll die Digitalwährung vereinfachen – indem (Libra-)Geld eben so simpel übers Smartphone verschickt wird wie ein Foto. Der Einsatz der Blockchain soll dabei sowohl Sicherheit durch Verschlüsselung wie offenen Zugang gewährleisten. Und dezentrale Kontrolle – indem «kein einzelnes Organ das Netzwerk kontrollieren kann», wie es im Konzept heißt.

Mark Zuckerberg, Jahrgang 1984, brach mit 19 sein Studium an der renommierten Harvard Universität ab, um eine Kontaktplattform für Studenten zu starten, the facebook. Sein frühes Motto war: Move fast and break things. Kommilitonen warfen ihm damals vor, die Idee zu Facebook von ihnen geklaut zu haben, was er zurückwies. Heute ist Zuckerberg einer der reichsten Menschen des Planeten. Drei Milliarden Menschen nutzen mindestens einmal im Monat Facebook, Instagram und WhatsApp – und könnten damit Zuckerbergs Konzerngeld zur wahrhaft globalen Währung machen. Das Gründungsdokument strahlt diese Ambition in jeder Zeile aus, in Formulierungen wie «damit Milliarden Menschen sich darauf für ihre finanziellen Bedürfnisse verlassen können».

Eine globale Währung wäre allerdings ein neuerlicher Machtzuwachs für einen Konzern, der bereits zahllose Datenskandale ausgelöst hat und bei sozialen Medien nahezu ein Monopol besitzt. Diese Aussicht verschreckt instinktiv viele Menschen. Facebook steckt seit Jahren in Kontroversen. Nachdem persönliche Daten von mehreren zehn Millionen Nutzern bei der berüchtigten Firma Cambridge Analytica landeten, die im Wahlkampf 2016 für Politiker wie Donald Trump arbeitete, musste der Konzern eine Rekordsumme von fünf Milliarden Dollar zahlen. Um Vorbehalte zu zerstreuen, hüllt Zuckerberg das Konzerngeld in eine Parfumwolke. Ingredienzen: ein menschenfreundliches Narrativ – und eine Demutsübung.

In Demut übt sich Facebook, indem es offiziell nur einer der vielen Gründer der Währung ist. Die «sichere Blockchain» als Basis «für die täglichen finanziellen Bedürfnisse von Milliarden Menschen», wie es im Konzeptpapier heißt? Wird von der Libra Association beaufsichtigt, «einer unabhängigen Organisation im schweizerischen Genf», 14 Flugstunden von Facebooks Hauptquartier in Kalifornien entfernt. «Facebook hat darin keine speziellen Rechte.» Auch die «Finanzreserve aus Geld und Staatsanleihen», die jede einzelne Währungseinheit stützen soll, wird von der Libra Association beaufsichtigt.

Allerdings dürfte der Einfluss Zuckerbergs in Wahrheit groß sein. Zwar beteiligten sich an der Libra Association zunächst so potente Partner wie Visa, Mastercard, eBay oder PayPal. Sie verließen das Konsortium allerdings nach und nach, als Politiker und Finanzaufseher in den USA und Europa Libra kritisierten. Die früheren Partner lassen es seitdem offen, ob sie zu Libra zurückkehren. Seitdem gibt es im Konsortium zwar viele Namen, aber keinen großen Spieler mehr, der es mit Facebook aufnehmen könnte. Selbst das parfumwolkige Konzeptpapier betont Facebooks Rolle, als wolle der Obercontroller sicherstellen, dass keiner sein Geld verplempert: «Während Facebook-Teams eine zentrale Rolle bei der Schaffung der Association und der Libra Blockchain spielten …»

Zuckerbergs Hinwendung zum Geldgeschäft folgt einer lang geplanten Strategie, die schon vor dem Börsengang 2012 diskutiert wurde. Schon 2014 heuerte er David A. Marcus an, den Präsidenten der Zahlungsfirma PayPal. Marcus entwickelte für Facebook die Bezahl-App P2P und ist Leiter der Blockchain-Gruppe.[2]

Eine Chance für die Armen

Zu Zuckerbergs Parfumwolke gehört ein menschenfreundliches Narrativ. «Weltweit Geld zu schicken, sollte so einfach und kostengünstig und sogar noch sicherer als das Senden einer Nachricht oder eines Fotos sein, egal wo du bist, was du tust und wie viel du verdienst», wirbt das Konzeptpapier. Auf einer Tech-Konferenz ließ sich Zuckerberg für den Geld-so-einfach-wie-Foto-schicken-Satz bejubeln. Die Zuhörer hielten ihre Handys hoch wie bei einem Popkonzert. Hier ist die Zukunft!

Dabei hatte der Meister den Mund womöglich etwas zu voll genommen: Wie sich mit Libra zahlen lässt, war da noch sehr unklar. Dass erst einmal 1000 Zahlungen per Sekunde möglich sein sollen, verblasst angesichts der Tatsache, dass Visa in der gleichen Zeit 24.000 schafft und Alibaba 250.000.

Zuckerberg betont aber gleich, dass es ihm um Höheres geht als nur darum, dass Wohlstandsmenschen einfacher online shoppen. Er führt die 1,7 Milliarden Menschen weltweit an, die nicht einmal ein Bankkonto haben. Eine Milliarde von ihnen haben aber ein Handy, mit dem sich zahlen ließe.

Millionen ohne Konto

Bevölkerungsanteil der über 15-Jährigen ohne Bankkonto, 2017

Quelle: Weltbank

Um den Armen der Welt zu helfen, bringt Zuckerberg die moderne Technik in Anschlag. Bisher nutze die Menschheit Instrumente tief aus dem 20. Jahrhundert. Ärmere zahlten für 100 Dollar Kredit mitunter 30 Dollar Finanzierungskosten. Überweisungen über die Grenzen sind oft teuer. Zuckerberg will die Gebühren halbieren, wenn etwa Migranten Geld in die Heimat schicken. Das würde Nutzern jedes Jahr 30 Milliarden Dollar ersparen.

All das sind so gewaltige Ziele, dass Zuckerberg auch Beifall von Ökonomen erhält, die Gefahren sehen. «Kryptowährungen wie Libra decken die Ineffizienzen in unserem Finanzsystem auf. Zum Beispiel bei grenzüberschreitenden Geldtransfers, die in der analogen Finanzwelt immer noch mit sehr hohen Kosten verbunden sind», sagt Jon Cunliffe, Vizechef der britischen Notenbank. «Generell sollten wir offen für neue Technologien sein», argumentiert Volker Wieland. «Wir sollten nicht alles gleich verbieten. Verglichen mit dem, was Libra einmal sein könnte, ist Bitcoin ein kleines Pflänzchen. Libra ist eine coole Idee. Menschen erhalten die Möglichkeit, in stabiler Währung zu zahlen oder Geld zu verdienen», so der Finanzprofessor. «Wenn sie über Plattformen wie Facebook Zahlungen zu günstigeren Konditionen als über das Bankensystem abwickeln können, ist das erstmal eine gute Sache. Das würde in Afrika genauso bereitstehen wie in Bayern. Insbesondere in weniger entwickelten Ländern würde es Menschen vermutlich einen deutlich besseren Zugang zu bargeldlosen Transaktionen geben.»

Moritz Schularick glaubt, dass Libra grenzüberschreitende Zahlungen verbilligen könnte. Das hilft den Armen der Welt, aber auch jedem Amerikaner, der Geld nach Europa überweist und umgekehrt. «Da geht es um hunderte Milliarden, wenn nicht Billionen. Wenn Facebook Nutzer überzeugt, dass sich der Umweg über Libra statt über normale Währungen lohnt, kann es fliegen.» Der Europa-Abgeordnete Markus Ferber sieht einen Bedarf bei westlichen Mittelständlern, die Geschäfte in Gegenden mit hoher Inflation oder schlechtem Banksystem machen. In Südamerika und Afrika genauso wie in der Türkei, auf dem Balkan oder in Osteuropa.

Die Frage ist, wie vielen Menschen Libra wirklich derart helfen wird. Etwa unter den Armen, die kein Konto haben. In einer Weltbank-Umfrage begründen das zwei Drittel von ihnen zumindest auch damit, dass sie gar nicht genug Geld für ein Konto haben. Vielen Kontolosen dürfte Libra wenig helfen, weil sie in China leben, wo Facebook verboten ist, oder in Indien oder Indonesien, wo Kryptozahlungen verboten sind oder verboten werden sollen.

Auch der Nutzen für westliche Kunden steht infrage. Ja, Überweisungen in entfernte Länder könnten billiger werden, aber «bei nationalen Zahlungen ist Libra weniger einleuchtend», gibt Moritz Schularick zu bedenken. «Überweisungen kosten national nichts.» In der Europäischen Union gilt das auch für Zahlungen in andere Mitgliedsländer.

Im nächsten Schritt will Brüssel die Kosten für Überweisungen und Bargeldabhebung in Staaten außerhalb der EU senken. Zahlungen per Bank- oder Kreditkarte kosten den Käufer national auch meist nichts. «Für Industrieländer bietet Libra keine Vorteile», meint der amerikanische Währungsforscher Barry Eichengreen. Denn die Einwohner dort hätten bereits verlässliche Währungen und könnten günstig Geld überweisen.[3]

Ein großartiges Geschäft

Womöglich sind Zuckerbergs Versprechungen also etwas zu optimistisch. Hüllt er nicht auch seine bisherigen Kernprodukte wie Facebook in eine Parfumwolke menschenfreundlicher Vernetzungsfantasien? Menschen verbinden sich über Facebook, Whatsapp und Instagram. Das ist auch wirklich großartig. Dabei verschweigt Zuckerberg jedoch gern, dass seine sozialen Medien ein nie dagewesenes Ausmaß an Hass, Fakenews und Manipulation der Demokratie transportieren – wie die aus Russland gesteuerte Attacke bei den US-Präsidentschaftswahlen 2016, die Donald Trump mit ins Amt spülte. Über die Menschenfreundlichkeit von Facebook lässt sich streiten. Eines ist aber unumstritten: Es ist eine Cashmaschine sondergleichen.

Facebook beschäftigt nur sieben Prozent der Mitarbeiter des weltgrößten Autoherstellers Volkswagen, der zehn Millionen Fahrzeuge verkauft. Aber es erzielte 2019 genauso viel Gewinn: fast 20 Milliarden Dollar. Die Gnadenlosigkeit («Move fast and break things»), mit der Zuckerberg sein Werbegeschäft mit Goldrand aufbaute, wirft ein anderes Licht auf seine Währungspläne. «Wir glauben, dass die Welt eine globale und wahrhaft digitale Währung braucht, die die Eigenschaften der besten Währungen der Welt vereint» – solche großen Töne lassen sich auch als Ankündigung eines großartigen Geschäfts interpretieren.

Im April 2020 verkündete Libra Veränderungen, ohne seine Ziele aufzugeben (mehr dazu im Kapitel Wie sich das Konzerngeld stoppen lässt). Um zu verstehen, welche Dimensionen Libra erreichen könnte, geht es hier zunächst um die Reaktionen auf die grundsätzlichen Pläne, die 2019 vorgestellt wurden.

40 Prozent der Weltbevölkerung nutzen jeden Monat Facebook und Co. Sie alle kaufen viele Sachen. Warum nicht über Libra? Mit jedem US-Nutzer erlöst Facebook schon heute 40 Dollar pro Jahr. Libra könnte das steigern, auch indem es noch mehr Nutzer in die sozialen Medien lockt. Zudem locken überall etablierte Finanz-Geschäfte, die sich übernehmen lassen. Da sind die Gebühren, die bisher Banken für Konten und Überweisungen kassieren. Da sind die Kreditkartengebühren, ein bis zwei Prozent der Kaufsumme. Ein großer Kuchen, den sich bisher Visa und Mastercard teilen. «Wenn Facebook davon was abkriegen kann, nehmen sie es gerne», sagt Moritz Schularick.

Libra könnte das Konsumentenverhalten verändern, schwärmten Bankanalysten. So wie man sich heute mit seinem Facebook-Profil in hunderte Internetseiten einloggen kann, die nichts mit Facebook zu tun haben, soll das bei Onlinekäufen aller Art möglich sein. Mit Libra könnte der Konzern zudem Händler in seine sozialen Medien locken, die dort Produkte verkaufen – und ihnen dann zusätzlich Kredite anbieten, wie es Amazon schon tut.[4]

Unübersehbar folgt Facebook anderen Digitalgiganten, die längst in die Finanzbranche eingedrungen sind. Mit Apple Pay und Google Pay lässt sich per Smartphone an der Ladenkasse zahlen. Google plant Girokonten, Apple bietet ebenso wie Amazon Kreditkarten an. In China sind Tencent und Alibaba soziale Medien, Händler, Zahlungsdienstleister und Bank in einem. Mit dem Zahlungsprodukt Facebook Pay geht der Konzern schon in diese Richtung. Mit Libra will er sich noch stärker ins Leben seiner Nutzer wühlen als die Konkurrenz. James Mackintosh befindet im Wall Street Journal: «Wenn du Facebooks Libra kaufst, gibst du dem Giganten eine Lizenz, Geld zu drucken. Es könnte irre profitabel werden. Für die Nutzer aber erscheint Libra viel weniger reizvoll, als Facebooks Hype suggeriert.»

Das hat ausgerechnet mit der Absicherung zu tun, die das Digitalgeld stabiler als Bitcoin machen soll. Kundengelder sollen in eine Finanzreserve fließen, sie werden etwa in Staatsanleihen angelegt. Doch von den Zinsen sehen die Nutzer nichts. Die gehen nur an die Firmen der Libra Association. Tauscht nur jeder zehnte kontolose Erdbewohner und jeder dritte Facebook-Nutzer zehn bis 50 Dollar in Libra, wirft das bei nur ein Prozent Zinsen schon eine halbe Milliarde Dollar im Jahr ab. Nimmt man an, dass sich mobile Zahlungen wie in China verbreiten, steigt der Gewinn allein aus der Finanzreserve auf zwei Milliarden.

Natürlich kann er niedriger ausfallen. Oder noch höher, so Mackintosh: «Wenn Libra dem historischen Muster fast jeder Bank folgt, könnte es den Gewinn steigern, indem es die Finanzreserve riskanter anlegt oder neue Münzen ohne Reserve ausgibt.» Das schließt Facebook bisher aus, doch auch Moritz Schularick sieht einen Anreiz dafür: «So richtig interessant wird es, wenn Facebook sagt: Die Deckung erfolgt nicht mehr 1:1, sondern 1:2. Libra schafft dann Geld. Dann winken riesige Gewinne, die bisher Notenbanken und privaten Banken vorbehalten sind.»

Angesichts all der möglichen Vorteile für Facebook und seine Partner erscheint es wichtig, die möglichen Gefahren für die übrige Menschheit zu untersuchen.[5]

Eine offensichtliche Gefahr ist für viele der Datenschutz. Unisono äußerten US-Notenbankchef Jerome Powell und der deutsche Finanzminister Olaf Scholz sofort Bedenken. Facebook baut genau wie Google oder Amazon sein Geschäftsmodell darauf auf, persönliche Daten zu sammeln. «Soziale Netzwerke wie Facebook sind die Datensammler schlechthin», beobachtet der Autor Ulf Schönert. «Facebook bietet Möglichkeiten, wie wir unsere Daten vor anderen Nutzern verbergen können. Doch was auch immer wir unserem Chef oder unseren Eltern vorenthalten: Der Konzern selbst bekommt das alles nach wie vor zu sehen, Einschränkungen sind unmöglich. Alternativen gibt es nicht. Wer soziale Netzwerke nutzen will, muss in den sauren Apfel beißen und seine Daten zur Verfügung stellen.»

Zu erfahren, wofür jemand mit Libra sein Geld ausgibt, erscheint besonders lukrativ. «Konzerne sind nur ihren Aktionären verpflichtet», analysiert der Luxemburger Notenbanker Yves Mersch. «Sie haben privilegierten Zugang zu persönlichen Daten, die sie missbräuchlich zu Geld machen können.»

Facebook hat zwar zugesagt, die Datenspuren seiner sozialen Netzwerke von Libras Finanzspuren zu trennen. Die Libra Association will die Privatheit der Nutzerdaten schützen und Datengesetze einhalten. Doch wie glaubwürdig sind solche Ankündigungen? Als Facebook verkündete, der oberste Schweizer Datenschützer werde die Organisation überwachen, war der gute Mann davon völlig überrascht. Datenschutzbehörden aus den USA, Australien, Großbritannien und der EU kritisierten das Projekt öffentlich, weil sie dem Konzern nicht trauen: «Viele von uns hatten in der Vergangenheit bereits mit Facebook zu tun, als der Umgang mit Daten nicht den Anforderungen der Aufseher oder der Nutzer entsprach.» Bemerkenswert erscheint, dass Mastercard-Boss Ajaypal Singh Banga seinen Ausstieg aus Libra auch mit Datenschutzbedenken begründete. Zentrale Akteure hätten ihm keine harte Zusage gegeben, «Handlungen zu vermeiden, die nicht völlig legal sind».

Zumindest in Europa gelten relativ strenge Gesetze. Mit der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) hat Brüssel ein weltweit beachtetes Schutzniveau errichtet. Ein prominenter EU-Notenbanker kann sich aber «nicht vorstellen, dass das bei Libra ausreicht. Die Gefahr des Missbrauchs ist sehr groß, weil diese Anbieter potenziell große Datenmengen zentralisieren.» Der Schweizer Autor Alexander Trentin analysiert, Facebook wolle bei Libra das Konzept von WeChat Pay kopieren. WeChat Pay ist einer der führenden Bezahldienstleister in China, die alles über ihre Kunden wissen.

Auch der EU-Abgeordnete Markus Ferber misstraut Facebook. «Die sagen doch schon heute: Nach fünf Posts kenne ich deine sexuelle Orientierung.» Ferber fürchtet, dass Facebook mit Libra so mächtig werden könnte wie Chinas Zahlungsanbieter Alibaba. Nach einem Gespräch mit deren Finanzarm wurde ihm mulmig, schilderte er mir. «Alibaba ist Amazon, Facebook und Paypal in einem. Die sagen, wir haben von allen Banken der Welt die wenigsten ausfallgefährdeten Kredite. Die wissen mehr als meine Bank. Die kennen alle Daten: Gehalt, Handyverträge, Versicherungen, Familienverhältnisse. Herr X, Sie wollen eine Küche kaufen? Sie können sich nur eine für 3000 Euro leisten.»[6]

Verbrechen & Co.

CSU-Politiker Markus Ferber, im EU-Parlament seit Jahren auf Finanzthemen spezialisiert, sah bei Libra sofort weitere Gefahren: «Geldwäsche, Terrorismus, Mordaufträge: Es ist alles denkbar, was normale Bürger nur aus dem Fernsehen kennen.» Das Problem ist, dass Facebook und Libra zwar viel über ihre Kunden wissen, die Sicherheitsbehörden aber womöglich außen vor bleiben. Wer heute auf ein normales Bankkonto 5000 Euro einzahlt oder überweist, muss seinen Personalausweis vorzeigen. Auf Druck des Staates sind solche Transaktionen nicht mehr anonym. Wie das genau bei Libra funktioniert, wird sich trotz deren Versprechungen, illegale Aktivitäten hart zu bekämpfen, erst zeigen. Libra fließen wie Bitcoins international, schwer zu überprüfen, ob sie überhaupt von einer realen Person kommen. «Wie will Libra die Bekämpfung von Geldwäsche umsetzen?», fragt Ferber. «So eine Kryptowährung lebt ja davon, dass sie gewissen Regeln nicht unterworfen ist. Wenn Du über Deinen Facebookaccount Geldgeschäfte machst, brauchst Du keinen Ausweis. Man kann auch einen Fakeaccount eröffnen. Oder 10 Fakeaccounts.»

Libras Lobbyisten schwärmten in den vergangenen Monaten aus, um die massiven Bedenken gegen das Projekt zu zerstreuen. Markus Ferber etwa versuchten sie damit zu beruhigen, ein Facebook-Account reiche nicht, um Libra zu nutzen. Die Libra Association will mit Behörden zusammenarbeiten und Programme gegen Geldwäsche, Betrug und Terrorfinanzierung auflegen.

Doch wenn das Konsortium die Nutzer identifiziert, um Kriminalitätsgesetzen zu gehorchen, bedroht das unter Umständen den Datenschutz, weil es die Kenntnis des Kunden auch zu kommerziellen Zwecken gebrauchen kann, warnt Alex Pentland vom Massachusetts Institute for Technology (MIT). Die Libra-Betreiber wären in der Lage, die Nutzer genau zu verfolgen: «Diese Daten wären zwar für das zielgerichtete Werbegeschäft von Facebook und die Strafverfolgung von Vorteil, ermöglichen aber auch eine Bevölkerungskontrolle in nie da gewesenem Ausmaß: Libra weiß, wo sich die Nutzer aufhalten und sieht ihre Transaktionen. Es wird eine echte Herausforderung für die Regulierungsbehörden, sicherzustellen, dass diese Macht nicht missbraucht wird.»[7]

Wie sicher Libra ist

Und was ist mit der Gefahr, dass Nutzer von Libra ihr Geld verlieren? Mark Zuckerberg hat aus den Kurskapriolen von Bitcoin und Co. gelernt. Die Währung soll durch eine sichere Finanzreserve mit Wertpapieren gestützt werden. Doch es stellt sich die Frage, wie sicher Libra wirklich ist. «Verluste durch Betrug, Missmanagement und Zahlungsunfähigkeit treffen die Nutzer, anders als bei einem normalen Bankkonto oder Geldschein», warnte James Mackintosh im Sommer 2019 im Wall Street Journal. «Die Libra-Gründer haben schreckliche Anreize: Wenn die Finanzreserve so gemanagt werden kann, dass es Kapitalverluste aber Cash-Renditen gibt, kassieren sie die Gewinne, während die Nutzer die Verluste tragen.» Die New Yorker Juraprofessorin Katharina Pistor warnte, die Libra-Gründer könnten mit einer Zweidrittelmehrheit entscheiden, riskanter anzulegen als in sichere Staatspapiere. Dann drohen Verluste.[8]

Und wenn plötzlich viele Anleger ihr Vertrauen verlieren und ihre Libra in Staatswährungen tauschen wollen? Dann steht anders als bei Dollar oder Euro keine Zentralbank bereit, um die Währung zu stützen. Nutzer könnten viel Geld verlieren, die Libra Association dagegen muss nicht einspringen. «Keines der beteiligten Unternehmen hat daher wirklich etwas zu verlieren», kritisiert Katharina Pistor.

Es gibt nicht mal eine Garantie, dass die Nutzer für die Libra wieder ihre Euro oder Dollar zurückbekommen. Die Macher schrieben: «Jeder kann in hohem Maße sicher sein, dass er seine digitale Währung zu einem Wechselkurs in ein lokales Zahlungsmittel umtauschen kann.» In hohem Maße sicher? «Die größte Gefahr für den Nutzer ist, dass er sein Geld nicht zurückbekommt», warnte Bundesbank-Vorstand Wuermeling. «Die Mutter aller Fragen ist: Wer haftet am Ende, wenn alle wieder umtauschen wollen?», sagte Markus Ferber. «Facebook kann so eine Garantie geben. Wenn es aber nicht klappt, verkraftet das die organisierte Kriminalität leichter als ein normaler Bürger. Beim Euro dagegen haftet am Ende die EZB.»[9]

Würde Libra wirklich zu einer global bedeutsamen Währung, wären die Zentralbanken stark herausgefordert. Sie könnten nicht mehr die Wirtschaft eines Landes über ihre Geldpolitik steuern, weil eine Konkurrenzwährung großen Raum einnimmt. Werden Zentralbanken geschwächt, gefährdet das ganze Volkswirtschaften. Bei einer entsprechenden Akzeptanz von Libra könnte die Kontrolle der Notenbank über den Euro sinken, warnt EZB-Direktor Yves Mersch. Libra könnte die Geldpolitik unwirksamer machen und die internationale Rolle des Euro untergraben.

Auch die Regierungen werden herausgefordert. «Lassen sie die Entstehung von privaten Geldsystemen in großem Stil zu, geben sie ein wesentliches Element der monetären Souveränität aus der Hand», sagt der österreichische Ökonom Guido Schäfer. «Bei dieser Schlacht geht es nicht bloß um die Gewinne aus dem Drucken von Geld», so Ken Rogoff. «Letztlich geht es um die Fähigkeit des Staates, die Wirtschaft zu regulieren und Steuern zu erheben.»[10]

Marktliberale wie Greg Ip vom Wall Street Journal verbreiten die Botschaft, das Konzerngeld werde stabiler als staatliche Währungen sein: Es gebe weder einen Bank-Run panischer Sparer noch staatliches Fehlverhalten wie überhöhte Schulden. Andere Ökonomen fürchten dagegen, dass Libra die nächste apokalyptische Finanzkrise auslöst. Wird es zur globalen Währung, wird Libra mit seiner Finanzreserve zum womöglich größten Investor der Welt – mit allen Risiken. «Libra lässt heißes Geld viel einfacher um den Globus zirkulieren», analysiert Rana Foroohar in der Financial Times, «es kann nicht nur lokale, sondern auch globale Finanzblasen erzeugen.» Sobald das Vertrauen der Nutzer schwindet und viele ihr Geld zurückwollen, gerät der Planet ins Wanken. Der britische Ex-Notenbankchef Mark Carney zog bereits den Vergleich zur Finanzkrise 2008. Das sieht auch jemand wie Volker Wieland, der Libra ja einerseits für eine coole Idee hält. Andererseits: «Wenn Vertrauen schwindet und Anleger Geld von Libra abziehen, kann es starke Schwankungen geben. Es gibt die berechtigte Furcht: Hier entsteht ein großer Spieler, der die Finanzstabilität gefährdet.»

«Droht das System zusammenzubrechen, könnte Libra es nicht retten», sagt mir eine prominente Notenbankerin. Eingreifen müssten dann letztlich doch wieder die Zentralbanken. Also jene Institutionen, die doch angeblich das Geld krank gemacht haben. Sie müssten eingreifen, nachdem die Erträge an die Libra-Gründer geflossen sind. «So darf die Risikoverteilung nicht sein», sagt die Notenbankerin. «Libra wäre ein weltumspannendes Zahlungssystem. Wenn da etwas schiefgeht, entsteht unmittelbar ein globales Problem. Das geht weit über das hinaus, was wir bisher kennen.»

Wer wird sich durchsetzen? Die Wahrer der etablierten Geldordnung – oder Digitalkonzerne mit ihrem Gewinnstreben? «Es ist ja ein großartiges Geschäftsmodell von Facebook», ätzt Peter Bofinger. «Sie produzieren diese Libra-Tokens, das kostet sie nichts, und verkaufen die gegen gutes Geld. Was will man denn mehr haben als Geschäftsidee, dass ich was völlig Wertloses gegen gutes Geld verkaufe?»[11]