Esteban
Cedric und er saßen voneinander abgewandt auf den beiden Seiten des Bettes. Cedric sagte kein Wort, doch Esteban spürte die Anspannung zwischen ihnen, sie nahm ihm die Luft zum Atmen.
„Warum, Esteban? Sag mir endlich, warum”, sagte Cedric schließlich, ohne sich zu ihm umzudrehen.
Esteban wollte ihm antworten, doch seine Kehle war wie zugeschnürt.
Schweißgebadet schreckte er aus diesem Albtraum hoch. Er war allein, in der zu großen Wohnung, in einer Stadt, die er noch immer kaum kannte. Es war nicht das erste Mal; in diesen Träumen war Cedric voller Vorwürfe und Anklagen. Mehr als einmal wiederholten sich darin die Streitigkeiten, die sie real gehabt hatten.
Himmel, ich muss wirklich auf andere Gedanken kommen. Das geplante Treffen mit Oliver fiel ihm ein. Am heutigen Abend würde es sein. Was sollte er nur anziehen? Und wie hieß der Pub doch gleich? The … irgendein Vorname. Er hatte es auf einem Zettel, auf dem Oliver ihm auch die Adresse aufgeschrieben hatte.
Und was wenn er zu spät kam, weil er sich im Londoner Verkehr immer noch nicht auskannte, trotz der App ,Citymapper London’? Oder wenn Oliver etwas dazwischen kam und er kurzfristig absagte? Dann würde er allein in einem Pub sitzen, in dem er niemanden kannte. Wie peinlich wäre das denn? Nicht auszudenken. Dann fiel ihm ein, dass sie keine Handynummern ausgetauscht hatten. Sie hatten einfach eine Uhrzeit und einen Ort ausgemacht. Wenn einem von ihnen etwas dazwischen kam, würde der andere dumm da sitzen. Das Gedankenkarussell, das Grübeln nahm kein Ende, all die Ängste, was schief gehen könnte bei ihrem Date. Nein, Moment mal, was bildest du dir denn ein? Es ist kein Date. Nur ein Treffen mit einem Kollegen.
Er stand auf, ging in die Küche und überwand sich, die Kühlschranktür zu öffnen. Es war kaum etwas drin, ein halber Liter Milch, ein abgepacktes Sandwich, eine Softdrink-Dose. Vielleicht sollte er es so wie die Engländer machen, die in jeder Lebenslage Tee tranken. Aber er hatte keinen Tee da. Kaffee war ihm lieber, aber um diese Uhrzeit? Nein, besser nicht…
Frustriert trank er ein Glas Leitungswasser. Das Gegrübel hatte ihn wach gemacht, dabei war es erst vier Uhr und noch stockdunkel. Vielleicht sollte er ein bisschen im Drehbuch lesen, seine Zeilen weiter auswendig lernen, und später noch ein wenig schlafen. Er ging ins Wohnzimmer und griff nach dem Script, das dort auf dem Tisch lag. Dann machte er es sich auf dem Sofa bequem.
Als er später das durchdringende Klingeln seines Weckers hörte, lag er immer noch auf dem Sofa. Das Script musste ihm beim Einschlafen aus der Hand geglitten sein, er fand es unter dem Wohnzimmertisch auf dem Teppich. Einige Seiten waren zerknickt, aber ansonsten hatte es zum Glück keinen Schaden genommen. Esteban machte sich einen Kaffee in der Küche und versuchte sich daran zu erinnern, welche Seite er zuletzt gelesen hatte. Immer wieder fiel sein Blick auf die Uhr. Warum war er schon jetzt nervös, wenn er sich erst abends mit Oliver traf? Dazu bestand doch überhaupt kein Anlass. Oliver konnte ihm mehr über die Stadt erzählen und sie würden sich über ihre Rollen unterhalten können. Solche Gespräche mit Kollegen hatten ihn bisher immer weiter gebracht.
*
Der Pub The George war offenbar nach einem König benannt, denn neben dem weißen Schriftzug auf dem schwarzen Schild über dem Eingang war eine Krone abgebildet. Aber Esteban kannte sich nicht aus mit den englischen Königen. Er hatte schon Schwierigkeiten, sämtliche Präsidenten der USA zu nennen.
Oliver war bereits da, er saß an einem Tisch im hinteren Bereich und sprach mit einer Frau. Vermutlich ein Fan von ihm, denn er kritzelte etwas auf eine Serviette und gab es ihr. Mit einem glücklichen Lächeln ging sie zu einem der anderen Tische in dem hell eingerichteten geräumigen Lokal. Aus den Lautsprecherboxen im Hintergrund klagte Ed Sheeran sein Liebesleid.
Oliver lächelte ihm entgegen, als er auf ihn zuging.
„Hallo Esteban, schön, dass du es gefunden hast. Ich habe hier Heimvorteil, ich wohne in der Nähe.”
„Netter Zufall, ich wohne auch nicht weit von hier, in South Hampstead.”
„Ach, das ist gut, dann hast du es nicht weit auf dem Rückweg. Hier wohnen übrigens auch Jude Law, Tim Burton, Helena Bonham Carter, Hugh Laurie, Gwyneth Paltrow…”
„Ja, ich hab davon gehört, dass diese Gegend beliebt ist”, unterbrach er Olivers Aufzählung. „Kein Wunder, dass meine Miete so teuer ist.
Oliver zuckte mit den Schultern. „In London sind Wohnungen generell teuer.”
„Das ist in L.A. nicht anders.”
Esteban setzte sich ihm gegenüber.
„Möchtest du auch etwas essen?”, fragte Oliver.
Er zögerte. „Ja, eine Kleinigkeit.”
Nachdem sie die Karte studiert und sich etwas zu trinken und zu essen bestellt hatten, fragte Oliver ihn: „Erzähl doch mal, warum bist du Schauspieler geworden?”
„Ach, ich hab schon als Kind immer gern andere Rollen ausprobiert.”
„Aber das machen doch praktisch alle Kinder.”
Esteban nickte. „Stimmt, aber bei mir hat das Interesse daran nicht abgenommen, als ich älter geworden bin. Ich war dann in der Highschool in der Schauspiel-Gruppe. Das hat mich ein bisschen durch meine Teenagerjahre gebracht. War eine schwierige Zeit für mich, und das Schauspielen hat mir gut getan.”
Er zögerte einen Moment. Sollte er Oliver mehr davon erzählen, warum es damals so schwer für ihn gewesen war? Aber nein, lieber nicht noch mehr ins Detail gehen. Sie kannten sich schließlich kaum; Oliver brauchte nicht zu wissen, dass er Depressionen hatte.
„Meine Eltern wollten, das ich was ,vernünftiges’ lerne, also hab ich ihnen den Gefallen getan und am College Wirtschaftskurse belegt”, fuhr er fort. „Finanzen und so. War aber nicht so mein Ding. Ich war schon immer schlecht in Mathe und habe einfach kein Händchen für Zahlen. Ich kam nicht gut mit, dabei habe ich mich anfangs wirklich reingekniet.”
Er seufzte. „Nebenbei hab ich als Komparse gejobbt. Später hatte ich auch mal kleine Sprechrollen, und auf diesem Weg ist eine Agentin auf mich aufmerksam geworden. Sie hat mir dann meine erstere größere Rolle verschafft, und das ging eine Weile so weiter. War eine stressige Zeit – ich meine, das Studium und nebenbei noch die Dreharbeiten. Als ich schließlich die Rolle bei Lifestyle of the Rich and Famous ergattert habe, war für mich klar, dass es genau das ist, was ich machen will.”
Ein verschmitztes Grinsen stahl sich in Olivers Gesicht. „Seifenopern-Star werden?”
„Nein, aber Schauspieler. Also hab ich das Studium sausen lassen. Meine Eltern waren nicht gerade begeistert, aber anhand meiner Noten konnte ich ihnen klar machen, dass Wirtschaftswissenschaft sowieso nicht das Richtige für mich war.”
Ihr Gespräch wurde von der Service-Kraft unterbrochen, die ihnen die Bestellung brachte.
Esteban nahm einen kräftigen Schluck von seiner Limonade.
Oliver prostete ihm mit seinem Bier zu. Er fragte nicht, warum Esteban keinen Alkohol trank und er war froh, es nicht erklären zu müssen.
Esteban erwiderte die Geste. „Und wie war es bei dir?”
„Ich hatte das Glück, dass meine Tante auch Schauspielerin ist. Ausschließlich am Theater, übrigens. Sie hat mir viel darüber erzählt und ich habe sie schon als Kind öfters spielen sehen. Das hat mich fasziniert – zu sehen, wie ein Mensch, den ich kenne, sich auf der Bühne vorübergehend in jemand ganz anderes verwandelt. Ich war dann so wie du auch in der Schauspielgruppe an der Schule. Wir hatten dort einige Aufführungen, die gut angekommen sind. Und später hatte ich das Glück, dass ich die Aufnahmeprüfung an der RADA1 bestanden habe. Ich habe Blut und Wasser geschwitzt, als ich damals vor der Jury stand. Und heute … ich liebe es, wenn der Vorhang aufgeht oder die Filmklappe fällt und ich einfach nur in meinem Spiel voll da bin, weißt du? Dieses Einswerden mit dem Moment. Für mich ist Schauspiel wohl ähnlich wie für andere Meditation.”
„So habe ich es noch nicht betrachtet, aber da ist was dran. Geht mir manchmal ähnlich”, gab Esteban zu. Oliver trank einen Schluck und musterte ihn mit einem schiefen Lächeln, das ihm gut zu Gesicht stand. „Ich dachte übrigens anfangs, du bist so ein melodramatischer Schauspieler, der völlig übertreibt. So was kann ich überhaupt nicht leiden. Das haben sie uns an der Schauspielschule ganz schnell ausgetrieben. Aber deine Lesung war nicht schlecht.”
Esteban zuckte mit den Schultern. „Mag sein, aber erst nachdem mich der Regisseur – Clark – gründlich eingenordet hat.”
„Ich glaube, du bist ein netter Kerl”, sagte Oliver ernst und sah ihm dabei direkt in die Augen.
Esteban verwirrte das. Flirtete Oliver mit ihm? Oder war es einfach als neutrales Kompliment ohne Hintergedanken gemeint? Esteban war sich nicht sicher. Sicher war er sich allerdings, dass er zur Zeit weder Lust auf Flirts noch auf One Night Stands hatte, von einer richtigen Beziehung ganz zu schweigen. Er hielt Olivers Blick stand, bis der lächelnd auf seinen Teller hinunter schaute und mit der Gabel in seinem Curry stocherte. „Wusstest du, dass es in London als besonders mutig gilt, wenn man die schärfsten Curries isst? So wie das hier – Vindaloo.”
„Nein, das hör ich zum ersten Mal.”
„Ist das bei euch ähnlich, mit der Texmex-Küche vielleicht?”
„Ja, kann sein. Hab mich da noch nicht so drum gekümmert, ich vertrage scharfes Essen nicht gut. Sehr zum Leidwesen meiner Eltern, die essen gern viel mit Chili.”
„Ach so, verstehe.”
„Warum gibt es hier Curry in einem Pub? Wäre das nicht eher etwas für ein indisches Restaurant?”
„Ach, Curry zählt mehr oder weniger zur englischen Küche mit dazu. Wurde halt damals aus der britischen Kolonie importiert – als Indien noch eine Kolonie war, meine ich.”
„Ach so. Naja, ich schätze, das ist an der West Coast ähnlich, wegen der Nähe zu Mexiko. Da vermischen sich die Gerichte auch sehr, vor allem in der Fusion-Küche.”
Er biss ein Stück von seinem Burger ab.
„Hast du ein Lieblingsgericht?”, wollte Oliver von ihm wissen.
„Ich hab eine Schwäche für Burritos, die hat meine Mutter früher oft gemacht. Und du?”
„Pizza. Mit extra viel Käse. Aber Curry ist auch prima, und es gibt so viele Varianten davon.”
„Backst du denn selbst Pizza? Ich meine, kannst du kochen?”
„Klar. Hab mir viel selbst beigebracht. Ich koche oft etwas chaotisch, aber meistens schmeckt das, was dabei herauskommt. Und das ist ja die Hauptsache. Und wie ist es bei dir?
„Kochen kann ich einigermaßen, aber Backen ist nicht so mein Ding”, erwiderte Esteban. Er wechselte das Thema. „Sag mal, hast du schon mal mit Clark zusammengearbeitet?”
„Nein, ich hatte noch nicht das Vergnügen. Aber ich hab bisher nur Gutes über ihn gehört. Beziehungsweise, um genau zu sein: Er soll streng sein, hat seine ganz eigenen Vorstellungen. Aber wenn man sieht, was dabei am Ende herauskommt – es scheint sich zu lohnen.”
„Was meinst du mit streng?”
„Naja, ich hab von einem Kollegen gehört, er lässt die Schauspieler nicht improvisieren, er gibt ihnen immer genau vor, was sie machen und wie sie es machen sollen.”
Esteban seufzte. „Dann hoffe ich mal, dass ich seinen Anforderungen gerecht werde.”
„Hat doch gut geklappt bei den Vorbereitungen. Das wird schon.” Oliver lächelte ihm aufmunternd zu.
„Das hoffe ich sehr.”
Sie aßen und tranken, dabei unterhielten sie sich eine Weile über den Film, den sie gemeinsam drehen würden.
„Ich steige da noch nicht so ganz durch an einigen Stellen”, sagte Oliver, wieder mit diesem schiefen Lächeln.
„Wie meinst du das?”, fragte Esteban.
„Also, das ist ja alles so ineinander verschachtelt, dieser Film im Film. So was hatte ich noch nicht. Ich kann mir auch diese ganzen Personen noch nicht merken. Wer wen im Film spielt und wer mit wem nicht kann und so weiter. Bisher konnte ich mir nur merken, dass wir zwei sowohl im Film als auch in der Seifenoper Rivalen sind, auch wegen Sallys Rolle.
Esteban trank einen Schluck. „Vielleicht würde es dir helfen, wenn du dir eine Mindmap zeichnest? Oder so was ähnliches wie einen Stammbaum, mit Pfeilen zwischen den einzelnen Leuten?”
„Hmm. Keine schlechte Idee.” Oliver nickte ihm zu. „Ich werde das mal zu Hause ausprobieren. Vermutlich fällt es mir dann auch leichter, meinen Text zu lernen.”
„Wie lernst du denn am liebsten? Ich finde es immer interessant zu erfahren, welche verschiedenen Arbeitsweisen Kollegen haben.”
„Ich schließe mich im Keller ein, solange, bis ich ihn auswendig kann”, antwortete Oliver mit todernster Miene.
Esteban musterte ihn verblüfft.
Olivers Mundwinkeln zuckten. „Natürlich nicht, das war ein Scherz. Ich hab mir ein Mikrofon gekauft und ich nehme den Text auf. Und dann höre ich ihn mir immer wieder an, zum Beispiel beim Joggen. Bis ich ihn mitsprechen kann.”
„Sieht das dann nicht so aus, als ob du beim Joggen Selbstgespräche führst?”
„Ach was, ich mach das ganz leise und bewege kaum die Lippen. Aber zu Hause spreche ich den Text dann natürlich laut und mit der passenden Betonung. Und wie lernst du?”
„Ich setze mich hin und lese das Script immer wieder. Manchmal gehe ich auch im Zimmer auf und ab, stelle mir mein Gegenüber vor … Oder ich mache Fitness nebenbei, wenn ich den Text vor mich hinspreche. Das klappt auch ganz gut.”
„Ja, das kann ich gut verstehen, ich kann auch besser in Bewegung lernen.” Oliver aß sein Curry weiter. „Gibt’s eigentlich Rollen, die du nie spielen würdest?
Esteban runzelte die Stirn. „Gute Frage. Ich glaube, Horror wäre nichts für mich.”
„Warum nicht?”
„Ich bin zu schreckhaft. Ich würde mich einfach nicht wohlfühlen, vor allem nicht, wenn ich nicht genau weiß, was auf mich zukommt. Es gibt da eine Anekdote zu The Shining – in einer Szene hat sich Shelley Duvall in echt fast zu Tode erschreckt, weil der Regisseur ihr absichtlich verschwiegen hat, was gleich passieren würde.”
„Ach so … aber das ist eine Frage der Regie, nicht wahr? Ich glaube nicht, dass alle Regisseure so arbeiten.”
„Ja, vermutlich. Naja, wie dem auch sei, Horror ist generell nicht so meins. Und du? Was wäre für dich ein No-Go?”
„Gegen Horror hätte ich nichts einzuwenden. Wenn er gut gemacht ist. Aber ich würde ungern eine Rolle spielen, die mit sexueller Gewalt zu tun hat. Ich hab manchmal den Eindruck, dass in manchen Filmen Vergewaltigungen als Schockeffekt eingesetzt werden, oder einfach, damit der Bösewicht auf diese Weise noch böser wirkt. Dabei könnte man ja stattdessen auch andere Mittel einsetzen.”
„Hmm. Da ist was dran. Auf so etwas würde ich auch lieber verzichten. Aber drehen wir die Frage doch mal um – was würdest du denn zu gern mal spielen?”
Oliver lachte. „Das ist ja wie ein Interview hier. Aber mal im Ernst … es gibt dieses Klischee hierzulande, dass es zwei männliche Rollen gibt, von der jeder englische Schauspieler träumt. Hast du eine Idee, welche?”
Esteban überlegte eine Weile. „Ich fürchte, mir fällt nur eine ein. James Bond?
„Genau, das ist die eine Rolle. Und die andere ist Hamlet.”
Esteban trank einen Schluck und musterte sein Gegenüber. „Und wenn du zwischen den beiden wählen könntest, was wäre dir lieber?”
„Da muss ich nicht lang nachdenken. Nichts gegen James Bond, aber Hamlet ist komplexer. Ein dänischer Kronprinz mit einem Haufen Problemen.”
„Aber James Bond hat doch auch jede Menge Probleme in den Filmen.”
„Ja, schon, aber er selbst ist als Figur weniger komplex; er macht keine große Entwicklung durch. Aber das braucht er ja auch nicht, er ist halt ein tougher, waghalsiger Actionheld. Aber davon mal abgesehen – die Chancen, dass ich irgendwann als Hamlet auf der Bühne stehe, sind eh höher.”
„Ich hätte nichts dagegen, mal einen Actionhelden zu spielen”, sagte Esteban. „Es muss ja nicht unbedingt 007 sein.”
„Naja, wer weiß, welche Rollen noch auf uns warten.” Oliver prostete ihm ein weiteres Mal zu. „Auf die Zukunft.”
Esteban grinste. „Auf Hamlet und James Bond.”
Sie aßen, tranken und unterhielten sich weiter über Filme und das bevorstehende Projekt. Esteban entspannte sich, seit langem fühlte er sich endlich wieder wohl. Das Gespräch mit seinem Kollegen war angenehm und die Zeit flog viel zu schnell dahin.
„Du hattest neulich mal erwähnt, dein Ex sei schuld, dass du nach London gezogen bist. Wie kam das denn, wenn ich fragen darf?”, erkundigte sich Oliver
Mit dieser Frage hatte Esteban nicht gerechnet, denn bisher hatten sie ausschließlich über Berufliches gesprochen. Aber letztendlich spielte es keine große Rolle, und vielleicht würde es ihm gut tun, mit jemanden darüber zu reden, der dem Ganzen neutral gegenüber stand.
„Das ist eine längere Geschichte, aber ich mache es kurz. Ich hab Cedric letztes Jahr in Los Angeles kennengelernt, er hat da eine Zeitlang gearbeitet, in einer Filiale des Finanzunternehmens, bei dem er angestellt ist. Wir waren rund ein halbes Jahr zusammen, allerdings ohne gemeinsame Wohnung. Aber es war immer klar, dass er nach London zurückkehren würde. Als es dann soweit war, hat er mich gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, zu ihm hierher zu ziehen. Und zugleich hat er mir klargemacht, dass er keine Fernbeziehung führen wollte. Das hat er wohl mal versucht und es ist in die Hose gegangen.”
„Und dann hast du beschlossen, dass du nach London ziehst?”
Esteban knibbelte verlegen an dem Etikett seiner Limonadenflasche herum. „Was tut man nicht alles für die Liebe, nicht wahr? Ich wollte es jedenfalls ausprobieren, auch wenn ich zugegebenermaßen Angst hatte. Ich meine, ich habe bisher ausschließlich in Kalifornien gewohnt und bin dort auch kaum weggekommen. Aber auf der anderen Seite dachte ich mir, eigentlich eine gute Herausforderung, mal im Ausland zu leben.”
„Ich muss zugeben, ich hab mein Leben lang hier in London gelebt. Ich wüsste nicht, ob ich das könnte – der Liebe wegen ins Ausland gehen. Aber ich finde es mutig, wenn Leute das machen.”
Esteban freute sich im Stillen über das indirekte Kompliment. „Ich weiß ehrlich gesagt auch nicht, ob ich das noch mal machen würde.” Er zögerte einen Moment lang. „Und wie ist es bei dir? Bist du vergeben?”, fragte er schließlich, weil er seine Neugier nicht bezwingen konnte.
Oliver schüttelte den Kopf. „Ich bin seit einiger Zeit wieder Single.”
Esteban sah ihn überrascht an, als er weitersprach. „Mein Ex und ich haben uns im Guten getrennt.”
„Und habt ihr noch Kontakt?”
„Nicht wirklich. Er meldet sich selten und ich hab viel zu tun. Kann auch sein, dass er mittlerweile wieder mit jemanden verbandelt ist.”
„Verstehe. Sag mal, ich hab von Paula gehört, du hast dich neulich als bi geoutet?”
„Jep. Ich hatte eh keine Lust mehr auf dieses ewige Versteckspiel und dann kam dieses Foto von meinem Ex und mir an die Öffentlichkeit. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die ersten Presseleute mich dazu aushorchen würden. Also hab ich mir gesagt, ich mache reinen Tisch. Ich hab das auch mit der Agentur abgesprochen.”
„Ist vielleicht besser so...”
„Ja, ich denke auch. Jedenfalls fühle ich mich wohler damit. Und erstaunlicherweise sind die Shitstorms ausgeblieben, oder zumindest habe ich nichts Entsprechendes mitbekommen.”
„Dann hattest du mehr Glück als ich. Mein Outing hat mich einige Fans gekostet.”
„Stimmt, das hattest du erzählt.”
„Warst du denn auch mal mit einer Frau zusammen?”, erkundigte Esteban sich.
„Ja, aber das ist lange her. Da war ich gerade mal Anfang Zwanzig. Sie war die erste und einzige Frau für mich. Die Beziehung hat auch nicht lange gehalten. Danach habe ich mich nur noch in Kerle verguckt.”
Oliver war also Single und auch wenn er bi war, gab er offenbar Männern den Vorzug. Mit einem Mal fand Esteban seine eigene Lebenssituation noch bedauerlicher als bisher. Wenn er nicht diese verkorkste Beziehung hinter sich hätte und immer hier leben würde, wenn er nicht die Nase voll hätte von Beziehungen ... Warum in aller Welt lernte er ausgerechnet jetzt diesen sympathischen, attraktiven Mann kennen? Daraus konnte nichts werden, so viel stand wohl fest…
Esteban war hin- und hergerissen. Einerseits genoss er das Zusammensein mit Oliver, andererseits hatte er Angst, dass er an ihn sein Herz verlieren würde, wenn er noch mehr Zeit mit ihm verbrachte, und das konnte er absolut nicht gebrauchen. Aber dann fiel ihm ein, dass sie bald bei den Dreharbeiten ohnehin viel Zeit zusammen verbringen würden. Es konnte doch nicht schaden, wenn sie sich vorher ein bisschen besser kennenlernten?
Er beschloss, seine widerspenstigen Gefühle einzuschließen und diesen gemeinsamen Abend einfach zu genießen, ohne sich Hoffnungen auf mehr zu machen. Also schnitt er ein unverfängliches Thema an und fragte Oliver, ob er einen Lieblingsfilm hätte.
Oliver lachte und schüttelte den Kopf. „Ganz ehrlich? Ich hasse diese Frage. Es gibt einfach zu viele gute Filme. Aber gut, einen verrate ich dir, aber nur, wenn du versprichst, mich nicht auszulachen.”
Esteban legte eine Hand aufs Herz. „Ich verspreche es.”
Dirty Dancing . Der lief mal im Fernsehen, als ich vierzehn war. Dann habe ich ihn mir heimlich auf Video gekauft und ihn so oft gesehen, dass ich es nicht mehr zählen kann. Damals hab ich mich für einen Tanzkurs angemeldet, aber ich bin ständig den Mädchen auf die Füße getreten.”
Esteban stellte sich das bildlich vor und musste sich das Lachen verbeißen. Stattdessen sagte er: „Es gibt schlechtere Filme.”
„Ich muss gestehen, der hat mich damals ziemlich verwirrt, weil ich danach anfing, ein bisschen für Patrick Swayze zu schwärmen. Ich hab mir auch heimlich ein kleines Poster von ihm aufgehängt, an der Innenseite meines Kleiderschranks. Man könnte sagen, Dirty Dancing war mit schuld daran, dass ich meine sexuelle Orientierung hinterfragt habe. Bei den Jungen im meinem Umfeld war nämlich keiner dabei, den ich sonderlich attraktiv gefunden hätte. Und was ist dein Lieblingsfilm?”
„Da geht es mir ähnlich wie dir, ich könnte mich nicht allein für einen entscheiden. Aber ich weiß noch genau, dass ich mit dreizehn oder vierzehn schwer beeindruckt war vom ersten Teil von Der Herr der Ringe , als der damals in die Kinos kam. Den habe ich später noch öfter gesehen und auch die anderen Teile. Ich hatte dann auch eine Phase, in der ich viel Fantasy gelesen habe. Heute eher nicht mehr, aber ich finde eh selten die Ruhe, um zu lesen.”
„Und hast du damals auch für jemanden aus dem Film geschwärmt?”
Esteban fühlte, dass er rot wurde. „Es gab ja fast nur männliche Rollen darin. Ich fand damals eigentlich mehrere süß, zum Beispiel … wie hieß der noch … ach ja, Pippin, aber auch Aragorn und Legolas. Naja, ich meine mal davon abgesehen, dass ich die damals viel zu alt fand.
Oliver lachte. „Ich würde sagen, gerade die letzteren beiden dürften bei einigen Leuten für Schwärmereien gesorgt haben.”
„Wahrscheinlich”, erwiderte Esteban, der nun auch grinsen musste. Sie unterhielten sich noch eine ganze Weile über Filme, später dann über Bücher und noch einiges mehr. Bis zur Closing Time blieben sie im Pub, sie hatten sich festgequatscht.
Zum Abschied umarmte ihn Oliver, als ob sie sich schon länger kennen würden. Esteban hatte damit nicht gerechnet. Olivers Aftershave roch angenehm herb und er nahm noch einen anderen schwachen Duft an ihm wahr, vermutlich sein Shampoo.
„Komm gut nach Hause, wir sehen uns”, sagte sein Kollege.
„Ja, du auch. Bis dann.” Esteban sah Oliver verwirrt nach, als dieser die Straße hinunterging. Er schwankte zwischen Freude und Nervosität, wenn er an ihr Wiedersehen dachte.

1 Abkürzung für Royal Academy of Dramatic Arts, renommierte Londoner Schauspielschule